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Der Denker

Die tief stehende Nachmittagssonne warf nur wenig Licht in das geräumige Wohnzimmer, wo er im Halbdunkel in einem Sessel saß und nun dem nachging, was er am liebsten tat und auch perfektioniert hatte. Nachdenken. Es war das, womit er neunmalklug seine Eltern oft in den Wahnsinn trieb, aber auch das, was ihm ein volles Förderstipendium, einen Summa Cum Laude Abschluss und einen Doktortitel mit zweiundzwanzig einbrachte.

Etwas später, als eine seiner Berufskolleginnen, aus ihm unverständlichen Gründen, ein Interesse an seiner Person entwickelte, das über eine berufliche Passion hinaus ging und letztendlich zwar nichts für, aber erstaunlicherweise auch nichts gegen eine Ehe mit ihr sprach, ging er auch dieses Experiment ein. Kinder, Haustiere oder andere emotionale Abstrusitäten waren natürlich völlig ausgeschlossen, zu zwingend war sein Verlangen nach Klarheit und Planung. Aber da er unter diesem Lebensaspekt auch allen anderen Lastern abschwor und auf Grund seines enormen Wissens ein wundervoller Gesprächspartner war, nahm sie diese Kehrseite ihrer hochdotierten Medaille gerne in Kauf. Manch Andere hatte es da durchaus schlechter, besonders wenn dem Lebensabschnittgefährten nach einiger Zeit auffiel, dass sie nicht nur das letzte Wort, sondern meistens auch Recht hatte. Das konnte ihr nicht passieren. Er konnte immer, alles, zu jeder Zeit irgendwie schlüssig und völlig rational erläutern und damit klären. Und er war immer da. Sie wusste nie, ob nur für sie, aber er war da, das zählte. Als sie krank wurde, wich er nicht eine Stunde von ihrer Seite. Selbst als sie ahnte, dass es zu Ende geht, was er natürlich längst wusste, und sie ihn freigeben, ins Leben entlassen wollte, sah er sie nur entgeistert an und antwortete „Wieso? Ich bin dein Mann.“

Nach acht Monaten Krankheit und einundvierzig Ehejahren verließ sie seine Welt. Er war nicht sonderlich überrascht, da er den Todeszeitpunkt auf den Tag genau berechnet hatte und auch wusste, dass sie an einem tödlich verlaufenden Infekt erkrankt war, für den es noch keine effektiven Heilungsmethoden gab. Ihr Tod war also eine logische Konsequenz, die ihn nicht sonderlich zu betrüben vermochte. Warum auch? Gehört der Tod nicht zum Leben dazu?

Und doch saß er drei Tage nach ihrer Beisetzung nun hier in seinem Wohnzimmer und dachte angestrengt nach. Denn da war etwas, das er sich nicht erklären konnte. Besser gesagt, es fehlte etwas. Da war eine, für ihn nicht greifbare Leere. Nicht in seinem Verstand, der arbeitete hervorragend, auch seine Körperfunktionen waren noch ohne Beeinträchtigung. Wie konnte er also so tief in dieser Leere versinken, ohne einen anderen Ausweg zu finden? Er sah auf das Hochzeitsfoto, dass ihm gegenüber auf dem Kaminsims stand. Ein Schleier legte sich auf seinen Blick, denn plötzlich war er bei der letzten möglichen Erklärung angelangt. Er schloss die Augen, wobei es ihm heiß die Wangen hinunterlief und zum ersten Mal im Leben nahm ein völlig irrationales Gefühl von ihm Besitz. Liebe. Tief, ehrlich, keiner weiteren Erklärung bedürftig. So konnte nun auch er mit einem Lächeln diese Welt verlassen, während die dunklen Schwalle aus den präzise gesetzten, senkrechten Schnitten an seinen Unterarmen langsam zu kleinen Rinnsalen versiegten.

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Bildmaterialien: Cover: Pixabay CCO Public Domain – User: Wikilmages
Tag der Veröffentlichung: 20.05.2016

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