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Das Findelkind

… und es begab sich zu einer Zeit, in der noch an das Gute geglaubt wurde und wo Träume einfach wahr wurden. Eine heile Welt, in der es nichts Böses gab. Und doch wanderte eines Tages eine dunkle Wolke über den Himmel und kleckste einen Makel in dieses ungetrübte Leben …

… denn auf den Stufen des städtischen Waisenhauses lag eines Morgens ein Säugling. Eingehüllt in etliche Bogen braunen Packpapiers, gab es keinen Laut von sich. Still hatte es dort ausgeharrt und mit großen Augen in den nachtschwarzen Himmel geschaut. So, als ob es darüber sinnierte, was das Schicksal im Schilde führte. Als ob es sich fragte, was es denn Furchtbares verbrochen hatte, dass man sich seiner auf so rohe Weise entledigte. Ungewollt – ungeliebt. Ausgesetzt wie einen räudigen Hund.

Das Foto des Babys zierte einen Tag lang die Titelblätter aller Zeitungen. Jeder wollte über das Findelkind berichten. Mutmaßungen über die Hintergründe wurden angestellt. Und was für ein großes Glück dieses winzige Wesen doch gehabt hatte, dass es in dieser sternenklaren Oktobernacht nicht erfroren war. Ein Weilchen wurde noch nach der Mutter gesucht und man überlegte, wie das kleine Mädchen heißen sollte. Und weil es doch so viel Glück gehabt hatte, bekam es den Namen Lykka, der schlichtweg „Glück“ bedeutete.

Doch schon am nächsten Tag interessierte sich niemand mehr für das Glückskind und sein Schicksal. Auf der ersten Seite der Sensationsblätter prangte jetzt eine andere, viel aufregendere Geschichte. Es waren eben doch nur aneinander gereihte Buchstaben, irgendwelche Worte auf billigem Papier, in das abends der Abfall des Tages gewickelt wurde.

Aber für Lykka hatte das Leben eben erst begonnen und sie versuchte tapfer, darin zurecht zukommen so ganz ohne Erinnerungen und Wurzeln. Soweit sie auch zurückdachte, gab es nie eine Zeit davor, vor dem Heim. Es wies nichts darauf hin, dass sie jemals das Kind einer Mutter gewesen war. Und jetzt, nachdem sie kurz vor ihrem siebzehnten Lebensjahr stand, war klar, dass sie auch die restliche Zeit hier ausharren musste. Den Niedlichkeitsfaktor hatte ihr das Erwachsenwerden nach und nach aus dem Gesicht gefressen. Somit war sie der Chance, jemals in einer Familie unterzukommen, einfach entwachsen. Die Sonntage, an denen „Wir-möchten-gern-Eltern-sein“-Paare im Heim herumspazierten, um sich ein Kind wie einen jungen Hund auszusuchen, waren für sie schon eine ganze Weile uninteressant geworden. Sie war übrig. Ein Ladenhüter. Irgendwann hatte sie aufgehört zu hoffen, jemals jemandens Tochter zu werden. Oft weinte sie in der Nacht bittere Tränen. Sie weinte um das Glückskind, das niemand haben wollte. Anfangs schaute sie noch in den Spiegel, suchte nach einer Erklärung. Aber das ernste Gesicht, das ihr entgegenschaute, gab ihr keine Antwort. Und dann hatte sie einfach aufgehört zu träumen. Denn nichts von dem, was nachts in ihre Gedanken schlich und sie im Schlaf glücklich lächeln ließ, war jemals wahr geworden.

So lümmelte sie an diesen Tagen träge im Aufenthaltsraum herum und wartete auf die Gelegenheit, sich ab und zu ein Stück Kuchen vom Buffet zu stibitzen. So auch heute. Gelangweilt beobachtete sie das Kommen und Gehen. Stellte sich vor, welche der herumstolzierenden Eltern am besten zu ihr passen würden und war am Ende froh, unbeachtet zurückzubleiben. Aber diesmal war es anders.

„Schau mal Karli, wie süß.“

Ein Paar bernsteinfarbener Augen tauchte plötzlich vor ihrem Gesicht auf. Sie beäugten sie wohlwollend. Erschreckt kippte sie beinahe von ihrem Stuhl. Ein untersetzter Mann, mit frisch polierter Glatze schlenderte auf sie zu, betrachtete sie wie die Auslage eines Kaufhauses, um gleich darauf die Nase zu rümpfen.

„Viel zu alt“, nuschelte er verächtlich und machte einen Schritt zur Seite.

„Aber Karli, überleg doch mal. Für den Anfang … zum Ausprobieren. Da kann man nicht viel falsch machen. Sie ist fast fertig.“ Der bettelnde Klang ihrer Stimme änderte sich schlagartig.

Hart und bestimmend hämmerten ihre Worte auf ihn nieder.

„Karli, ich will sie haben!“

Sein Seufzen klang eher genervt als ergeben.

„Also gut, Aurora, nimm sie, ich schenk sie dir.“

So geschah es, dass ein Traum, den Lykka vor langer Zeit begraben hatte, wahr wurde, sie zu einem Geschenk mutierte und mit ihren wenigen Habseligkeiten in eine Limousine stieg, um einem neuen Leben entgegen zufahren. Das Gute hatte wieder einmal gesiegt. Aber die dunkle Wolke verschwand seltsamerweise nicht vom blauen Himmel.

Frau Rodenbrecht, die Heimleiterin, drückte Lykka ganz fest an sich .

„Was du in der ersten Nacht im neuen Bett träumst, geht in Erfüllung.“ flüsterte sie.

Mit quietschenden Reifen fuhr die Limousine davon. Lykka hatte schon bald die Orientierung verloren. Noch nie war sie weiter als einen Nachmittagsspaziergang vom Heim entfernt gewesen. Langsam wurde es dunkel. Sie schaute angestrengt durch die getönte Scheibe und überlegte, ob das mit dem Träumen auch auf der Rückbank eines Autos funktionierte. Es war sicher einen Versuch wert. Erwartungsvoll lehnte sie sich zurück und schlief bald darauf ein.

„Endlich schläft sie“, schnarrte Aurora genervt. Sie schien gar nicht mehr sicher, ob diese neue Errungenschaft eine gute Idee gewesen war.

„Du wolltest sie unbedingt haben, also halt die Klappe.“

Karli klang sehr unwirsch. Er wollte mit diesem Balg nichts zu tun haben. Das war Auroras Angelegenheit. Wozu sie plötzlich ein Kind brauchte und dazu noch so ein altes, überstieg seinen Horizont. Sein perfektes Leben geriet völlig aus den Fugen. Er würde schon Mittel und Wege finden, dieses lästige Subjekt wieder loszuwerden. Der Gedanke machte ihn zufrieden. Versöhnlich tätschelte er Auroras Schenkel.

Die Landschaft wurde waldiger, die Häuser immer spärlicher. Die Straße führte steil bergauf. In engen Serpentinen näherten sie sich einem Schloss. Es sah ziemlich verwahrlost aus. Ein altes Gemäuer, das für die Instandhaltung Unmengen Geldes, das es nicht gab, verschlingen würde. Die Limousine hielt am Fuße der breiten Steintreppe. Aurora angelte mit der Hand nach hinten, ertastete die Schulter des Mädchens und schüttelte sie grob.

„He du, komm zu dir … wir sind da.“ Aber Lykka rührte sich nicht.

Sichtlich erleichtert zog Aurora ihren Arm zurück. Sollte das Gör doch im Auto sitzen bleiben, da war sie schon nicht im Weg. Im Moment wusste sie sowieso nicht, was sie mit ihr anfangen sollte und ärgerte sich, dass Karli ihren Launen immer viel zu schnell nachgab.

Es war mittlerweile dunkel geworden. Nur der Mond spendete sein fahles Licht und warf bizarre Schatten in die Landschaft. Lykka rieb sich die Augen. Das Auto fuhr nicht mehr. Waren sie endlich angekommen? Und geträumt hatte sie auch nichts. Jedenfalls nichts, woran sie sich erinnern konnte. Vorsichtig öffnete sie die Autotür und schaute sich um. War dies ihr neues Zuhause? Den Umrissen nach war es eindeutig ein Schloss. Sie konnte es nicht glauben. Hier sollte sie künftig wohnen? Und sie freute sich über so viel Glück. Aber wo steckten eigentlich Aurora und Karli? Sie fand es gruselig, so allein im Dunkeln. Eilig erklomm sie die Stufen zum Tor. Zaghaft klopfte sie gegen das verwitterte Holz. Aber niemand öffnete ihr. Schließlich zog sie mit aller Kraft den schmiedeeisernen Ring zu sich heran. Die schwere Tür bewegte sich, gab ein Stückchen weit nach und für einen Moment bot sich Lykka ein Spalt, durch den sie sich blitzschnell zwängte.


„Hallo?“ Ängstlich stand sie in einer großen Halle und wartete. Von der Decke hing ein riesiger Lüster, der den saalähnlichen Raum in ein geheimnisvolles Licht tauchte. Als sich eine Hand schwer auf ihre Schulter legte, zuckte sie zusammen. Ihr Herz trommelte wild gegen die Rippen, so als spränge es gleich aus ihrer Brust.

„Ich zeige dir dein Zimmer.“ Es war Karli. Seine Finger umspannten immer noch ihre schmale Schulter und dirigierten sie Richtung Wendeltreppe, die in die obere Etage führte. Unsanft schob er sie durch die erste Tür gleich neben dem Aufgang.

„Jetzt hör mir genau zu“, zischte er böse. „Ich will dich hier nicht haben. Du bist ein Fehlgriff. Eine Gedankenverwirrung meiner Frau. Jetzt bist du leider da. Von mir aus spinne aus dem ganzen Dreck und Staub hier Gold oder sprich mit dem Spiegel oder besser noch … lass dein Haar wachsen und steig aus dem Fenster, denn durch diese Tür hier gehst du niemals mehr wieder.“

Sein hämisches Lachen hallte noch immer in Lykkas Ohren, obwohl sich schon lange der Schlüssel im Schloss umgedreht hatte.

Lykka weinte eine ganze Nacht und einen Tag. Zwischendurch hämmerte sie gegen die schwere Holztür. Aber nichts geschah und sie begriff, dass es wirklich so war, wie es Karli prophezeit hatte.

Irgendwann sank sie kraftlos auf das eingestaubte Bett. Still saß sie da und schaute sich im Raum um. Vielleicht sprang wirklich aus einer Ecke ein Männlein, das ihr einen Deal anbot. Ja, vielleicht konnte sie tatsächlich Dreck zu Gold spinnen. Wer wusste das schon. Sie hatte es ja noch nie versucht.

Und dann stand sie erwartungsvoll vor dem Spiegel mit dem wuchtigen, goldenen Rahmen und sprach die „Spiegleinworte“. Aber er antwortete nicht. Da war nur ein Mädchen mit rotgeweinten Augen, verstrubbelten Haaren und einer Rotznase, das ihr erschreckt entgegenschaute. Jeder ist schöner als ich…gab sie sich selbst die Antwort.

Und als sie gegen die blinde Scheibe hauchte und versuchte mit der Hand, das Glas klar zu rubbeln, um nach draußen schauen zu können, entdeckte sie nirgendwo einen Prinz, der sie entführen würde … weit weg von Karli und Aurora.

Erschöpft legte sich Lykka auf die muffige Matratze unter den dreckigen Stoffhimmel und schlief augenblicklich ein. Und endlich träumte sie … von einem Schloss, von Spiegeln und von einem Frosch, der sie küssen wollte. Mit aufgestülpten Lippen jagte er sie durch die Gänge. Völlig außer Atem erwachte sie. Draußen dämmerte der Morgen. Ein paar Sonnenstrahlen hüpften fröhlich auf dem steinernen Sims umher und versuchten vergeblich durch die schmutzigen Fenster zu schauen. Lykka rieb sich die Augen. Sie fühlte sich trotz allem besser. Sie musste sogar lachen. Was hatte Frau Rodenbrecht gesagt? Dass Träume im neuen Bett wahr würden? Dieser verrückte Traum gehört sicherlich nicht dazu, da brauchte sie sich keine Sorgen zu machen … denn wer glaubte schon an Kuss-Frösche.

„Küss mich“, quakte es plötzlich neben ihr. „Küss mich und ich werde dein Prinz.“ Vielleicht war Lykka noch immer in einem Traum. Denn wie sonst sollte sie sich den riesigen grünglänzenden Frosch erklären, der mit gespitzten Lippen neben ihr saß.

Sprachlos betrachtete Lykka das stattliche Tier.

„Mach schon … küss mich.“ Erwartungsvoll rückte der Frosch so nahe an das Mädchen heran, dass sie seine glitschige Haut spüren konnte. Mit einem Aufschrei sprang Lykka in die Höhe und flüchtete in die hinterste Ecke des Raumes. Winzig klein kauerte sie sich dort zusammen und versuchte zu begreifen, was sie da sah. Frau Rodenbrecht hatte tatsächlich Recht.

„Komm doch wieder her“, quakte der Frosch enttäuscht. Seine Augen blinzelten sie glubschig an.

Als Lykka keine Anstalten machte, schleuderte er seine Zunge in ihre Richtung und ehe sie sich versah, klebte sie daran fest. Im Bruchteil einer Sekunde schnellte sie, eingewickelt wie die Fülle eines leckeren Fleischröllchens, wieder zurück und prallte gegen seine weichen Lippen.

„Nun küss mich endlich.“ Seine Stimme wurde fordernder.

Lykka war einer Ohnmacht nahe. Aber was hatte sie für eine Wahl? Sie klebte vor diesem riesigen Maul. Vielleicht war er wirklich ein verwunschener Prinz und ihr oblag es, ihn zu erlösen. Er würde ihr bis ans Ende seiner Tage dankbar sein. Eine gute Grundlage für eine Beziehung. Und vielleicht war er ganz hübsch und sie würde sich gar in ihn verlieben. Schließlich war sie Lykka, das Glückskind. Sie fand sowieso, dass ihr das Glück noch was schuldig war, wenn sie an Karli und Aurora dachte.

So ruckelte und zuckelte sie sich zurecht, schloss angeekelt die Augen und presste ihren Mund auf das riesige Maul. Wie lange musste man einen Frosch küssen, bis er sich verwandelte fragte sie sich und unterdrückte tapfer den aufsteigenden Würgereiz. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten, denn mit einem ohrenbetäubenden Knall geschah das Unglaubliche. Etwas, das eigentlich nur in einem Märchen passierte. Der verzauberte Frosch wurde zum zauberhaften Jüngling … blondgelockt und hübsch. So wie es sich Lykka erträumt hatte und ihre Lippen klebten noch immer auf den seinen.

Eine tolle Situation … fand Lykka. Die Übelkeit verschwand und sie genoss den Kuss. Doch irgendwann schnappten beide nach Luft und das Glückskind betrachtete voller Freude den wunderschönen jungen Mann.

„Was machen wir jetzt“, fragte sie ihn atemlos.

„Das, was auch in einem Märchen passieren würde.“ Der frischgeschlüpfte Prinz strahlte über das ganze Gesicht. „Ich nehme dich mit auf mein Schloss.“ Er war überaus zufrieden mit dem Verlauf der Dinge. Das Mädchen schien ganz passabel. Ja, genauer betrachtet, war sie eigentlich perfekt, denn in der heutigen Zeit gestaltete es sich schwierig, eine passende Prinzessin zu finden.

„Und Aurora und Karli? Kommen die so ungeschoren davon?“ Lykka kannte all die Märchen, in denen das Gute über das Böse siegte und wünschte sich auch für Aurora und Karli eine gerechte Strafe.

„Mach dir keine Sorgen um die Beiden.“ Der Prinz lächelte, während seine Gedanken zurückeilten. Dorthin, als er noch als Frosch durch das Schloss hüpfte. Laut schmatzend rieb er sich den Bauch und leckte mit der Zunge genüsslich über seine Lippen … und für einen Moment sah es so aus, als wollte er erneut seine Zunge quer durch den Raum schleudern. Aber er spuckte nur einen Ohrring auf die blanken Holzdielen, der bis vor kurzem noch Auroras zartes Ohrläppchen zierte.

Ihrem gemeinsamen Glück stand also nichts mehr im Weg - außer dieser schweren Eichentür, die sich einfach nicht öffnen ließ.

Aus ihrer Not heraus knoteten sie sich aus Bettlaken einen langen Strang, an dem sie sich in den Schlosshof hangelten und beide kamen punktgenau auf dem Rücken des weißen Hengstes zu sitzen, der geduldig unter dem Fenster auf seinen Herren wartete und ihn wiehernd begrüßte.

Die Wolke hatte sich wieder verzogen. Übrig blieb ein makellos blauer Himmel. Sie war wieder da, diese heile Welt, in der man wieder an das Gute glaubte und Träume einfach wahr wurden. Und so ritten sie in eine gemeinsame sonnige Zukunft…

…Lykka, das Glückskind und der entzauberte Frosch, der zum Prinz wurde.

Impressum

Bildmaterialien: Cover: Pixabay CCO Public Domain – User: blueeve
Tag der Veröffentlichung: 03.06.2016

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