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Versprochen ist versprochen

Xaver Bröslsteiger hatte es doch noch zu was gebracht. Er hatte einen guten Posten in der einzigen Zweigstelle einer Bank, welche in dem Ort existierte, bekommen und bezog nun ein regelmäßiges Einkommen. Nichts Besseres hätte ihm passieren können, als in der Welt der Zahlen sein berufliches Zentrum zu haben, sogar in der Welt jener Zahlen, die praktische Bedeutung haben. Die Zahlen auf einem Konto bedeuten Geld. Und das weiß doch jedes Kind, dass hundert Euro zu haben oder nicht zu haben, ein großer Unterschied ist.

 

Xaver hatte seit früher Kindheit an einer gewissen Sprachhemmung gelitten, das heißt, er kriegte das, was er sagen wollte, nicht unmittelbar und fließend heraus, sondern druckste immer erst ein bisschen herum, wobei sich seinem Kehlkopf undeutliche Laute entrangen. Der behandelnde Arzt hatte ihn deswegen an einen Logopäden überwiesen, doch dieser wies ihn zurück, weil er nach den ersten Stunden mit dem kleinen Xaver zu dem Schluss gekommen war, dass es sich nicht um eine Sprachhemmung, sondern um Begriffsstutzigkeit handelte.

 

Wie auch immer, Xavers Schwäche war ein gefundenes Fressen für seine Klassenkameraden, die rücksichtslos, wie Jungen in dem Alter zu sein pflegten, ihn aufzogen und hänselten. Die Klassenlehrerin bekam das trotz ausgeklügelter, vom Ministerium verordneter Anti-Mobbing-Programme nicht in den Griff. Was hätte sie auch sagen sollen, wenn die ganze Klasse in lautes Lachen ausbrach, nachdem Xaver auf die Frage „Wo wohnt der Papst?“ geantwortet hatte:

„In Vatis Kahn!“

 

In der Pause, als alle draußen beim Spielen waren, stürzten sich die Jungen, allen voran Helmut, sein Sitznachbar, auf ihn:

„So, hat dein Vati seinen Kahn dem Papst geliehen? Ha ha!“

„Nein, das meinte ich doch nicht. Mein Vater hat doch gar keinen Kahn.“

Es half alles nichts.

 

In einer späteren Stunde war die Lehrerin auf gesellschaftliche Themen eingegangen und hatte die verschiedenen Berufe, die es gibt, zum Thema gemacht. Dabei war sie auch auf die Bedeutung der Banken eingegangen, ein Stichwort, bei dem Xaver hellhörig wurde, da sein Vater ja in diesem Bereich arbeitete. Er sah die Gelegenheit gekommen, seine vorige Dummheit wieder gutzumachen und meldete sich deswegen zu Wort.

„Ja, Xaver, was möchtest du sagen?“, fragte die Lehrerin. Und Xaver antwortete:

„Mein Vater ist ein Spekulatius, der verdient ganz viel Geld an der Börse!“

Wieder war schallendes Gelächter in der ganzen Klasse das Ergebnis, sehr zu Xavers Verwunderung.

 

Auch die Lehrerin konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, versuchte aber dann, die Stimmung wieder ins Ernsthafte hinüberzuziehen, indem sie anfing zu erklären, was eine Börse ist und was Spekulanten tun, die ja so, wie Xavers Vater, an der Börse arbeiteten.

 

Xavers Mutter bekam selbst nach einiger Zeit Zweifel, welche Art von Störung bei ihrem Sohnemann vorlag. Dazu bekam sie Anlass, als sie ihn eines Tages ratlos vor dem geöffneten Kühlschrank stehen sah.

„Was machst du denn da?“, fragte sie.

„Ich suche nach etwas, womit ich die Jacke füttern kann.“

„Die Jacke füttern? Wieso das?“

„Wir machen morgen einen Ausflug in die Wildsteiner Höhle, und da hat die Lehrerin gesagt, wir sollen eine gefütterte Jacke mitbringen. Und jetzt weiß ich nicht, womit ich sie füttern soll.“

„Ach, Mensch, Dummerchen, doch nicht so füttern!“

Woraufhin die Mutter ihrem Sohn den Unterschied zwischen Futter, das man dem Vieh gibt, und Futter, das man in eine Jacke stopft, lang und breit erklären musste. Xaver konnte absolut nicht verstehen, warum die Menschen ein Wort für zwei so grundverschiedene Dinge benutzten. Und die Mutter fragte sich, ob Xaver nun begriffs- oder sprachstutzig oder beides sei.

 

Ja, die Welt ist nicht einfach, schon gar nicht für ein einfaches Gemüt, welches sich so wie Xavers nach Ordnung und Klarheit sehnt. Eines Morgens war er ganz stolz in die Klasse gekommen, um zu erzählen, dass er jetzt bald einen Neffen oder eine Nichte bekommen würde. In diesem Fall waren die Mädchen interessiert, besonders die rothaarige und sommersprossige Trine, die keine Gelegenheit ausließ, ihre Machtstellung innerhalb der Mädchengruppe zu behaupten.

„Wieso kriegst du bald einen Neffen oder eine Nichte?“, fragte sie Xaver, der stolz und breitbeinig neben seinem Schultisch stand.

„Ja, meine große Schwester wird bald Mutter. Sie ist jetzt schon eine Gebärmutter!“

Die umherstehenden Mädchen brachen in Lachen aus.

„Sag das noch mal“, forderte Trine ihn auf, „was ist deine große Schwester?“

„Eine Gebärmutter!“, erwiderte Xaver unschuldig, „Sie wird bald ein Kind gebären!“

Erneutes Lachen war die Folge.

Aber Trine war mit der Sache noch nicht fertig:

„Das hast du falsch verstanden, Xaver. Es heißt nicht Gebärmutter, sondern Begehrmutter!“

„Ach so“, murmelte Xaver.

 

Kaum hatte die Lehrerin den Klassenraum betreten, verkündete Trine stolz:

„Xaver wird bald Onkel!“

„Ja? Tatsächlich, Xaver?“, fragte die Lehrerin, zu Xaver gewandt.

„Ja, ich bekomme einen Neffen oder eine Nichte. Meine große Schwester ist jetzt eine Begehrmutter!“

Xavers Mitschüler konnten sich nicht halten vor Lachen und trampelten mit den Füßen. Dieser aber schaute um sich und konnte nicht begreifen, was vorging, hatte Trine ihm doch gerade erst das richtige Wort beigebracht.

Auch die Lehrerin verstand den Zusammenhang nicht, weil sie bei dem Wort Begehrmutter erst einmal überlegte, ob Xaver irgendetwas mit Prostitution meinte, das er missverstanden hatte. Daher zog sie es vor, die Sache nicht weiter zu verfolgen, sondern begann sofort mit dem neuen Thema, nämlich der Geschichte des Mittelalters. Da erzählte sie dann natürlich von Burgen, von Kaisern, Königen und Kreuzzügen, von stolzen Rittern und Turnieren und von den Frauenzimmern, die dabei waren.

Xaver wähnte sich besonders klug, als er sich meldete und fragte:

„Waren die Frauenzimmer damals schon heizbar? Es gab doch noch keine ...“

Weiter kam er nicht, weil rohes Lachen seine Erläuterungen unterbrach.

„Nein“, erklärte die Lehrerin, „so hat man damals die adeligen Damen genannt. Damit waren keine echten Zimmer gemeint.“

Xaver legte seine Stirn in Falten. Also warum nennt man Menschen Zimmer, das gibt doch keinen Sinn!

 

Ja, so hatte Xaver seine Rolle bekommen, was ja nicht ausbleibt in der Gruppenpsychologie einer Klasse. Und hat man erst seinen Stempel weg, so wird man ihn über Jahre nicht mehr los. Mit der Zeit war Xaver still geworden. Er traute sich nicht mehr, noch irgendwas zu sagen, um nicht wieder ausgelacht zu werden. Daraufhin diagnostizierte der Arzt „selektiven-elektiven Mutismus“, und der einzige, schon etwas in die Jahre gekommene Psychotherapeut in dieser Kleinstadt, Dr. Remigius Fresenius, bekam zu der Fülle seiner Patienten, die an verschiedenen Formen von Komplexen, Syndromen, Aggressionen und Depressionen litten, einen neuen Fall hinzu, den er ebenso wenig verstand und zu heilen wusste, wie die anderen Fälle.

 

Erschwerend kam hinzu, dass Xavers Vater plötzlich und unerwartet verstarb. Sein Beispiel sei angeführt und all jenen vor Augen gehalten, die meinen, der rasche Ankauf und Verkauf von Aktien könne einen zu einem reichen Menschen machen. Ja, vielleicht, aber man bedenke das ständige nervöse Vibrieren des Herzens bei allen Kursschwankungen, rauf und runter, runter und rauf, und am Ende ist man entweder ein reicher Mann oder ein armer Mann oder ein toter Mann.

 

Immerhin hatte er seiner Familie ein Häuschen hinterlassen, genauer gesagt: eine Doppelhaushälfte. Man beachte diese Gedankenkonstruktion: Man nehme ein Haus, verdoppele es und teile es dann wieder durch zwei. Dann ist das, was am Anfang ein Haus war, kein Haus mehr. Das Gleiche gilt natürlich auch für andere Dinge, zum Beispiel Kuchen. Denn eine Doppelkuchenhälfte ist weniger als ein Kuchen. Man muss ihn nur mal gegessen haben, dann merkt man das schon.

 

Also in diesem Haus, das eigentlich kein Haus war, lebte fortan Xaver mit seiner Mutter allein. Der Vorteil des Todes des Vaters – eine Nachricht übrigens, welche von den Mitschülern mit dem Satz „Der Spekulatius ist gestorben“ weiterverbreitet wurde – war aber, dass Xaver nun ein eigenes Zimmer bekam und nicht mehr auf dem Klappbett in der Küche schlafen musste. Er konnte nun an seinem Schreibtisch sitzen und aus dem Fenster schauen und hatte eine schöne Aussicht in den Garten, sowohl den elterlichen, neuerdings halbelterlichen, als auch in den Garten der Leute, welche die andere Doppelhaushälfte bewohnten.

 

Der Nachteil war, dass Xaver jeden Streit, der bei den Nachbarn vor sich ging, sehr gut mitbekam, denn sein Zimmer lag direkt an der Wand, welche die zwei Häuser trennte und zu halben Häusern machte. Der Streit unter den Eheleuten – sie „Hermine“ geheißen, er „Alois“ - verlief stets nach dem gleichen Muster. Erst redete man, dann schrie man sich an, dann riss Alois die Haustür auf, rief laut „Heil am Sack“ und knallte die Tür zu. In dem Wirtshaus „Zum Pfundshammel“ setzte sich der Alois dann an die Theke, leerte ein paar Gläser Bier und schimpfte über die Mistgurgel, also seine Frau, die er zuweilen auch „Britschn“, Bixn“ oder „Blunzn“ nannte, wobei nur der Wirt, der ihm das Bier nachfüllte, verstand, worum es sich handelte.

 

Also das Ehepaar nebenan war eigentlich nur noch dem Namen nach ein Ehepaar, in Wirklichkeit waren sie schon lange nur noch zwei Ehepaarhälften, die zufälligerweise in derselben Doppelhaushälfte wohnten. Xaver, der nun schon zum fünfzigsten Mal die Tür hatte knallen hören, nicht ohne vorher den Alois laut „Heil am Sack“ brüllen gehört zu haben, musste dann doch eines Tages seine Mutter fragen, inwiefern am Sack irgendein Heil zu finden sei.

 

„Wie bitte?“, wiederholte die Mutter, „Heil am Sack? Wie kommst du denn darauf?“

„Na, der Alois ruft das immer, wenn er rausstürmt, bevor er die Tür zuknallt!“

„Aber Xaver, er ruft nicht „Heil am Sack“, erklärte die Mutter, „er ruft „Heiland Sack“. Das ist die verkürzte Form von „Heiland Sakrament“. Wusstest du das denn nicht?“

 

Nein, Xaver hatte das nicht gewusst. Die Verbindung von „Sack“ zu „Sakrament“ ist ja wahrhaftig nicht leicht zu vollziehen für jemanden, der sowieso Schwierigkeiten hat, Spekulatius und Spekulant, Monogamie und Monotonie, Thesen und Prothesen, Paris und Paradies auseinanderzuhalten.

 

Kein Wunder also, dass Xaver sein Heil in der Welt der Zahlen suchte. Hier war alles klar und ordentlich, und – was keiner vermutet hätte – Xaver wurde ein hervorragender Mathematiker. In der Abschlussklasse an der Realschule war er seinen Mitschülern weit überlegen, und er kostete es aus, wenn der Helmut, der ihn früher soviel geärgert hatte, oder die Trine, die ihn mit der Gebärmutter-Begehrmutter reingelegt hatte, ihn um Hilfe bei den Hausaufgaben baten.

 

Nach dem Schulabschluss bot sich eine Lehre bei der örtlichen Bank ganz selbstverständlich an. Der Chef erkannte sofort Xavers gute Eigenschaften. Er sah, dass er genau und verlässlich war, vielleicht ein bisschen unbeholfen im sozialen Umgang und manchmal ungeschickt im Sprechen, aber dafür umso vertrauenswürdiger und vollkommen ehrlich. So erschien Xaver im grauen Anzug und mit dunkelgrauem Schlips täglich bei der Bank, erlernte dieses Handwerk zur vollen Zufriedenheit seines Chefs und bekam deswegen auch eine gute und sichere Anstellung.

 

Die Mutter war sehr froh, dass Xaver es soweit gebracht hatte. Seine Begriffsstutzigkeit war auch allmählich einer größeren Wendigkeit im Denken gewichen – man kann ja schließlich alles lernen.

Immer noch wohnte Xaver in demselben Zimmer, in welches er nach dem Tod seines Vaters eingezogen war, und genoss nachmittags, nach Geschäftsschluss, den Ausblick in den Garten, genauer gesagt den Ausblick über den Schirm seines Computers hinweg in den Garten. Denn auch an Feierabend beschäftigte sich Xaver noch mit Fragen der Bank und der Börse und war gewissermaßen dabei, in die spekulativen Fußstapfen seines Vaters zu treten. Bei dem Blick in den Garten der Nachbarin – man muss wissen, dass Alois inzwischen ausgezogen war und seine Britschn-Bixn-Blunzn verlassen hatte – bekam Xaver zuweilen auch Hermines wunderschönen „Oarsch“, wie die Bayern den hinteren Teil des Körpers nennen, zu Gesicht, besonders dann, wenn diese sich bückte und das Unkraut ausrupfte.

 

Seit dem Auszug ihres Mannes war Hermine richtig aufgeblüht und ihr Garten auch. Kinder hatten sie ja keine gehabt, so dass Hermine nun sehr viel Zeit hatte und sich, abgesehen von einer kleinen Nebentätigkeit, die sie zum Überleben brauchte, voll und ganz dem Garten widmen konnte. Dort keimte und wuchs es in allen pflanzlichen Formen, es grünte und blaute und rötete, so dass es eine wahre Freude für das Auge war, besonders für Xavers.

 

„Sie ist wirklich gut im Beet“, sagte Xaver eines Tages zu seiner Mutter.

„Was sagst du da?“, rief die Mutter geschockt, „sie ist gut im Bett? Ja, hast du denn …? Aber Xaver, wirklich, ich wusste ja gar nicht ...“

 

Xaver verstand die Aufregung seiner Mutter nicht:

„Ich meine, sie ist gut im Garten, also wie sie die Beete pflegt und so ...“

„Ach so!“

Die Mutter atmete erleichtert aus.

 

Xaver hatte da einen wunden Punkt getroffen. Denn sie machte sich wirklich Sorgen. In all den Jahren hatte sie an ihrem Sohn nie irgendeine Anwandlung von sexuellen Motiven feststellen können und hatte sich gefragt, ob er eigentlich normal sei.

Deswegen hatte sie seit einiger Zeit versucht hervorzuheben, dass Xavers Kusine, die Edeltraud, ins heiratsfähige Alter gekommen sei und dass sie eine gehörige Mitgift mitbringe.

Xaver liebte das Thema nicht. Erstens war ihm am Heiraten nicht gelegen, und zweitens mochte er die Edeltraud nicht. Sie war immer ein wenig ungepflegt, und das königlich-bayerische Parfum, das sie benutzte, machte sie nicht erträglicher.

 

Xaver hatte seiner Mutter mehrmals erklärt, dass er die Edeltraud nicht heiraten wolle, weil er sie nicht leiden könne.

„Aber sie ist reich“, hatte die Mutter stets erwidert, „der Vater hat den riesigen Gstudl-Hof und sie wird ihn ganz allein erben!“

„Was soll ich denn mit dem Gstudl-Hof und den ganzen Kühen und Ziegen und Wiesen! Ich verdiene selbst genug Geld.“

„Ja, aber du musst ja mal hier ausziehen, und wo willst du denn da hin?“

„Muss ich denn hier ausziehen, Mutter? Warum denn?“

Daraufhin wusste sie nie was zu sagen.

 

Natürlich war es ihr auf eine Art recht, dass der Bub noch bei ihr wohnte. Da hatte sie was zu tun, konnte sich um ihn sorgen und hatte immer ein bisschen Unterhaltung, denn was noch an selektivem-elektivem Mutismus bei ihm vorhanden war, bezog sich auf jeden Fall nicht auf sie.

 

Und Xaver, er hatte es doch gut. Ihm wurde das Essen gekocht, die Wäsche gewaschen, er brauchte sich um das Putzen nicht zu kümmern, kurzum, er hatte dort bei seiner Mutter ein feines Leben. Das Einzige, was ihn störte, war, dass ihm die Mutter wegen der Edeltraud fast täglich in den Ohren lag und ihn mehr oder weniger dazu aufforderte, seine Kusine so schnell wie möglich zu heiraten.

 

Ja, die Edeltraud war eine gute Partie. Und es war wirklich Eile geboten. Denn sie war ja absolut keine Klosterdirne, sondern liebte das Leben, und wenn jetzt irgend so ein Lucki, ein Verführer, daherkam, und ihr ein Kind verpasste, konnte es sein, dass die Partie vergeben war und der Gstudl-Hof in weiter Ferne verschwand, mit all seinen Kühen, Ziegen und Wiesen.

Deswegen drängelte die Mutter und ließ nicht nach.

 

Eines Tages kam es zum Eklat. Es war Sonntag, und wieder hatte die Mutter ihren Sohn mit der Heiratsfrage genervt. Doch nun wurde sogar so ein ruhiger und zumeist gehemmter Mensch wie der Xaver Bröslsteiger an die Grenze seiner Geduld gebracht. Plötzlich brach es aus ihm heraus, und zwar mit einer ungebremsten Sprachflut, wie es sie in seinem Leben bislang noch nicht gegeben hatte:

 

„Jetzt reicht es, Mutter. Ja, ich werde ausziehen. Und ja, ich werde heiraten, und zwar die erste Frau, die mich im Laufe der nächsten Stunde anspricht. Damit es endlich ein Ende hat mit dieser gottverdammten Edeltraud, die ich nie heiraten werde! Ich gehe jetzt zum Pfundshammel und bin in einer Stunde wieder da. Die Frau, die mich in dieser Stunde anspricht, werde ich heiraten, ob sie schön oder hässlich ist, reich oder arm, das ist mir egal. Ich werde sie heiraten, ich werde sie zwingen, mich zu heiraten, das verspreche ich dir! Und dann hab ich meine Ruhe!“

 

Er rief „Heil am Sack“, ging hinaus und schlug die Tür mit einem lauten Knall hinter sich zu.

 

Die Welt hatte Xaver noch nie so wütend gesehen. Ja, er hatte auch nur Nerven, und die waren schon verschlissen genug von dem jahrelangen Mobbing in der Schule. Jetzt musste seine Mutter ihm nicht auch noch das Leben unerträglich machen!

 

Doch als er die Straße entlang ging und einige hundert Meter weiter vor sich die schwarzgekleidete Bettlerin aus der Walachei am Straßenrand sitzen sah, beruhigte er sich beträchtlich und bekam große Bedenken, sein Versprechen mit dieser fremden Frau in die Tat umzusetzen. Also, etwas wählerisch war er ja schon. Die walachische Frau würde ihn ansprechen und um einen Euro bitten, da war er sich sicher. Und dann war er geliefert, denn ein Versprechen musste gehalten werden, das war seine felsenfeste Überzeugung.

 

Also überquerte er die Straße und wählte einen anderen Weg zum Pfundshammel. Dort in der Kneipe war er sicher, da saßen ja ohnehin nur Männer, da würde ihm nichts passieren. Und auf dem Rückweg, na ja, vielleicht würde ein schönes Mädchen ihn ansprechen, eine treue Seele, die ihn lieben, für ihn kochen, seine Wäsche waschen und die Wohnung sauber halten würde. So etwas gab es doch. So unwahrscheinlich es auch war, in seiner Erregung hatte er Lust, daran zu glauben.

 

Im Pfundshammel angekommen, setzte er sich an die Theke und bestellte ein Bier. Nur Sekunden später setzte sich ein Mann neben ihn. Xaver blickte auf und erkannte seinen früheren Nachbarn Alois.

„Ja, da schau her, der Xaver! Ham di die Weibsbilder a aus'm Haus nausgjagt oder kimmst freiwillig?“

 

Nun war Xaver genötigt zu erzählen, warum er freiwillig den Weg zum Pfundshammel gewählt hatte, nämlich dass ihn die Mutter schon seit Monaten mit seiner Kusine Edeltraud plagte, die er unbedingt heiraten sollte.

 

„Ja, die Edeltraud vom Gstudl-Hof? Dös iss a Bochratz und a Britschn, die mog koaner!“

 

Und so entwickelte sich das Gespräch zwischen Männern, der eine erfahren und voller Frauenhass, der andere unerfahren und nur an einem interessiert, nämlich an seiner Ruhe und Bequemlichkeit.

 

Nach einer Viertelstunde hatte Xaver sich beruhigt und trat den Heimweg an. Er war sicher, dass ihn unterwegs keine Frau ansprechen würde, abgesehen von der walachischen, um die er aber einen großen Bogen machen würde. Warum sollte ihn jemand ansprechen? Das war doch noch nie passiert, außer einmal, als österreichische Touristen, von Alois „Schluchtnscheißer genannt“, ihn nach dem Weg fragten.

 

Aber das Schicksal wollte es anders. Xaver öffnete gerade die Pforte zum Vorgarten der Doppelhaushälfte, als es von links hervortönte:

 

„Servus, Xaver!“

 

Und hinter einem blühenden Fliederbusch kam das freundlich lächelnde Gesicht der Nachbarin hervor.

 

Xaver blieb wie angewurzelt stehen. Die Stunde war noch nicht ganz herum. Das Schicksal hatte gewaltet. Das Versprechen war zu halten.

 

Xaver druckste herum. Hermine, die Nachbarin, war mit Xavers Sprachhemmung ja gut bekannt und wusste, dass man ihm Zeit geben musste, wenn er etwas sagen wollte. Sie runzelte die Stirn und blickte ihn erwartungsvoll an. Plötzlich schoss es aus Xaver heraus:

 

„Willst du mich heiraten?“

 

Das Lächeln auf Hermines Gesicht erstarrte. Mit allem hatte sie gerechnet, nur nicht mit einem Heiratsantrag. Mit einer Geschwindigkeit, mit welcher nur das weibliche Gehirn Denkprozesse vollziehen kann, durchlief sie alle Optionen, die sie hatte, und kam zum Schluss, dass, obwohl sie fünfzehn Jahre älter war als Xaver, die Verbindung mit einem Bankangestellten, noch dazu mit einem so ruhigen und verlässlichen, sicherlich günstig war und sie aus einer relativ prekären finanziellen Situation erlösen würde. Außerdem war er ein hübscher Junge und sicher nicht so grob im Bett wie der Alois. So ein Sensibelchen konnte man sicher nach seinen Vorstellungen formen.

 

Währenddessen starrte Xaver sie an und suchte in Gedanken nach Druckmitteln, mit welchen er Hermine zur Heirat zwingen konnte. Doch alles, was in seiner Vorstellung hochkam, war der reizende Anblick von Hermines Oarsch, den er zu betrachten pflegte, während sie im Garten Unkraut rupfte.

 

Die ganze unerfüllte Begierde eines jungen Mannes, der noch nie eine nackte Frau gesehen, geschweige denn sie angefasst hatte, bündelte sich jetzt in dem einen Satz, der völlig ungehemmt aus seinem Inneren hervorbrach:

„Hermine, du musst mich heiraten!“

 

Das Lächeln kehrte auf ihr Gesicht zurück.

„Ja“, sagte sie, „ich muss dich heiraten!“

 

Und so kam es dann auch. Alle Einwände von Seiten seiner Mutter, in welchen zu wiederholten Malen der Gstudl-Hof und all seine Kühe, Ziegen und Wiesen vorkamen, sowie die Edeltraud mit ihrem Erbanspruch, wurden von Xaver damit beantwortet, dass er seinen Computer nahm und nach nebenan zog. Damit war der Hauptteil des Umzugs eigentlich schon bewältigt, und es waren Fakten geschaffen. Das bürokratische Nachspiel wurde einige Monate später vollzogen, und somit fand sich Xaver als frischvermählter Bräutigam in der anderen Doppelhaushälfte wieder, in der alles eigentlich genauso war wie in der Hälfte seiner Mutter, nur dass die Zimmer spiegelbildlich angeordnet waren.

Auch ansonsten war alles wie bei Muttern. Hermine kochte für ihn, wusch seine Wäsche und hielt das Haus sauber. Am Feierabend saß Xaver an seinem Computer, blickte zuweilen hinaus in den Garten und betrachtete voller Wohlgefallen den Oarsch seiner Angeheirateten. Und ebenso gut, wie Hermine im Beet war, war sie auch im Bett und führte den unerfahrenen Bub in die Geheimnisse der Liebe ein, ganz praktisch wohlgemerkt.

 

Aus der praktischen Liebe entwickelte sich mit der Zeit durchaus eine faktische Liebe, denn beide waren zufrieden und fanden Gefallen aneinander.

Xavers Mutter, die nun zur Nachbarin geworden war, schmollte anfangs. Aber als ganz groß in der Zeitung stand, dass der Gstudl-Hof wegen Misswirtschaft Konkurs gegangen war, war auch sie zufrieden. So hatte also Xaver endlich sein Paris gefunden und auch den Unterschied zwischen Monogamie und Monotonie gelernt. Falls es je eintönig wurde, so hatte diese Eintönigkeit spätestens ein Ende, als Kinder kamen. Obwohl Hermine einiges älter war als ihr Ehemann, so war sie doch eine echte Begehrmutter. Und keine zweite verstand so wie sie, zu Weihnachten für ihre kleinen Bröslsteiger-Kinder Spekulatius zu backen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 






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Tag der Veröffentlichung: 14.04.2017

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