Wettbewerbsvorgabe für die September-Runde
des Anthologie-Wettbewerbs 2016:
„Wähle in einem beliebigen Buch auf Seite 123 einen Satz mit mindestens 5 Wörtern aus und schreibe eine Geschichte, in der dieser Satz vorkommt.“
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Bei diesem Beitrag wurden folgendes Buch und folgender Satz gewählt:
noel-Verlag – Geschichten am Kamin
„Der Wirt gab daraufhin zu, dass dies ab und zu vorkam.“
Peter stand vor dem Tor des Stahlwerks und wartete. Sein Blick fiel auf die rostigen Stahlträger der Eisenbahnbrücke. Das fahlgelbe Licht einer Straßenlampe erhellte nur schwach den Raum unter der Brücke. Von Zeit zu Zeit donnerte ein Güterzug darüber hinweg und nahm mit seinem ohrenbetäubenden Geratter Peter die Fähigkeit, irgendeinen klaren Gedanken zu fassen. Der Fahrtwind brachte die Luft in Bewegung und führte den ekligen Geruch von Urin und Erbrochenem zu Peters Nase. Angewidert wandte sich Peter fort, ohne dass ihm das viel gebracht hätte. Sein Blick fiel über die Straßenkreuzung hinweg auf die andere Seite, wo der Bürgersteig von der hohen Mauer des Eisenbahndammes begrenzt wurde. Ein paar halb verwelkte Gräser und hier und da ein Löwenzahn zwängten sich aus den Ritzen der Mauer hervor und kündeten davon, dass es auch noch eine andere Welt gab als die aus Stein und Eisen.
Peter war vierzehn Jahre alt. Es war nicht das erste Mal, dass er hier stand, um zehn Uhr abends, wenn die Spätschicht der Stahlarbeiter vorbei war und sie wenige Minuten später aus dem Tor strömten, wie ausgespuckt aus der großen Maschinerie des Stahlwerks, bestehend aus zehn Hochöfen, verbunden durch ein Gewirr von verrosteten, meterdicken Rohren, dazwischen Sandberge, Stahlformen und kleine Bäche glühenden Eisens, die aus einem winzigen Tor am Boden der Hochöfen hervorquollen und eine mörderische Hitze erzeugten. In der Nähe standen die Arbeiter, mit Schutzbrillen und Schutzhandschuhen, in Hosen aus feuersicherem Stoff, den Oberkörper aber frei. Es ging nicht anders. Man musste schwitzen können. Im Laufe einer Schicht tranken sie mehrere Liter Wasser, und der Schweiß rann an ihnen hinunter und benässte ihre Unterhosen, andauernd, ohne Unterbrechung. Auch sein Vater war unter ihnen. Er war es, der mit einer langen Stange das winzige Tor unten am Hochofen öffnen musste, damit das rot und gelb glühende Eisen zischend hervorquellen konnte. Dies war die Welt seines Vaters, die Welt des Eisens.
Ja, auch die Stahlträger der Eisenbahnbrücke, auf welche Peters Blick zurückwanderte, waren irgendwann einmal in der Form glühenden Eisens dort hervorgequollen, bevor sie weiterverarbeitet wurden und nun von unten die Schienen stützen durften, über welche die Güterzüge hinwegdonnerten. Peter fühlte sich verloren und einsam, wie er da stand und auf seinen Vater wartete. Das, was er von der Welt bislang kennengelernt hatte, war nur selten schön gewesen. Das meiste war bedrohlich. Vieles war hässlich, so wie der Geruch von Bier und Rauch, der aus der Tür der gegenüberliegenden Kneipe hervordrang, jedes Mal, wenn betrunkene Männer sie öffneten, um herauszuwanken und entweder den Weg nach Hause oder lieber noch zur nächsten Kneipe zu suchen.
Peter kannte alle Kneipen dieses Viertels. Auf dem Weg vom Tor des Stahlwerks bis nach Hause gab es fast an jeder Kreuzung eine, insgesamt mindestens zehn. Peter war in allen drin gewesen, immer auf der Suche nach seinem Vater, wenn dieser nach der Spätschicht nicht nach Hause gekommen war und die Mutter Peter losgeschickt hatte, dass er seinen Vater suchen und nach Hause holen sollte. Von „holen“ konnte keine Rede sein, eher von „schleppen“, denn wenn sein Vater erst mal einige Liter Bier getrunken hatte und dazwischen noch ein paar „Kurze“, wie man hier den Schnaps nannte, war er zum aufrechten Gehen kaum noch fähig, und Peter musste ihn stützen und ziehen.
Heute Abend aber hatte die Mutter ihn früher losgeschickt. Sie hatte gesagt, dass Peter schon am Tor stehen sollte, bevor der Vater herauskam, denn heute war Lohntag und der Vater würde seinen Monatslohn in einer Tüte mitbekommen. Um zu vermeiden, dass er den halben Monatslohn vertrank und sie die Miete nicht mehr bezahlen oder nichts mehr zum Essen kaufen konnten, sollte Peter den Vater am Tor abfangen, wenn er noch nüchtern war, und ihn überreden, sofort nach Hause zu kommen. Manchmal hörte der Vater auf ihn, manchmal aber auch nicht. Schon von seinem zehnten Lebensjahr an war Peter mit dieser Aufgabe betraut worden, den Vater zu „holen“, meistens nach der Arbeit, wenn er nicht kam und sich mal wieder in irgendeiner Kneipe festgesetzt hatte.
Waren diese drei Flüssigkeiten, geschmolzenes Eisen, Schweiß und Bier, die einzigen Elemente, aus denen die Welt seines Vaters bestand? Nein, Peter wusste, dass es da auch noch etwas ganz anderes gab, das aber verschüttet war, zugedeckt von den Notwendigkeiten des Schicksals. Dieter, Peters Vater, war Bauer gewesen, in Ostpreußen, gewohnt, hinter dem Pflug zu gehen, gezogen von starken Pferden, die freie, frische Luft um ihn, zu Hause erwartet von der Mutter, die das Essen schon vorbereitet hatte. Wenn er zurückkam und das Pferd in den Stall brachte, kam er an der Scheune vorbei, aus welchem ihm der Duft frisch eingebrachten Heus entgegenströmte, vermischt mit dem Geruch des Korns, das in großen Verschlägen in einer Ecke der Scheune gelagert wurde. Im Sommer strahlte die Sonne unbarmherzig hernieder. Die Schweine suhlten sich in dem schwarzen Sumpf, kühlten sich ab und legten sich anschließend in die Sonne, um die Moorerde auf ihrem Körper zu einer schwarzen Kruste trocknen zu lassen. Die Hühner liefen auf dem Hof frei umher, scharrten auf dem Boden und liefen gackernd zur Seite, wenn er mit seinem Pferd daherkam, um es in den Stall zu bringen. Dort der herbe Geruch von Pferdeschweiß und Mist, und ein paar Meter weiter der milchige Geruch der Kühe, die behäbig auf dem Boden lagen und ihr Futter wiederkäuten.
Reich waren sie gewesen, viel Land hatten sie besessen, dort in Ostpreußen. Aber dann war der Krieg gekommen, und Dieter wurde mit neunzehn Jahren eingezogen und an die Front geschickt. Zuerst nach Norwegen, das war, gemessen an den Verhältnissen des Krieges, noch angenehm zu nennen, doch dann nach Rußland, das war das Schlimmste, was ihm passieren konnte. Der Krieg an der russischen Front war brutal, die Schreie der Kameraden, die neben ihm getroffen wurden, während sie vorwärtsstürmten, in den Kugelregen hinein, immer hoffend, die Ausnahme zu sein, die Person, die überleben würde, waren herzzerreißend. Ja, er überlebte tatsächlich und wurde zurückgeschickt, aber erst nachdem die Russen ihm je eine Kugel durch beide Arme gejagt hatten, und er aufgesprungen und um sein Leben gerannt und schließlich in eine Grube gesprungen war, die ihn vor den Kugeln schützte und ihm das Leben rettete. Es hatte ihm sogar überhaupt nichts ausgemacht, dass diese Grube eine Latrine war und er fast bis zum Hals in der Scheiße stand.
Man hatte ihn dann in ein Lazarett gesteckt und, nachdem seine Arme einigermaßen geheilt waren, zurück nach Berlin geschickt , wo er sich seinen Lebensunterhalt auf einem Spreedampfer verdiente. Aber als dann die Russen von Osten immer näher kamen und die Stadt einnahmen, war er nach Schleswig-Holstein geflohen, und hatte dort Arbeit auf einem Bauernhof gefunden. Der eigene Hof hingegen, der in Ostpreußen, war unwiederbringlich verloren.
Nach dem Krieg hatte er dort seine Frau kennengelernt. Sie war auch aus dem Osten geflohen, mit ihren zwei Söhnen aus erster Ehe. Ihr Mann war im Krieg gefallen. Dieter nahm sich ihrer an, heiratete sie und bekam von ihr einen Sohn geschenkt, Peter. Um der Familie in den harten Nachkriegszeiten das Überleben zu ermöglichen, war er in den Ruhrpott gegangen, weil er gehört hatte, dass es in den Fabriken und Zechen Arbeit gab. Und tatsächlich hatte er Arbeit gefunden, im Stahlwerk, und seine Familie konnte nachziehen.
Auf diese Weise war Peter mit drei Jahren nach Dortmund gekommen, und man kann sagen, er war ein Kind des Ruhrpotts. Er war schnell vertraut geworden mit dem einzigartigen Milieu dort, diesem Gemisch aus Kriegsruinen und dunklen Kellern, Zechentürmen, wo die Räder nicht stillstanden, Hochöfen, die ihren giftigen Schwefelgestank in die Luft jagten, und Brauereien, welche die Straßen mit dem Geruch von Hopfen und angegorenem Bier füllten. In den Fünfzigerjahren knatterten dann bald die ersten Autos an Peters Zuhause vorbei, während auf der anderen Straßenseite die Bauern ihre Buden aufbauten und Kartoffeln, Äpfel und Rüben anboten, alles, was zunächst zu haben war.
Diese Marktbuden waren für Peters Vater wie eine Erinnerung an eine andere Welt, zu welcher er eigentlich gehörte. Denn er war kein Stahlwerker, er war eigentlich ein Bauer. Wie gerne hätte er, statt das winzige Tor am Hochofen zu öffnen, um dem glühenden Eisen den Ausweg zu zeigen, das Gatter der Pferdeweide geöffnet, um sich ein starkes Pferd zu holen, das er vor den Pflug spannen konnte. Oder statt eines Volkwagens hätte er sich lieber einen Traktor gekauft, um die hochbeladenen Erntewagen heim auf den Hof ziehen zu können.
Einmal hatte sich eine Gelegenheit geboten, dieses Leben wieder zu beginnen. Vom Staat war ihm als Ausgleich für den Kriegsverlust eine gehörige Summe angeboten worden, groß genug, um einen Hof in der Lüneburger Heide zu kaufen, welcher gerade zum Verkauf anstand. Aber seine Frau, Peters Mutter, sagte nein. Ein Leben auf dem Bauernhof konnte sie sich nicht vorstellen. Außerdem hatte sie andere Pläne für ihre Söhne. Diese sollten mal was anderes werden, sollten akademische Bildung erlangen und vielleicht einen Beruf als Staatsbedienstete ausüben. In ihrer Welt standen die Bauern auf der untersten Stufe der Gesellschaft, auf den oberen Stufen standen die Lehrer, die Rechtsanwälte, die Ärzte.
Dieter fühlte schmerzlich, dass seine Frau ihn wegen seiner Herkunft verachtete. Wie oft hatte sie ihn nicht nur als „Bauer“ bezeichnet, sondern als „bäurisch“, und das war gleichbedeutend mit ungebildet, ungesittet, klotzig und ohne Manieren. Obwohl er nun als Stahlwerker nicht schlecht verdiente, war er doch als Arbeiter immer noch den unteren Ständen zuzurechnen. Dieter aber dachte nicht so. Er wusste, was er verloren hatte, als er den Hof in Ostpreußen verlassen und damit das Leben als freier Mann aufgeben musste, wo er sein eigener Herr gewesen war, immer im Freien, in der frischen Luft, umgeben vom Rauschen der alten Eichen, mit dem Blick auf die blauglitzernden Seen Masuriens, an deren Ufern die Kühe standen und ihren Durst stillten.
Wenn er neben dem Bach rotglühenden Eisens stand und ihm der Schweiß von der Stirn perlte, blitzten zuweilen Bilder der ostpreußischen Heimat auf, die weiten, stillen, sonnenbestrahlten Ebenen, wo die Kornfelder wogten, die Kühe friedlich grasten und die starken Pferde ungeduldig mit den Hufen scharrten, oder sie aber, aus einem Überschuss an Kraft, in wildem Galopp über die Weide rannten. Doch aus solchen Träumen wurde er immer wieder schnell herausgerissen, weil irgendein Kumpel ihm zurief, er solle doch aufpassen. Ja, was blieb ihm da noch, als nach beendeter Schicht in die nächste Kneipe zu gehen, die Sinne mit Alkohol zu benebeln, das eigene Leid zu vergessen und sich einem dumpfen Selbstgefühl hinzugeben, dem künstlichen Glück der Betrunkenheit. Nur wenn das verschwommene Bild seines Sohnes vor ihm auftauchte, der zu ihm sagte „Komm nach Hause, Papa!“, wurde er schmerzlich daran erinnert, welcher Welt er eigentlich angehörte.
Das Tor des Stahlwerks öffnete sich und die ersten Arbeiter strömten heraus. Nach einer Weile waren es Hunderte, die herauskamen. Peter stand dort mit geschärften Sinnen und passte auf wie ein Luchs, um jeden Mann, der dort durch das kaum zwei Meter breite Tor geschritten kam, mit dem Blick zu erfassen. Aber sein Vater war nicht zu entdecken. Manche Männer hatten Fahrräder dabei, so auch Peters Vater. Also er konnte eigentlich nicht übersehen werden. Allmählich kamen immer weniger. Schließlich versiegte der Strom der Männer ganz. Die Spätschicht hatte das Werk verlassen.
Peter wunderte sich. Das war doch nicht möglich. Er konnte seinen Vater nicht übersehen haben. Sollte er ausnahmsweise früher herausgekommen sein? Oder war er aus irgendeinem Grund noch drinnen? Peter beschloss, in die Kneipe an der Ecke zu gehen und zu schauen, ob er dort seinen Vater oder einen seiner Kumpel entdecken konnte.
Als er die Tür öffnete, schlug ihm der Geruch von Bier und Rauch entgegen, und einen Moment lang wurde ihm übel. Aber er kannte das ja und überwand sich schnell. Sein Vater war nirgends zu sehen, nicht am Tresen und nicht an den Tischen. Der Junge wandte sich an den Wirt, der hinter der Theke stand und Bier aus dem Hahn schöpfte, und fragte, ob es sein könnte, dass Arbeiter der Spätschicht am Lohntag eine oder zwei Stunden früher entlassen würden. Der Wirt gab daraufhin zu, dass dies ab und zu vorkam. Zuweilen musste einer der Hochöfen stillgelegt werden, was zwar selten vorkam, aber immerhin, es konnte geschehen, und da brauchte man nicht alle Leute. Peter dankte für die Auskunft und ging hinaus. Sicherlich war sein Vater schon aus dem Werk gekommen, bevor Peter sich am Tor platziert hatte, und befand sich nun auf einer Runde durch die Kneipen des Viertels.
Peter wusste, wohin er zu gehen hatte, um seinen Vater zu finden. Die nächste Station war die Kneipe „Zur Laterne“, von dort ging es zum „Fuchsbau“, dann zur „Jägerklause“. Von seinem Vater keine Spur. Die fünfte hieß „Zur Waldeslust“, obwohl in dieser Steinwüste des Dortmunder Nordens kein einziges Stückchen Wald zu sehen war. Auch in „Roberts Ecke“ und der „Prager Stube“ war sein Vater nicht zu finden, aber genügend andere Männer waren da, die offenbar ihren Lohn bekommen hatten und nun mit dem Geld ordentlich auf den Putz hauten, Karten spielten, rauchten, dreckige Witze erzählten, lachten und grölten. Peter hasste diese Atmosphäre und er schwor sich, dass er in seinem späteren Leben, wenn er erwachsen war, nie freiwillig in diese schmutzigen, stinkenden Kneipen gehen würde. Aber jetzt stand ihm noch der Besuch im „Alten Knecht“, in der Kneipe „Zur Uhle“ und im „Haus Emmerich“ bevor.
Den ersten Hinweis bekam Peter im „Alten Knecht“. Der Wirt kannte Peter schon und wusste, was er wollte.
„Na, such'ste wieder deinen Vater?“
„Ja, war er hier?“
„Ja, das war er. Er hat nur zwei Bier getrunken und ist dann wieder gegangen. Er wirkte irgendwie deprimiert.“
„Wie lange ist das her?“
„Vielleicht eine Stunde.“
Peter dankte und ging hinaus.
Na ja, deprimiert war sein Vater eigentlich immer nur, wenn er sein erstes Bier bestellte, dachte Peter. Nach dem zweiten ging es ihm schon besser, und erst recht nach dem dritten und vierten.
Einige Minuten später war er in der Kneipe „Zur Uhle“. Sein Vater war nicht dort, aber er erkannte einen von seinen Kumpeln, der zusammen mit anderen an einem Tisch saß und Karten spielte.
„Entschuldigung, war mein Vater hier?“, wandte er sich an den Mann.
„Ja, Kleiner, wer ist denn dein Vater?“
„Dieter.“
„Ach, der Dieter, ja! Der war hier. Ich fragte ihn, ob er eine Partie Skat mitmachen würde, aber er lehnte ab. Es schien, als ob er was anderes vorhatte.“
„Danke“, sagte Peter und wandte sich zum Gehen.
„Wart mal, Kleiner“, rief der Mann hinter ihm her, „ist irgendwas mit deinem Vater? Hat er irgendwie Ärger, vielleicht mit deiner Mutter?“
„Ärger mit meiner Mutter hat er immer. Ist ja auch nicht so verwunderlich, wenn er den halben Lohn vertrinkt“, gab Peter zur Antwort. Dann ging er hinaus.
Auch in der letzten Kneipe, die auf dem Weg nach Hause lag, im „Haus Emmerich“, war sein Vater nicht. Sollte er tatsächlich schon zu Hause sein? Das wäre ungewöhnlich.
Er steckte zwei Groschen in das Telefon einer öffentlichen Telefonzelle und rief seine Mutter an.
„Ist Papa schon zu Hause?“
„Nein, Peter, er ist nicht hier. Hast du ihn nicht am Werkstor abgefangen?“
„Nein, Mama, er ist heute früher entlassen worden, vor zwei Stunden etwa. Er war im „Alten Knecht“ und in der „Uhle“, aber nicht im „Haus Emmerich“.“
„Das ist aber merkwürdig“, erwiderte die Mutter, „und warst du auch in allen anderen Kneipen?“
„Ja, klar, aber da war er nicht. Ich suche jetzt noch weiter. In einer Stunde komme ich. Bis dahin habe ich ihn sicher gefunden“ versuchte Peter, seine Mutter zu beruhigen. Dann legte er auf.
Er hatte keine Lust, seiner Mutter zu erzählen, wo er suchen würde. Ihm war nicht daran gelegen, den Ehezwist noch zu verschärfen. Aber er wusste, dass sein Vater von Zeit zu Zeit in die Linienstraße ging, in Dortmunds Puff, wie die Leute es dort nannten. Zwar war es ihm als Vierzehnjährigen nicht möglich, dort reinzugehen, aber er wusste, wo sein Vater immer das Fahrrad abstellte, wenn er dort war.
Wenige Minuten später war er dort. Das Fahrrad stand nicht da. Sein Vater war dort nicht. Er musste woanders sein. Es gab jetzt eigentlich nur noch eine Möglichkeit.
Sein Vater hatte einen kleinen Nebenjob als Gärtner in einem teuren Restaurant, das hinten raus eine Terrasse besaß, wo man sitzen und essen konnte, und davor einen kleinen Park. Den zu pflegen hatte sein Vater als Aufgabe übernommen, um noch ein bisschen dazuzuverdienen, denn der neue Volkswagen hatte einiges gekostet.
Peter wusste, dass der Chef des Restaurants oben auf dem Dachboden des Hauses Dieter ein kleines Zimmer hergerichtet hatte, weil Dieter darum gebeten hatte. Er könnte dann dort schlafen, wenn er in dem Park gearbeitet hatte und am nächsten Tag zur Frühschicht musste. Der Chef war wohlwollend und hatte ihm das erlaubt.
Peter ahnte aber auch, dass sein Vater dieses Zimmer für andere Zwecke benutzte. Er musste sich ein wenig überwinden, denn er hatte durchaus keine Lust, seinen Vater dort mit einer fremden Frau zu überraschen. Aber irgendein Instinkt in ihm sagte ihm, dass er dorthin gehen musste.
Obwohl es schon bald Mitternacht war, war das Restaurant noch ziemlich voll. Die Terrasse war hell erleuchtet, die Gäste aßen und plauderten. Peter schlich sich unbemerkt in das Treppenhaus und stieg die zwei Etagen zum Dachboden hinauf. Er öffnete die Tür. Er wusste, welcher Anblick ihn erwartete. Ein altes Piano, alte Koffer, Truhen, kaputte Stühle, all das wurde da oben gelagert, und irgendwo dahinten war ein Verschlag, den Dieter „sein Zimmer“ nannte. Hier konnte er anscheinend eine neue Identität finden, nachdem er zu Hause nicht anerkannt war und nur als ungebildeter Bauer und gewissenloser Alkoholiker angeschrien wurde.
Die Tür zu dem „Zimmer“ war einen Spalt offen. Es kam Licht heraus. Also hatte er seinen Vater endlich gefunden. Hoffentlich war er allein. Peter näherte sich vorsichtig der Tür und lugte durch den Spalt. Da entfuhr ihm ein Schrei. Sein Vater stand auf einem Stuhl und war gerade dabei, seinen Kopf in eine Schlinge zu legen. Der Strick war an dem obersten Balken des Daches festgeknüpft.
„Papa“, schrie Peter, „bist du verrückt!“
Er stürzte hinein und umklammerte seinen Vater an den Beinen, um ihn im Fall aufzufangen. Es war gerade rechtzeitig. Eine Sekunde später und sein Vater hätte mit gebrochenem Nacken an dem Strick gebaumelt.
„Lass doch gut sein, Junge!“, murmelte der Vater, während dieser ihn wieder mit den Füssen auf den Stuhl stellte.
„Papa, nimm den Kopf aus der Schlinge!“ schrie Peter.
„Warum denn, Junge? Mein Leben ist vorbei. Wofür soll ich denn noch da sein? Es hat doch alles keinen Sinn!“
„Du sollst für mich da sein, Papa! Ich bin dein Sohn. Bitte, tu mir das nicht an! Willst du, dass ich mein Leben lang allen Leuten erzählen soll, dass mein Vater sich erhängt hat, und ihnen erklären, warum er das getan hat?“
Der Vater hielt inne. Sein Füße suchten das Gleichgewicht auf dem Stuhl. Er stellte sich hin und zog langsam den Kopf aus der Schlinge. Peter aber hielt ihn weiter umklammert, aus Angst, sein Vater könnte, betrunken wie er war, nur aus Versehen daneben treten und so ungewollt seinem Leben ein Ende machen.
Dann half er ihm vom Stuhl herunter und führte ihn zu einem Sessel. Dieter warf sich hinein und stöhnte.
„Junge, jetzt hast du deiner Mutter das Vergnügen genommen, mich endlich tot zu sehen.“
Peter hörte an seiner Stimme, dass er nicht so betrunken war wie gewöhnlich. Drei Bier, mehr konnte er nicht getrunken haben. Also war es ihm wirklich ernst gewesen mit diesem Selbstmordversuch.
„Denk auch an mich, Papa. Ich will dich nicht tot sehen. Du bist mein Vater, ich habe keinen anderen.“
„Wie kann ich denn dein Vater sein, soviel Scheiß wie ich mache. Ich bin doch nichts für dich, höchstens ein Geldverdiener. Und seit heute auch das nicht mehr. Das Werk hat mich entlassen, wegen Trunkenheit auf der Arbeit. Es ist vorbei, Peter, alles ist vorbei.“
„Hör auf, Papa! Alle können mal ihre Arbeit verlieren. Das ist ein Problem, das man lösen kann. Du kannst eine neue Arbeit bekommen, aber ich kann nicht einen neuen Vater bekommen.“
Der Vater schaute ihn an. Irgendetwas ging in seinem Kopf vor.
„Sag mal“, begann er langsam, „du hast vorhin gesagt, du wolltest den Leuten erklären, warum ich Selbstmord gemacht hätte. Wie denn? Wie wolltest du das denn erklären?“
„Papa, ich weiß, dass du eine Scheiß Arbeit hast, die dir keinen Spaß macht. Ich weiß, dass du lieber Bauer wärst und dass du wegen Mama das nicht sein kannst. Du bist kein Stahlwerker, sondern im Grund deiner Seele bist du ...“
„Seele?“, lachte Dieter auf, „meinst du, ich hätte noch eine Seele?“
Dann wurde er wieder ernst und sagte leise:
„Meine Seele habe ich verloren, damals 1944, als sie alle neben mir verreckt sind, im Kugelhagel der Russen, und ich gelaufen bin wie ein Hase und in die Scheiße gesprungen bin, um zu überleben. Ich war kein Mensch, ich war nur noch Angst, nackte Angst. Damals wurde meine Seele kaputtgemacht.“
Er schwieg eine Weile, dann fuhr er fort:
„Der Krieg hat mich kaputtgemacht, Peter.“
Und er wiederholte es noch einmal, leiser, als ob es sich um ein mystisches Geheimnis handelte:
„Der Krieg hat mich kaputtgemacht.“
Peter ging zu seinem Vater, kniete vor ihm nieder und schaute ihm in die Augen.
„Papa, solange du lebst und solange du fühlen kannst, dass jemand dich liebt, solange hast du eine Seele. Und solange du eine Seele hast, bist du nicht kaputt!“
„Dass mich jemand liebt? Wer denn?“
„Ich!“ sagte Peter deutlich und bestimmt.
Der Vater schaute ihn mit großen Augen an. Es war das erste Mal, dass sein Sohn das zu ihm gesagt hatte.
„Papa, es ist mir egal, ob du Scheiß machst in deinem Leben, ob du ein Bauer bist oder ein Stahlwerker, ob du ein kaputter Soldat bist oder ein Alkoholiker, aber du bist mein Vater und du sollst es| bleiben. Was immer du tust, es wird sich nichts an meiner Liebe zu dir ändern.“
Der Vater schaute ihn ungläubig an. Langsam wurden seine Augen feucht und eine erste scheue Träne bahnte sich ihren Weg die Wange hinunter. Dieter ließ es geschehen.
Es war, als ob in dieser einen Träne sich Jahrzehnte des Leids ihren Weg bahnten, heraus aus seiner Seele. Ein Schmerz, der endlich anerkannt wurde, ein Schmerz, mit dem er nicht mehr allein war. Denn da war ein Mensch, der ihn verstanden hatte. Es war sein Sohn, sein einziger Sohn.
„Du versprichst mir, dass du das nie mehr tun wirst?“ fragte Peter.
Der Vater, seinen Sohn immer noch ungläubig anschauend, nickte langsam.
Tag der Veröffentlichung: 18.09.2016
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