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Stufen ins Glück

„Herr Milo bitte in den Kassenbereich. Herr Milo bitte!“ Ronny hört die Aufforderung seiner Kollegin, aber sie dringt nicht in sein Bewusstsein vor. Er sitzt im Pausenraum des Baumarktes und starrt auf sein Smartphone. Heute soll die Entscheidung fallen, ob er als Kandidat für die Rate-Show „Stufen ins Glück“ ausgewählt ist. Jeden Moment kann der Anruf von der SiG - Redaktion eingehen.

Man kann bei SiG fünfzigtausend Euro gewinnen. Das wäre Ronnys Rettung. Er wünscht sich so sehr ein Auto. Es muss kein großes oder besonders teures sein, auch nicht unbedingt ein Neuwagen. Er stellt sich vor, dass es das besondere Etwas hat. Vielleicht findet er so einen kleinen dreirädrigen Transporter. Auch ein alter bunter Bully könnte ihn begeistern. Trabant - Kübel oder Cabrio – hat auch einen Platz in Ronnys Fantasie. Hauptsache das Gefährt ist auffällig und hat zwei Plätze. In seinen Träumen sieht er sich auf dem Fahrersitz und Annika neben sich - die hübsche kleine Annika, die in der Berufsschule eine Klasse unter ihm war. Jetzt, seit er Facharbeiter ist, sieht er sie nur noch manchmal in der Disco.

Da ist sie schon wieder, diese Ansage, die Ronny im Unterbewusstsein an seine Pflicht erinnert, aber seine Konzentration auf das Smartphone nicht unterbrechen kann. Lediglich der Gedanke an Annika kann ihn kurzzeitig in eine andere Welt entführen.

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Ronny, hier, nimm meine Tasche, sie ist so schwer.“

Ach Annika, die ist doch nicht schwer. Sieh mal, ich kann sie am ausgestreckten Arm halten.“

Du bist so stark, ich bin so glücklich, dass ich dich habe.“

Meine Süße, das wird ein ganz tolles Wochenende.“ Ronny nimmt Annika in den Arm und küsst sie zärtlich. Dann steigen beide in Ronnys bunten Bully und machen sich auf.

***

„Herr Milo bitte in den Kassenbereich. Herr Milo bitte!“ Jetzt aber! Ronny will gerade losstürzen, da klingelt tatsächlich sein Smartphone. Es ist die Redaktion der Rate-Show „Stufen ins Glück“.

„Spreche ich mit Herrn Ronny Milo?“, sagt die freundliche Dame am anderen Ende der Leitung, die sich als Dorothea Kleinschmidt vorgestellt hat.

„Ja, der bin ich. Ich habe schon auf ihren Anruf gewartet.“; sagt Ronny und es klingt unerwartet gefasst. In seinem Inneren überschlagen sich die die Gedanken. Da purzeln das stolze Gesicht seiner Mama mit dem engelsgleichen von Annika und dem strengen Augenaufschlag des Marktleiters durcheinander. Und im Hintergrund verschwimmen die neidischen und frechen Fratzen seiner Kumpels.

„Also sehen wir uns übermorgen bei der Show! Tschüß dann!“, sagt Dorothea zum Schluß des Gespräches, von dem Ronny fast nichts mitbekommen hat außer Tag, Uhrzeit und Ort seines Starts.

„Herr Milo bitte in den Kassenbereich. Herr Milo bitte!“ Auweia, das war der vierte Aufruf. Ronny stürzt los und strahlt seine Kollegin an der Kasse an. Er macht ihr ein charmantes Kompliment und einen kleinen Witz, was sie nicht anders erwartet hat, den sonst hätte sie nicht so geduldig gewartet.

„Mensch Ronny, ein Glück, dass du endlich da bist. Schnell übernimm mal, sonst passiert mir noch ein Malheur.“

„Das mache ich doch glatt! Du hast heute extra nette Kunden, da ist das die reinste Freude!“, sagt er gerade noch laut genug, dass die Kunden in der Schlange es hören. Ja, Ronny ist gerne in seinem Beruf. Er mag seine Kollegen und liebt den Kontakt zu den Kunden. Trotzdem ist er seit diesem aufregenden Anruf mit seinen Gedanken nur noch bei seiner Chance bei „Stufen ins Glück“ das große Geld zu gewinnen und seinen Traum mit Annika zu verwirklichen.

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Ronny?“, fragt Annika vom Beifahrersitz aus mit ihrer zuckersüßen Stimme.

Ja mein Schatz, was ist denn?“, erwidert Ronny mit einem kurzen Blick zu ihr herüber, um dann wieder seine volle Konzentration auf die Straße zu richten.

Ich liebe deine Überraschungen bei unseren Wochenendausflügen. Als du vorige Woche mit mir zu dem tollen Konzert gefahren bist, war ich so glücklich. Und das romantische Wochenende in der Berghütte mit Kamin und Bärenfell war einfach nur ein Traum.“

Es ist meine Art, die meine Liebe zu zeigen!“

Mit breitem Lächeln im Gesicht fahren die Beiden Ronnys neuer Überraschung entgegen.

***

Nach der Arbeit beeilt sich Ronny, nach Hause zu seiner Mama zu kommen. Aus Sparsamkeitsgründen wohnt er noch bei ihr, denn er kann sich nicht auf den großen Gewinn verlassen und spart jeden Euro für seine Zukunft mit Annika.

„Mama! Es ist passiert!“, ruft er schon von der Wohnungstür aus.

„Was ist los?“; Mama ist erschrocken. Sie kann aus seiner Aufgeregtheit nicht herauslesen, ob es sich um eine Katastrophe oder eine freudige Nachricht handelt, die er mit nach Hause gebracht hat.

„Ich sage nur drei Buchstaben: S-i-G.“

„Nein! Das kann doch nicht wahr sein! Du bist dabei?“

„Ja, ja, ja, ja!“, schreit er förmlich heraus. „Ich bin dabei! Schon Übermorgen!“

Ronny schnappt sich seine Mama und wirbelt sie in der Küche herum, wo sie gerade dabei war, das Abendessen vorzubereiten. Dass dabei ein Glas vom Küchentisch stürzt. Nehmen sie zwar zur Kenntnis, aber die Freude über den ausstehenden Gewinn lässt sie über der Realität schweben.

Nach dem Abendessen setzt er sich an den Computer uns bereitet sich auf seinen Auftritt bei SiG vor. Frage um Frage geht er durch, die in dem Online-Portal von SiG aus den vergangenen Shows zusammengetragen sind. Wie immer ist er darin sehr gut. Kaum eine Frage, die er nicht beherrscht. Dann liest er querbeet Neuigkeiten aus Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur und Tratsch. Erst als ihm lange nach Mitternacht die Augen anfangen zuzufallen, geht er schlafen.

Am nächsten Morgen kümmert sich Ronny darum, dass er frei bekommt.

„Aber natürlich, Herr Milo, bekommen sie frei. Ich weiß doch, wie wichtig das für sie ist. Der ganze Markt wird morgen Abend am Fernseher kleben und zusehen, wie sie bei SiG abräumen.“, sagt der Marktleiter ermunternd. Ronny ist so aufgeregt, dass er gar nicht heraushört, dass in seiner Stimme ein wenig Sarkasmus mitschwingt. Ronny ist im Markt sehr beliebt, aber sein ständiges Gerede von dem großen Gewinn bei „Stufen ins Glück“ wird von allen belächelt. Er klugscheißert wo es nur geht. Dabei demonstriert er oft ein erstaunlich detailliertes Wissen. Aber wenn er mal ein Angebot auf eine Tafel schreiben soll, fehlt gerne mal ein Buchstabe oder er erfindet die Rechtschreibung neu.

„Wir drücken ihnen alle ganz fest die Daumen.“

„Vielen Dank, ich werde sie nicht enttäuschen.“

***

Annika schwärmt: „Als du damals bei SiG deinen großen Auftritt hattest, habe ich so sehr mitgefiebert. Bei jeder einzelnen Frage habe ich gedacht, dass du es nie wissen kannst. Und dann hast du alles richtig gut gewusst. Ich war ganz hin und her gerissen.“

Ich habe das alles nur für uns gemacht, Annika. Ich war damals schon verliebt in dich.“, gesteht ihr Ronny.

Ich hatte das schon längst gemerkt. Und als du dann mit dem großen Blumenstrauß, den du mit deinem Gewinn überreicht bekommen hast, vor meiner Tür standest, bin ich ganz schwach geworden, denn ich hatte dich auch schon heimlich ins Auge gefasst.“

Jetzt sind sie mit dem Bully auf einer Lichtung an einem kleinen See angekommen. Annika staunt, denn Ronny hat einen Pavillon vorbereitet, unter dessen weißem Dach ein Tisch mit zwei Campingstühlen für einen Imbiss eingedeckt ist. Sie umarmt und küsst ihn. Dann startet er die letzten Handgriffe für seine Überraschung.

***

„Herzlich willkommen, Ronny! Ich darf doch Ronny sagen? Nennen sie mich Dorothea. Hatten Sie eine gute Anfahrt? Kommen sie hier entlang, ich zeige ihnen gleich die Garderobe.“

Ronny kommt gar nicht dazu, Dorothea Dorothea zu nennen, denn sie redet ununterbrochen. Wenn sie mal eine Pause macht, dann nur, um kurz in Ihrem Smartphone eine Nachricht abzurufen oder zu senden. Ronny saugt jedes Wort auf, denn es ist sehr wichtig für ihn, alles zu beachten, was dem Erfolg seiner Mission gut tut.

In der Garderobe ist ein Buffet aufgebaut. Ausreichend Speisen und Getränke stehen bereit. Er teilt die Garderobe mit den anderen Kandidaten der Show. Es ist eine eigenartige Spannung zu spüren, aber alle sind freundlich und respektvoll. Dorothea fordert die Kandidaten auf, sich gütlich zu tun, spricht noch ein paar aufmunternde Worte und verweist auf einen Bildschirm, der den Sender live abspielt und einen anderen auf dem der Ablauf der Show aufgelistet ist und der einen Countdown zeigt. Eine Maskenbildnerin würde noch kommen und sie ein wenig verwöhnen.

In der Show geht es darum, durch die richtige Auswahl aus den vier Antwortmöglichkeiten eine Art Treppe hinaufzusteigen. Man kann sogar mehrere Stufen auf einmal erklimmen. Dann fällt man bei falscher Antwort aber doppelt so viele Stufen zurück. Der Kandidat, der nach den fünfzehn Fragen am höchstens gestiegen ist, gewinnt die fünfzigtausend Euro. Wenn am Ende Kandidaten gleichauf sind, gibt es ein Stechen.

Die fünf Kandidaten des heutigen Abends liefern den Zuschauern ein spannendes Spiel. Zweimal war Ronny schon ganz oben. Vor der letzten Frage war er schon siegessicher, aber er patzte und stieg zwei Stufen ab. Damit war er mit einem älteren Herrn gleichauf. Es sollte also ein Stechen geben - gleich nach der Werbeunterbrechung.

***

Liebste Annika,“, sagt Ronny während er vor ihr auf die Knie fällt. „Es gibt nichts auf dieser Welt, das für mich wichtiger ist, als unsere Liebe. Bitte gib mir ein Ja vor dem Traualtar. Willst du meine Frau werden?“

Ja, ja, ja, mein Liebster!“ Annika fällt ihm um den Hals. Sie hatte schon seit einiger Zeit diese Frage aller Fragen erwartet.

Es ist perfekt. Ronny ist am Ziel seiner Träume.

***

„Herr Milo, wenn sie jetzt gleich die oberste Stufe erreichen sollten und hier bei SiG die fünfzigtausend Euro gewinnen,…“ ein Tusch unterbricht die Frage des Moderators spannungssteigernde Sekunden lang. „……was wollen sie dann mit dem Geld anfangen?“

„Ich werde mir ein Auto kaufen und das Herz einer ganz besonderen Frau erobern.“ Und mit einem Blick in die Kamera fügt er dazu: „Annika, das mache ich hier nur für dich.“

„Dann drücke ich ihnen und ihrer Annika die Daumen.“ Der Moderator befragt den anderen Finalkandidaten ebenfalls und dann konzentriert sich alles auf die letzte und entscheidende Frage.

Von der Bildschirmwand liest der Moderator vor:

„Was passiert Zwillingen häufig?
A: Verwexlung, B: Verwechslung, C: Verweckslung oder D: Verweckselung“

Ronny starrt auf die Frage und auf das Eingabegerät in seiner Hand. Dann starrt er wieder auf die Frage, dann wieder auf die vier Druckschalter auf seinem Eingabeterminal. Hin und her, hin und her geht sein Blick, aber sein Finger drückt keine Taste, denn in seinem Kopf purzeln die Buchstaben durcheinander. Sein Gegenspieler hat schon längst gedrückt, aber Ronny kann sich nicht entscheiden.

Als der Countdown dem Ende entgegen geht, muss Ronny eine Entscheidung fällen. Er sagt zu sich: „Jetzt kann mir nur meine Liebe zu Annika helfen. Ich drücke A.“

Dar Moderator stellt sich zwischen die beiden Kandidaten und steigert die Spannung noch mehr: „Unsere beiden Kandidaten haben unterschiedliche Antworten gegeben. Wenn beide fasch sind, geht das Stechen weiter. Hat einer von ihnen die Rechtschreibung mit Löffeln gefressen, ist mein Sender die fünfzigtausend Euro los. Herr Milo, glauben sie, dass sie Ihre Freundin…., wie heißt sie doch ?“

„Annika ist die Dame meines Herzens.“, antwortet Ronny brav.

„…, dass sie ihre Annika nun glücklich machen können?“

„Man kann sagen, dass sie mir die Lösung eingegeben hat. Das wird mir und damit natürlich auch ihr Glück bringen.“

„Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kandidaten. Eines kann ich schon verraten. ---- Es gibt einen eindeutigen Sieger. --- Einer von Ihnen weiß genau, was mit den Zwillingen passiert. ---- Es ist die ---- Verwechslung!“

Ronny starrt auf die Anzeigetafel, die nicht seine Antwort A, sondern B aufleuchten lässt. Die Scheinwerferkegel fangen nicht ihn, sondern den älteren Herrn ein. Er versinkt nicht nur im Dunkel, sondern fällt in ein unendlich tiefes schwarzes Loch.

Am nächsten Morgen, als Ronny auf dem Weg zur Arbeit ist, steht Annika mitten im Kreise der Kumpels an der Bushaltestelle. Die Gruppe wendet sich ihm zu. Alle, außer Annika, haben ein hämisches Grinsen in den Mundwinkeln. Ronnys Herz fasst die Hoffnung, dass seine Annika gleich etwas nettes Ermunterndes zu ihm sagen wird.

Dann stützt sie die Hände in die Hüften und sagt zu ihm: „Du bekloppter Spasti. Ist dir denn nischt bessres einjefallen, als mir im Fernseher vor der janzen Welt lächerlich zu machen? Sieh zu, dass du mir aus den Weg jehst. Verzisch dir, Alter!“

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 18.03.2017

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