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Mein Ewald

„Ich gehe kurz Zigaretten holen.“ Ewald stand unschlüssig im Türrahmen. Für einen Moment schien es als wollte er noch etwas sagen. Abrupt drehte er sich weg und kehrte mir den Rücken. Die schummrige Flurbeleuchtung verschluckte ihn und ich hörte nur noch seine vertrauten Schritte.

Warum trug Ewald sein festes Schuhwerk und die gute Jacke? Er huschte doch nur zum Automat an der Ecke. Irritiert lauschte ich dem leisen „Klack“ der Tür. Ein merkwürdiges Gefühl umkleidete plötzlich meine Magenwand. Es verursachte mir Übelkeit.

 

Wie lange dauerte ein „Kurz“? Eine Stunde, eine Nacht oder zwei Tage? Ich musste ihn als vermisst melden. Im Grunde ein sinnloses Unterfangen. Ein Mensch konnte gehen wann immer ihm der Sinn danach stand. Er hatte mich verlassen. Ich wusste es. Zwar unter einem billigen Vorwand, ohne Erklärung - ziemlich feige eben, aber danach fragte niemand. Die Polizei sowie so nicht. Ich machte mich dort nur lächerlich. Und trotzdem. Sie mussten mir helfen, Ewald zu finden.

Mit einem verzweifelten Augenaufschlag und den einleuchtenden Worten über ein Schicksal das erbarmungslos zuschlug, frei nach dem Motto Zum falschen Moment am falschen Ort, in der Tasche das Zigarettengeld, erhoffte ich mir Hilfe.

 

„Wegen fünf Euro?“, würde der Beamte ungläubig gefragt haben.

 

„Ja, wegen fünf Euro“, wäre meine Antwort und ich würde bekräftigend nicken, während ich dabei für mich selbst ins Wanken geriete.

Vielleicht war es doch nicht an den Haaren herbeigezogen, dass man Ewald etwas angetan hatte. Es wurden Menschen wegen weniger Geld verschleppt, gequält oder ermordet. Warum nicht auch er? … wegen des Gefühls, das mir sagte, dass er lebte. Dieses Gefühl und die gute Jacke, die er trug. Natürlich würde ich das nicht sagen. Ich wollte, dass man mich ernst nahm. Mich und meine Sorge um Ewald.

 

Ich vermied es immer, hinter ihm her zu schnüffeln. Kontrolle war etwas für schwache und unsichere Menschen, die selbstzerstörerisch nach Verfehlungen ihres Partners suchten. Überall. Nein, Computer und Handy waren immer ein Tabu gewesen. Es wäre ein nicht wiedergutzumachender Vertrauensbruch - doch im Moment schien es ein nicht wiedergutzumachender Fehler zu sein … warum nur hatte ich nicht irgendwann einen kurzen Blick auf sein Handy geworfen. Einfach nur so. Sicherheitshalber. Ein kleiner Anhaltspunkt nur und ich wäre jetzt klüger und stünde nicht da wie ich jetzt dastand. Hilflos, ängstlich und wütend.

Wütend wegen der guten Jacke, die mir unmissverständlich soufflierte, dass er abgehauen war. Geflohen vor mir. Raus aus unserem Leben.

Wäre es mir lieber er läge verletzt oder gar tot in irgendeinem Rinnstein? Und ich nickte wieder - unbemerkt, nur für mich. Ich war im Moment nicht ganz bei Trost.

 

„Liegt eine Straftat vor?“ Der Beamte schaute mich dienstmäßig an.

„Ist der Vermisste suizidgefährdet?“ Monoton leierte er Eventualitäten eines Verschwindens herunter, die für mich nicht in Frage kamen.

 

„Was für eine Straftat denn? Ewald ist das Opfer“, belehrte ich mein Gegenüber. Das mit dem Suizid überhörte ich. Mein Mann tat so etwas nicht.

 

Unruhig rutschte ich auf dem nackten Holzstuhl hin und her. Sie sollten einfach nach ihm suchen und ihn zurückbringen. Schließlich bezahlte ich Steuern, da konnte ich auch irgendwann eine Gegenleistung verlangen.

Ich schob ein Foto über den Schreibtisch Es zeigte Ewald vor dem Riesenrad auf dem Cannstatter Wasen. Das war dieses Frühjahr gewesen. Unsere Zweisamkeit reckte sich verliebt in das endlose Blau des Himmels … trotz der dreiundzwanzig Jahre, die unsere Ehe nun schon andauerte. Aber irgendwie war es wohl nur mein Himmel. Vermutlich gab es gar keinen Himmel mehr – aus Ewalds Sicht. Vielleicht trug er sich zu diesem Zeitpunkt schon mit dem Gedanken, mich zu verlassen. Schmiedete Pläne wie er sich erfolgreich aus unserem Leben schleichen könnte, während ich noch rosarot lächelnd über Wolken wanderte.

 

„Das habe ich erst kürzlich gemacht. Er trägt genau diese Jacke und eine dunkelblaue Jeans.“ Selbstvergessen starrte ich dem Foto hinterher.

 

Mein Ewald. Wie war er nur auf die dumme Idee gekommen, fortzugehen. Ein trockener Schluchzer schüttelte meinen Körper. Mein Tränenstrom war versiegt – so wie es aussah für immer. Schade! Tränen hatten oftmals eine günstige Wirkung, wobei dieses Exemplar hier resistent gegenüber allem Menschlichen war.

Gleichgültig nahm der Beamte das Bild in die Hand, betrachtete es kurz und legte es achtlos neben die Computertastatur.

 

„Führt er Ausweispapiere mit sich?“ Er schaute mich bei dieser Frage nicht einmal an. Ich war einer der langweiligen Fälle. Nur lästiger Papierkram. Vielleicht auch wegen des fehlenden Tränenflusses.

 

„Das weiß ich doch nicht.“ Irgendwie nervte der Mensch.

 

Mich traf ein verwunderter Blick. Plötzlich besaß ich seine Aufmerksamkeit.

Ich hatte wohl den richtigen Ton getroffen. Na endlich. Der Polizist rieb sein linkes Ohrläppchen, dabei schaute er mich überrascht an. Seine Augen hatten eine hübsche Form. Groß und rund. Sie verliehen ihm einen ständig erstaunten Gesichtsausdruck.

„Ich habe jedenfalls nichts gefunden. Keine Brieftasche, kein Geld und nix.“ Ich stockte. Diese Aussage war sicherlich ein Fehler und ich hätte sie gerne zurückgenommen.

 

Der Kommissar sagte eine Weile gar nichts, aber ich konnte ihn denken hören. Es stand auf seiner Stirn geschrieben und ich versuchte die Situation zu retten.

 

„Sie denken, er hat sich einfach vom Acker gemacht. Niemals. Auf so eine Idee kommt mein Ewald gar nicht. Ewald liebt mich.“ Vielleicht dachte er auch irgendetwas andere.

Womöglich hatte ich ihn erst auf die Idee gebracht, dass er mich verlassen haben könnte. Besser ich erläuterte noch einmal die „Opfervariante“. Die gefiel mir auch so viel besser.

 

„Er wurde bestimmt überfallen oder verschleppt oder … vielleicht sogar ermordet.“ Zeit, die Glut zu schüren. Ich malte Horrorvisionen in den dunkelsten Farben, vor denen er sich nicht verschließen konnte, wenn er auch nur einen Funken Gefühl in sich trug.

 

„Was bringt sie zu dieser Annahme?“ Trotz der Wichtigkeit der Frage, schien das Interesse des Beamten wieder erloschen zu sein. Er starrte auf den Monitor und stocherte lustlos auf der Tastatur herum.

 

„Weil mein Ewald mich niemals verlassen würde.“ Vor meinem inneren Auge tauchte er in seiner guten Jacke auf wie er unschlüssig am Türrahmen lehnte, als wollte er sich erklären … und mir wurde schlecht. Durfte ich die Polizei belügen? Was blieb mir anderes übrig. Ich wollte, dass er zur Fahndung ausgeschrieben wurde. Ich wollte ihn zurück.

 

„Ja, und vielleicht will er sogar seinem Leben ein Ende setzen. Also meine Hand würde ich dafür nicht ins Feuer legen“, trumpfte ich auf. Es musste doch möglich sein, diesem kalten Klotz in Uniform, eine Gefühlsregung abzuringen.

 

„Neigt ihr Mann zu Depressionen. Hat er sich ihnen gegenüber diesbezüglich geäußert?“ Die Stimme klang plötzlich scharf, fast bedrohlich. Erschreckt riss ich die Augen auf. So hatte ich das nicht gemeint als ich mir etwas mehr Emotionen wünschte. Es war als wollte mir dieser Typ Angst machen. Als forderte er als Antwort die Wahrheit und nichts als die Wahrheit. Er hatte mein Spiel durchschaut.

 

Natürlich sprach er nie über Selbstmord. Niemals. Ewald doch nicht. Er liebte das Leben. Schon immer. Auch jetzt, in diesem Moment. Da war ich mir sicher. Unmöglich, so etwas dem Kommissar zu sagen.

„Er hat manchmal solche Phasen …“, antwortete ich stattdessen. Die Worte holperten unsicher über meine Lippen. Das Lügen fiel mir schwer. Ich hatte nicht viel Übung darin. Ja, mein Ewald hatte Phasen. Die waren aber ganz anderer Natur. Manchmal als Lippenstiftspuren am Hemdkragen. So wie neulich. Ich benutzte keinen Lippenstift und schon gar nicht solch aufreizende Farbe. Warum hatte ich sie großmütig übersehen? Konzentriert weggeschaut. Ja, ich hoffte, alles würde wieder gut werden. Jetzt hatte ich den Salat. Er war weg – vielleicht für immer.

 

„Und warum kommen sie dann erst am dritten Tag seines Verschwindens?“ Verständnislosigkeit schlug mir entgegen. Aber nur kurz. Der Mann räusperte sich. Dann wirkte sein Gesichtsausdruck wieder gleichgültig – obwohl seine Augen immer noch erstaunt dreinblickten.

 

Darauf hatte ich keine Antwort. Ärgerlich. Er trieb mich in die Enge. Typisch Polizei. Wenn ich nicht aufpasste behauptete er am Ende noch, dass ich etwas mit Ewalds Verschwinden zu tun hatte. Ja, ich musste wachsam sein schließlich lockte ich ihn auf eine falsche Fährte. War das strafbar? Vermutlich nicht. Ich tat nicht wirklich etwas Unrechtes. Ich war weder ein Räuber noch ein Mörder. Ich war „nur“ die Verlassene. Und wie hieß es so schön Der Zweck heiligt die Mittel. Und überhaupt, was konnte mir schon passieren. Meine innere Aufregung verebbte. Das komische Gefühl in meinem Magen wurde kleiner und kleiner, bis es erbsengroß kaum noch zu erahnen war. Erleichtert sank ich gegen die harte Lehne des Stuhls. Sie sollten endlich mit ihrer Hundertschaft ausrücken und mir meinen Ewald zurückbringen.

 

„Ich glaube nicht, dass ihr Mann Zigaretten holen wollte.“ Die Worte des Beamten drängten sich zwischen meine Gedanken – verwirrten mich. Was sagte er da? Zwar hatte ich mit dieser Überlegung seitens der Polizei gerechnet. Aber jetzt, da sie dieser Mensch aussprach, fand ich es ungeheuerlich. Ich verlor den Boden unter meinen Füßen.

 

„Bitte?“ Eine leichte Röte stieg mir in die Wangen.

 

„Er hat Ausweis und Geld dabei.“ Der Polizist wirkte zufrieden. So, als hätte er den Fall gelöst.

 

„Bitte?“ wiederholte ich und kam mir wie ein Papagei vor. Die Röte hatte sich jetzt bis zum Haaransatz hochgearbeitet, wanderte über den Mittelscheitel und sammelte sich heiß am Hinterkopf. Mein Schädel glühte. Er stand kurz vor einer Explosion. Dieses brennende Gefühl ließ sich nicht weg atmen, geschweige denn weg denken so sehr ich mich auch bemühte.

 

„Ich verstehe nicht …?“ Ich setzte mein „Fragezeichengesicht“ auf. Ein bisschen dummstellen schadete sicherlich nicht.

 

„Sie erscheinen hier erst nach Tagen. Und warum?“ Triumphierend hob mein Gegenüber den Zeigefinger in die Höhe.“Weil sie genau wissen, dass ihr Mann sie verlassen hat. Und jetzt versuchen sie einen billigen Suchdienst zu mobilisieren. Ist es nicht so?“

Sein Blick bohrte sich durch mich hindurch. Wie ein Laserstrahl. Dann zwinkerte er mir zu. Wie hypnotisiert starrte ich auf das zuckende Auge. Diese Zwinkerei fand ich völlig fehl am Platz.

 

Ein Seufzer entrang sich meiner Kehle. Ein tiefes Aufatmen. Aha, der Ausweis und das Geld. War das die Erklärung? Viel zu dürftig, um mich von meinem Plan abzubringen. Ich würde mich hier nicht wegbewegen bevor er mir nicht versprach, endlich etwas zu unternehmen.

 

„Also, ich sage es ihnen noch einmal …“, der Beamte räusperte sich. Es schien, als kostete er den Moment aus, weil er diese lästige Angelegenheit vom Tisch wähnte.

„ … ihr Mann hat sie verlassen …“, er hielt schon wieder inne. Drei oder vier Atemzüge lang, was mich ganz nervös machte. Konnte er nicht an einem Stück sprechen. Klar und verständlich.

„ … er wollte nicht Zigaretten holen. Er ist einfach gegangen – aus freien Stücken. Und sie wissen das genau, weil sie erst Tage später hier auftauchen. Sie wollten uns irre führen. Ich habe sie durchschaut.“

Genüsslich sog er die Luft ein, dabei schlug er mit der flachen Hand leicht auf die Tischplatte. Seine runden Augen schauten mich immer noch erstaunt an, obwohl sich eine gewisse Genugtuung darin spiegelte. Genugtuung und Zufriedenheit.

 

Entsetzt folgte ich seinen Gedankengängen. Mein Plan, Ewald durch die Polizei aufspüren zu lassen, löste sich gerade in Wohlgefallen auf. Ich könnte vor Wut schreien. Warum verstand er nicht, dass ich ihn wiederhaben musste – um jeden Preis.

 

„Ich sehe hier keine Veranlassung, eine Fahndung rauszugeben oder gar eine Hundertschaft auf den Weg zu schicken“, erklärte mir „mein“ Kommissar nüchtern. Da schwang nicht der kleinste Unterton des Bedauerns mit. Vermutlich hatte er täglich mit Leuten wie mir zu tun, die einfach der Wahrheit nicht ins Gesicht schauen wollten.

 

„Und wenn er sich doch etwas antut?“ Versuchte ich einen Sinneswandel herbeizuführen. Dabei schaute ich ihn flehentlich an und erntete nur ein Kopfschütteln.

 

Jetzt war der Moment gekommen, etwas zu tun, von dem ich immer glaubte, dass ich dazu nicht fähig wäre.

Aus purer Verzweiflung öffnete ich die obersten Knöpfe meiner Bluse. Zum Glück hatte ich heute Morgen dieses neue Push-up-Teil angezogen. Es hob meine schon etwas müde gewordenen Brüste in jugendliche Höhe. Ja, damit konnte ich mich sehen lassen – auch noch in meinem Alter.

 

„Mir ist heiß“, verkündete ich mich rauchiger Stimme, dabei blinzelte ich unter halb geschlossenen Lidern mein Gegenüber an und benetzte mit der Zungenspitze meine Lippen – betont langsam. Das hatte ich im Fernsehen gesehen … und da funktionierte es. Ich überlegte krampfhaft, welche Unterhose ich trug. Ich wusste ja nicht, was von Nöten war. Sie sollte schon passend sein.

 

Aus den runden Augen verschwand plötzlich das kindliche Staunen. Er zog sie zu schmalen Schlitzen zusammen und sprühte giftige Funken über den Schreibtisch.

 

„Was wird denn das? Sie gehen jetzt besser!“ Der Polizist schaute an meinem großzügig dargebotenen Dekolletee vorbei.

Das war mehr als beschämend. In dem Film war die Frau erfolgreicher gewesen. Was heißt erfolgreicher. Es kam zu einer heißen Liebesszene mitten auf dem Schreibtisch. Vor meinem inneren Auge sah ich mich mit anmutig verdrehten Gliedmaßen über der Tischkante hängen, während sich der Kommissar mit staunendem Blick und keuchendem Atem seiner Lust hingab. Aber so war es nicht gekommen. Leider. Irgendetwas hatte ich falsch gemacht.

Hektisch raffte ich den Stoff über meinen Brüsten zusammen. Wie rettete ich mich jetzt nur einigermaßen ehrenhaft aus der peinlichen Situation.

Aber mein Gegenüber war bereits aufgestanden und nahm mir die Last dieser misslichen Lage von den Schultern.

„Und falls sich etwas Neues in dieser Angelegenheit ergibt, dann melden sie sich einfach“, er schenkte mir sogar ein Lächeln.

 

Seine Augen staunten mich wieder rund und freundlich an. Ich lächelte gequält zurück. Trotzdem schlug ihm mein Herz dankbar entgegen. Ein Gentleman der alten Schule. Und für einen Moment bedauerte ich, dass es nicht zu einer „Situation“ gekommen war. So ein niedlicher Kerl wie er wäre eine Sünde Wert gewesen. Aber es war noch lange nicht aller Tage Abend …

 

Zwar befand sich mein Ewald in der Ablage für erledigte Fälle - doch über kurz oder lang würde ich das geändert haben. Ich hatte viel Fantasie und einen festen Willen, irgendetwas in dieser Sache zu bewegen. So einfach kam er mir nicht davon …

 

„… wir sehen uns, Herr Kommissar!“

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 02.11.2016

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