Auf dem Tisch stand eine bauchige Rotweinflasche. Sie war über und über mit Kerzenwachs bekleckert. Verschiedene Farben waren auf bizarre Weise in einander geronnen. Die oberste Schicht bildeten tief rote Wachssträhnen. Christa dachte flüchtig an blutige Tränen. Sie drehte die Flasche ein wenig, las das, was vom Etikett noch zu lesen war und rümpfte kurz die Nase: Billiger Chianti. Als Studenten hatten sie so etwas zuletzt getrunken. Sie erinnerte sich an die mörderischen Kopfschmerzen am anderen Morgen. Petra, dieses Naturereignis von einer Frau, hatte ungerührt in der Küche gesessen und den restlichen Käsekuchen verdrückt.
Wie lange war das nun her? Dreißig Jahre?
„Du träumst!“, sagte er mit mildem Vorwurf in der hellen Stimme. Sie sah zu ihm auf, lächelte etwas schuldbewusst und nickte. Er beugte sich zu ihr herunter und küsste sie auf die vollen etwas blassen Lippen. Sie schloss kurz die Augen und genoss die Berührung. Sie seufzte kurz auf und sah ihm ins Gesicht, das noch immer etwas jungenhaft wirkte, trotz des Vollbartes und der über der Nasenwurzel zusammenwachsenden Augenbrauen.
„Müde?“, fragte er und die dunklen Augen forschten in ihrem Gesicht. Wieder blieb ihr nur zu nicken.
„Willst du einen Tee trinken, oder Kaffee?“, bot er ihr an, deutete hinüber zur Küche.
„Ich hätte auch einen Energy-Drink da“, setzte er mit einem etwas spöttischen Grinsen hinzu. Sie verzog angewidert das Gesicht.
„Mach nicht solche Scherze mit einer alten Frau“, sagte sie mit einem Augenaufschlag, der ihre Worte Lügen strafen wollte. Er winkte nur ab. Das kannte er schon. Selbst so schöne und kluge Frauen wie Christa neigten manchmal dazu, sich ihre Komplimente zu ergattern.
Hassan hantierte an der Küchenzeile, die den gesamten Bereich zwischen Wohnungseingang und Tür zum Badezimmer einnahm.
„Hast du von Möller gehört? Sie haben ihm die Zulassung entzogen. Sie werden immer dreister!“, sagte Christa, die Stirn in die Hand gestützt. Er kam mit dem dampfenden Pott an den Tisch zurück, hielt ihn ihr hin.
„Heiß, Vorsicht!“, konnte er sich nicht verkneifen zu bemerken. Sie spürte seine fast naive Freude, mit der er den Umgang mit der Sprache genoss, die zunehmende Unabhängigkeit, die Fähigkeit, Zwischentöne zu erfassen. Sie bewunderte seinen Feuereifer und seinen Fleiß.
„Es wird sich rächen, glaub mir, es wird sich eines Tages rächen. So ist es immer.“ Seine Stimme hatte plötzlich Melancholie geladen und eine Art von bitterer Weisheit, die über seine Jugend hinweg täuschen wollte. Dieser junge Mann hatte in seinem kurzen Leben schon eine Menge gesehen, gehört und erlebt; war einer Menge von schlimmen Dingen entkommen und dem einen oder anderen leider nicht. Die kreisförmigen dunkelroten Narben auf seiner Brust und seinem Bauch legten Zeugnis ab. Drei Tage in einer Polizeistation im Nirgendwo nahe der ungarischen Grenze waren ihm wie Wochen vorgekommen. Er hatte geglaubt, er würde dort sterben. Gesprochen hatte er darüber nur ein Mal. Als sie ihm vorgeschlagen hatte, diese Geschichte öffentlich zu machen, sie überall zu erzählen, damit die Menschen endlich wach würden, da hatte er sie mit diesen verwilderten Augen angesehen und den Kopf geschüttelt, sich abgewandt, dass sie nicht sähe, wie er mit den Tränen kämpfte. Da hatte sie ihn noch nicht so gut gekannt.
Sie hatte andere wie ihn betreut, hatte sie in Deutsch unterrichtet, beim oft entwürdigenden Irrweg durch die Verwaltungen und Behörden begleitet, immer hoffend, dass es diesmal gelingen würde, einen oder eine in Sicherheit zu bringen, vor der Abschiebung zu bewahren. Möller war ihr bei diesem zermürbenden Kampf nicht selten ein freundlicher und gewitzter Ratgeber gewesen. Nun hatten sie auch ihn kalt gestellt.
„Du meinst, es wird noch mehr Anschläge geben, noch mehr Tote, noch mehr Polizeigewalt und Repressalien? Hört das nie mehr auf?“
Sie wusste, diese Frage war rein rhetorisch. Sie beide wussten, dass es so war.
„Das meine ich nicht. Natürlich wird es auf allen Seiten immer noch mehr Gewalt geben. Es ist immer das erste, das den Menschen einfällt. Wir stammen von einer sehr aggressiven Affenart ab, wenn du mich fragst. Darum konnte sie sich gegen die Neandertaler durchsetzen.“
„Aber wir sind doch keine Höhlenmenschen ...“, begann sie, sah ihn an und verstummte mitten im Satz. Er stand vor ihr, die langgliedrigen braunen Hände zu einer seiner fast pantomimischen Gesten erhoben, die Augenbrauen fragende Bögen. Er hatte ja irgendwie recht mit seiner Skepsis. Aber er erschütterte auch ihren Glauben an das Gute im Menschen.
„Man könnte denken, es müsste noch um einiges schlimmer werden, bevor es wieder besser werden kann. Aber das ist heute vielleicht nicht mehr so. Frag Frau Merkel, wie sie das heute sieht.“
Das war eins seiner Lieblingsthemen: das fassungslose Staunen der etablierten Politik darüber, von der Welle des dumpfen, nationalistisch gefärbten Separatismus hinweg gefegt und zur kaum mehr geduldeten demokratischen Randerscheinung geschrumpft worden zu sein. Frau Merkel hatte es besonders hart getroffen, fand Hassan. Christa hatte allerdings nicht den Eindruck, als würde er besonders viel Mitleid empfinden mit der entthronten Königin des untergehenden Europas. Er hatte ganz andere Helden in seinem Leben auf furchtbarere Weise und in größere Tiefen stürzen sehen.
Christa folgte ihm mit den Augen, wie er vor der Küchenzeile auf und ab tigerte, gestikulierte und seine Augen vor Eifer leuchteten. Er war ein Poet, aber dafür waren die Zeiten zu mies. Also war er ein politischer Eiferer. Er ereiferte sich für seinen Traum von Demokratie. Wegen der war er einst hierher gekommen.
Er konnte nicht zurück, selbst wenn er gewollt hätte. Sein Land hatte aufgehört zu existieren. Die Stadt, aus der er geflohen war, war ein Trümmerfeld. Die Fernsehbilder der verwüsteten Straßen und des fürchterlichen Durcheinanders konnte er nicht ruhig ansehen; sprang dann auf, rannte zum Fenster. Sie hatte ihn anfangs versucht zu beruhigen, hatte versucht, ihn in den Arm zu nehmen. Aber Hassan war Syrer, Hassan hatte sein eigenes Bild von Männlichkeit und Stärke im Kopf. Er war nicht schroff geworden, aber es hatte in ihm gearbeitet. Seit sie ihn spüren konnte, ließ sie ihn in Frieden in solchen Momenten. Er war ihr dankbar dafür. Überhaupt war diese Liebe ein Spiel mit dem Feuer. Es brannte heiß und mit oft seltsamer Farbe. Aber da half alles Seufzen nichts, wusste Christa. Manchmal hatten Männer und Frauen keine Wahl. Sie hielt sich darum auch nicht mit Selbstvorwürfen auf.
„Ich frage mich manchmal, Amari, ob es noch einmal besser werden kann? Wenn schon ihr Deutschen es nicht hinbekommt.“
Das klang schon ein wenig resigniert. Einen Luxus, den er sich höchst selten und nur bei ihr leistete. Seine Anhänger – heutzutage nannte man sie Follower, dachte Christa belustigt – kannten ihn nur als scharfzüngigen und kämpferischen politischen Beobachter, engagierten Kommentator, dessen Stimme seinen Landsleuten Kraft gab. Er legte sich gern mit den Mächtigen an. In seinem Heimatland war man hinter ihm her, weil er zu prowestlich dachte und in den Augen der Verblendeten den wahren Glauben verlassen hatte. Der Westen beargwöhnte ihn wegen seiner kritischen Haltung gegenüber der offensichtlichen Demontage der Demokratie zu Gunsten der vermeintlichen Hohen Werte des Christlichen Abendlandes. Es war ein klassisches Dilemma. Hassan hatte jenes unbequeme Talent, wo immer er hinkam, sich in kürzester Zeit unbeliebt zu machen. Kein Talent, um das ihn Christa beneidete. Sie hatte zwar in den letzten vier Jahren aufgeholt, was das Interesse der „Kommission zur Klärung von Herkunftsfragen“ an ihrer Person und ihren Aktivitäten anlangte. Hassan jedoch war und blieb ungeschlagen.
„Warum gerade wir Deutschen? Jetzt komm mir bitte nicht mit unseren Tugenden und der Mähr vom Volk der Dichter und Denker. Schau dich um, Hassan. Dummheit und Selbstsucht sind Seuchen und hoch ansteckend!“, sagte sie und spürte, wie Wut in ihr hoch stieg. Immer häufiger beobachtete sie das in den letzten Monaten an sich.
Vor Jahren, in diesen wilden, verzweifelten und doch wieder hoffnungsvollen Zeiten, als sich vor dem LaGeSo menschliche Tragödien abspielten und Leute wie sie selbst bis an ihre Grenzen gingen, um diese Tragödien zu verhindern, da hatte sie diese Wut schon das eine oder andere Mal gespürt. Sie hatte arrogante und selbstherrliche Sicherheitsleute angeschrien, die ihre Machtgelüste gern an wehr- und hilflosen Flüchtlingen ausließen. Aber die meiste Zeit hatte die Kraft dafür nicht gereicht, weil es so viele waren, denen sie helfen mussten. Als von der Deutschen Willkommenskultur die Rede ging, hatte sie sich schon damals - angesichts der Ressentiments, denen sie sich allerorten mehr oder weniger offen ausgesetzt sah – zu Unrecht vereinnahmt gefühlt. Aber damals hatte sie von zehn noch drei vor der Abschiebung bewahren können. Damals waren die Gesetze und Vorschriften auch schon hart gewesen und es hatte einer Menge Tricks und Kniffe bedurft, dass Familien wieder zu einander fanden, Kinder die Schule abschließen konnten und die Deutschkurse unter halbwegs vernünftigen Bedingungen stattfanden. Aber diese Gesetze und Vorschriften galten und waren auch ein gewisser Halt, auf den man sich die meiste Zeit verlassen konnte. Heute, nach sechszehn Monaten verfassungslosem Zustand gab es keine Sicherheit mehr.
Die Presse, soweit sie noch nicht auf Linie gebracht war und zumindest aus der Schweiz und Österreich offen berichten konnte, sprach ziemlich offen von einer zunehmenden „Trumpisierung“ der deutschen Öffentlichkeit. Christa konnte mit diesem etwas marktschreierischen Begriff nichts anfangen, weil sie trotz allem fand, dass Herr G. – Christa verbot sich den Namen auch nur zu denken – in seinem tumben Fremdenhass allenfalls Mittelmaß war im Vergleich zu der faschistoiden Machtattitüde des ehemaligen US-Präsidenten.
Christa schloss die Augen und holte tief Atem. Hassans schmale, langgliedrige Hand legte sich zärtlich auf ihre Wange. Sein Bart kitzelte auf angenehme Weise ihren Hals, als er sie küsste.
Dann läutete Hassans Telefon. Nicht das große schwarze mit dem „Refugees Welcome“-Aufkleber auf der Rückseite sondern das kleine Klapphandy von Motorola. Das „schlimme“ Handy, wie Christa es nannte. Hassan fuhr auf und hatte das Gerät sofort am Ohr. Er sah blass aus und seine Augen wirkten verstört. Noch immer war das jedes Mal so, wenn dieses Telefon sich mit diesem furchtbaren Klingelton meldete.
Sie selbst spürte, wie sich ihr Körper begann zu versteifen. Ihr Herz pochte in ihrem Hals und ihr Blick hing an seinem Gesicht. Wenn sie noch eine Beziehung zu Gott gehabt hätte, wär ihr vielleicht ein Gebet entschlüpft. Aber Gott scherte sich nicht mehr um seine Geschöpfe, der mit dem misshandelten Sohn zu seiner Rechten so wenig wie der, den Mohamed seinen Anhängern prophezeit hatte. In beider Namen geschah eine Menge unaussprechlich böses Zeug, da musste jedes Gebet verstummen. Die sich heute auf Gott beriefen, trugen nicht selten Sprengstoffgürtel oder hatten die Schlüssel zu strategischen Kernwaffen am Brett neben der Eingangstür hängen. Deren Geschäft war in keinem Fall Barmherzigkeit sondern Angst.
Christa hatte Angst und sie sah, dass ihr Liebster aus Aleppo, dieser syrischen Stadt, die nur noch aus diesem Namen bestand, auch welche hatte. Große Angst.
„Sie sind auf dem Weg zu uns. Sie wissen, dass du hier bist!“, sagte er heiser. Sein Akzent war mit einem Mal stärker als sonst.
„Wir müssen verschwinden, sofort! Du hast doch alles vorbereitet, oder? Hast du doch?“ Sie sprach eindringlich zu ihm, sprang auf, hielt seine Hände, sah ihm ins Gesicht. Das war sehr blass.
„Zu spät“, sagte er und dann klingelte es an der Tür.
Es waren keine prügelnden Schergen, die sich mit roher Gewalt Zutritt zur Wohnung zu verschaffen suchten. Als Hassan die Tür zum Treppenhaus den Spalt weit öffnete, den die vorgelegte Kette zuließ, standen dort zwei ganz gewöhnliche Polizisten in nachtblauen Hosen und himmelblauen Hemden. Der Ältere tippte sich etwas nachlässig an die Schläfe, stellte sich und seinen Kollegen mit jener etwas abgegriffen klingenden Routine vor.
„Bist du Hassan Soud ...“, er verhaspelte sich, sah sich kurz hilfesuchend um und setzte erneut an.
„Ja, bin ich. Was kann ich für Sie tun?“, kam Hassan ihm zu Hilfe. Sein Name war nichts für deutsche Zungen, für besonders deutsche erst Recht nicht. Hassan kannte das schon.
„Wir haben den Hinweis bekommen, dass sich eine deutsche Frau in deiner Wohnung aufhält. Du solltest wissen, dass es Flüchtlingen mit ungeklärtem Status nicht gestattet ist, einheimische Frauen in ihre Unterkünfte mitzunehmen. Laut Verordnung vom sechsten März hast du damit eine Ordnungswidrigkeit begangen. Wir müssen dich mit aufs Revier nehmen.“
„Das müssen Sie nicht, Herr Hauptwachtmeister. Sie können ihm die Verwarnung gleich hier aussprechen. Er wird die Strafe bezahlen und alle sind zufrieden“, sagte Christa und trat aus dem Halbdunkel des Flurs in das staubig trübe Licht der Treppenhausbeleuchtung. Deren Flackern signalisierte, dass die Zeit knapp wurde.
„Frau Professor Weiher. Schade, dass wir uns schon wieder unter so misslichen Umständen treffen müssen“, ertönte die von genüsslich vorgetragener Missachtung förmlich triefende etwas heisere Stimme Walter Neusturms. Er trat aus dem Dunkel des Treppenabsatzes in den kleinen Lichtkegel der mit Fliegendreck verkrusteten Feuchtraumlampe, die als Treppenlicht herhalten musste. Ein kleiner, hagerer Mann Mitte Vierzig mit schütterem Haar unbestimmter Farbe; ein in die Mundwinkel eingekerbtes humorfreies Grinsen, das Überlegenheit zur Schau tragen wollte. Christa unterdrückte einen spontan in ihr aufsteigenden Brechreiz. Sie hatte diesen kleinen Mistkerl schon ohne dieses Grinsen erlebt und wusste nicht, was sie mehr hasste.
„Herr Neusturm, warum ist es so gar keine Überraschung, dass wir Ihnen diesen netten Besuch verdanken?“, sagte Christa mit mühsam freundlichem Tonfall.
„Nun, Frau Professor, Sie wissen sehr genau, warum wir Ihrem Stecher diesen Besuch abstatten. Sie kennen die Verordnung doch genau. Immerhin haben Sie mit diesem neunmalklugen Rechtsverdreher Möller zusammen lange genug versucht, sie zu verhindern. Ihr Pech nur, dass das Recht jetzt im Interesse des deutschen Volkes funktioniert. Es wurde nämlich höchste Zeit.“
„Sie sind auf dem besten Wege, Recht und Rechtsstaatlichkeit zu zerschlagen. Berufen Sie sich dabei bitte nur nicht auf das deutsche Volk. Ich muss mich übergeben bei dem Gedanken!“ Entgegnete Christa und wieder stieg diese furchterregende Wut in ihr auf. Sie schloß kurz die Augen und schluckte schwer. Dann fühlte sie Hassans Hand die ihre greifen.
„Wenn ich dann bitten dürfte? Du wirst dich doch nicht auch noch des Widerstandes gegen die Staatsgewalt schuldig machen wollen, oder?“ Der Hauptwachmeister wechselte einen raschen, bedeutungsschwangeren Blick mit Christa und diese verstand plötzlich. Sie würden Hassan in jedem Fall mitnehmen!
Der verstand den Blick des Polizisten ebenfalls. Er schloss die Tür bis auf einen winzigen Spalt und löste die Kette.
„Ich hole schnell meine Jacke“, sagte er ruhig und drehte sich um.
„Nichts da! Jacke brauchst du nicht. Wir sind mit dem Auto da!“, bellte der zweite Beamte, dessen trotzig vorgeschobenes kantiges Kinn ihm das Aussehen eines Rummelboxers gab. Er schob sich an seinem Partner vorbei und versuchte Hassan an der Schulter fest zu halten. Hassan drehte sich geschickt aus dem Griff und trat einen Schritt in die halbdunkle Wohnung. Christa, das Türblatt in der Rechten, schob sich in den Weg.
„Er holt nur seine Jacke!“, zischte sie. Ihr Gesicht war sehr blaß und ihre Augen dunkel vor Zorn und Angst. Der junge Mann mit dem frisch gebügelten blauen Hemd trat dicht an sie heran. Sie konnte Rasierwasser und sauren Schweiß riechen. „Oberwachtmeister Henkel“ las sie auf seinem Namensschild auf der Brust.
„Treten Sie zurück, Herr Oberwachtmeister. Sie haben kein Recht, diese Wohnung zu betreten. Es sei denn ...“
„... es besteht Fluchtgefahr, wie gerade!“, sagte er und es klang fast fröhlich. Er schob Christa zur Seite und trat entschlossen in den schmalen Flur, in dem gräuliche Schatten nisteten.
Hassan kam aus dem Wohnzimmer, war im Begriff, seine Lederjacke mit den abgewetzten Ärmeln überzustreifen. Er sah den Beamten mit zusammen gekniffenen Augen einen Moment grimmig an. Dessen Rechte wanderte zum Holster.
Hassans Gesicht durchlief eine verblüffende Verwandlung. Plötzlich spielte ein Lächeln um die vollen Lippen in dem dicht wuchernden schwarzen Bart.
„Das hätten Sie zu gerne, oder?“, fragte er Henkel halblaut, sah auf ihn herab. Dessen Augen flackerten kurz. Dann griff er an seine Hüfte. Metall klang auf Metall, ein ziemlich massives Geräusch.
„Das wird nicht nötig sein ...“, setzte Christa an, als die Handschellen mit diesem charakteristischen Geräusch zugedrückt wurden. Hassans Gesicht zuckte kurz. Die Fessel saß eng, sehr eng. Er wusste aus Erfahrung, dass die Gelenke in einer Stunde wund gescheuert sein würden.
„Und ob das nötig ist“, sagte Henkel zu Christa im Hinausgehen. Jetzt hatte auch er dieses gehässige kleine Grinsen in den Mundwinkeln; dieses Grinsen, das von einem dumpfen Gefühl der Überlegenheit gespeist wurde, die wie Mehltau über seiner Unsicherheit lag.
„Ich komme mit!“, sagte Christa entschieden und ihrem Gesicht sah man an, dass niemand sie davon würde abhalten können. Sie griff neben der Tür zum Rechen der Garderobe und nahm ihre Jacke vom Haken.
„Das geht leider nicht, Frau Professor ...“, hob der Hauptwachtmeister an und machte eine Geste zwischen Abwehr und Entschuldigung.
„Ich kann Sie gern in meinem Wagen mitnehmen, Frau Professor“, mischte sich Neusturm ein, wobei er bei der Anrede einen kleinen Moment zögerte. Natürlich wusste er davon, dass die Uni ihr den Lehrstuhl weggenommen hatte.
Christa wechselte einen kurzen Blick mit Hassan. Dann nahm sie das Angebot widerstrebend an.
„Sie sollten genau hinsehen, Christa. Es ist nicht besonders schön, aber lehrreich, wissen Sie? Ich darf doch Christa sagen?“
Die Stimme der Frau klang heiser, aber nicht unangenehm. Unangenehm war eher, dass sie nach kaltem Zigarettenrauch stank und sehr dicht neben ihr stand. Christa starrte wie gebannt auf die Szene hinter der Scheibe. Die Stimmen klangen quäkig und etwas verzerrt.
Seit Stunden ging das nun schon so. Am Anfang hatte ihre Wut sie aufrecht gehalten. Die war längst verraucht, verbrannt zur trüben, schal schmeckenden Angst. Jetzt war Christa selbst zu müde um Angst zu empfinden.
Sie wusste, dass sie Hassan verloren hatte.
„Wieder einer“, dachte sie dumpf. Ihr Aufbegehren gegen diese Erkenntnis war schon länger entschlafen.
„So fühlt es sich also an, den Mann zu verlieren, den man liebt“, dachte sie und ihre Augen brannten. Sie war unfähig zu weinen.
Der Beamte mit der rötlich glänzenden Glatze und dem fuchsfellfarbenen Haarkranz, der Hassan seit einer gefühlten Ewigkeit in diesem fensterlosen Raum hinter der Scheibe befragte, tippte energisch auf eines der großformatigen Fotos, die auf dem Tisch in scheinbar planlosem Durcheinander verstreut lagen wie Tanzkarten nach dem Tanztee. Hauptkommissar Dietrich hatte „zum Tanz“ gebeten. Eine Einladung, die man besser nicht ausschlug, wie Neusturm Christa bei ihrer Ankunft im Polizeirevier 19 grinsend versichert hatte. Sie hatten Hassan an ihr vorbei gezerrt; er hatte sie nicht angesehen. Sein Gesicht hatte fast abwesend gewirkt, der Blick wie nach innen gerichtet.
Sie selbst war von Staatsanwältin Schröter-Mohnheim in Empfang genommen worden, jene Frau neben ihr, deren Kleider mit Nikotin und Teerdestillat wie imprägniert schienen. Christa erinnerte sich daran, dass ihre Klamotten auch mal so gestunken hatten. Ihre Schwester Nicole hatte das immer voller Abscheu und mit lauter Stimme feststellen müssen, wenn sie Christa besuchte. Es kam nicht so häufig vor damals, als ...
„Wie komme ich jetzt darauf?“, fragte sich ihr Verstand träge und stellte kurz darauf fest, dass sie dringend eine rauchen wollte. Sie würde diese Aschenbecherin nach einer Kippe fragen, sobald das hier geregelt sein würde.
Es würde nicht geregelt werden. Sie beschuldigten Hassan! Ihren Hassan! Den Eiferer für Freiheit und Demokratie! Den Poeten für bessere Zeiten als diese! Ihren „Stecher“, wie Neusturm mit diesem schmierigen Grinsen gesagt hatte.
„Du hast keine Ahnung, du kleiner Wichser“, dachte Christa und ihre Mundwinkel sanken zu einem bösen Grinsen herab.
„Das ist nicht wahr! Sie versuchen mir das anzuhängen!“, erklang Hassans Stimme aus dem Lautsprecher über der Scheibe. Christa hörte seine Wut, kaum gezügelt, aber sie hörte noch mehr Angst und Verzweiflung. Er war müde, er war verstört und unter Druck. Er würde durchhalten wollen, so lange es ging. Letztlich war es vergebens. Sie würden ihn trotzdem abschieben. Abschieben in eine Stadt, die es nicht mehr gab. Wo auf ihn der Tod wartete.
„Sie wissen doch, dass das alles erstunken und erlogen ist. Sie wollen ihn loswerden, er macht Ihnen zu viel Lärm aus der falschen Ecke. Habe ich recht, Sylvia?“ Christa drehte der Staatsanwältin den Kopf zu, „Ich darf doch Sylvia sagen, Frau Staatsanwalt?“
Die stieß sich von der Wand ab, machte eine Bewegung mit der Rechten, die bedeuten mochte: Kommen Sie mit!
Christa sah hinüber zum Fenster in den Verhörraum zurück. Dietrich beugte sich gerade über Hassan, das Gesicht dicht an dessen Ohr.
„... hat doch keinen Zweck, Hassan! Wir haben dich bei ...“
Der Beamte an den Geräten stellte den Ton ab. Christian kannte den Rest des Satzes. Sie folgte der Staatsanwältin. Sie merkte, wie ihr Denken abdriften wollte. Ihre Füße fanden den Weg nur ungefähr. Sie lief wie unter Drogen.
Schröter-Mohnheim wies ihr auf dem Flur des Präsidiums den Weg. Jetzt, Mitten in der Nacht war es ruhiger geworden. Die Höhe Decke ließ ihre Schritte widerhallen. Durch das halbrunde Oberlicht des Fensters zur ihrer Rechten schimmerte vom aufgewühlten Himmel ein knochenfarbener Mond, unfertig und bedrohlich wie das humorlose Lachen eines bösen Clowns.
SchröMo – in der gesamten Abteilung Terrorbekämpfung wurde die Frau mit der tiefen Stimme so genannt – öffnete am Ende des Flurs eine Tür und ließ Christa den Vortritt.
„Setzen Sie sich. Sie sehen verdammt so aus, als könnten Sie das brauchen“, sagte sie, öffnete eines der hohen Fenster und zog ein angefangenes Päckchen Zigaretten aus der Tasche ihres Blazers.
„Darf ich auch eine haben?“, bat Christa schüchtern. SchröMo sah sie einen Moment überrascht an, dann schnippte sie einen Glimmstengel aus der Schachtel. Christa nahm sie mit spitzen Fingern und gleich darauf beugte sie sich über die gelblich blaue Flamme des Feuerzeugs. Sie versuchte vorsichtig einen Zug und begann prompt zu husten.
„Schon ein Weilchen her, oder? Wenn ich Ihnen raten darf, fangen Sie deswegen nicht wieder an. Lohnt sich wirklich nicht.“ Sie hob die bereits brennende Zigarette vors Gesicht.
„Ich versuch’ es immer wieder, aber ich komm nicht los von den Drecksdingern.“
Die beiden rauchten schweigend am offenen Fenster, durch das die schwere Nachtluft herein strömte.
„Ich zeig Ihnen was, Christa. Eigentlich dürfte ich das nicht, aber ich weiß genau, wie Sie sich gerade fühlen.“ Bei den Worten drückte sie die halbgerauchte Kippe auf dem Fenstersims aus. Christa tat ihr nach.
„Setzen Sie sich. Es wird nicht sehr nett“, sagte Schröter-Mohnheim und Christa glaubte so etwas wie Mitgefühl aus dem Knarren der Stimme zu vernehmen. Die Zigarette hatte ihr ein Gefühl von Watte in den Knien verschafft, einen grimmen Schmerz in der Magengegend und einen trockenen Mund, in dem sich ihre Zunge wie ein trockenes Stück Kautabak anfühlte.
Sie sank auf den Stuhl neben dem chaotisch aussehenden Schreibtisch der Staatsanwältin. Die stellte ihr wortlos eine kleine angefangene Flasche Wasser hin. Christa trank sie fast in einem Zug aus, sah dann schuldbewusst auf das leere Gefäß.
„Tut mir leid“, sagte sie. Die Staatsanwältin zuckte nur die Schultern.
Sie fischte unter dem heillosen Tohuwabohu auf ihrem Tisch einen Ordner hervor, einen schmalen Hefter, auf dessen Vorderseite ein Aktenvermerk zu lesen war, der Christa nichts über seinen Inhalt verriet. Schröter-Mohnheim schob ihn Christa über den Tisch. Die verstand nicht sofort.
„Nur zu“, wurde sie ermuntert. Christa wischte sich die schweißnassen Hände an den Jeans ab und schlug die Akte auf. Ein paar in reichlich kleiner Schrift bedruckte Formblätter gaben ihrem ungeübten Blick ihre Geheimnisse nur zögernd preis. Dahinter Fotos, offenbar verdeckt geschossen aber in brillanter Qualität. Hassan, auf jedem einzelnen Bild Hassan. Das vorletzte Bild sie beide zusammen vor dem Gemeindezentrum, am Weltflüchtlingstag.
Christa sah auf und zu der Staatsanwältin hinüber.
„Ja und nun?“, fragte sie und zuckte die Achseln.
„Was Sie da sehen, liebe Frau Weiher, ist die Vorbereitung eines Terroraktes, dessen Initiator und Organisator eindeutig Ihr Hassan Soud ...“, Schröter-Mohnheim sprach seinen Namen ziemlich beiläufig richtig aus,“... ist. Das ist nur ein Teil der Beweise.“ Sie wies auf den Ordner in Christas Hand.
„Wissen Sie, was da auf den Kundgebungen unserer ‚Neuen Bewegung’ ...“ – sie sprach mit hörbarem Sarkasmus – „... alles über die Migranten und Flüchtlinge rumposaunt wird, ist, ehrlich gestanden, ziemlich erbärmlicher Quatsch und billige Propaganda, um den Leuten Angst zu machen“, begann Schröter-Mohnheim und lehnte sich in ihrem Bürostuhl zurück. Ihre solargebräunte Hand spielte mechanisch mit dem Feuerzeug.
„Aber das da ...“ – sie drückte sich ab und schnellte nach vorn; eine wohl dosierte und sehr effektvolle Bewegung, wie Christa seltsam teilnahmslos registrierte – „... das ist etwas ganz Anderes. Das sind Fakten, Erkenntnisse, das ist die Wahrheit!“, rief sie mit wohl temperierter Empörung und legte ihre Hand auf den noch immer geöffneten Ordner, verdeckte dadurch wie zufällig Hassans und ihr Gesicht.
„Hassan ein Terrorist? Vielleicht noch ein Selbstmord-Attentäter? Das glauben Sie doch selbst nicht, Frau Staatsanwalt!“ Christas Verstand tauchte mit Ihrem wieder aufkeimenden Ärger zurück an die Oberfläche.
„Das ist schwer zu glauben, das weiß ich. Trotzdem haben wir Beweise, eindeutige Beweise. Hat er Ihnen erzählt, er käme aus Aleppo?“
Christa nickte. Ihr Blick wurde aufmerksam, ganz als rechnete sie mit einer Teufelei.
„Er stammt nicht von dort, soviel steht fest“, sagte SchröMo mit gedrosseltem Triumph in der rauen Stimme.
„Ach und woher wollen Sie das so genau wissen?“ Christa fühlte instinktiv, dass diese Frage ein Fehler war. Diese Frage war der Anfang des Zweifels. Sie musste sich wappnen, sich erinnern, wem sie da im Begriff war, auf den Leim zu gehen.
„Wir haben mit seinem jüngeren Bruder in Sizilien gesprochen. Er war einer der Überlebenden der Katastrophe vom Juni.“
Christa ließ einen Laut hören, der nicht einmal annähernd wie ein Lachen klingen wollte.
„Sein jüngerer Bruder ist vom ‚Staat’ ermordet worden. Die Schweine haben ein Video davon ins Netz gestellt. Was wollen Sie mir da weismachen?“
„Sind Sie sicher, dass dieses Video wirklich Semir zeigt? Wenn Hassan für den Staat arbeitet, dann haben sie es vielleicht nur so aussehen lassen? Sie wissen nicht sicher, wie der Junge wirklich aussieht oder? Hassan hat ihnen die unscharfen Aufnahmen irgend eines Jungen gezeigt und behauptet, es wäre Semir. Sie lieben ihn, habe ich recht?“
„Was hat das damit zu tun. Was versuchen Sie mir da zu unterstellen?“
Christa wurde immer wütender. Ihr tat der rechte Arm weh und trockene Hitze waberte durch ihren Bauch.
„Ich unterstelle Ihnen gar nichts, Frau Weiher. Ich denke, dass Sie nur sehen, was Sie sehen wollen. Er hat sich an Sie heran gemacht, hat Ihr Vertrauen gewonnen und missbraucht. Das ist schon ganz anderen Frauen passiert, vor allem in Ihrem Alter. So ein junger, gut aussehender Mann, klug und sehr eifrig beim Deutschunterricht. Das war er doch, nicht wahr? Es hat Ihnen geschmeichelt, oder etwa nicht?“
„Sie sind ja krank!“, stieß Christa voller Abscheu hervor. Sie schloss den Ordner und warf ihn verächtlich auf den unaufgeräumten Schreibtisch.
„Hier, ich leg’s zu dem restlichen Müll!“, sagte sie und erhob sich. Sie spürte die Müdigkeit wieder, die mutlos machende Trauer, umspült vom dumpfen Gefühl der Wut.
„Ich möchte mit ihm reden, jetzt, unter vier Augen. Eine Minute. Ich will wissen, ob es ihm gut geht, er nicht misshandelt wurde. Er hat das Recht auf anwaltlichen Beistand, verdammt! Wir sind hier in Deutschland!“
„Da haben Sie verdammt recht, Frau Weiher“, sagte die Staatsanwältin und lächelte ihr kleines humorloses Lächeln.
Epilog
Die Zukunft ist ungeschrieben. Es gibt keine Vorsehung, es gibt kein Schicksal. Lassen wir uns das nicht einreden und damit Angst machen.
Diese Geschichte ist eine Fiktion. Sie spielt in einer fiktiven Zukunft. Ihre Wurzeln aber reichen bis in unsere Gegenwart. Ich kenne Menschen wie Christa W und Hassan mit dem unaussprechlichen Namen. Ja, ich habe auch Menschen wie Neusturm und Schröter-Mohnheim kennengelernt. Man trifft eine Menge Menschen im Laufe eines Lebens.
Ich kann nicht wissen, ob Donald Trump amerikanischer Präsident wird. Auch Frau Merkels politische Zukunft ist für mich unbekannt. Aber ich sehe Zeichen.
Tag der Veröffentlichung: 17.08.2016
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