Größer hätte der Gegensatz kaum sein können: er männlich, sie weiblich, er reich, sie arm, er arrogant, sie bescheiden. Doch hatte das Schicksal sie beide zusammengeführt, und zwar in einen ziemlich engen Rahmen, den eines Klassenzimmers am Humboldt-Gymnasium in dem Städtchen Hockenach am Fuße der Berge. Und da die Liebe gern krumme Wege geht und auch das Unmöglichste zu vereinen versucht, waren die beiden Achtzehnjährigen in ein Verhältnis hineingeraten, in welchem Sympathie und Antipathie sich lange Zeit die Waage hielten, bis schließlich die sexuelle Anziehung die Oberhand gewann und sie sich beide, schneller als geahnt, als Liebespaar wiederfanden.
Er, Levin, war der Sohn eines Fabrikbesitzers. Dessen Vater wiederum hatte sich vor Jahren in Hockenach niedergelassen und eine mechanische Werkstatt gegründet. Das war zu jener Zeit, als gerade die Automobile modern wurden und man jede Menge spezieller mechanischer Vorrichtungen brauchte. Aus dieser Werkstatt hatte dann der weitsichtige Vater eine Firma für mechanische und elektrische Bauteile entwickelt, die besonders im Fahrzeugbau benötigt wurden, und war mit der rasant um sich greifenden Entwicklung der Automobil-Industrie ebenso rasant reich geworden.
Doch der Kindersegen war in der Familie ausgeblieben. So war Levin der einzige Spross derselben und somit der einzige voraussichtliche Erbe der Firma und wurde deswegen entsprechend gehegt und gepflegt. Es fehlte ihm an nichts, und schon in jungen Kinderjahren bekam er alle Dinge, von denen die Eltern meinten, dass ihr Besitz seine Sinne, sein Gemüt und seine Klugheit stimulieren würden, so dass er sich erwartungsgemäß auf die höchsten Höhen körperlicher und geistiger Entwicklung hinaufschwingen würde. In der Tat war er als Achtzehnjähriger durchaus als ein gut aussehender, kluger und geistreicher junger Mann anzusehen. Seine Beiträge in den Diskussionen im Klassenzimmer waren immer voller Geist und Witz, so dass er stets die Lacher auf seiner Seite hatte und zugleich der Bewunderung durch die anwesenden Mädchen sicher sein konnte. Es gab wohl kaum ein Mädchen in der Klasse, das sich nicht wünschte, seine Freundin werden zu dürfen, angezogen gleichermaßen von seinem Charme und seiner Schönheit, seinem Esprit und seinem Reichtum.
Die einzige Ausnahme war Sarah, das Kind armer Eltern, deren Wirklichkeitssinn durch die entbehrungsreiche Kindheit geschult war und die, von frühem Leid geprägt, allen anderen Schülerinnen ihres Alters in Hinsicht auf innere Reife weit voraus war. Ihr Vater hatte über Jahre eine Schuhwerkstatt betrieben und hatte damit seine Familie mehr recht als schlecht ernähren können. Doch in der modernen Wegwerfgesellschaft war die Reparatur von Schuhen immer weniger gefragt, so dass der Vater sich nach zusätzlichen Einnahmequellen umschauen musste. Er versuchte, mit dem Herstellen von Ersatzschlüsseln einiges dazuzuverdienen, aber auch das brachte nicht viel ein. Wie oft in solchen Fällen versuchte er seine Sorgen im Alkohol zu ertränken, was die Situation nicht besser machte. Oft verschleppte er die fristgerechte Ausführung von Aufträgen oder er erschien an manchen Tagen überhaupt nicht in der Werkstatt, so dass die Kunden Zweifel an seiner Verlässlichkeit bekamen und ihn immer seltener aufsuchten.
Zuhause häuften sich die Streitigkeiten. Die Mutter machte ihm Vorwürfe, er aber, mangels besserer Argumente, erhob die Hand und schlug sie, um sie auf diese Weise zum Schweigen zu bringen. Oft warf sich Sarah, selbst noch ein Kind, dazwischen und versuchte, den Streit zu schlichten, aber das war unmöglich. Faktum war, dass die Familie kein Geld hatte, die Miete nicht bezahlen konnte und am Ende ausziehen musste, hinüber in das Nordviertel der Stadt, dort, wo die Arbeiter wohnten, die Armen und die anderen, die aus irgendwelchen Gründen aus der Gesellschaft herausgefallen waren. Dort war die Wohnung klein, die Umgebung hässlich und die Stimmung trostlos.
Dennoch hatte die Mutter darauf bestanden, dass Sarah weiterhin das Gymnasium besuchen sollte. Sie wollte ihrer Tochter die Möglichkeit geben, sich aus der Misere herauszuarbeiten und vielleicht eines Tages eine bessere Zukunft genießen zu können. Sarah hatte verstanden. Sie wusste, dass eine höhere Bildung ihre einzige Chance war. Deswegen war sie unter den Schülerinnen ihrer Klasse sicherlich die fleißigste und wurde stets mit sehr guten Noten belohnt. Und wenn Levin seine Witze riss und die Klasse in lautes Lachen ausbrach oder vor Freude klatschte, war sie die Einzige, die keine Miene verzog und den eingebildeten Jungen keines Blickes würdigte.
Dies war Levin nicht entgangen, und dass es da jemanden geben sollte, der ihm die ihm zustehende Bewunderung verweigerte, stachelte seine Neugier an. Wer war dieses Mädchen, das so vornehm tat? Wo nahm sie ihren Stolz her, wenn sie doch nur so ein armes Luder war, die Tochter eines heruntergekommen Schusters? Aber zugegeben, sie war schön. Ihr volles, lockiges, schwarzes Haar umrahmte ein makelloses, elfenbeinweißes und wohlgeformtes Gesicht. Ihre Augen waren voll eines inneren Glanzes, einer Wärme oder Tiefe – er wusste es nicht zu fassen – wenn sie überhaupt in seltenen Augenblicken jemals den Blick zu ihm wandte und ihn kurz ansah. Jedes Mal war es ihm, als ob eine andere Welt ihn anschaute, etwas Fremdes, etwas, das ihm unbekannt und herausfordernd erschien, etwas, das er während seines achtzehnjährigen, an Überfluss reichen Lebens noch nicht kennengelernt hatte. Alles hätte er sich kaufen können, in alle Länder dieser Welt hätte er reisen könnten, jedes mögliche Erlebnis hätte er - wenn er nur seine Eltern darum bat – sich wünschen können, aber das, was ihn aus Sarahs Augen anschaute, das war unbekannt, nicht greifbar und nicht käuflich.
Ihre Unnahbarkeit reizte ihn, noch mehr reizte ihn aber ihr Körper. Beim Volleyball-Spielen wusste er es immer so einzurichten, dass er in der gegnerischen Mannschaft war, von wo aus er sie besser beobachten konnte. Sie war eine äußerst geschickte Spielerin, mit eleganten und zugleich kraftvollen Bewegungen. Das Wippen ihres Busens, wenn sie hochsprang und den Ball schlug, erregte ihn, noch mehr aber ihr kräftiger Po, wenn sie sich umwandte, um mit einigen raschen Laufschritten die Eckposition einzunehmen. Levin hatte dann stets die Empfindung, als ob er das Leben selbst anschauen würde, die Kraft, die Fruchtbarkeit, die Fülle, alles das, was das Leben an Zukunftsträchtigem zu bieten hatte. Es war, als ob der Born des Lebens sich selbst in diesem Mädchen verkörpert hatte. Eine unbändige Begierde begann Levins Seele zu erfüllen.
Er wusste, dass er jedes Mädchen in der Klasse haben konnte, aber das Mädchen, das er wirklich haben wollte, das konnte er nicht haben, und das ärgerte ihn und verschaffte ihm schlechte Laune.
Er hatte begonnen, ihr nachzustellen. Als er herausfand, dass sie einen langen Weg nach Hause hatte, da sie ja in die Nordstadt musste, fuhr er mit seinem roten Porsche, den er von seinem Vater zum Geburtstag bekommen hatte, wie zufällig die Straße hoch, wo sie entlangging.
„Hallo, Sarah, welch ein Zufall! Komm, steig doch ein, ich kann dich nach Hause fahren!“
Sarah blickte nur kurz herüber, mit jenem Blick, der Levin bis ins Mark traf, und schüttelte nur den Kopf.
„Ich brauch das Auto von deinem Vater nicht, kann gut zu Fuß gehen.“
Diese und ähnliche Annäherungsversuche führten zu nichts. Sarah war zielgerichtet, und sie hatte nicht die geringste Lust auf eine Liebesaffäre mit diesem eingebildeten Laffen, der mit ihr schlafen würde, nur um sie als eine seiner Eroberungen zu betrachten und anschließend wegzuwerfen.
Zwar reizte es auch sie, das kennenzulernen, was die anderen jungen Frauen in ihrem Alter bereits kannten. Auch sie sehnte sich nach Berührung, nach sinnlicher Vereinigung, nach Rausch, nach Orgasmus, aber das sollte später kommen, das passte jetzt nicht in ihr Leben.
Doch dann kam es anders. Die Schule veranstaltete für die oberste Jahrgangsstufe einen Orientierungslauf. In dem großen Waldgebiet südlich der Stadt, welches bis an die Berge heranreichte, war eine zwanzig Kilometer lange Bahn gekennzeichnet worden. Jeder Läufer und jede Läuferin startete für sich allein, dennoch konnte es passieren, dass sich zuweilen zwei Läufer an demselben Posten zu derselben Zeit zusammenfanden. Zusammenarbeit war gegen die Regeln, wobei man in der Einsamkeit des Waldes nicht wissen konnte, ob sich alle an die Regeln hielten.
So waren auch Levin und Sarah an einem Posten zufällig zusammengestoßen. Levin fingerte das Papier heraus und las die Anweisung durch.
„Na ja, nicht so schwierig, denke ich“, sagte er, nachdem er gelesen hatte, „schon gar nicht für dich, Sarah.“
Während auch sie die Anweisung studierte, fügte er nach einer Pause hinzu:
„... und was ich schon immer mal sagen wollte“
Sarah blickte auf und schaute ihn an:
„Nun, was wolltest du schon immer mal sagen?“
Levin wand sich unter dem konzentrierten und scharfen Blick, welchen Sarah auf ihn richtete. Er musste seinen ganzen Mut zusammennehmen, bis er schließlich stotternd herausbrachte:
„Ich weiß, dass du mich für einen verwöhnten und eingebildeten Jungen hältst, Sarah, aber bitte, ich kann doch auch nichts dafür, dass ich in diese Familie hineingeboren bin.“
„Nein, da hast du Recht!“, antwortete sie lachend.
„Aber glaub mir, Sarah, ich würde meinen ganzen Reichtum aufgeben, wenn ich ...“
Wieder schaute sie ihn scharf an, so dass ihm der Atem stockte und er nicht weiterreden konnte.
„Ich weiß schon, was du sagen willst, Levin. Wenn ich mit dir schlafen würde …, ja, dann würdest du deinen ganzen Reichtum aufgeben!“
Sie lachte laut auf, dann fuhr sie fort:
„Ja, du würdest zu deinem Vater gehen und sagen: Du, Papa, ich will deine Scheiß-Firma nicht, denn ich will Sarah haben. Die ist mir viel mehr wert als all deine Millionen! Ja, das würdest du machen, nicht wahr, Levin?“
„Ja, das würde ich machen, Sarah“, erwiderte Levin kleinlaut. All sein Esprit, sein Charme, sein Witz schienen ihn in diesem Moment verlassen zu haben. Er stand vor ihr als ein armseliges Bündel des Versagens, beraubt aller Männlichkeit, gleichsam seelisch nackt.
Sie schaute ihn an. Ihre Menschenkenntnis, geschult am Leid, erlaubte ihr, tief in seine Seele zu blicken. Hinter der Kulisse seiner angewöhnten Großtuerei erblickte sie eine tiefe Melancholie, eine seelische Einsamkeit, welche man hinter dem Schein seines selbstsicheren Gehabes nicht erwartet hätte.
Einige Sekunden standen sie so da und schauten sich gegenseitig an. Ein plötzlicher Windstoß fuhr in die Bäume und ließ die Blätter rascheln. Eine Krähe erhob sich krächzend und flog hinaus in die Weite.
„Gib mir eine Chance“, sagte Levin ernst und leise.
Sarah schaute ihn immer noch an. So etwas wie Mitleid begann sie zu erfüllen, Mitleid für diese arme Seele, die vom Reichtum so arg zugerichtet worden war. Ja, vielleicht gab es da ja doch noch etwas anderes, einen echten, wahren Levin, einen, der nur nötig hatte, das Leben kennenzulernen und der dann vielleicht genesen würde.
„Nun gut“, erwiderte sie lächelnd, „ich gebe dir eine Chance. Wenn du diesen Orientierungslauf gewinnst, bin ich bereit, weiter mit dir zu reden.“
Damit machte sie auf dem Absatz kehrt und begann zu laufen. Ohne mit der Wimper zu zucken, startete auch er und jagte ihr nach. Aber sie lief wie eine Gazelle, sprang leichtfüßig über alle Hindernisse hinweg und war binnen weniger Minuten seinem Blickfeld entschwunden. Außer Atem hielt er an und überlegte. Es gab eine Abkürzung, aber die war gefährlich. Sie führte an einem steilen Berghang entlang, hoch oben über der Geirach-Schlucht. Er wäre nicht der erste, der dort sein Leben gelassen hat, aber es war seine einzige Chance.
Er hechelte den Berg hinauf und kam schließlich an der Schlucht über der Geirach an. Hier führte der Pfad, welcher kaum zwei Schuh breit war, an einem glatten Fels entlang. Er stellte sich mit dem Rücken zur Wand und glitt Schritt für Schritt seitwärts.
„Schau nicht hinunter“, sagte er zu sich selbst. Es war das erste Mal in seinem Leben, dass er in solcher Lebensgefahr war. Er fühlte, dass er niemanden anderen hatte als sich selbst. Er war ganz auf sich gestellt, und zum ersten Mal fühlte er so etwas wie:
„Ja, das bin ich … ich … ich ...“
Doch dann schaute er doch hinunter, und ihm wurde schwindlig. Schnell blickte er wieder hoch. Ihm wurde schlecht und seine Knie zitterten.
„Jetzt sterben“, dachte er, „jetzt sterben, und es ist alles vorbei. Und ich brauch diese verdammte Scheiß-Firma nicht zu übernehmen und nicht ein Leben zu führen, das nur aus Langeweile bestehen wird.“
„Aber“, dachte er, während er vorsichtig weiter seitwärts glitt, „es gibt noch etwas, das ich erleben möchte, bevor ich sterbe: Sarah ...“
Tatsächlich gelangte er sicher auf die andere Seite. Von dort war es nur noch kurz bis zum nächsten Posten. Er hatte jetzt einen Vorsprung, den Sarah niemals einholen konnte, auch wenn sie noch so schnell lief.
Sarah hatte inzwischen alle Anstrengungen unternommen, umso rasch wie möglich von einem Posten zum nächsten zu gelangen. Als sie sich dem Ziel näherte, war sie sicher, die erste zu sein.
Aber sie traute ihren Augen nicht, als sie hinter der Ziellinie Levin stehen sah, der ihr freundlich lächelnd zuwinkte.
„Wie hast du das gemacht?“, fragte sie, völlig außer Atem.
„Na ja“, scherzte er, „du kennst doch die Geschichte vom Hasen und vom Igel.“
Sie schaute ihn ungläubig an.
Während der folgenden Minuten bis zur Siegerehrung arbeitete es in ihr. Wo und wann wäre er an ihr vorbeigelaufen? Das hätte sie doch mitgekriegt. Oder hatte er unterwegs einen Hubschrauber bestellt? Das wäre ihm zuzutrauen. Aber auch das wäre nicht unbemerkt geblieben, das konnte nicht sein. War er eine Abkürzung gelaufen, etwa über die Geirach-Schlucht? Nur lebensmüde Idioten würden das tun. Wie wichtig konnte der Sieg in einem Orientierungslauf sein, dass man dafür sein Leben riskierte? Also das war auch unwahrscheinlich. Aber sonst gab es keine Erklärung.
Als sie das Siegerpodest betraten, schaute er sie von seiner höheren Stufe lächelnd und triumphierend an. Sie schüttelte nur den Kopf und wandte sich ab.
Aber sie war fair. Als sich einige Tage später eine Gelegenheit bot und Levin sie um ein Gespräch bat, lehnte sie nicht ab. Er lud sie in ein Restaurant ein und sie nahm es an. Tatsächlich zeigte er sich an diesem Abend von einer anderen Seite, einer, welche sie bislang nicht kennengelernt hatte. Besonders beeindruckte es sie, als sie erfuhr, dass er damals beim Orientierungslauf tatsächlich die Abkürzung über die lebensgefährliche Geirach-Schlucht genommen hatte.
Auch er zeigte im Gespräch Interesse an ihr, fragte nach ihrem Leben, ihrem Schicksal, ohne das geringste Anzeichen von Hochmut.
Weitere Treffen brachten die beiden allmählich einander näher. So wurden sie ein Paar, wobei das letzte noch fehlte: Sarah hatte sich noch nicht entschließen können, irgendwelche Zärtlichkeiten zuzulassen. Sie hatte Angst. Sie wollte nicht in Abhängigkeit geraten und sie wollte auch nicht enttäuscht werden. Also hielt sie Abstand.
Eines Tages lud er sie ein, mit ihm auf die Hütte zu kommen, welche die Eltern in den Bergen besaßen.
„An diesem Wochenende ist sie frei. Meine Eltern haben nichts dagegen“, sagte er.
Sarah zögerte. Sie konnte sich denken, was er vorhatte. Sollte sie dem nachgeben? Einerseits reizte es sie, endlich einmal einen männlichen Körper auf dem ihren zu fühlen. Irgendwann musste sie ja mal diese Erfahrung machen, und dieser gutaussehende junge Mann war sicher nicht der schlechteste für diese Art Erfahrung. Andererseits erschien ihr das als ein Risiko. Sie wusste nicht, was das alles mit sich bringen würde, welche Verbindlichkeiten das nach sich ziehen würde.
„Jetzt komm schon“, sagte er und umschlang ihre Taille.
Sie schaute ihm in die Augen und fühlte, so wie schon damals unter den Bäumen, Mitleid mit ihm. Aber diesmal war da noch etwas anderes, nämlich Neugier und auch sinnliche Lust. Komme, was da wolle, sagte sie zu sich selbst.
„Also dann, ja.“
Er freute sich ungemein.
Am Freitagnachmittag holte er sie in seinem roten Porsche ab. Die rohen Pferdekräfte unter der Motorhaube brachten sie in kurzer Zeit hinauf ins Gebirge. Sarah war überrascht, als sie neben dem Gebäude anhielten, das die „Hütte“ sein sollte. Es war nicht nur ein zweistöckiges Haus, nein, für ihre Begriffe war das hier eine Art Palast.
„Das hier ist also eure Hütte“, sagte sie, nahezu sprachlos.
Er führte sie durch die Räume. Als letztes kamen sie in das Schlafzimmer. Die Wand gegenüber dem Bett bestand fast nur aus riesigen Glastüren, so dass man einen phantastischen Ausblick auf die Berge hatte, während man im Bett lag.
„Grandios!“, kommentierte sie.
Dann erblickte sie auf einer Kommode eine Pistole.
„Warum liegt die denn da?“, fragte sie.
„Die hat mein Vater immer da liegen, du weißt, für den Fall, dass mal ein Einbrecher hereinkommen sollte.“
„Scheußliches Ding! Können wir die nicht wegtun?“
„Wieso? Was hast du dagegen? Es ist doch ein nützliches Instrument, auch für den Fall, dass man sein Leben satt hat … „
„Wie bitte?“
Sarah schaute ihn erstaunt an. Er lächelte nur.
Den Abend verbrachten sie in guter Stimmung. Levin hatte eine Mahlzeit zubereitet, und Sarah war erstaunt, dass er das konnte. Anschließend holte er eine Flasche Wein aus dem Keller, und sie machten es sich auf dem Sofa gemütlich.
Er begann sie zu küssen und gleichzeitig an ihr herumzunesteln. Sie ließ es geschehen. Er war verrückt vor Begierde.
„Ich will dich“, sagte er atemlos, „ich will dich!“
Seine Hast, seine Leidenschaft waren ihr unheimlich. So sollte das also sein? So ganz ohne Worte, ohne seelische Begegnung, ohne Romantik?
Als sie schon halb entkleidet war, sagte er:
„Komm, wir gehen ins Schlafzimmer!“
Sie erhob sich. Auf dem Weg zum Schlafzimmer warf er ein Kleidungsstück nach dem anderen von sich, so dass er, als sie endlich am Bett ankamen, völlig nackt war. Sie hatte kaum Zeit, ihn anzuschauen, da warf er sich auf sie.
Plötzlich hatte er die Pistole in seiner rechten Hand.
„Was soll das? Was willst du denn damit?“, fragte sie überrascht.
Er hielt inne und schaute sie an. In seinen Augen war ein unheimliches, schwarzes Flackern, so als ob er nicht ganz bei Sinnen war.
„Sarah“, sagte er dann langsam und stockend, „wir sind das absolute Liebespaar. Wir sind in dieser sinnlosen Welt füreinander geboren, um uns zu lieben, ein einziges Mal zu lieben, so tief und so heiß, wie kein anderes Liebespaar auf der ganzen Welt, und dann zu sterben!“
„Sterben?“, rief Sarah und wand sich unter seinem Körper hervor.
„Ja, sterben, Sarah. Du weißt so gut wie ich, dass dieses Leben keinen Sinn hat außer den, den wir ihm geben. Und wir geben ihm unsere Liebe, die sich mit dem Tod vereint. Es ist die höchste Liebe, die möglich ist. Nach dem Orgasmus erschießen wir uns, erst ich dich, dann ich mich selbst! Glaub mir, die Sekunden vor und nach dem Tod werden das Köstlichste sein, was ein Mensch überhaupt erleben kann!“
Er redete, als ob er im Rausch war. Sarah überlegte, ob er irgendwas genommen hatte. Auf jeden Fall war er ganz wirr.
„Sterben? Nein, Levin, das brauchen wir nicht. Es gibt was Besseres für das Leben, als den Tod!“
Sie wollte aufspringen, aber er ergriff sie mit der linken Hand, um sie festzuhalten. Sarah wusste sich keinen besseren Rat, als ihm einen solchen Hieb an den Kopf zu versetzen, dass er für einige Sekunden außer Gefecht war. Die Pistole entglitt seiner Hand und fiel zu Boden. Sarah sprang auf, lief ins Wohnzimmer, sammelte rasch ihre Kleidung auf und stürmte zur Tür hinaus, ins Freie und in die Nacht. Sie stolperte den Hang hinunter, immer noch nackt, bis sie einige hundert Meter weiter das Gefühl hatte, nicht mehr entdeckt werden zu können. Rasch zog sie sich an und lief dann weiter, immer bergab.
Zum Glück war es nicht völlig dunkel. Der Mond schenkte ihr ein bescheidenes Licht, so dass sie wenigstens ungefähr die Formationen der Landschaft erkennen konnte. Sie wusste, dass es gefährlich war, in der Dunkelheit querfeldein durch die Berge zu laufen, aber auf der Straße konnte sie nicht gehen. Die Gefahr, dass er dort mit seinem Porsche auftauchen würde, war zu groß.
Sie war ungefähr eine Stunde bergab gelaufen, teilweise geklettert, teilweise durch Bäche getappt, als sie endlich in der Ferne ein Licht sah. Als sie näher kam, erkannte sie, dass es das erleuchtete Fenster eines einsam liegenden Hauses war.
Sie klingelte an der Tür. Ein älterer Herr machte auf. Er schaute sie von oben bis unten an. Sein Blick blieb an den nassen Schuhen hängen.
„Gut, kommen Sie herein!“, sagte er.
Sarah trat ein. Sie zog ihre Schuhe aus und betrat barfuß das Wohnzimmer. Dort war es warm. An einem Tisch saß eine junge Frau, offenbar schwanger, und strickte. Als Sarah hereintrat, blickte sie auf und betrachtete sie eine Weile.
„Entschuldigen Sie“, sagte Sarah, „dass ich Sie so plötzlich störe, aber ich bin in Not!“
Die junge Frau lächelte.
„Kommen Sie! Setzen Sie sich hierher. Ich heiße Lea. Und Sie?“
„Sarah.“
„Wo kommen sie denn jetzt her, so mitten in der Nacht?“
„Ich weiß es nicht genau. Von oben, von irgend so einer Hütte, oder Haus, oder … na ja, eigentlich ist es ein Palast, finde ich.“
Lea schaute sie ein paar Sekunden vielsagend an, als ob sie den Zusammenhang verstünde.
„Sie kommen von ihm?“
„Wem?“
„Levin!“
„Ja, woher wissen Sie das?“
Lea deutete auf ihren Bauch.
„Wissen Sie, wer der Vater ist?“
„Levin?“
„Ja, aber er hat mich sitzen lassen. Er sagte einfach, er könne kein Kind in seinem Leben gebrauchen. Und hat sich verpflichtet, mir einige tausend Euro im Monat zu überweisen. Aber ich müsse schweigen. Nun ja, was blieb mir übrig? Wenigstens bezahlen muss er.“
Der ältere Herr hatte sich inzwischen mit an den Tisch gesetzt.
„Ich bin Leas Vater. Ja, es ist schlimm mit diesen Leuten, diesen Reichen aus der Stadt. Er hat mir meine Tochter verführt. Lea hat sich blenden lassen – na ja, lassen wir die Geschichte. Es ist, wie es ist. Das Kind soll darunter nicht leiden müssen.“
Daraufhin fragte Lea, was denn passiert sei, warum Sarah aus der Hütte weggelaufen sei. Und Sarah erzählte die ganze Geschichte.
„Mein Gott, du warst ja in Lebensgefahr!“
Inzwischen waren Lea und Sarah zum „Du“ übergegangen, Leidensgenossinnen, die sie waren.
„Ja, ich habe Glück gehabt. Ich weiß nicht, was in ihn gefahren ist. Damit hatte ich wirklich nicht gerechnet“, fügte Sarah abschließend hinzu.
„Aber hier“, fuhr sie plötzlich erschrocken auf, „sind wir hier sicher? Wird er hier nicht plötzlich auftauchen?“
„Nein, machen Sie sich keine Sorgen. Er weiß doch nicht, wo Sie sind. Es gibt viele Häuser hier in der Gegend, wo sie gelandet sein könnten. Jetzt gehen wir schlafen. Ich werde alle Türen und Fenster gut verschließen und morgen früh bringe ich Sie in die Stadt hinunter.“
Die Nacht verlief ruhig, und am nächsten Morgen brachte der Vater Sarah nach Hause.
Die Mutter war erstaunt, als sie Sarah erblickte. Sie hatte sie ja erst am Sonntagabend zurück erwartet.
„Ist was passiert?“, fragte sie sorgenvoll.
„Nein, es ist nichts passiert. Aber der Kerl passt nicht zu mir. Das hat keinen Zweck.“
So verbrachte sie den Rest des Wochenendes zu Hause und war damit beschäftigt, das Erlebte zu verarbeiten und ihre Nerven zu beruhigen.
Am Montagmorgen erschien sie wie immer in der Schule. Aber als sie den Klassenraum betrat, merkte sie, dass irgendetwas nicht stimmte. Alle saßen still da oder flüsterten nur leise.
„Ist was passiert?“, fragte sie ihre Sitznachbarin.
„Ja“, antwortete diese leise, „Levin ist tot. Er wurde erschossen auf der Hütte in den Bergen aufgefunden. Gestern Abend. So wie es aussieht, war es Selbstmord.“
Sarah blickte starr vor sich hin. Es war, als ob sie es gewusst hätte.
„Macht jetzt auch nichts mehr“, sprach sie leise, ohne dass ihre Nachbarin das hörte.
Am Nachmittag kam die Polizei und nahm Sarah mit zum Verhör. Sie erzählte genau, wie alles gewesen war. Der Tatbestand war klar, die vorhandenen Spuren bestätigten ihre Aussage. An der Pistole waren außer Levins Fingerabdrücken keine anderen gefunden worden.
Drei Tage später wurde Levin zu Grabe getragen. Hinter dem Sarg gingen Hunderte von Menschen. Sarah hatte von Lea die Erlaubnis erhalten, den trauernden Eltern mitzuteilen, dass Lea ein Kind von ihrem Sohn unter dem Herzen trug. Vielleicht konnte es sie trösten.
Sarah brauchte lange, bevor sie wieder Vertrauen zu einem Mann aufbauen konnte. Erst viele Jahre später gelang es ihr, sich ohne Angst zusammen mit einem Mann in einem Raum aufhalten zu können. Zu jenem Zeitpunkt hatte sie ihre Ausbildung schon vollendet.
Eine schöne und reife Frau war sie geworden, und sie wirkte reifer als die Frauen gleichen Alters. Und in ihrem Blick diese Tiefe, wie sie nur diejenigen haben können, die schon früh gelitten haben.
Tag der Veröffentlichung: 09.10.2017
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