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Das Licht der Welt

Ich atme ein.

Ich sehe das Licht.

Ich kann die endlose Leere riechen.

Ich kann schon beinahe das Glück schmecken, dass am Ende des Tunnels wartet.

Ich spüre den Sog der Dunkelheit.

Ich höre das Rauschen der Zeit.

Ich atme aus.

Ich lebe.

 

*

 

Da, wo das Licht ist, soll das wahre Leben sein. Alles soll bunt sein; lebendig, belebt. Da, wo das Licht ist, könne man das Glück finden. Alles soll seinen Sinn haben.

„Du willst da hin“, sagt Sascha hinter mir.

Ich schüttle den Kopf. „Ich kann nicht.“

„Warum nicht?“ Fragend blickt er mich an, doch ich weiche seinem Blick aus. All die Erinnerung an das Leben vor der Dunkelheit sickern wieder in mein Gedächtnis. Ich konnte sie sehen, ich konnte sie berühren und noch einmal erleben.

„Lass mich.“

Das Gefühl, meinem altes Ich mit all seinen Fehlern und Handlungen zu sehen, scheinen mich erdrücken zu wollen. Ich schließe die Augen, will vergessen, was ich noch nicht vergessen habe. Doch die Bilder wollen nicht aufhören. Eine schon längst vergrabene Empfindung findet langsam aber sicher einen Weg an die Oberfläche. Hoffnung.

Ich presste die Augenlider fest aufeinander, als könne sie den Vorgang des Vergessen beschleunigen und die Erinnerungen anhalten. Aber den Wunsch erfüllt mir niemand.

Ein regelmäßiges, lauter werdendes Klopfen von Cowboystiefeln auf dem bodenlosen Untergrund lässt mich wissen, dass Sascha näher kommt.

„Du hast lange genug hier unten rumgesessen“, meint er und sucht meinen Blickkontakt. „Wenn du’s mir gegenüber nicht zugeben willst, gesteh’ es dir doch wenigstens selbst ein. Du willst zurück.“

Ich verfluche mich irgendwie dafür, dass er meine Gedanken lesen kann. Aber das habe ich mir selbst zuzuschreiben. Schließlich entspringt er meiner Phantasie. Er existiert genauso wenig wie alle anderen hier; ich bin alleine.

„Ich kann nicht gehen“, erwidere ich, seinen Augen ausweichend.

„Natürlich kannst du. Du musst nur wollen. Wenn du willst, kannst du alles.“

Ich schlucke. „Ich habe Angst.“

„Die brauchst du nicht zu haben.“

„Und wenn ich versage?“, sagt meine Stimme zittriger als gewollt. Ich sah ihn vor mir und der Gedanke, erneut zu scheitern, durchbohrte mein Herz.

„Dann werden wir uns wohl bald wieder sehen“, meinte Sascha mit einem belustigten Unterton.

Ich schüttelte nur den Kopf. „Nein, dann werden wir uns nie wieder sehen.“

„Du hast nichts zu verlieren.“

Ich hebe den Kopf und sehe in Saschas olivgrüne-haselnussbraune Augen, die meinen Blick erwidern. Ich sehe sein braunes, dichtes Haar, dass unter dem weißen Cowboyhut hervor lugt, seine vor der Brust verschränkten Arme, die in einem karierten Hemd stecken. Ich sehe seine rauen Lippen, die zu einem Lächeln verzogen sind. Und ich rieche den starken Geruch nach Kaffee und Rauch, den er immer mit sich trägt.

„Was ist mit den anderen?“, räuspere ich mich.

Sein Lächeln vertiefte sich. „Ich werde mich darum kümmern.“

„Um alle? Auch um Ani? Kelan? Sapha? Und vor allem um Josh?“, sage ich zweifelnd.

„Jetzt geh.“

Ich habe die ganze Zeit in das Licht gesehen. Mein Herzschlag geht mit einem Mal unregelmäßig und schnell. Es war so hell und so schön. Und weil es so schön ist, schließe ich abermals die Augen und genieße den Moment. Den Moment voller Hoffnungen und Erwartungen.

Denn im nächsten Augenblick wird er von meiner unbändigen Angst zerschlagen und ich habe das Gefühl, kaum noch Luft zu bekommen. Tausend Nadeln zerstechen meine Haut, ich fange an zu zittern.

Ich werfe einen letzten Blick auf Saschas blasse Silhouette, der lässig da steht und mir ein letztes Mal sein Lächeln schenkt. Ich frage mich, wie ich all das zurück lassen konnte; die unendliche Leere, diese Dunkelheit, auf der ich mir meine eigene Welt aufgebaut habe. All meine imaginären Mitbewohner; ich habe ihnen soeben Lebewohl gesagt. Und warum?

Weil da, wo das Licht ist, das wirkliche, wahre Leben wartet.

 

*

 

„Das kann nicht real sein.“

„Warum nicht?“, fragt er mich.

„Das wäre zu schön.“

Ich meine spüren zu können, wie er anfängt zu lächeln. Statt etwas zu erwidern, nimmt er meine Hand und zieht mich zu sich. Dann nimmt er seinen anderen Arm und legt ihn um mich.

Ich spüre seine Wärme, schließe die Augen und denke daran, einen Moment reines Glück eingefangen zu können. „Danke“, sage ich.

Er hört auf, mich an sich zu drücken. „Wofür?“

„Jetzt weiß ich, was Glück bedeutet.“

Ich sehe ihn nicht an, als er seine Hand an meine Wange legt und mein Kinn anhebt, um mich zu zwingen, ihm in die Augen zu gucken.

„Das ist nicht real“, sage ich und blicke unverwandt in seine grün-blauen Augen, um deren Pupille hellbraune Sprenkel im Licht tanzen.

„Es ist real“, sagt er, bevor seine weichen Lippen meine umschließen und er mich in einen sanften Kuss zieht, der viel zu schnell wieder vorbei sein würde. Doch dieser Moment zählt.

Der Moment, in dem ich das Glück fühle, in dem ich aufhöre, auf das Rauschen der Zeit zu achten. Der Moment, in dem die Leere gefüllt wird, in dem die Dunkelheit dem Licht endgültig weicht. Der Moment, der etwas ganz Entscheidendes ändert.

Ich lebe nicht.

Ich bin lebendig.

 

Impressum

Bildmaterialien: Cover: Pixabay CCO Public Domain – User: cocoparisienne
Tag der Veröffentlichung: 05.10.2016

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