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Die redlichen Hirten

In den deutschen Landen spricht man nicht nur hochdeutsch, oder schriftdeutsch, wie man in der Schweiz sagt, sondern die vielfältigsten Dialekte. Einer, der seit der Wende auf negative Weise geradezu populär geworden ist, ist das Sächsisch. Kenner wissen, dass man in der Leipziger Gegend jenes Sächsisch spricht, das so häufig nachgeahmt wird. Um Dresden herum spricht man ein vornehmeres Sächsisch. Und im sächsischen Erzgebirge spricht man nicht sächsisch, sondern erzgebirgisch. Hier gibt es den Spruch „Wu de Hasn Hosn haaßn un de Hosn Husn haaßn, do bi iech drham“ In Schriftdeutsch: „Wo die Hasen Hosen heißen und die Hosen Husen heißen, da bin ich zu Haus.“ – Und natürlich wird auch im Erzgebirge das „T“ als „hartes D“ und das „D“ als „Weiches D“ bezeichnet.

 

Als wir in den letzten Tagen des zweiten Weltkrieges wieder einmal im Luftschutzkeller saßen, meinte meine Großmutter: „Huffentlich hert dos bold auf. Iech muss doch noch de Hosn fittern.“ (Hoffentlich hört das bald auf. Ich muss doch noch die Hasen [Kaninchen] füttern). Im Luftschutzkeller war auch ein Mann aus Düsseldorf, den es während des Krieges ins Erzgebirge verschlagen hatte. Er sagte zu meiner Großmutter: „Beste Frau, ich muss mich über Sie sehr wundern. Während wir um unser Leben bangen, denken Sie an Ihre Arbeit an der Nähmaschine.“ Er hatte sich vorgestellt, die Oma wollte mit der Nähmaschine „Hosen füttern“. Man musste ihm erklären, dass das ein sprachliches Missverständnis war und die Oma an die Hasen im Stall dachte, die auf ihr Futter warteten.

 

Und als meine Tante Ella Rentnerin geworden war und zum ersten mal ins westliche Ausland, d.h. in die Bundesrepublik Deutschland reisen durfte, hatte sie bei der Grenzkontrolle an der Grenze zwischen der DDR und Westdeutschland ein Erlebnis, welches sie nicht für sich behalten konnte, und über welches schon sehr oft geschmunzelt wurde. Ella war Bäuerin und bewirtschaftete mit ihrem Mann Franz im Erzgebirge einen kleinen Bauernhof. Als man überall in der DDR in den fünfziger Jahren „Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften“ (LPGs) gründete, mussten auch sie ihre Selbständigkeit aufgeben, der örtlichen LPG beitreten und ihr Vieh und Land dort einbringen. Das taten sie nur unter Zwang. Als man die Pferde aus dem Stall holte, flossen bei Franz, dem sonst so harten Mann, die Tränen. Doch nun lebte Franz nicht mehr und Ella durfte zum ersten Mal mit der Bahn in den Westen reisen. Bei der Grenzkontrolle kam ein DDR-Zöllner ins Abteil und fragte sie: „Haben sie Devisen?“ Ella erwiderte darauf in ihrer erzgebirgischen Mundart: „Na, de Wiesn hom se uns a waggenumme.“ (Nein die Wiesen haben sie uns auch weggenommen). Der Zöllner darauf: „Ich sprach nicht von den Wiesen, sondern von Devisen“. Doch Ella verstand ihn nicht und meinte nur: „Is dos net dossälbe?“ (Ist das nicht dasselbe?). Doch der Zöllner meinte mit seiner Frage ausländische Zahlungsmittel, vor allem die D-Mark, welche man nicht unerlaubt aus der DDR in den Westen ausführen durfte. Da er aber von Ella keine verwertbare Antwort mehr erwartete, verließ er kopfschüttelnd das Abteil.

 

Ähnliche Verwechslungen kommen auch vor, wenn man mit seinen Ohren, die nur die erzgebirgische Mundart kennen, hochdeutsch verstehen soll. Als Kind im Vorschulalter, das nur die erzgebirgische Mundart hörte und sprach, erlebte ich eine solche Verwechslung, über welche ich heute noch schmunzeln muss. SED-Genossen bezeichneten wir als „de Rutn“ (die Roten) und kommunistisch gesinnte Menschen als „redlich“ (rötlich). Nun heißt es in dem Weihnachtslied „Ihr Kinderlein kommet“ in einer Strophe „…die redlichen Hirten knien betend davor, …“ Natürlich waren das für mich „rötliche“ Hirten, kommunistisch gesinnte Hirten, welche als erste von der Geburt des Jesuskindes in einem Stall in Bethlehem erfahren hatten und nun vor der Krippe knieten und dieses Kind anbeteten. Ich stellte mir vor, was wohl der mächtige Stalin dazu sagen würde, das ausgerechnet Anhänger von ihm als erste vor der Krippe knieten, wo doch jeder wusste, dass die Kommunisten nichts von der Kirche wissen wollten.

 

Erst einige Jahre später habe ich erfahren, dass „redlich“ etwas anderes meint, als kommunistische Gesinnung, nämlich aufrichtig, treu, zuverlässig. – Schade eigentlich, dass nicht kommunistisch gesinnte Hirten, sondern aufrichtige, treue, zuverlässige, aber arme und verachtete Hirten vor der Krippe knieten.

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Tag der Veröffentlichung: 03.11.2016

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