Das Messer war in der Schublade im Küchenschrank. Es hatte eine scharfe Klinge aus Stahl, und einen Griff aus Holz.
Meistens benutzte Dora es, um von einem großen Stück Steakfleisch ein Stück abzuschneiden. Das Fleisch teilte sie in dünne Scheiben. Vorsichtig durchtrennte sie Sehne um Sehne, wobei das Blut langsam aus den Poren sickerte, und Spuren an ihren Händen hinterließ. Das Zerstückeln des rohen Fleisches hatte oft Widerwillen in ihr ausgelöst.
Dennoch, Dieter liebte Steaks. Halb durchgebraten und in der Mitte blutig musste das Fleisch sein.
Dieters Hände waren weiß und glatt wie die Hände eines Menschen, der keine schwere Arbeit zu verrichten hat. Nur die blauen Äderchen waren genau zu sehen. Wie das Netz einer Spinne verzweigten sie sich auf seinem Handrücken.
„Schon wieder Nudelsuppe“, brummte er. Seufzend schob er sich einen Löffel voll in den Mund. Kleine Tropfen bildeten sich auf seinen schmalen, hellroten Lippen. Seine wasserblauen Augen sahen an Dora vorbei, schienen durch sie hin durch zusehen. Sein ovaler Kopf mit dem spärlich gewordenen Haarkranz glänzte matt im Licht der Sonne, die durch das Fenster schien.
„Schließlich bin ich es, der hier die Brötchen verdient, da kann ich ein rechtschaffenes Essen erwarten“, brummelte er.
Dora presste die Lippen zusammen und schwieg, so wie sie all die Jahre geschwiegen hatte, in denen sie mit Dieter verheiratet war. Was er sagte und tat war Gesetz, hier in diesem kleinen schmucken Haus mit den weiß tapezierten Wänden, an denen die Fotos ihres Sohnes hingen, die Dieter ausgesucht hatte. Die neuen Fenster durch die Sonne glitzerte, waren besser zu putzen als die alten. Auch die Vorhänge ließen sich leicht waschen. Es war ein schönes Häuschen. „ Du sollst dich hier wohl fühlen, schließlich bist du den ganzen Tag zu Hause“, hatte Dieter gesagt. Selbst einen neuen Küchenschrank hatte Dora bekommen. Und als Weihnachtsgeschenk einen Messersatz, mit dem Fleischermesser aus blankem Stahl.
An Weihnachten war ihr Sohn Andreas zu Besuch da gewesen. Er wohnte in der fernen großen Stadt. Dort studierte er Rechtswissenschaften. Dora war stolz auf ihn. Er wusste, was er wollte. Aus ihm würde ein guter Rechtsanwalt werden. Natürlich hatte er die Zielstrebigkeit und das Durchsetzungsvermögen von seinem Vater geerbt. Dora selbst hatte nicht viel erreicht im Leben. Mit zwanzig hatte sie Dieter geheiratet. Sie hatte eine abgebrochene Lehre hinter sich, und war gleich nach der ersten Begegnung mit Dieter schwanger geworden. Von ihren Eltern hatte sie keine Hilfe zu erwarten. Die überraschende Schwangerschaft bewog sie nur dazu, Dora zur Ehe zu raten. Eine andere Lösung war nicht zu akzeptieren. Dora hatte den Rat der Eltern befolgt. Sie mochte Dieter. Er war das, was sie sich damals unter einem richtigen Mann vorstellte. Groß, blond zielstrebig und ein guter Bankangestellter mit einem sicheren Einkommen. In all den Jahren in denen sie verheiratet waren, hatte sie nur selten ohne Dieter das Haus verlassen. Dora war immer eine Einzelgängerin gewesen. Sie hatte keine Freundin. „Eine Freundin“, hatte Dieter gesagt, „enttäuscht dich nur. Halte dich an meine Familie, damit hast du den richtigen Umgang.“
Während Dora das Geschirr in die Spülmaschine stellte, schielte sie immer wieder unauffällig zum Küchenschrank. Sie wusste nicht, was sie dazu bewog, fortwährend an das neue Fleischermesser zu denken. Und der rote Sessel war leicht zu reinigen. Blutspuren würden auf dem Lederbezug wenig auffallen…
Dieter saß wie jeden Nachmittag bevor er zur Arbeit ging, in seinem roten Sessel, und las in der Tageszeitung.
„Du träumst wohl wieder“, sagte Dieter, der Doras versonnenen Gesichtsausdruck sah, als er aufstand. Nein, ich..stammelte“ Dora überrascht, ging mit ihm zur Garderobe und half ihm in die Jacke, so wie sie es seit Jahren tat. Als sie ihn berührte, schnürte ihr ein widerliches Gefühl die Kehle zu.
„Wünsche dir einen schönen Nachmittag, und vergiss nicht: Heute Abend möchte ich Steaks essen, “ sagte Dieter. Dora gab keine Antwort. Stumm sah sie zu wie Dieter mit seiner Aktentasche, die er wie immer unter den Arm geklemmt hatte, zu seinem Auto ging, einstieg und zur Arbeit fuhr. Draußen im Garten blühten die Schneeglöckchen. Am Himmel zeigten sich kleine schwarzgraue Wolken. Ein lauer Wind wehte. Bald würde es Frühling sein, und die Arbeit im Garten begann.
Langsam ging Dora zurück in die Küche. Wie immer um diese Zeit nahm sie einen Schwamm in die Hand und reinigte die Spüle. Ihre abgearbeiteten Hände waren ständig in Bewegung. Das weiß gewordene Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammen gebunden. Auf ihrer Stupsnase saß eine randlose Brille.
Dora legte keinen Wert auf Äußerlichkeiten. Auch ihre pummelige Figur, deren Konturen sich durch den Stoff des alten Hauskleides abzeichneten, störte sie nicht. Niemand außer Dieter sah sie an.
Sie holte den Besen aus dem Schrank, kehrte den Fußboden und setzte Kaffee auf. Ihr Tagesablauf war strikt geplant. Dora mochte es nicht, wenn etwas diesen Ablauf durchbrach. Aber der Gedanke an das neue Messer ließ sie nicht los. Plötzlich schrillte das Telefon. Dora zuckte erschreckt zusammen. Um diese Zeit rief sonst niemand an.
Zur selben Zeit saß in der fernen großen Stadt Doras und Dieters zielstrebiger Sohn Andreas auf einer Bank im Garten der Universität. Er hatte ein Buch in der Hand, was er nicht zu bemerken schien, er blickte mit erhobenem Kopf den weißen Wölkchen am Himmel nach. In seinen braunen Augen standen Tränen. Ein leichter Wind strich durch seine bereits schütteren braunen Haare. Neben ihm saß seine Freundin Christa. Christa war groß blond, und sah unverschämt gut aus, wie Andreas meinte. Sie studierte ebenfalls Rechtswissenschaften. Die beiden waren seit einem halben Jahr befreundet. Trotzdem, eben hatte Christa ihm erklärt, dass sie einen anderen Mann liebe. Einfach so. „Meine Eltern haben sich kennen gelernt geheiratet, und sind immer noch zusammen“, sagte Andreas zu den kleinen weißen Wölkchen am Himmel. Er konnte Christa nicht in die Augen sehen.
„Ist er besser als ich?“ fragte er dann mit zitternder Stimme. „Er ist anders“, sagte Christa. „Er nimmt das Leben nicht so ernst wie du. Mit ihm habe ich Spaß. Mit ihm kann ich abends auch mal durch die Kneipen ziehen, oder in die Disco gehen. Er nennt mich „Gänseblümchen“ er liebt meine Haare, meinem Mund und…“ „Ich verstehe, „ Andreas nickte. „Wünsche dir alles Gute, “ sagte er mit heißerer Stimme. Seine Knie zitterten als er aufstand, aber er vermochte sich zu beherrschen. Nein, Christa sollte nicht merken, dass er den Tränen nahe war. Ohne sich umzudrehen, ging er mit schnellen Schritten durch den Garten, und weiter zur S-Bahnstation.
Dora hatte das Gespräch beendet. Es war wie fast immer lediglich ein Werbeanruf gewesen. Sie hatte Wäsche zu waschen, und die Möbel im Schlafzimmer waren sicherlich wieder staubig. Aber wer kaufte schon Schlafzimmermöbel die aus schwarzem Holz waren. Dieter natürlich. Als sie im wohlgeordneten Besenschrank nach dem Staubtuch griff, fiel ihr ein mehrmals zusammengefaltetes Stück Papier, das mit blauer Tinte beschrieben war in die Hände. Neugierig faltete sie es auseinander.
„Liebe Christa“, las Dora. „Für mich ist eine Ewigkeit vergangen, seit wir uns gesehen haben. Ich kann es nicht erwarten, bis ich deinen Kirschmund küssen und deine schönen vollen Brüste berühren darf. Morgen kann ich dich wieder in meine Arme schließen. Ich bin jetzt schon nervös, du bist die schönste Frau, die ich kenne. Wir sehen uns an unserem Treffpunkt.“
Doras Hände zitterten. Es waren wenige Worte, nur undeutlich geschrieben. Aber es war Dieters Schrift. Wie kam dieser Brief in den Besenschrank? Und wer war Christa? Dieter kam jeden Abend pünktlich nach Hause, setzte sich in den hässlichen roten Ledersessel, den er gekauft hatte und fragte: „Was gibt es zum Abendessen?“
Natürlich waren bisweilen Überstunden oder ein Treffen mit Geschäftskollegen nötig gewesen. Das Übliche eben. Dora steckte sich den Zettel in die Schürzentasche, nahm das Staubtuch in die Hand und begann die Möbel abzuwischen. Ihre Wangen röteten sich und die blauen Augen verengten sich zu Schlitzen. Sie dachte angestrengt darüber nach, ob ihr an Dieters Verhalten in letzter Zeit etwas aufgefallen war. Aber sie erlebte mit Dieter immer denselben Tagesablauf. Sie konnte sich nicht erinnern, an welchem Tag er Überstunden gemacht hatte. Dieters An und Abwesenheit war so selbstverständlich wie die Tatsache, dass ein Tag mit dem Morgen begann und mit dem Abend aufhörte. Dazwischen gab es keine Höhepunkte. Als Dora mit ihrer Arbeit fertig war, ging sie in die Küche. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, es war Zeit, an das Abendessen zu denken. Automatisch holte sie das große saftige Stück Fleisch aus dem Kühlschrank legte es auf das Schneidebrett und griff nach dem neuen Fleischermesser. Vorsichtig durchtrennte sie Sehne um Sehne, wobei das Blut langsam aus den Poren sickerte, und Spuren an ihren Händen hinterließ.
Andreas saß in der S-Bahn, die ihn zu seinen Eltern bringen sollte. Er wollte seiner Mutter alles über seine Beziehung zu Christa erzählen. Auch wenn er das bisher nicht getan hatte, denn er hatte die Ehe seiner Eltern als rückständig empfunden. Seine Mutter war eine altmodische Frau, die mit den Ansichten der jungen Frauen nicht mithalten konnte. Doch jetzt brauchte er einen Menschen, der ihm sein Selbstbewusstsein wieder gab.
Ihm gegenüber saß eine ältere Frau, mit einer spitzen Nase und tiefen Falten im Gesicht. Diese Falten erinnerten Andreas an eine Landkarte. Eine Landkarte des Lebens, auf der reichlich gute und schlechte Jahre aufgezeichnet waren. An den Händen hatten sie Schwielen. Sicher hatte sie viel gearbeitet im Laufe ihres Lebens. Ihre blauen Augen dagegen, wirkten natürlich, jung und neugierig. Er lächelte sie an und sie lächelte zurück. Dann stieg sie aus und entschwand in der Menschenmasse auf dem Bahnsteig. Eine flüchtige Begegnung nur, die Andreas daran erinnerte, dass er nicht wirklich wusste was in seiner Mutter vorging. Mit einem Ruck fuhr die Bahn weiter, Andreas lehnte sich in seinem Sitz zurück und ließ die Lichter der Stadt an sich vorüberziehen. Wenn er nach Hause kam würde alles gut werden.
Zur gleichen Zeit verabschiedete sich Dieter von seinen Kollegen und stieg in sein Auto. Der Arbeitstag war anstrengend gewesen. Einer seiner jungen Kollegen hatte versucht, ihn in eine Sackgasse zu treiben, ihm gesagt er hätte vergessen ein wichtiges Dokument zum Chef weiterzuleiten, ihm fast Betrug unterstellt. Nach langem Suchen wurde das Dokument gefunden, und Dieter war froh, aus der Sache herausgekommen zu sein. Nun freute er sich auf den Feierabend. Seine Dora hatte das Essen zweifellos fertig wenn er nach Hause kam. Der Tisch würde gedeckt sein, und es würde nach gebratenem Fleisch riechen.
Dieter fuhr zügig auf der Bundesstrasse, entlang der Bahnlinie. Die S-Bahn in der sein Sohn saß, hatte für ein paar Minuten denselben Weg. In den erleuchteten Fenstern sah Dieter schwarze Schemen von Menschen, die anonym für ihn waren. Er wusste, er würde fünf Minuten früher zu Hause sein als die Menschen in der S-Bahn.
Das Messer lag wie immer gut in Doras Hand. Der Griff war ein wenig rau, aber das fühlte sie nicht, denn sie hatte Handschuhe angezogen. Langsam ging sie zu Tür, öffnete sie und ging über den Vorplatz zur Garage. Dieter würde in den nächsten Minuten hier eintreffen. Er würde den Wagen in die Garage fahren und aussteigen. Wenn er das Garagentor geschlossen hatte, würde er langsam über den Vorplatz auf das Haus zugehen. Das war Doras Chance. Nie mehr würde sie für dieses Ekel sorgen müssen. Nie mehr würde er sich mit einer anderen Frau treffen. Nie mehr würde sie einen Zettel im Besenschrank finden. Obwohl, es war gut, dass sie ihn gefunden hatte, sonst hätte sie nie von der Existenz dieser Freundin erfahren, wahrscheinlich war diese nur ein leichtes Mädchen. Dennoch, Dieter musste bestraft werden. Sie aber würde frei sein, frei von den jahrelangen Zwängen. Nur diese Gedanken, die sich über Jahre angestaut hatten, kreisten in Doras Kopf.
Die S-Bahn kam fünfzehn Minuten später am Bahnhof an. Andreas ging mit schnellen Schritten durch die Nacht. Trübe flackernde Straßenlaternen erhellten seinen Weg. Am Himmel bildeten sich schwarze Wolken, es begann zu regnen. Andreas fröstelte und legte sich seinen Schal um. Kein Mensch war zu sehen. Ein leises Donnergrollen erschreckte ihn.
Ein paar Schritte noch, durch die kleine Gasse, dann entlang der Mauer des Nachbargrundstücks, und er hatte den Vorplatz seines Elternhauses erreicht. Gerade noch rechtzeitig, dachte er, als ein greller Blitz die Nacht erhellte.
Was Andreas dann sah, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren.
Sein Vater lag am Boden in der Garageneinfahrt. Seine Mutter stand daneben, und sah tatenlos auf ihn herab. Ihre Lippen waren zu einem hässlichen Grinsen verzerrt. Ihre Augen blickten ins Leere.
Dieter wusste nicht, was ihm geschehen war. Er fühlte keinen Schmerz, der Schock war zu groß. „Was ist hier los?“ Andreas trat näher. Seine Mutter sagte: „Stell dich nicht so an“, drehte sich um und ging auf das Haus zu. „Hilf mir“, sagte sein Vater. Andreas packte ihn mit festem Griff an der Hand und zog ihn hoch und stützte ihn. „Ich habe mir den Fuß verstaucht, bin in der Garageneinfahrt gefallen“, stöhnte Dieter und humpelte ungeschickt neben seinem Sohn her. Andreas stolperte beinahe über ein Fleischermesser, das auf dem Boden lag. Daneben lag ein zerknitterter Zettel. Andreas steckte sich den Zettel in die Tasche, nahm das Messer und half seinem Vater ins Haus. Dort setzte er ihn in seinem roten Ledersessel ab. Dieter stöhnte und rieb sich seinen Knöchel, der anschwoll. Trotzdem schien er Appetit zu haben. „Wo sind meine Steaks?“ posaunte er, bekam aber keine Antwort.
Dora stand vor dem Spiegel im Schlafzimmer, als Andreas hereinkam. In ihren Augen war ein eigenartiger Ausdruck. Die Falten auf ihrer Stirn schienen tiefer geworden zu sein, und ihre Hände zitterten, als sie sich das Haar aus dem Gesicht strich. „Dein Vater hat mich betrogen“, zischte sie. „Ich habe einen Zettel im Besenschrank gefunden und…“
„Im Besenschrank? Andreas zog das Stück Papier, das er im Hof gefunden hatte aus der Tasche und musterte es. Den Zettel habe ich geschrieben, “ sagte er dann. „Du weißt dass Vater und ich eine ähnliche Handschrift haben. Ich habe es geschrieben, und als du kamst im Schrank versteckt und vergessen. „Du hast eine Freundin und wolltest nicht, dass ich es weiß?“ “„Sie ist nicht mehr meine Freundin“, antwortete Andreas knapp. „Ah ja, “ antwortete Dora nur und starrte schweigend ihr Spiegelbild an.
„Hast du das Messer auch gefunden?“ fragte sie nach ein paar Minuten. „Ja, es ist wieder an seinem Platz. „ „Danke“, murmelte Dora und strich sich eine graue Haarsträhne aus der Stirn.
Während sein Vater aus dem Wohnzimmer immer dringender nach seinem Steak verlangte, nahm Andreas seine Mutter in die Arme. Er hatte erkannt, was geschehen war.
Ein Blitz zuckte am Himmel und ein hohles Donnergrollen übertönte Dieters Rufe aus dem Wohnzimmer. „Hättest du ihn wirklich getötet?“ Flüsterte Andreas, während draußen ein heftiger Platzregen niederging, der die leise Antwort seiner Mutter fast unhörbar machte. Aber Andreas verstand sie dennoch: „Ja, ich hätte es getan“, wenn er nicht in der Garageneinfahrt gestolpert wäre“, flüsterte sie.
Tag der Veröffentlichung: 04.03.2017
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