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Einen Sommer lang

Wir waren ein verwegener Haufen. Unsere Haut wettergegerbt, unsere Augen stahlblau, unsere Körper muskulös und Zeugen längst vergangener, siegreicher Kämpfe. Der Ruf, der uns vorauseilte, war nicht der beste, denn Angst machte sich breit, wo immer wir uns für eine kurze Weile niederließen um unsere, von all den ausgestandenen Gefechten müde gewordenen Knochen zur Ruhe zu betten.

Wir waren Männer, ganze Kerle. Hart und erbarmungslos, aber immer gerecht.

Nun, ganz so war es wohl nicht, aber ich glaube, so oder so ähnlich haben wir uns selbst gesehen, damals, als ich sechzehn Jahre alt war und mit meinen Kumpels durch die Gegend zog.
Unser größtes Unglück war, dass diese besagte Gegend nur sehr beengt war und sich auf unser kleines Dorf beschränkte, das schon gleich hinter seinen Ortsgrenzen von dichtem Wald umgeben war, welcher unseren Träumen von der großen weiten Welt Einhalt gebot und uns all zu klar machte, dass wir nichts anderes waren, als schlaksig daherkommende, pubertierende Halbstarke, dessen größtes Problem darin bestand, all den Pickeln in ihren Gesichtern Herr zu werden und deren Bestand nach besten Kräften zu dezimieren.

Die Winter in unserem Dorf waren nicht nur kalt. Vor allen Dingen waren sie lang. Sehr, sehr lang.
Die Winter nahmen uns die Träume von Freiheit, Abenteuern und einer Welt, die grenzenlos war. Stahlen uns selbst die Enge des Dorfes und schrumpfte diese zu einem mickrigem Nichts zusammen, das nur in unseren, von vier Wänden umgebenden Zimmern noch Bestand hatte.
Ja, die Winter waren lang und je älter ich wurde, desto länger schienen mir diese Winter zu werden und je mehr eingesperrter fühlte ich mich.

Aber die Sommer waren schön. Die Sommer schenkten uns eine kleine Ahnung von der Weite der Welt, die auf uns dort draußen irgendwo wartete. Die Sommer schenkten uns ein winziges Stück der von uns so sehr herbeigesehnten Freiheit.
Diese Sommer sind mit das schönste in meinen Erinnerungen und von einem dieser Sommer möchte ich erzählen.
Meinem sechzehnten Sommer.


******


Es war heiß an diesem Tag. Schon am frühen Morgen war die Temperatur auf über 20 Grad geklettert und würde im Laufe des Tages die 30-Grad-Marke deutlich übersteigen.
An solchen Tagen schien unser Dorf zu schlafen. Legte sich Trägheit über die Menschen, ließ den klaren, wolkenlosen Himmel über uns zu einer drückenden, schweren Wolldecke werden, unter deren Last das Atmen schwer fiel.
Wo immer es möglich war, hatten die Menschen die Rollläden an ihren Häusern heruntergezogen, waren Gardinen zugezogen und Türen geschlossen worden, um die Hitze nicht einzulassen und so zumindest in der Nacht Schlaf finden zu können.

Uns machte die drückende Schwüle des Tages nichts aus. Ich glaube, es gefiel uns sogar, uns wie die alleinigen Herrscher unseres Dorfes zu fühlen.
Wie immer trafen wir uns unten am Fluss, eroberten dort eine der umher stehenden Parkbänke oder legten uns ins hohe Gras.
Wir, das war Locke, den wir so nannten, weil seine fast weißen Haare wie ein Helm dicht und in kleinen Locken Afrolook-mäßig wild von seinem Kopf abstanden.
Er war der älteste von uns und stand eigentlich schon voll im Berufsleben, wenn er nicht gerade, so wie an diesem Tag, einen auf krank machte.
Er arbeitete, wenn er denn arbeitete, irgendwo im Straßenbau und verdiente recht gut. War aber trotzdem immer ebenso pleite wie wir alle.
Dann gab es da noch Al. Wir sprachen seinen Spitznamen Äääl aus. Das sollte Amerikanisch klingen. Welche Nationalität er hatte, wusste keiner von uns. Irgendetwas Südländisches musste es sein. Für uns war er zu Beginn unserer Freundschaft einfach Ali gewesen, der Türke. Weil alle Südländer für uns Türken waren und alle Türken Ali hießen. Ihm gefiel das gar nicht, weil er, so behauptete er, kein Türke war und auch nicht Ali hieß. So machten wir aus dem Ali dann ein Al und später dann ein Äääl. Das gefiel ihm.

Stürmer drückte sich auch immer mit uns herum. Stürmer war ein kleiner, ziemlich kräftiger Kerl, dessen Bewegungen überraschend behäbig wirkten. Alles was er tat, tat er langsam und fast wie in Zeitlupe. Sein Spitzname war das genaue Gegenteil seiner Fähigkeiten und gerade deshalb hatte er ihn von uns bekommen.

Mein nächster Kumpel hätte eigentlich den Namen Ali verdient, denn er war wirklich Türke. Aber da wir schon einen vermeintlichen Ali unter uns hatten, nannten wir ihn einfach Türke.
Für Türke sollte es der letzte Sommer seines Lebens sein, aber das wussten wir damals noch nicht.
Ein Jahr später raste er mit einem gebrauchten Manta in ein anderes Fahrzeug. Vier Menschen riss er dabei in den Tod. Er selbst starb drei Tage später.

An Falte kann ich mich auch noch gut erinnern. Falte hatte eine seltsame Krankheit, die seine Haut viel zu schnell altern ließ. Besonders an seinen Händen konnte man das sehen. Schon als Kind hatte er die Hände eines alten Mannes. Niemand muss deshalb lange herumrätseln, warum er den Namen Falte von uns bekam.
Er war der kleinste, aber auch der witzigste unter uns.
Wenn niemand von uns etwas anzufangen wusste mit der Zeit, die wir gemeinsam herumhingen, Falte fiel immer etwas ein.
Meistens irgendein ziemlicher Blödsinn, aber es vertrieb uns die Zeit.

Der letzte im Bunde war der Lange. Ein aufgeschossener Typ, der schon als Kind durch seine alle anderen überragende Körpergröße auffiel.
Eigentlich müsste es so sein, dass ich gerade über den Langen viel zu sagen hätte, aber so wirklich weiß ich nicht, wie er damals aussah und wie er auf andere wirkte.
Nur seine Träume kenne ich. All seine Träume und Sehnsüchte, die er damals mit sechzehn hatte.
Der Lange, das war ich.
Für meine Freunde von damals bin ich das auch heute noch.

Wie an vielen anderen Tagen, hockten wir dort unten am Fluss. Kauten auf Grashalmen herum und quatschten über Musik. Über das letzte Album von Iron Maiden, Motorhead oder Slayer und waren uns alle einig darüber, AC/DC nicht zu mögen. Zu mainstreamhaft, zu angestaubt und nicht hart genug war ihre Musik.
Wenn wir zu Hause waren, jeder für sich, kramten wir dann doch ihre Platten hervor. Warfen sie auf den sich stetig drehenden Plattenteller und spürten das Hämmern des Schlagzeugs und die pulsierenden Riffs der E-Gitarren.
Eine heimliche Liebe war es, die zu AC/DC. Eine heimliche, illegetime, aber tiefe Liebe, die bis heute anhält.
„Highway to Hell“, „Thunderstruck“, „High Voltage“, „T.N.T.“, „Back in Black“.
Der Soundtrack meines Lebens.

Doch damals, als wir da so im Gras lagen oder auf der Bank herumlungerten, hätte das keiner von uns zugegeben, und so wetteiferten wir darum, wem von uns wohl das schlagkräftigste Argument gegen diese australische Band einfallen würde.

 

******

Falte war es, der sie zuerst entdeckte.
Er schob Zeige- und Mittelfinger zwischen seine Lippen und ein gellender Pfiff erklang, der uns alle zusammenfahren ließ.
Ich habe ihn oft um diesen Pfiff beneidet und manchmal, ganz heimlich, hatte ich versucht ihn nachzumachen. Bis heute ist mir das nicht gelungen.

Kaum dass sein Pfiff verklungen war, brüllte er auch schon mit seiner hohen, quäkenden Stimme, die so gar nicht zu dem scheinbaren Alter seines Körpers zu passen schien.
„Ey, was machste denn da?“
Wir alle drehten uns herum, wandten unsere Köpfe in die Richtung, die seinem Ruf gegolten hatte.
Erst da sahen wir sie auch.
Nur 30, vielleicht 40 Meter von uns entfernt stapfte ein Mädchen durch das hohe Gras. Hin und wieder bückte sie sich und wir alle konnten sehen, was sie dort machte. Blumen pflücken.
„Ey Kleene, ich red mit dir!“, rief Falte, als er merkte, dass das Mädchen keine Notiz von ihm genommen hatte.

Nur selten tauchten hier unten Mädchen auf, und wenn doch, dann machten sie einen großen Bogen um uns.
Wir wären gerne echte Kerle, harte Männer gewesen, aber das einzige, was an meinen einleitenden Worten stimmte, war unser Ruf, denn der war wirklich mies.
Nicht, dass wir unserem Ruf je gerecht geworden wären, aber wir genossen es, einen solchen zu haben, weil er uns das Gefühl gab stark zu sein und wir deshalb niemals etwas unternahmen, was diesen Ruf gefährdet hätte. Ja, sogar selbst Gerüchte über Saufgelage und angebliche Schlägereien, in die wir verwickelt gewesen waren, in die Welt setzten.
Einmal hatte uns sogar jemand die Polizei auf den Hals gehetzt.
Damals saßen wir, wie auch an diesem Tag, auf unserem angestammten Platz am Fluss, als aus der Ferne ein Polizeifahrzeug auf uns zurollte. Einer der Beamten stieg aus, während der andere im Wagen sitzen blieb.
Bei uns angelangt, baute er sich vor uns auf, musterte uns der Reihe nach und meinte dann „Es gab Beschwerden. Ihr seid zu laut.“
Bis dahin waren wir still geblieben. Nicht nur, weil wir erst einmal abwarten wollten, was er uns zu sagen hatte, sondern weil sich bei uns allen das schlechte Gewissen meldete, welches wir immer hatten, wenn sich Polizei uns näherte.
Doch jetzt, nach seinen vorwurfsvollen Worten, überschlugen wir uns geradezu in unserer Empörung.
„Wir? Zu laut?“ Unerhört!
Er beschwichtigte, meinte nur, es gab Beschwerden und es sei seine Pflicht, denen nachzugehen.
Einer von uns reichte ihm eine ungeöffnete Flasche Bier, die er dankbar aufriss, an den Mund führte und einen großen Schluck nahm.
Er wollte uns nicht sagen, wer uns da angeschmiert hatte, aber wir konnten es uns schon denken. Bestimmt dieser Bauer, der die Straße runter lebte und schon lange einen Kieker auf uns hatte.
Früher, als ich noch ein kleines Kind war, war der Typ ein richtig netter Kerl gewesen. Für uns Kinder hatte er immer sehr viel übrig, und wann immer wir ihm über den Weg liefen, kramte er Bonbons aus seiner Tasche hervor, die er uns in die Hand drückte.
Dann machte ein Feuerteufel sich in unserem Dorf zu schaffen und sein Hof wurde mehrmals Opfer der Flammen.
Das hatte ihn fertig gemacht, hatte ihm den Rest gegeben und seit der Zeit war er unausstehlich geworden.
Wir alle konnten das irgendwie verstehen, besonders ich, denn auch unser Haus, das in unmittelbarer Nähe seines Anwesens lag, ging in Flammen auf.
Auch an unserer Dorfschule wurde gezündelt, was uns ein paar Wochen Ferien einbrachte und deshalb von uns nicht all zu laut beklagt wurde.

Aber wir waren nicht schuld daran, dass dieser Bauer nun den Rest seines Lebens mit schlechter Laune herumlaufen musste.
Also, was gab ihm das Recht, uns die Bullen auf den Hals zu hetzen?
Unsere Empörung war damals echt. Aber unsere Freude darüber, dass der Besuch der Polizei an unserem angestammten Platz das Fundament unseres Rufes untermauerte, war es auch.
Irgendwer hatte es bestimmt mitbekommen. Wir lebten in einem Dorf, irgendwer bekam dort immer irgendetwas mit und trug es durch die Straßen.

Jedenfalls, Mädchen mieden den Platz, an dem wir herumgammelten und so bekamen wir nur selten welche zu Gesicht.
Doch dieses Mädchen war anders. Unser Ruf schien ihr nicht im geringsten zu imponieren.
Ganz ungestört pflückte sie weiter ihre Blumen und schien uns gar nicht wahrzunehmen.
Das ärgerte uns ein wenig und kratzte an unserem Stolz, deshalb ertönte sofort ein Chor pöbelnder Jungenstimmen, die versuchten, diesem einen möglichst männlichen und bedrohlichen Bariton zu geben.
Was, so vermute ich, nicht wirklich gelang, denn das Mädchen pflückte weiter, völlig ungerührt von uns, ihre Blumen.

„Komm rüber!“, brüllte Al. „Werf das Unkraut weg und lass dich mal ansehen!“, unterstützte ihn Locke.
Meine Freunde überschlugen sich geradezu damit, dieses Mädchen in unsere Nähe zu locken und nachdem sie auch diesen Aufforderungen nicht nachkam, begannen sie ihr wenig schmeichelhafte Worte an den Kopf zu werfen.
Nur ich schwieg. Mir wurde das Verhalten meiner Freunde peinlich, aber ich tat auch nichts, um sie davon abzubringen, denn irgendwie wollte ich ja doch so sein wie sie.

Ich glaube, keiner von uns hatte es wirklich erwartet, aber nun richtete sich das Mädchen auf, schaute zu uns herüber. Stemmte, immer noch die Blumen in ihrer Hand, die Arme in die Hüften, ließ ein Stirnrunzeln erkennen und dann, ja dann kam sie tatsächlich auf uns zu.
Wir hatten erwartet, sie würde sich vielleicht schimpfend von uns abwenden, würde sogar ärgerlich die Flucht vor uns ergreifen. Nicht aber, dass sie wirklich zu uns kam.
Uns allen imponierte das und fast schlagartig hörten die Pöbeleien meiner Freunde auf und wir schauten alle gespannt in ihre Richtung.

Niemand von uns kannte sie, sie musste neu in unserem Dorf sein, was wohl auch erklärte, dass sie von unserem Ruf noch nichts mitbekommen hatte und deshalb keine Angst vor uns hatte. Aber eigentlich glaube ich, selbst wenn sie uns gekannt hätte, selbst wenn sie Angst vor uns gehabt hätte, wäre sie zu uns herüber gekommen. Und wenn es nur gewesen wäre, um uns pubertierenden, pöbelnden Halbstarken die Meinung zu geigen.

Sie pflanzte sich vor uns auf, schaute uns alle der Reihe nach an und als mich ihre Blicke trafen, spürte ich, dass Röte mir ins Gesicht schoss, und weil ich merkte, dass ich rot wurde, wurde ich gleich noch röter. Noch heute kann ich das Kribbeln unter meiner Kopfhaut spüren, welches ich damals empfand. Das Gefühl, als würden jeden Moment meine Haare in Flammen aufgehen.

„Ihr seid ganz schön dämlich“, meinte sie, als sie mit ihrer Begutachtung abgeschlossen hatte. „Ganz schöne Babys“, fügte sie geringschätzend hinzu.
Wir alle wussten wohl, dass sie recht hatte, denn außer wenigen leisen und nicht sehr überzeugend klingenden Protesten blieben wir still.
Einen Moment herrschte Ruhe, eine Ruhe, die unangenehm und beklemmend war.
Nur um das Eis zwischen uns zu brechen, stellte ich eine ziemlich dumme Frage, aber die einzige, die mir in diesem Moment einfiel. Ich deutete mit dem Kopf auf den Strauß bunter Wildblumen, den sie immer noch in ihrer Hand trug und fragte „Was hast'n da?“
Lächelnd kam sie auf mich zu, betrachtete noch einmal die Blumen in ihrer Hand, führte sie dicht an ihr Gesicht, legte die Nase kraus und schnupperte an den leuchtend bunten Blüten. Dann streckte sie sie mir entgegen: „Für Dich!“
Ich glaube, ich muss in diesem Augenblick sehr dämlich ausgeschaut haben, als ich zaghaft den mir dargebotenen Strauss entgegennahm und ein „Ähh, mhh, ähh Danke“ stotterte.
Natürlich wusste ich, sie hatte diese Blumen nicht für mich gepflückt, denn bis vor wenigen Augenblicken kannten wir uns ja nicht einmal. Trotzdem durchströmte mich ein Hauch von Glück und ein Anflug von Stolz machte mich mutig.
Zum ersten Mal traute ich mich, ihr offen ins Gesicht zu schauen und sie zu betrachten.
Kurze dunkelbraune Haare, braune Augen, die mich unverwandt anschauten, ein Mund, der mich anlächelte.
An fast alles kann ich mich erinnern, an das leuchtend rote T-Shirt, das sie trug, an die engen blauen Jeans, selbst an das dünne goldene Kettchen, welches sie um ihren Hals trug, und an das geflochtene Lederbändchen, das ihr Handgelenk zierte.
An alles erinnere ich mich und doch habe ich ihren Namen vergessen.

Während ich noch immer den Blumenstrauß in meinen Händen betrachtete und verlegen an den darin enthaltenden Löwenzahnblüten herumzupfte, aber eigentlich nicht so recht wusste, was ich damit nun anfangen sollte, ließ sie sich vor mir ins Gras nieder. Im Schneidersitz saß sie vor mir, stützte ihr Kinn auf die Arme und schaute mich wortlos an.
Sie war älter als wir, vielleicht zwanzig, einundzwanzig Jahre alt.
Eine richtige Frau.
Bei jedem anderem Mädchen hätten meine Freunde wohl losgeprustet, hätten ihren Spott über mich und meine Verlegenheit ergossen, wären lästernd über sie und mich hergezogen.
Doch bei ihr war das anders. Meine Freunde blieben ruhig, und auch wenn ich mich nicht traute zu ihnen hinüberzublicken, wusste ich doch, dass sie uns ganz genau beobachteten und ich spürte, dass sie neidisch waren.

Die Stille begann mir unangenehm zu werden und ich glaubte, jeder erwartete nun von mir, dass ich irgendetwas sagte, am besten irgendetwas intelligentes und besonders cooles.
Doch mein Kopf blieb leer und so fragte ich das fremde Mädchen dann endlich, woher sie kam und wo sie wohnte.
Sie deutete mit einer vagen Handbewegung in Richtung Dorf, und auch wenn diese Bewegung eigentlich nur sehr unbestimmt war, wusste ich wo sie lebte.
In der alten Molkerei, an der ich als Kind auf meinem Schulweg immer vorbeigekommen war.
Manchmal war ich die Verladerampe, an der immer der LKW mit den vielen Milchkannen gehalten hatte, heraufgeklettert und hatte, wenn ich mich unbeobachtet fühlte, heimlich und unter sehr großer Anstrengung, das große, schwere Schiebetor einen kleinen Spalt weit geöffnet um hineinzuspähen. Dann hatte ich die vielen blechernen Kannen beobachtet, wie sie scheppernd, mit klappernden Deckeln über das Laufband in der, ansonsten den Blicken verborgenen Halle, polterten.
Ein Anblick, der mich immer wieder faszinierte hatte und von dem ich mich nur schwer losreißen konnte.
Sicher wäre ich bestimmt das eine oder andere Mal zu spät zur Schule gekommen, wenn mich nicht immer einer der dort arbeitenden Männer entdeckt hätte und mich laut schimpfend davonjagte.

Die Molkerei war schon lange stillgelegt worden. Das Gebäude umgebaut und Wohnungen daraus entstanden. Nur der hohe Schornstein erinnert noch heute an den ehemaligen Verwendungszweck. Ihn hatte man stehen lassen, da irgendwann Störche auf seiner Spitze nisteten.
Dort also wohnte dieses Mädchen.

Auch meine Freunde begannen nun mutiger zu werden und das Mädchen mit ihren Fragen zu bombardieren. Sie antwortete geduldig, ging auf jede Frage ein, doch die ganze Zeit über wandte sie ihren Kopf nicht um, saß mir gegenüber, schaute mich an, lächelte, redete.
Ich verstand ihre Worte nicht, lauschte nur dem Klang ihrer Stimme. Sah das Lächeln auf ihrem Gesicht, von dem ich wusste, das es mir galt. Ich sah nicht die Blumen in meiner Hand, die allmählich ihre Köpfe hängen ließen. Ich sah nicht das leuchtende Grün des Grases, nicht das strahlende Blau des Himmels. Sehen konnte ich nur ihre Augen, die mich unverwandt anschauten. Augen, dunkel wie geheimnisvolle Seen, deren ruhige, bewegungslose Oberflächen ihre Tiefe nicht einmal erahnen ließen.
Augen, so verlockend, so sehnsuchtsverheißend und doch so angsteinflößend.


******

 

Der Tag verging. Die Sonne war schon lange untergegangen, ohne aber die Wärme mit sich fortzunehmen.
Ich hatte nicht gemerkt, wie die Zeit vergangen war und wunderte mich ein wenig darüber, dass es nun dunkel war.
Auch dass meine Freunde schon längst gegangen waren, hatte ich nicht mitbekommen.
Nicht gemerkt, dass ich nun mit ihr alleine war.
Erst als sie sich aus ihrem Schneidersitz erhob, sich mit den Händen das Gras von den Jeans klopfte, mir ihre Hand entgegenstreckte und sagte „Komm!“, wurde ich wieder einigermaßen klar im Kopf.
Wie selbstverständlich nahm ich ihre Hand, fühlte die Zartheit ihrer Finger in den meinen.
Schweigend gingen wir nebeneinander her.
Ich war so jung und doch spürte ich, dass das, was zwischen uns passierte, einzigartig und zerbrechlich war, so dass Worte es nur hätten zerstören können.

Gemeinsam stapften wir durch das hohe Gras. Gingen den Feldweg entlang, der zum Fluss führte. Folgten endlich der dunklen und leeren Dorfstraße und standen endlich vor der ehemaligen Molkerei, in der sie wohnte.
Das metallische Klirren, als sie den Wohnungsschlüssel aus ihrer Jeans hervorzog. Das Aufflammen des Lichts im Treppenhaus, der Geruch nach Reinigungsmittel und den stumpfen Glanz der steinernen Stufen, die hinauf in ihre Wohnung führten. Das alles nahm ich wahr und fühlte mich doch wie ein Zuschauer meiner selbst.

Ihre Wohnung war klein. Nur zwei Zimmer, die sie bewohnte. Möbel, denen man ansah, dass sie niemandem gehörten, der besonders viel Geld besaß.
An den Wänden hingen Bilder, die aussahen als wenn sie jemand aus Kalendern herausgeschnitten hatte. Viele von ihnen zeigten bunte, leuchtende Blumen. Einige auch kitschige Landschaftsszenen.
Auf dem kleinen Wohnzimmertisch stand eine leere Vase. Mir fielen die Blumen wieder ein, die ich achtlos neben der Bank liegen gelassen hatte und die mir nun ein schlechtes Gewissen verursachten.
Die Tür zum angrenzendem Zimmer stand offen. Ich konnte sehen, dass es das Schlafzimmer war.
Auch dort hingen Bilder mit Blumen an den Wänden.
Ein Stuhl diente als Nachtschrank. Auf seiner Sitzfläche stand eine kleine Lampe, daneben lag ein aufgeschlagenes Buch.
Ein nur oberflächlich gemachtes Bett, dessen Bezüge ebenfalls lauter bunte Blumen zeigten.
Auf dem Kopfkissen ruhte ein Teddybär, der mir mit seinen dunklen Knopfaugen entgegenblickte, als ich heimlich in das Zimmer schaute.
Irgendwie rührte mich dieser Anblick und warme Zärtlichkeit durchströmte mich für dieses unbekannte Mädchen.
Ein wenig fühlte ich mich aber auch ertappt, denn ich selbst besaß einen solchen Teddy, den ich vor meinen Freunden ganz unten im Kleiderschrank versteckte und von dem ich mich nicht trennen konnte.
Ein Überbleibsel meiner Kindertage.

Ich hörte das Klirren von Gläsern. Das Mädchen hatte diese gerade auf den kleinen Tisch im Wohnzimmer gestellt und war gerade dabei Wein einzugießen.
Ich mochte keinen Wein und doch ließ ich mich auf die Couch nieder, nippte an dem Glas, welches sie mir in die Hand drückte und tat so, als wenn er mir schmecken würde.

Sie ließ sich neben mir nieder, nahm mir schließlich das Glas aus der Hand, das ich nervös zwischen meinen Fingern hin und her gedreht hatte.
Ich spürte die Wärme ihres Körpers, als sie sich dicht an mich drängte und fast wie von selbst begann ich sie zu streicheln.
Als sich unsere Lippen, unsere Zungen berührten, war es für mich, als würde elektrischer Strom durch meinen Körper jagen.
Ich hatte schon oft herumgeknutscht, aber geküsst, wirklich geküsst, hatte ich bis dahin noch nie.
Meine Hände wanderten über ihren Körper. Tasteten, streichelten, entdeckten und irgendwann, ganz von alleine, wanderten sie unter ihr Shirt und erforschten dort das, was so wundervoll warm und weich war.
Langsam ließ ich meine Hand hinabgleiten. Tiefer und tiefer. Öffnete schließlich den Verschluss ihrer Jeans.
Noch nie zuvor hatte ich ein Mädchen so berührt, waren meine Hände, meine Finger soweit vorgedrungen.
Ich spürte, dass ich zitterte, dass ich unsicher wurde, dass ich Angst bekam.
Bis dahin, wann immer ich einem Mädchen auf diese Weise näher kommen wollte, hieß es „Ich bin noch nicht soweit“.
Doch dieses Mädchen kam mir entgegen, wollte es, genoss es sogar.
„Ich bin noch nicht soweit“ war für mich immer auch ein Versprechen gewesen. Das Versprechen, dass ich es nicht beweisen musste, ein Mann zu sein.
Ich hatte Angst. Fühlte mich wie ein kleiner Junge und wäre am liebsten aufgesprungen und davongerannt. Aber selbst dazu war ich zu feige.

Als sie sich von mir löste, spürte ich einen Moment Erleichterung, hatte ich doch für einen Moment die Hoffnung, dass sie es sich anders überlegt hatte und es nun selbst nicht mehr wollte.
Doch diese Hoffnung hielt nicht lange an, denn nichts anderes als sich frisch machen wollte sie.

Ich saß da, hörte das Wasser der Dusche herabrauschen, fühlte meine Angst und war mir selbst fremd.
Als sie schließlich aus dem Bad wieder auftauchte, mit feuchten Haaren, nur mit einem Slip und einem weißem T-Shirt bekleidet, hätte ich alles dafür gegeben, ein Mann zu sein und nicht dieser kleine Junge, als der ich mich fühlte.
Ihr fragendes „Du auch?“ gab mir eine kurze Gnadenfrist und so verschwand auch ich im Bad.
Ich zog mich aus, ließ meine Klamotten achtlos auf den Boden fallen. Schaute in den vom Wasserdampf fast blinden Spiegel über dem Waschbecken und erkannte den Typ, der mir daraus entgegenstarrte, nicht.

Nie zuvor habe ich mich ausgiebiger geduscht. Ich wollte Zeit schinden und hoffte auf ein Wunder, das mich hier herausholen würde.
Ich schaute an meinem schlaksigem Körper hinab, blickte zwischen meine Lenden und zweifelte daran, dass sich dort je irgendetwas regen würde.

Auch wenn ich es noch so wollte, mir sogar die Ohren mit Wattestäbchen reinigte, die ich auf einem kleinem Regal im Bad gefunden hatte, gab es irgendwann keine Entschuldigung mehr, um es hinauszuzögern. Nicht zu ihr gehen zu müssen.

Sie lag schon im Bett als ich in das kleine Schlafzimmer trat. Bis auf die Lampe auf dem Stuhl, die nur spärliches Licht abgab, war es dunkel im Raum.
Auffordernd streckte sie mir ihre Hand entgegen. „Komm!“, flüsterte sie.
Vor erst kurzer Zeit war dieses „Komm!“ noch ein Versprechen gewesen. Etwas wie selbstverständlich ausgesprochenes und doch so wunderbares, einzigartiges, glücklich machendes. Doch jetzt wirkte es fast bedrohlich auf mich.

Ich nahm ihre Hand, kroch unter die Decke und wir streichelten, küssten uns. Meine Hände, meine Lippen wanderten auf ihrem Körper entlang. Liebkosten Stellen, die noch vor nicht all zu kurzer Zeit verlockendes Geheimnis für mich waren. Die unbekannt und doch so sehnsuchtsvoll von mir entdeckt werden wollten.
Ich spürte die Wärme ihrer Haut, das Flüstern ihrer Stimme, ihre Hände, die auch an mir entlangglitten, um zu entdecken und zu erforschen.
Warm und weich.

Ich wollte ihr zeigen, wie gern ich sie hatte, was sie mir bedeutete. Dass meine Küsse, meine Berührungen nicht Lüge, sondern unbedingte Wahrheit waren und doch, nichts regte sich an mir.
Meine Erregung, die ich noch empfunden hatte, als wir im Wohnzimmer so dicht beieinander saßen, war verschwunden. Hatte sich aufgelöst, war Opfer meiner Angst geworden.
„Mach dir nichts daraus“, flüsterte sie, „das kann jedem mal passieren. Es ist auch so sehr schön mit dir.“
Sie drückte sich fest an mich, streichelte über meine nackte Brust, küsste mich und ich lag neben ihr und schämte mich für mein Versagen.

Ab da waren wir fast an jedem Tag zusammen und ungezählte Nächte verbrachte ich bei ihr.
Meine Eltern machten sich Sorgen, überschütteten mich mit Vorwürfen. War ich doch erst sechzehn und schien mich nun herumzutreiben, wollte nicht sagen, mit wem ich all die Zeit verbrachte.

Ich weiß nicht, was dieses fremde Mädchen für mich empfunden hatte. War es wirklich Liebe, oder war es nur Neugier? War es vielleicht auch nur die Unmöglichkeit des Alleineseins, das sie in meine Arme trieb?
Ich weiß es nicht. Aber sie musste mich wohl auf ihre Art gerne gehabt haben, denn nie verlor sie ein Wort über meine Unzulänglichkeiten. Sie schenkte mir unendlich viel Zärtlichkeit, Verständnis und sehr viel Geduld.
Als es dann wirklich klappte und wir miteinander geschlafen hatten, fragte sie mich, ob es das erste Mal für mich war. Ein kurzes Ja hätte genügt, aber ich log sie an. Erzählte von einem Mädchen, das ich in dem Moment erfand, in dem ich ihr davon erzählte.
Ich log und sie wusste es und ich wusste, dass sie es wusste, und doch, sie bohrte nicht nach und ließ es dabei bewenden.

Sie wurde ein Mitglied unserer Clique. Noch oft trafen wir uns alle in diesem Sommer unten am Fluss. Unterhielten uns, kauten auf Grashalmen herum und tranken, sofern wir genug Geld hatten, Bier.
Unzählige Blumensträuße bekam ich von ihr, die sie in dem hohen Gras gepflückt hatte.


Die Tage und Wochen vergingen.
Das Gras wurde trocken und die Blumen verschwanden.
Die Tage wurden kürzer und abends wurde es kühler. Irgendwann zog der Herbst ins Land, vertrieb die Sonne und Wärme des Sommers.
Jetzt trafen wir uns nur noch selten. Unsere Bank verwaiste und stand oft einsam im Regen, dort unten am Fluss.
Auch mit ihr traf ich mich seltener. Ich ging noch zur Schule, aber sie hatte begonnen, irgendwo zu arbeiten und deshalb nur noch wenig Zeit für mich.
Ich weiß nicht, was ich für sie empfunden hatte. Ich glaube nicht, dass es Liebe war und doch, als ich dann eines Tages vor ihrer Tür stand und dort auf ein fremdes Namensschild blickte, tat es weh.
Sie war gegangen. Hatte nicht einmal Abschied von mir genommen.
Ich habe sie nie wieder gesehen.


******


Ich weiß nicht, wer sie war, dieses fremde Mädchen.
Ich sehe sie noch heute vor mir, wie sie Blumen pflückend durch das hohe Gras streicht, in ihrem rotem Shirt und den blauen Jeans.
Wie sie sich selbstsicher vor uns aufbaute und uns spöttisch betrachtete. Wie sie aus mir und meinen Freunden, die wir so gerne Männer sein wollten, das machte, was wir damals wirklich waren. Kleine dumme Jungen.
Ihr Gesicht habe ich nur noch verschwommen vor mir, aber die Augen, in die ich damals so tief versunken bin, werde ich nie vergessen.
Ihre flüsternde Stimme, die Wärme ihrer Haut und das erste Mal im Leben, welches mich lehrte, welch Wunder das Geschenk der körperlichen Liebe ist, werde ich niemals vergessen.

Viele Jahre sind seit damals vergangen. Mein Dorf habe ich schon vor langer Zeit verlassen und nur selten kehre ich dahin zurück.
Die Freunde von früher sind entschwunden, nur mit Locke bin ich auch heute noch befreundet.
Die alte Molkerei, der hohe Schornstein mit dem Storchennest, das alles gibt es noch.
Selbst unseren Platz, unten am Fluss, und die Bank, an der in der Zwischenzeit die Farbe längst abgeblättert ist und das Holz Risse bekommen hat, gibt es noch.
Auch heute noch streicht im Sommer der Wind über das hohe Gras. Wachsen bunte Wildblumen dort.
Manchmal frage ich mich, gibt es vielleicht auch heute dort irgendein mir fremdes Mädchen, das durch das hohe Gras streicht, sich hin und wieder bückt, um nach den Blüten zu greifen.
Die mit lächelndem Mund und leuchtenden Augen irgendeinem Jungen diesen Strauß entgegenstreckt, die seine Hand nimmt und ihm leise zuflüstert „Komm!“.

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Bildmaterialien: Cover: Pixabay CCO Public Domain – User: Wikilmages
Tag der Veröffentlichung: 16.05.2016

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