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Vorwort

 

Wettbewerbsvorgabe für die September-Runde

des Anthologie-Wettbewerbs 2016:

 

„Wähle in einem beliebigen Buch auf Seite 123 einen Satz mit mindestens 5 Wörtern aus und schreibe eine Geschichte, in der dieser Satz vorkommt.“

 

*****

 

Bei diesem Beitrag wurden folgendes Buch und folgender Satz gewählt:

 

Elisabeth Kabatek – Brezeltango

 

„Vielleicht wurde ich jetzt ein ganz kleines bisschen melodramatisch.“

Die Fieselings

Ich könnte Galle spucken. Dunkelheit! Seit Tagen schon verdarb mir dieses Ärgernis die Laune. Jeden Morgen das gleiche Theater. Mein Osteingang - sorgfältig der Sonne ausgerichtet - zugeschüttet mit erbsengroßen Steinen. Wie mühselig, diese wieder beiseite zu schaffen.

 

Sogleich begann ich mit den Aufräumarbeiten. Ein gefährliches Unterfangen. Schutzlos den Fressfeinden ausgeliefert, vertieft in die schwere Arbeit. Dicke Schweißperlen bildeten sich auf meiner Stirn. Ich schob und stemmte, ich ächzte und stöhnte. Zügig und ohne Pause. Hier ging es ums Überleben. Um mein Überleben. Endlich war ein Ende abzusehen. Fertig! Missmutig schaute ich in alle Richtungen. Wenn das nicht aufhörte, würde ich umziehen.

 

Im Grunde hielt mich hier sowie so nichts mehr. Seit der Sperber Felipa geholt hatte, fand ich diesen Acker nicht mehr besonders attraktiv - so als Lebensumfeld. Das plötzliche Ableben von Felipa war jedoch nicht der Hauptgrund für meine Fluchtgedanken, denn wir hatten uns beide auseinandergelebt. Es lag eine Trennung in greifbarer Nähe. Ja, greifbar war sie dann auch gewesen – meine Felipa. Für den Sperber. Das tat mir leid. Sehr sogar. Vor allem, weil sie nach einem unsinnigen Streit völlig kopflos aus dem Westloch stürzte - genau in ein paar ausgestreckte Vogelkrallen. Nicht, dass ich froh darüber war wie sie so überraschend aus meinem Leben verschwand ... aus dem Leben überhaupt. Ein Weilchen gab ich mir sogar die Schuld und mein Gewissen machte mir schwer zu schaffen.

 

Die Zeit nahm mir jedoch nach und nach diese Herzschwere. Und jetzt hatte ich andere Probleme. Die Steine waren mein derzeitiges Ärgernis. Ich wollte mich auf die Lauer legen. Im Grunde war der Fall sowie so schon aufgeklärt. Ich hatte nämlich meine direkten Nachbarn in Verdacht. Die Familie Fieseling. Ja, Fieseling, der Name passte zu diesem hinterhältigen Pack. Eine Großfamilie mit fünf Kindern. Oma, Opa, irgendeine Tante und was weiß ich noch wer. Diese gesamte Bande bewohnte eine kleine Drei-Gänge-Unterhöhlung. Bestimmt nicht sehr komfortabel und sicherlich fürchterlich beengend. Ich sah sehr oft ihre neidvollen Blicke in Richtung meiner Behausung. Nur fragte ich mich, wie sie es schafften, mir täglich unbemerkt diese Steinhaufen vor den Eingang zu schütten. Aber ich würde ihnen schon auf die Schliche kommen.

 

Natürlich war es ein gefährliches Unterfangen. Den größten Teil meiner Aufmerksamkeit musste ich dem Himmel schenken. Schließlich wollte ich nicht wie Felipa enden. Und als die Sonne langsam unterging, bezog ich meinen Beobachtungsposten in einem Grasbüschel, der mir Deckung, Schutz und gleichzeitig gute Sicht auf meinen Osteingang bot. Der Mond eroberte den Himmel und mit ihm unzählige Sterne. Gefangen von diesem Winzigkeitsgefühl, das mich beim Anblick dieser Unendlichkeit bis ins Innerste traf, wurde mir ganz weh ums Herz und für einen Moment dachte ich an Felipa und ich fühlte mich einsam und allein. Vielleicht wurde ich jetzt ein kleines bisschen melodramatisch. Ich rief mich zur Ordnung. Und erinnerte mich an den eigentlichen Grund meines Hierseins. Leise schniefte ich ein letztes Mal in einen Grashalm und spähte dann angestrengt zu meinem Osteingang. Noch immer nichts Verdächtiges.

 

Die Nacht schleppte sich dahin, mühsam hielt ich meine Augen offen. Tödlich, jetzt einzuschlafen. Irgendwann hörte ich von der Ferne einen Hahn krähen, zuckte erschreckt zusammen und rollte völlig haltlos von meinem kleinen Grashügel. Entsetzt sprang ich auf und schaute zum Himmel, der sich gerade rötlich färbt.

 

Ich musste augenblicklich vom Acker verschwinden. Eilig hetzte ich zum Ostloch. Ein riesiger Haufen Steine versperrte den Eingang. Ich war fassungslos. Wie konnte das geschehen, ich hatte doch aufgepasst. Minute für Minute … Stunde um Stunde. Die ganze Nacht hindurch. War ich etwa eingeschlafen? Wie von Sinnen sprintete ich Richtung Südeingang, immer den Himmel im Auge und so kam es wie es kommen musste - ich rannte blind gegen einen riesigen Stein, der auf meinem Schleichweg lag und stieß mir dermaßen den Kopf, dass ich augenblicklich umfiel und bewusstlos liegen blieb. So wurde es mir hinterher erzählt … von Familie Fieseling. Die mich ohne nachzudenken in einer beispielhaften Aktion vom Feld zerrte und in ihre Behausung schleppte.

 

Ja, ich war etwas irritiert. Familie Fieseling - meine Retter? Das beschämte mich. Ein bisschen jedenfalls. Trotzdem schaute ich mich verächtlich um. Du meine Güte war das eng hier. Doch zu meinem Erstaunen unglaublich gemütlich, richtig heimelig.

Und da saßen sie, die kleinen und großen Fieselings und starrten mich an, während mir ihre Tante Livia die riesige Beule auf meiner Stirn kühlte und vorsichtig Hafertee einflößte… und irgendwann zog sie mich in ihre wiegenden Arme und ich schloss ermattet die Augen. Ich war berauscht von ihrem Duft, der mich an selbstgebackenen Hirsekuchen erinnerte. Sie roch wie ein kleines Stück Heimat. Ich fühlte mich so unendlich geborgen.

 

"Sicher hat er eine Gehirnerschütterung, der Ärmste“, flüsterte sie leise, dabei strich sie mir zart über mein schmerzendes Horn. "Er muss erste einmal hier bleiben, damit ich ihn pflegen kann."

 

Dann senkte sie die Stimme und kaum hörbar zischelten die Worte aus ihr heraus.

"Schließlich sind wir ja nicht ganz unschuldig an der ganzen Angelegenheit."

 

Ich kniff entsetzt die Augen ganz fest zusammen, musste das Gesagte erst einmal verdauen. Livia lieferte ein astreines Geständnis. Mein Herz trommelte unkontrolliert in alle Richtungen. Wusste ich es doch! Was für ein hinterhältiges Mäusepack! Aufspringen sollte ich … sie zur Rede stellen. Aber nichts davon passierte. Ich lag in Livias Armen und genoss die Wärme, die mir entgegen strömte. Und plötzlich war mir klar, Livia könnte ich alles verzeihen. Egal was sie vor meinen Eingang schüttete und wie viele Steine sie mir in den Weg legte.

Vorsichtig blinzelte ich unter meinen Lidern hervor. Trotzdem bedurfte es einer Aufklärung. Jetzt wollte ich alles wissen.

 

"Ich habe das gehört." nuschelte ich gegen ihre Brust, an die ich eng angekuschelt lehnte. Ihre Arme wurden starr und sie zog sehr geräuschvoll die Luft ein.

 

"Das hast du falsch verstanden." Ihre Stimme zitterte leicht.

Ich fragte mich, was daran falsch zu verstehen war. Energisch wand ich mich aus ihrer Umklammerung. Mich fröstelte. Livia räusperte sich.

 

"Wir haben das auch erst heute erfahren … das mit den Steinen vor deinem Osteingang.“ Sie schaute mir tief in die Augen und ich war wirklich gewillt, ihr zu glauben.

 

"Du musst wissen, unser Opa Fieseling ist ein Tüftler und Erfinder." Sie lächelte stolz zu dem alten Zausel hinüber, der wippend in einem Schaukelstuhl hockte.

"Seine neueste Erfindung ist eine Steinschleuder..." Es folgte eine bedeutungsvolle Pause.

 

Ach, eine Steinschleuder. Na sowas. Dieses Geröll flog also Stein um Stein vor meinen Eingang? Das erklärte auch, dass ich niemanden entdecken konnte .

 

"Und warum gerade zu mir?" Gezielt richtete ich meine Frage an Opa Fieseling, der einfach nur schwieg.

Auch die fünf kleinen Mäusekinder starrten mit offenen Mündern neugierig zu ihrem Großvater und warteten gespannt auf eine Antwort. Aber er blieb stumm. Keine Erklärung. Nichts. Mama und Papa Fieseling schüttelten unentwegt ihre Köpfe. Für sie war das eine unendlich peinliche Angelegenheit, das versicherten sie mir nun schon zum hundertsten Mal. Oma Fieseling schnarchte leise vor sich hin. Grunzte zwischendurch laut in ihre vibrierenden Barthaare, dass wir alle erschrocken zusammenzuckten. So wie es aussah, hatte sie zu der ganzen Sache keine Meinung ...

 

… oder aber es stimmte, was Livia sagte … und niemand, außer dem Erfinder selbst, wusste was nachts mit den erbsengroßen Steinen und seiner neuesten Erfindung geschah. Denn noch immer presste er bockig die Lippen aufeinander. Nun ja, wie auch immer … der Fall war gelöst. Mir wurde hoch und heilig versprochen, dass künftig keine Steine mehr meinen Eingang versperrten oder auf meinen persönlichen Wegen herumlägen.

Und dann krempelten alle Fieselings die Ärmel hoch und gemeinsam räumten wir meinen Osteingang frei. Außer dem Verursacher. Er weigerte sich strikt, aufzustehen.

 

Aufatmend krabbelte ich in meinen Bau und machte es mir gemütlich. Ich redete mir ein, froh zu sein, diesen Fieselings endlich den Rücken kehren zu können. Es sollte sein, wie es schon immer gewesen war. Sie wohnten dort und ich hier. Jeder für sich. Ich brauchte keine Freunde und malte mir das Geschehene schwarz und schwärzer, dass ein kalter Schauer nach dem anderen meinen pelzigen Rücken hinunter jagte. Und das hielt ich bis zum Abend durch. Dann nämlich wurde diese seltsame Unruhe in meinem Inneren so übermächtig, dass ich kaum noch sitzen konnte. Mein verwirrtes Herz pochte so aufdringlich gegen meine Rippen und das Blut pulste bittersüß schmerzend durch die Adern. Meine Gedanken verloren sich in einer warmen Umarmung, in liebevollen Blicken und in zart streichelnden Händen. In meiner Nase hatte sich der liebliche Duft von Hirsekuchen festgesetzt.

 

Mit einem selbstgepflückten Gänseblümchen stürmte ich los. Hastete über Schleichwege zurück zu meinen Nachbarn. Schließlich war es nur recht und billig, mich bei Livia für ihre Pflege, auch wenn sie nur von kurzer Dauer war, mit einer kleinen Aufmerksamkeit zu bedanken und vielleicht hatte sie Lust, mit mir den Sternenhimmel zu betrachten … in ein Stückchen Unendlichkeit zu schauen, die dann nur uns beiden gehörte ...

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 02.09.2016

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