William Scharfreiter war ziemlich genervt. Es war ja nicht nur der Job, der ihn gewaltig stresste. Nach dem BWL-Abschluss hatte er sich als Event-Manager einen guten Namen gemacht, den es zu erhalten und auszubauen galt. Und der Auftrag, den er gerade an Land gezogen hatte, gehörte zum Feinsten, was die Branche gerade zu bieten hatte: die Organisation der nationalen Vorentscheidung zum Worldvision Song Contest.
Die BR-Radltour in geordnete Bahnen zu lenken, ein Rock Open Air Festival zu veranstalten oder eine Oldtimer-Rallye zu organisieren – alles machbar für ihn, no problem. Aber der WSC war schon eine andere Nummer. Nicht nur, dass es eines gewaltigen Aufwands bedurfte, nein, er hatte es dabei auch mit einer ganz besonderen Horde von Wichtigtuern, Egomanen, Geschäftemachern und Schlitzohren zu tun. Dazu mit den Fast-Beamten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, mit Provinzpolitikern und mit der Journalistenbrut des Boulevards, die nur auf Sensationen aus war. Und dann natürlich auch noch die Musiker selbst, mit ihren Managern und Anwälten im Schlepptau. Alles durch die Bank Maulhelden, Besserwisser und Ellbogenexperten der Sonderklasse. Ja, William Scharfreiter war genervt.
Aber dazu kam gerade noch, dass ihm seine Tochter Cressida Sorgen machte. Weil er ständig unterwegs war, hatten sie sich lange nicht gesehen, telefonierten aber oft miteinander.
Cressi hatte ein Problem. Genauer gesagt zwei. Zwei Männer. Sie konnte sich nicht für einen von ihnen entscheiden und lag ihrem Vater damit in den Ohren, während sich ihre Mutter irgendwo auf den Balearen herumtrieb und auf einem Yoga-Eso-Meditationstrip war.
William Scharfreiter ging durch die Vorhalle des Veranstaltungszentrums, nachdem er sich mühsam mit Unterstützung des Securitypersonals den Weg durch die vor dem Eingang wogende Menge aus gierigen Journalisten, kreischenden Fans und tobenden Freaks gebahnt hatte. Als er endlich seinen Platz vor der Bühne eingenommen hatte, flankiert von seinen Co-Juroren, für die er kaum mehr als Verachtung übrig hatte, versuchte er, sich zu konzentrieren. Es war sein Job. Er war der Chefjuror und gleichzeitig Manager des ganzen Spektakels und sollte eigentlich mit den blasierten Kolleginnen und Kollegen an seiner Seite zurecht kommen, auch wenn sie alle an Erwachsenen-ADHS zu leiden schienen. Alle von ihnen wären in Kochshows, Model-Events oder Haarschneidebuden besser aufgehoben gewesen. Alle tummelten sich in Berufen, die kein Mensch wirklich braucht. Wie froh wäre William Scharfreiter gewesen, wenn in einer Fernsehshow mal an vordersten Stellen eine Hautärztin, ein Mechatroniker, ein Bauingenieur und ein Klempner sitzen würden. Nein. Köche, Friseure, Modedesigner, Schauspieler und Dschungelcampabsolventen mussten es sein.
Er verdrängte den Gedanken an die Notwendigkeit seines eigenen Berufes, weil ihn das immer dazu brachte, auch über die Notwendigkeit von Objektkünstlern, Philosophen, Schriftstellern oder Pfarrern nachzudenken. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sagten diese. Aber sie sagten nie, dass ihr Brot andere bezahlten, so wie auch andere sein Brot bezahlten. Also riss er sich zusammen, nickte seinen Kollegen freundlich zu, und die Show begann.
Nummer eins: Ein junges Mädchen in einem Kasperlekostüm quiekte einen Song, der aus kaum mehr als drei verschiedenen Tönen und Textzeilen zu bestehen schien, während im Hintergrund fünf Hungerhaken in Kasperlekostümen spastische Verrenkungen veranstalteten, begleitet von rumorendem Theaterdonner aus dem Off. Dann eine menschliche Gummipuppe, die über die Bühne hoppelte, wie der Duracellhase auf Speed. Danach eine röhrende Rockqueen, die leider die Töne nicht halten konnte, gefolgt von einer Band, die offenbar im Schlagerniveau der Siebziger ihr Heil suchte.
Was für ein oberflächlicher Scheiß, dachte Scharfreiter, während er virtuell seinen Daumen senkte, aber gleichzeitig unverbindliches Geschwafel absonderte. Parallel dazu schweiften seine Gedanken zu seiner Tochter ab. Was war ihr Problem? Man macht eine Exeltabelle mit Plus- und Minuspunkten, gewichtet diese, Addition und fertig. Der eine Kandidat der Tochter, Ronald, war ein etablierter Geschäftsmann, gut vernetzt, Porschefahrer, der andere, Carlo, ein Kunststudent, finanziert von seinen Eltern, die eine Wurstbude vor einem Baumarkt betrieben. Okay, der Typ sah auf den Fotos – nun ja … nett aus, ein Schwiegersohn, wie man früher gesagt hätte. Nicht gerade Latin-Lover-Style, aber durchaus ansehnlich. Der andere tendierte eher Richtung Biergarten. Ja eben! Da braucht's doch nicht mal eine Exeltabelle. Die Konkurrenz ist groß. Und außerdem: Schönheit und Nettigkeiten vergehen, Kapital bleibt. Fast hätte Scharfreiter seiner Tochter gewhatsappt: Geh zu Parship, wenn du dich nicht entscheiden kannst! Ich schick' dir 'nen Gutschein! Aber das war natürlich ein No-Go.
Während er über seine Tochter und ihr Problemchen nachdachte, beobachtete er den Bühnenumbau für den nächsten Bewerber. Seine Mitjuroren schnatterten aufgeregt und wichtigtuerisch herum, verglichen die Performances, die Outputs, die Personalities und andere bedeutend klingende Nichtigkeiten, und William wurde wieder in seinem Verdacht bestätigt, dass diese quakenden Frösche keinen blassen Schimmer von Musik hatten. Noch weniger, als er selbst. Warum hatte das noch niemand bemerkt? Warum war das keinem aufgefallen? Und wenn schon – wer hätte in dieser Branche den Arsch in der Hose gehabt, das laut zu sagen? Quote, Quote, that's it!
Angewidert stand William Scharfreiter auf und ging hinter die Bühne. Er brauchte einen Drink. Dringend. Mit dem Glas in der Hand stellte er sich in den Schatten der Bühnenseitenwand und beobachtete die Szenerie im Saal. Die Kameras, die Kabelträger, die Maskenleute, die Roadies – alle wuselten hektisch durcheinander, während die Publikumsdompteure mit ihrem Herumgehampel und markigen Sprüchen versuchten, die Zuschauer bei Laune zu halten. Nachher würden sie wieder außerhalb der Kameraperspektiven ihre Schilder hochhalten, auf denen Klatschen! Pfeifen! Jubeln! stand, um den Fernsehzusehern authentische Begeisterung vorzugaukeln.
Was für ein erbärmliches Theater, dachte William. Rom vor 900 Jahren, das Kolosseum. Panem et circenses – hat sich seitdem prinzipiell was verändert? Nicht wirklich. Für das Brot waren McDonald's und die Supermärkte zuständig, für die Zirkusspiele Leute wie er selbst. Schon damals hatten die Menschen nicht bemerkt, dass das, was sie sahen, nur Staub war, ein wenig übergoldet. Aber vor 900 Jahren gab es nur die Gladiatorenkämpfe zur Unterhaltung der Masse, sonst nichts. Und heute? Internet, Fernsehen, Formel 1, Fußball mit Public Viewing und tausend andere Events, um das Volk bei Laune zu halten.
William schüttete den Jack Daniels in sich hinein. Ja, er war selbst ein Blender, ein Volksunterhalter, ein Volksverführer und ein Zeitvernichter. Aber sollte er sich wirklich schlecht fühlen, schuldig gar? Warum? Keiner wurde gezwungen, sich seiner Dienste zu bedienen. Das Volk bekommt, was es will, einschließlich der Regierung, das es verdient. So einfach ist das. Als er wieder zur Expertenloge zurückkehren wollte, brummte sein Telefon. Cressi.
"Hi Dad, sorry, hab dich genug genervt, ich hab mich entschieden", plapperte sie los, bevor er etwas sagen konnte. "Du hast ja recht, Dad. Carlo ist ein netter Typ, aber nix dahinter, ich meine, er wird von seinen Eltern ausgehalten, und eine Wurstbude als Hintergrund ist wohl doch nicht das das, was ich will, danke für den Hinweis, Dad."
"Äh, Cressi …"
"Ja, und der Ronald, der hat halt was, gibt Sicherheit, stellt was dar. Haus, geiler Porsche – das kommt nicht von allein. Sicherheit, das war doch dein Statement, Dad, oder?"
"Nein, ich hab doch überhaupt nicht …"
"Und Mama? Du kannst dir ja vorstellen, was die gesagt hat, om, om, om – etwas in dieser Richtung, so Dalai Lama-Sprüche fürs Poesiealbum, okay Dad, ich muss los, zu Ronald, wir fahren gleich in sein Haus in Bella Italia, bis bald, ciao!"
William Scharfreiter starrte sein Smartphone an, als wäre es eine prähistorische Runentafel und atmete dann tief durch. So schnell? Sie hätte ihm den Typen wenigstens mal vorstellen können. Mann! Kopfschüttelnd ging er zu seinem Platz und setzte sich.
Die junge Band mit dem Namen High Green stand erstaunlicherweise schon spielbereit auf der Bühne und wartete auf das Startzeichen. Geiler Porsche? Cressi hatte ein Bild mit sich davor geschickt. Das war kein Porsche. Das war ein dicker, fetter Cayenne-Panzer. Was hatte das mit Porsche zu tun? Anyway. Die Karre war sauteuer, dafür könnte man drei Wurstbuden kaufen, das war es, was zählt. Er betrachtete die Boygroup auf der Bühne, hob den Daumen, und die Band begann zu spielen. Einfach so, ohne großes Brimborium, ohne Playback, ohne herumhüpfende Go-go-Girls, ohne Nebelwerfer, ohne gewaltige Lightshow. William fielen spontan die Werbesprüche auf den Bierflaschenkapseln der Brauerei Oettinger ein: Null vornehm. Null Schickimicki. Null scheinheilig. Null Schnickschnack. Null Wischiwaschi. Genau so war die Musik von High Green. Super. Aber würde das dem auf Helene Fischer oder Andreas Gabalier konditionierten Fernsehpublikum gefallen? So ganz ohne Show dahinter?
So viel Arbeit William Scharfreiter auch in das WSC-Projekt gesteckt hatte, er war immer schon der Meinung gewesen, dass sich wirklich gute Musiker für diesen Wettbewerb erst gar nicht bewarben. Die High Greens waren ziemlich gut, aber sollten sie Deutschland vertreten? Egal, egal. Im Konsens mit seinen Kollegen stimmte er ab. Gegen High Green.
William Scharfreiter hatte noch einen Plan im Kopf. Er wollte aus diesem Job, der ja in Kürze abgeschlossen sein würde, etwas für seine Zukunft mitnehmen. Er würde sich dem Sieger als Manager anbieten, denn das war etwas, was er wirklich konnte: managen. Und der Gewinner der Ausscheidung würde sein Angebot annehmen. Garantiert. Unter seinem Management würde er nämlich Tantiemen für seine künftige Musik bekommen, die er sich nie hätte vorstellen können, egal ob sich als Sieger eine Sängerin, ein Sänger oder eine Band durchsetzen würde.
William beobachtete die nächste Truppe auf der Bühne, konnte sich aber nicht konzentrieren. Vielleicht ging es seiner Tochter genauso? Bei der Show ging es um Oberflächlichkeiten, Arrangement, Lightshow, Tanzgruppe, nicht um die Musik an erster Stelle. Die kam sowieso meistens vom Rechner.
War es bei der Partnerwahl seiner Tochter nicht genauso? Er hatte natürlich, sofort nachdem ihm seine Tochter von ihrem Problem erzählt hatte, versucht, Informationen über Ronald und Carlo einzuholen. Ein guter Freund kannte beide und erzählte ihm, dass Cressi Ronald über ihn kennengelernt hatte, dass er ein seriöser Geschäftsmann sei und Carlo ein Habenichts aus einer Habenichtsfamilie. Aber je mehr William darüber nachdachte, desto seltsamer kam ihm das vor. So pauschal, so unqualifiziert.
Gleich beim nächsten Umbau ging er wieder Backstage und rief Ronalds Firma an.
"Kein Anschluss unter dieser Nummer."
Verdammt. Das war oberfaul. Seinen Freund erreichte er auch nicht, aber the show must go on. Zähneknirschend ließ er den Rest des Abends über sich ergehen und rannte sofort nach der Schlussabstimmung zu seinem Wagen.
Sein Freund öffnete die Tür und war völlig verdattert, als William ihn fast überrannte. Sie starrten sich an, und dann sagte William gefährlich leise:
"Was ist das eigentlich für ein Typ, mit dem du Cressi da verkuppelt hast? Und warum überhaupt? Was ist mit ihm? Warum ist die Geschäftsnummer tot?"
"Äh, William, ja, entschuldige. Der hat mich auch getäuscht. Die Scheißfirma ist pleite, die Miete fürs Haus wurde nicht bezahlt, den Porsche hat die Leasingfirma wieder geholt, und der Typ ist über alle Berge, weil das Finanzamt hinter ihm her ist."
"Was?", brüllte William Scharfreiter. "Und meine Tochter ist mit ihm auf der Flucht? Warum hast du uns das angetan?"
"Ich … ich, na ja, ich Depp hab gedacht, dass du über deine Tochter mit ihm ins Geschäft kommst und ich als Vermittler irgendwie auch, na ja, blöd halt, entschuldige bitte. Aber wie kommst du darauf, dass Cressi bei ihm ist? Sie hat sich nur einmal bei mir mit ihm getroffen und ist nach fünf Minuten abgerauscht. Die hat ihn sofort durchschaut, im Gegensatz zu mir. Sie ist doch mit dem Carlo zusammen, weißt du das nicht? Ich hab dir doch auch von dem erzählt, oder?"
"Ja verdammt! Der brotlose Kunststudent mit einer Wurstbudenfamilie als Financiers."
"Okay okay, da hab ich wohl ein wenig geschwindelt, um dir Ronald schmackhafter zu machen. Ich dachte, du könntest … Also, die Eltern betreiben keine Wurstbude, sondern das Café in der Kunsthalle Berlin. Und der Leiter der Kunsthalle ist Professor Brodersen, Carlo Brodersen, ihr Sohn. Mit ihm ist Cressi zusammen, denn sie hat sofort erkannt, dass der Goldesel Ronald nur aus Katzengold besteht, während Carlo ein Herz aus echtem Gold besitzt."
"Du bist wirklich so ein … Depp!", schrie William und rannte aus der Wohnung.
"Und was für einer!", murmelte sein Freund zerknirscht hinterher.
Endlich meldete sich Cressi auf seine gefühlten hundert Mailboxansagen.
"Hi Dad, hast du endlich gemerkt, dass ich dich angeflunkert habe? Eigentlich sollte ich sauer sein, dass du mich für so oberflächlich hältst. Aber das war als Warnschuss für dich gedacht, denn du bist oberflächlich. Verdammt oberflächlich sogar. Das wollte ich dir aufzeigen. Und schuld ist dein Job, schuld sind die Leute, die dich engagieren, schuld ist die ganze Branche, die von der Oberflächlichkeit lebt. Aber … sag mal, könnten wir uns nicht doch mal sehen, hast du wirklich keine Minute Zeit, damit ich dir das mal persönlich erklären könnte, so face to face, wie man bei euch wahrscheinlich sagt? Und vielleicht würdest du dann auch Mama besser verstehen."
"Doch, Cressi", antwortete er, "ich habe jetzt alle Zeit für dich. Ich verspreche es dir."
Als William Scharfreiter seinen Wagen startete, ging auch das Autoradio an. Der Siegerbeitrag der WSC-Vorentscheidung lief. So ganz ohne Bild, ohne Nebelwerfer, Lightshow und Begleittänzer war es nur ein Trallala-Liedchen. Langweilig. Und dafür hatte er gestimmt?
Ja, Cressida hatte recht. Er war oberflächlich geworden. Schätzte Staub, ein wenig übergoldet, weit mehr, als Gold, ein wenig überstäubt, wie Shakespeare geschrieben haben soll.
Wütend hämmerte er auf das Lenkrad. Bumm bumm bumm, bumm bumm bummbumm …
Verflucht! Jetzt wusste er, was den ganzen Tag in seinem Hinterkopf gespukt hatte. Es war der Eingangsriff des Beitrags der Gruppe High Green! Plötzlich erkannte er, was für ein Potential der Song hatte.
E G A….E G B-A….E G A….G E
Drei Töne. Ein Riff, den man auch in hundert Jahren noch sofort erkennen würde. Eine Gruppe, die damit weltberühmt werden musste. Aber wie berühmt, das konnte William Scharfreiter nicht einmal erahnen.
Für ihn war es zu spät, auf diesen Zug aufzuspringen. Und er war froh darüber. Eine gewaltige Last war von ihm abgefallen. Er hatte nun andere Prioritäten: mit Cressi reden, seine Firma abgeben und auf die Balearen fliegen, um seine Frau zu suchen. Vielleicht sogar zusammen mit Cressi und Carlo.
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Tag der Veröffentlichung: 20.09.2017
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