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Traumhaft glücklich

Wie ist das überhaupt mit dem Glück? So generell. Ich frage mich das, weil mein Leben plötzlich Kopf steht. Leider im negativen Sinne. Also was ist Glück? Ein Hirngespinst, nach dem wir vergeblich streben und das nur in unserer Fantasie existiert? Oder ist es etwas, das sich selbst verbraucht, ähnlich einer natürlichen Abnutzung. Das würde meine Misere erklären, in der ich mich gerade befinde. Dieses Ungemach, das aus heiterem Himmel über mich hereinbrach. Ich brauche Gewissheit. Und so zerpflücke und seziere ich Buchstabe für Buchstabe dieses Begriffs bis nur noch ein seelenloses Wortgerippe übrigbleibt und mich zu der ernüchternden Erkenntnis bringt, dass es ein Name ist, an den wir viel zu große Erwartungen knüpfen. Ja, es ist nur ein Name - unbedeutend und vergänglich.

Im besten Falle ist Glück käuflich. Zu dieser unromantischen Theorie passt meine Nachbarin Hannelore. Sie kritzelte wahllos ein paar Kreuze auf einen Lottoschein und jetzt zieht sie mit ihrer Familie nach „Außerhalb“.

„Außerhalb“ ist unser Edelviertel am Stadtrand. Dort gibt es keine popeligen Häuser – nein, da stehen schicke Bungalows mit allem Drum und Dran. Sie hat sich eine ordentliche Scheibe Glück gekauft, wenn nicht sogar den ganzen Batzen eingeheimst. Sie hat es für sich verbraucht und uns Zurückgebliebenen nichts davon übriggelassen.

„Geld allein macht nicht glücklich“, tröstet mich meine Freundin Henny, „unser Glück sieht eben anders aus.“

Von welchem Glück spricht sie überhaupt? Von meinem? Dies genau ist der Punkt, der von mir angezweifelt wird. Denn vor sechs Wochen hat mich Albert nach fünfundzwanzig Ehejahren einfach verlassen. Er bedient ein altbekanntes Klischee. Sein Klischee heißt Janette. Sie ist jünger, hübscher und vermutlich auch klüger als ich.

Henny findet, dass ich gerade deshalb auf der Sonnenseite des Lebens stehe. Solch einen miesen Charakter los zu sein, da hätte ich tief in den Glückstopf gegriffen. Aber ich will nicht ohne Albert leben. Ich will, dass er zurückkommt. Zu mir.

Nächtelang liege ich da und weine um mein verlorenes Glück, schmiede Pläne für unser neues, gemeinsames Leben. Traum und Wunsch umarmen sich in der Dunkelheit und gaukeln mir eine heile Welt vor. Aber der Tag, der sich seinen Weg zwischen den dicken Wollvorhängen sucht, frisst mit jedem Lichtstrahl ein Stück Hoffnung. Er bringt mir meine Einsamkeit und die Sehnsucht zurück, die mich starr und bewegungslos machen.

„Ich weiß nicht, was ich noch sagen soll. So kann es jedenfalls nicht weitergehen. Du musst dein Leben wieder in die Hand nehmen. Albert hat dich verlassen. Das ist schlimm … aber nicht zu ändern“, belehrt mich Henny.

Und ob das zu ändern ist. Sie hat doch überhaupt keine Ahnung. Ich kann mich nicht einfach in mein Schicksal ergeben. Mit ihren altklugen Sprüchen geht sie mir gewaltig auf die Nerven. Sie sollte lieber überlegen, wie ich ihn zurückgewinnen kann.

„Du würdest doch Albert nicht wieder in dein Leben lassen?“

Mit dieser Frage bohrt sich Henny tief in mein Innerstes. Vergeblich versuche ich, ihrem Blick auszuweichen. Es ist, als ertappe sie mich bei etwas Verbotenem. Noch immer starrt sie mir abwartend ins Gesicht, sucht zwischen all meiner Traurigkeit ein Zeichen, dass ich endlich den Kampf aufnehme - für mich.

Um ihr nicht antworten zu müssen, flüchte ich mich in meine Gedanken. Tröstliche Gedanken, die mich schmatzend einsaugen und mir einen Weg zeigen, mit diesem schier unerträglichen Schmerz zurechtzukommen.

Als erstes brauche ich eine „Rundumerneuerung“. Ein anderer Haarschnitt, ein frisches Make-up, ein paar neue Klamotten. Das wird ihn an alte Zeiten erinnern. An die guten Zeiten. Vielleicht belege ich einen Sprachkurs, das macht mich wieder interessant und im Nachbarschaftszentrum nehme ich ein paar Yogastunden. Das strafft den Körper und schafft eine innere Balance. Albert wäre blind, nähme er meine Veränderung nicht wahr. Uns verbindet so viel. Er kann sich nicht davor verschließen. Staunend, sich unserer Liebe erinnernd, wird er um Vergebung flehen.

Ich würde mit blutroten Rosen überhäuft werden. Meine Seele saugte unzählige Entschuldigungen, die reuig über seine bebenden Lippen kämen, wie ein Schwamm auf.

Ein herrlicher Plan, der sofort Einzug in meine Traumwelt hält – seinem neuen Zuhause. Von dort nährt er meine Hoffnung und erhält mich am Leben.

Henny zieht erbarmungslos die Vorhänge zur Seite. Grelles Licht blendet meine Augen. Stöhnend schlage ich beide Hände vor mein Gesicht.

„Steh endlich auf. Schau dich mal an, wie du aussiehst. Die strähnigen Haare und dieser Lappen von Schlafanzug. Es ist bereits Nachmittag.“ Gewaltsam entreißt sie mir meine Decke, unter der ich mich gerade verkriechen wollte. „Das geht jetzt schon Wochen so. Hör auf in deinem Selbstmitleid zu baden. Albert kommt nicht zurück …“

Sie zwingt mich, sie anzusehen. Ihre Finger graben sich in meine Schultern. Es tut weh. Ich möchte weinen, aber ich starre ausdruckslos durch sie hindurch. Ich habe keine Tränen mehr.

„…dein Leben geht trotzdem weiter“, beendet Henny ihren Monolog.

Es fehlt mir die Kraft, den Kopf zu schütteln und zu sagen, dass alles was sie sagt und tut vergebliche Liebesmüh ist. Sie will die Wahrheit nicht sehen. Ich habe aufgehört zu existieren, als Albert aus der Tür ging und eine riesige Leere in mir zurückließ. Eine unerträgliche Einsamkeit. Seit dem wandere ich durch meine Träume. Dort ist jetzt mein Leben – zusammen mit Albert. Noch nie war unsere Beziehung so harmonisch und liebevoll. So besonders. Das lasse ich mir von niemand kaputtmachen.

Unter Hennys Druck finde ich mich mit gewaschenem Haar und adretter Bluse in „unserem“ Café wieder.

„Siehst du, so schwer war das gar nicht“, triumphiert Henny. Sie ist glücklich. Wenigstens eine von uns. Ich bin ihre Marionette. Sie zieht an den Fäden. Wie in Trance jongliere ich ein Stück Kuchen zum Mund. Mechanisch beginnen meine Zähne mit ihrer Arbeit. Ich kaue und schlucke und kaue und schlucke und will, dass mich Henny einfach in Ruhe lässt. Und es gelingt mir tatsächlich, mich heimlich in meine Träume zu stehlen …

… ich sitze hier mit Albert. Sanft streichelt er meine Hand, dabei flüstert er mir Zärtlichkeiten zu. Ich verstehe kein Wort. Henny hört nicht auf zu plappern. Mit ihrem unaufhörlichen Singsang verstümmelt sie sein Gesagtes bis zur Unverständlichkeit. Genug jetzt! Grob schiebe ich sie aus meinem neuen Leben. Sie soll weg! Es zählen jetzt nur noch Albert und ich. Der warme Klang seiner Stimme wabert direkt in mein Herz und bringt es zum Glühen. Ich sehe das Verlangen in seinen Augen. Mein Traum drängt das letzte Stückchen Wirklichkeit aus meinem Denken. Wehrlos lasse ich es geschehen und für einen Moment bin ich verwirrt, Bin ich verrückt? Aber meine Träume sind gnädig. Sie fressen alle Zweifel, stülpen sich schützend über mich und bringen mich nach Hause zurück - zu Albert.

„So geht das nicht weiter“, schimpft Henny. Aber ich kenne den wahren Grund für ihren Ärger. Sie neidet mir mein Glück mit Albert … und ich dachte, sie wäre meine Freundin.

„Du hast dich da in etwas verrannt. Lass dir doch helfen.“

Ihre eindringlichen Worte versickern im Nirgendwo. Ich brauche keine Hilfe. Sie soll endlich verschwinden. In meinem neuen Leben hat es keinen Platz für sie.

Zwei Arme umschlingen meinen Körper. Ein Gesicht legt sich sanft an das Meine. Diese Berührung ist so vertraut – und schön. Plötzlich fühlt sich meine Wange feucht an.

„Albert? Weinst du?“ Warum ist er traurig? Ich bin irritiert. Gerade hatten wir doch noch gelacht. Bis eben waren wir doch noch glücklich.

„Ich bin es! Henny!“, schluchzt es dicht neben mir.

Unwillig schüttle ich den Kopf. Ich kenne keine Henny.


Kann man aus seinem Körper schlüpfen? Ich habe es getan, zusammen mit Albert. Dieser Körper erschien mir nutzlos – einfach überflüssig und er war mir im Weg. Er ist nur ein rohes Stück Fleisch mit einem pulsierenden Muskel, der gewissenhaft vor sich hin taktet. Aber mein Geist ist so viel mehr. Er lebt von Träumen und Wünschen. Er hat Gedanken, Visionen und Ziele. Albert sieht das ebenso.

Und egal, was sie mit mir anstellen, welche Tabletten und Gespräche mich bekehren sollen, sie begreifen nicht, dass ich zufrieden bin, wie es ist. Ich wohne in meinem Traum. Er ist Realität geworden und ich habe keine Lust, mich wieder mit einem Leib zu vereinen, der mir nur Last bedeutet. Ich höre wohl, was sie sagen. Sie unterhalten sich über mich, als säße ich nicht daneben. Sie reden von mir, als hätte ich nicht mehr meine fünf Sinne beisammen. Sie mutmaßen über meine Person und kennen mich nicht. Und sie sind sich einig.

Ich wäre eine Gefangene meines Geistes, irrte dort umher und fände mich nicht mehr. So ein Schwachsinn. Ich habe mich gefunden. Nach langer Suche bin ich endlich glücklich. Sie haben den Umzug in mein anders Leben verpasst. Und ich werde mich hüten, meinen neuen Aufenthaltsort preiszugeben.

Deshalb sage ich nichts dazu. Wozu auch. Ich brauche keinen Weg, der mich in das Leid meiner Seele zurückbringt. Albert ist da ganz meiner Meinung. Sie sollen uns in Ruhe lassen. Ich habe ihm verziehen. Demütigung und Schmerz sind vergessen. Demnächst wollen wir verreisen. Albert und ich – und zwar in den Süden. Ich liebe das Meer. Es wird wunderschön werden. Unser erster gemeinsamer Urlaub nach dieser schlimmen Sache. Traumhafte Sonnenuntergänge warten auf uns. Romantische Abende zu zweit voller Harmonie. Ein Leben, wie ich es mir immer gewünscht habe.

Manchmal schleicht sich eine Frau in mein neues Leben. Sie scheint mir so vertraut. Sie sagt, sie sei Henny. Ich überlege dann immer, woher ich sie kenne. Bis jetzt ist es mir nicht eingefallen. Es macht mich traurig, wenn sie mit mir spricht und ich weine, wenn sie meine Hand hält und meine Wange streichelt. Es wird besser sein, sie besucht mich nicht mehr. Diese tiefe Traurigkeit, die ich dann verspüre, gehört nicht hierher. Also habe ich ihr gesagt, sie soll nicht mehr kommen.

Jetzt ist alles wieder in Ordnung. Es gibt schließlich Albert. Er ist mein ganzes Glück. Und ich sehe ein, dass ich mich geirrt habe, damals, in diesem anderen Leben. Glück nutzt sich niemals ab, es ist nicht irgendein totes Wortgerippe, keine Fantasie und schon gar nichts Materielles. Glück, das sind wir. Albert und ich ...

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Bildmaterialien: Cover: Pixabay CCO Public Domain – User: cocoparisienne
Tag der Veröffentlichung: 05.10.2016

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