„Du kannst es, Eva!
Stehe einfach auf!
Setze einen Fuß vor den anderen!
Nimm den Mantel vom Haken!
Tritt heraus aus der Wohnung!
Überquere die Straße!
Nimm am Leben teil, Eva!“
Es ist meine innere Stimme, die es immer wieder zu mir sagt. Es klingt so vernünftig. Ich weiß genau, dass sie es gut mit mir meint. Der Schritt vor die Tür ist nicht nur rein körperlich gemeint. Mein Inneres soll die Hülle aus Stacheln verlassen. Eingeigelt zu sein bedeutet nicht nur, ein enges Fell von spitzen Borsten nach außen aufzustellen, damit man nicht berührt wird, sondern es bedeutet vor allem, sich selbst immer wieder zurückzuziehen, um niemanden verletzend zu berühren. Das Bewusstsein, dass die Menschen immer wieder am meisten verletzt werden, die man am meisten liebt, hat mir dieses spezielle Fell wachsen lassen.
Fremde Menschen machen mir Angst. Es könnte sein, dass sie freundlich auf mich zugehen, dass sie mein Igelkleid einfach ignorieren und es mich für einen kurzen Moment vergessen lassen. Dann zeige ich meine offene Seite, sprudele Freundlichkeit und Esprit aus dem innersten meiner Seele. Ich lache und die düsteren angstbringenden Wolken färben sich hellblau. Die innere Stimme triumphiert: „Na bitte, kleine Eva, es geht doch!“ Ich muss lachen, denn klein bin ich wirklich nicht mehr. Ein paar Centimeter geschrumpft ist mein Körper in den letzten Jahren schon, seit ich Rentnerin bin. Die Anrede „Kleine Eva“ bezieht sich allerdings nicht auf die Körpergröße, sondern auf meine kindliche Seite. Sie lässt mich kurz stocken. Ich frage mich, ob ich wieder etwas falsch gemacht habe. Da ist sie wieder, die Angst.
Nicht nur meine innere Stimme, sondern auch der leere Kühlschrank schicken mich in die Kaufhalle. Ich weiß, dass man heute Supermarkt dazu sagt. Es kommt auf das Gleiche heraus. Fast alles, was ich benötige, kann ich dort finden.
In den Einkaufskorb mit den leeren Flaschen und Gläsern lege ich auch noch mein Portemonnaie und den Autoschlüssel. Dann ziehe ich die bequemen Sneakers und den Parka an. Ein Blick in den Spiegel verrät mir, dass die Frisur sitzt. Einen Einkaufszettel brauche ich nicht. Routiniert läuft mein kleiner Einkaufsausflug ab. Den Korb leere ich am Flaschencontainer auf der anderen Straßenseite. Dann verfrachte ich ihn in den Kofferraum meines kleinen roten Autos. Die Kaufhalle ist um diese Zeit ganz gut besucht. Mir gefällt es, anonym in dem Gewusel unterzugehen.
„Schau dich doch mal um.
Vielleicht kommst du mit netten Leuten ins Gespräch.
Kannst doch einfach mal jemanden mit dem Einkaufswagen anstupsen.
Oder lege deine Ware absichtlich in einen falschen Wagen.
Wenn wir noch eine Weile nachdenken, fallen uns noch mehr Möglichkeiten ein.
EVA, aufwachen!“
Diese freche innere Stimme ringt mir ein kleines kurzes Lächeln ab. Sie hätte sich lieber merken können, was ich alles einkaufen muss. Bestimmt werde ich wieder etwas Wichtiges vergessen. Dann mache ich ihr zuhause Vorwürfe. Auch darüber muss ich lächeln.
Meine Konzentration richte ich nun auf die Regalgänge, die ich systematisch abfahre. Die Fertiggerichte lasse ich dabei für gewöhnlich aus, die mag ich nicht, sie entsprechen nicht meinem Verständnis von vernünftiger Ernährung. Heute muss ich einem anderen Kunden ausweichen und bin so ausnahmsweise in dieser Gasse gelandet.
„Pass auf, die Geschmacksverstärker strecken ihre fetten Finger nach dir aus!
Eva, schnell weg hier!“
Meine innere Stimme spornt mich an, lieber eine quadratische Tafel Schokolade mit Marzipanfüllung in den Einkaufswagen zu packen. Für gewöhnlich ermuntert sie mich dann noch eine weitere auszuwählen.
Diesmal ertönt eine strenge, raue Stimme, die ich nicht meiner Inneren zuordnen kann:
„Immer noch ein Fettmacher mehr, dann kannst du auch gleich die Fertiggerichte kaufen!“
Ich blicke mich um, es ist niemand zu sehen, dem ich diese Ansage zuordnen kann. Meine innere wirkt beruhigend auf mich ein:
„Mach dir keine Gedanken. Du wirst schon noch herausfinden, wer dich gerade von der Seite angemacht hat.“
Zur Kasse, zum Auto. Ich schaue mich immer wieder um. Wer hat mich angesprochen? Die Stimme klang weder weiblich noch männlich. Streng und rau hat sie mir ein unangenehmes Gefühl verpasst. Meine innere Stimme steuere ich selbst. Sie besteht aus Gedanken, die sich zwischen entstehen und ausgesprochen sein befinden. Sie ist etwas lauter als nur gedacht, aber stimmlos leise. Einen Klang hat sie nicht. Auch wenn sie manchmal frech und fordernd ist, so ist sie mir immer wohl gesonnen.
Als ich den Einkaufskorb aus dem Kofferraum wuchte, höre ich hinter mir wieder diese Stimme: „Da hast du dir wohl Gedanken gemacht, wer dich am Schokoladenregal angesprochen hat, Eva?“
„Wo sind sie? Wer sind sie?“ Ich schaue mich aufgeregt um. Obwohl ich den schweren Korb im Arm habe, schaue ich zwischen den parkenden Autos nach, ob sich dort jemand versteckt hat. „Zeig dich! Was willst du von mir?“ Es ist niemand zu sehen.
„Die Treppe macht dir ganz schön zu schaffen.“, tönt es hinter mir. Ich beeile ich, in die Wohnung zu kommen. Schnaufend schließe ich die Tür hinter mir, nestle den Schlüssel ins Schloss und drehe in gleich zweimal herum. Hinter der Küchengardine beobachte ich die Straße, doch niemand verlässt das Haus. Einige Passanten gehen uninteressiert den Gehweg entlang. Durch den Spion ist ebenfalls niemand zu sehen. Angestrengt lausche ich, ob es Anzeichen von Bewegung im Treppenhaus gibt. Nichts, kein einziger Laut, der auf die Anwesenheit einer Person hindeutet.
„Was lauschst du? Was spähst du?“ Ich halte mir die Ohren zu.
„Du entkommst mir nicht.“ Ich blicke um mich, laufe wie angesengt durch die Wohnung.
„Du wirst mich nie finden, aber ich habe dich gefunden.“ Ich kauere mich auf meinen Sessel und starre mit immer noch zugehaltenen Ohren auf den Teppich.
„Denke nach, warum ich da bin! Du wirst es herausfinden!“ Ich falte die Hände wie zum Gebet, dabei hebe ich meinen Blick nach oben, als könne ich von einem Gott Hilfe erwarten, den ich immer verleugnet hatte.
„Nun tu nicht so, als würdest du wissen, wie man betet.“ Ich hole tief Luft und schreie heraus „Lass mich in Ruhe! Wer bist du? Höre auf, mich zu quälen!“
„Ha! Quälen?! Als ob du weißt, wie es ist gequält zu werden. Du hast doch ein wunderbares Leben. Denke an die vielen armen Menschen, die kein Dach über dem Kopf haben. Oder die Kranken und siechenden in den furchtbaren Heimen. Und denke an die vielen ungeborenen Kinder, die nie einen Weg zu Gott finden können. Und denke an die hintergangenen Ehefrauen, an die Bestohlenen, an die Ermordeten, an die Verleugneten, an die Vertriebenen und an die Obdachlosen. Alle Sünden dieser Welt, alles Elend dieser Welt sind so furchtbar, und dir geht es so gut. Du hast ein feines Auskommen.“ Ich suche das Zimmer ab. Jeden Winkel der Wohnung durchstöbere ich. Es ist nichts und niemand zu finden. Da macht sich jemand mit mir einen bösen Scherz. Ich werde wütend und beginne zu schimpfen und zu zetern: „Was auch immer ich verbrochen habe, das gibt niemandem das Recht, mich so zu schockieren. Hört auf mit dem Unfug! Ich will meine Ruhe haben. Kommt raus aus eurem Versteck und verschwindet!“
„Du bildest dir doch nicht allen Ernstes ein, dass mich dein Gezeter beeindruckt?“ „Lass mich in Ruhe.“
„Du hast es nicht besser verdient.“
Endlich meldet sich meine innere Stimme wieder: „Hör doch auf, dich aufzuregen. Ziehe den Mantel wieder an und gehe raus in den Park oder an die Uferpromenade. Wenn du dort in Ruhe gelassen wirst, weißt du, dass deine Wohnung verwanzt ist“ Ihre beruhigende Art gibt mir Vertrauen. Ich folge ihr, und schon bald bin ich an dem kleinen Fluss. Wie immer ziehen die Schwäne anmutig dahin. Die Enten und Blesshühner paddeln aufgeregt in Richtung Ufer, weil sie mein Kommen Futter erwarten lässt. Auch die Schwäne lassen sich von der Hoffnung der kleineren Schwimmer anstecken. Die Enten merken als erste, dass ich gar kein Futter dabei habe und halten inne. Dann merkt es meine innere Stimme. Sie beschwichtigt mich: „Eva, das war doch gar nicht deine Absicht. Du wolltest nur zur Ruhe kommen. Die Enten sind heute bestimmt schon genug gefüttert worden. Sieh mal, wie sie fett und behäbig herumpaddeln.“ Tatsächlich hat sich in mir eine angenehme Ruhe ausgebreitet. Ich setze mich auf eine Bank und lasse meinen Blick umherschweifen.
Ein Spaziergang an dem kleinen Flüsschen ist zu jeder Jahreszeit für mich eine wunderbare Erbauung. Ganz egal welcher Art der Stress ist, der sich in mir breitgemacht hat, das ruhig dahinfließende Wasser und der Naturpark am gegenüberliegenden Ufer mit seiner ständig wechselnden Stimmung fangen mich ein. So geht es mir auch heute. Ich weiß schon gar nicht mehr genau, was mich so bedrückt hat.
„Nun bilde dir bloß nicht ein, dass du dich so klammheimlich davonstehlen kannst. Statt hier den Park und das Wasser anzuschmachten, denke lieber darüber nach, welche Sünden du in deinem Leben begangen hast. Jede auch noch so kleine Verfehlung ist unvergessen.“ „Es ist doch niemand hier. Keine Menschenseele weit und breit. Wer spricht da? Wie funktioniert das?“ „Das hat dich nicht zu kümmern Ich bin da. Du sollst nachdenken, was für Verbrechen du begangen hast.“ „Ich bin doch keine Verbrecherin.“ „Das hast du nicht zu beurteilen.“ „Lass mich einfach in Ruhe. Ich gehe zur Polizei und zeige dich an!“ „Hahaha. Du kannst mir keine Angst machen. Nicht ich bin ein Verbrecher, sondern es geht hier um deine Sünden.“
Auf der Polizeiwache wird mein Problem aufmerksam entgegengenommen. Ich soll am besten eine Anzeige gegen Unbekannt aufgeben. Gute Aussichten werden mir nicht gestellt. Trotzdem zeige ich den Verursacher der unheimlichen Stimme an. Mein Problem hat durch die Gesetzeshüter eine Bearbeitungsnummer bekommen. Ich hoffe, dass es sich dadurch schon erledigt hat.
„Das ist ja lächerlich. Eva, was bildest du dir ein? So leicht wirst du mich nicht los. Ich habe ein Ziel, welches ich erreichen werde. Jeder einzelne deiner Fehler wird in die Waagschale gelegt. Vorher kann und darf ich nicht ruhen.“ „Verschwinde endlich!“ Eine Passantin mit Kinderwagen schaut mich verwundert an. Sie schüttelt den Kopf. Meint sie meine energische Aufforderung oder die wirre Ansprache der unheimlichen Stimme? Noch bevor ich sie das fragen kann ist sie zielgerichtet ihrem Weg gefolgt.
„Da siehst du es, die Menschen schütteln den Kopf über dich, du verfluchte Lügnerin und Diebin! Beeile dich, nach Hause zu kommen. Verstecke dich in deiner Wohnung. Hier draußen erntest du nur Hohn und Spott.“
Ich kann es kaum ertragen. Ich weiß nicht, was hier geschieht. Bin ich Opfer eines bösen Spieles? So schnell mich meine Beine tragen, eile ich nach Hause. Angekommen kann ich die Tränen nicht mehr zurückhalten.
„Jetzt sitzt du hier und heulst! Davon wird es auch nicht besser. Solche Menschen wie du, die haben es nicht besser verdient. Gehe ins Bad und schaue in den Spiegel. Du siehst furchtbar aus. Sonst bist du schon keine besondere Schönheit, aber diese verquollenen Augen und der rote Zinken sind eine Zumutung.“
Ich weiß gar nicht, warum ich der Stimme folge. Ich gehe ins Bad und ich sehe mich im Spiegel an.
„Haha, da siehst du, dass ich recht habe. Haha, du bist nicht nur eine Lügnerin und Diebin. Du bist auch noch richtig hässlich. Kein Wunder, dass du so alleine bist, Niemand will mit dir etwas zu tun haben.“
Diese verfluchte Stimme hört nicht auf, mir Vorhaltungen zu machen. Sie beleidigt mich fortwährend. Egal, was ich tue, sie gibt ihren Senf dazu.
Ich bereite mir das Abendessen – sie tönt, dass ich es nicht verdient hätte.
Ich gehe zur Toilette – sie sagt, dass ich nicht mal hier etwas Vernünftiges zustande bringe.
Ich mache den Fernseher an, um mich abzulenken – sie hält mir vor, dass ich zu blöd bin, eine anspruchsvolle Sendung auszuwählen.
Ich drehe das Radio voll auf, weil ich hoffe, die laute Musik könnte die bösartige Stimme übertönen – sie lacht mich aus und droht mir, dass sie mir noch beweisen würde, wer hier der Bestimmer sei.
Ich – sie. Ich – sie. Ich – sie. So geht es ununterbrochen. Zwischendurch sagt sie mir, was ich gleich tun würde – ich tue es, weil ich es doch sowieso gerade vor hatte.
ES IST DIE HÖLLE!
ICH WILL, DASS ES AUFHÖRT!
„Du wirst mich niemals los. Ich bin ein Teil von dir. Aber ich bin der gute Teil. Du bist die Teufelin.“
Ich bin völlig durch den Wind. Soll ich nochmal zur Polizei gehen? Oder hole ich mir eine Flasche Schnaps um mich zu betäuben? Könnte mir ein Arzt helfen, der mir vielleicht ein Schlafmittel verschreibt?
Ich nehme einen großen Schluck aus der Rotweinflasche, die schon eine ganze Weile offen in meiner Küche steht. Der Wein schmeckt grantig, und schon wieder wird mein Tun bösartig kommentiert.
ICH MUSS HIER WEG!
Ich laufe los. Meine Füße tragen mich durch die Straßen des kleinen Städtchens. Ohne ein Ziel irre ich herum. Egal, wo ich hinkomme, die Stimme ist schon da.
„Bleib doch einfach mal stehen und schau die Schaufenster an. Das ist doch typisch, dass du die Arbeit der keinen Ladenbesitzer nicht respektierst.“
„Aha, da ist eine Kneipe. Das ist doch klar, dass es dich dahin treibt. Du bist eben durch und durch verdorben.“
„Als ob ich es gewusst habe! Jetzt auch noch der Friedhof! Dass du dich nicht schämst! Lass blos die Toten mit deiner Bösartigkeit in Ruhe!“
Ich laufe und laufe. Inzwischen ist es stockfinster geworden. Die Kälte der winterlichen Nacht nehme ich nicht wahr. Ich versuche dieser furchtbaren Stimme davonzulaufen. Das Entenflüßchen, das mich sonst immer mit seiner Gelassenheit, mit seiner Geradlinigkeit zu beruhigen versteht, schneidet den leicht schimmernden Schnee seiner Ufer entzwei. Kaum, dass ich dieses Bild in mich aufgenommen habe und die Ruhe genieße will, tönt diese aggressive Stimme auf mich ein.
„Du bildest dir doch nicht ein, dass du hier Ruhe finden kannst? So ein furchtbares Weib, wie du, hat es nicht verdient, Entspannung durch so einen albernen Bach zu finden. Wenn überhaupt irgendein Wohlbefinden in dir einkehren kann, dann musst du schon über die Brücke gehen und herausfinden, woher das zarte Licht kommt, das dem Schnee diesen zarten Glanz verleiht.“
Ich habe es schon fast aufgegeben, mich darüber zu wundern, was die Stimme von sich gibt. Also nehme ich es hin, dass sie plötzlich so eine romantische Ausdrucksweise entwickelt. Aber eine Brücke hat es hier an dem Flüsschen noch nie gegeben.
„Du bist nicht nur blöd, sondern auch noch blind! Schau richtig hin, du dumme Ganz. Siehst du nicht die schmale Holzbrücke, die hinüber zu der verschneiten Wiese führt? Gehe los. Auf der anderen Seite wirst du endlich Ruhe vor mir haben. Dort kann ich endlich dich höllisches Weib verlassen. Ich habe langsam die Nase voll von dir. Nun gehe schon. Es ist ganz einfach. Auf der anderen Seite kann ich mich endlich zurückziehen.“
Ich gehe auf und ab. Die Stimme redet pausenlos auf mich ein. Ich soll über die Brücke gehen. Das macht keinen Sinn. Hier war noch nie eine Brücke. Aber sie redet und redet.
Und plötzlich sehe ich sie auch, die schmale Holzbrücke. Ich bleibe stehen, sehe den Steg so friedlich den schmalen Fluss überspannen. Dort drüben wartet die Ruhe auf mich. Die grausame Stimme wird mich verlassen.
ICH GEHE ÜBER DIE BRÜCKE.
Bildmaterialien: pixabay CC0 Public Domain - User: andybreit
Tag der Veröffentlichung: 16.05.2017
Alle Rechte vorbehalten