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Kalte Angst

Lebendig begraben zu werden, ist ohne Frage die grauenvollste aller Martern, die je dem Sterblichen beschieden wurde.“

Edgar Allan Poe / Lebendig Begraben

 

 

Matias erwachte in vollkommener Finsternis.
Etwas war komisch, anders, ohne dass er es benennen konnte. Sein Blick ging nach rechts, doch da war nichts. Kein blassgrünes Leuchten der Digitalziffern des Radioweckers. Kein Mondlicht drang durch das Fenster. All die Fixpunkte seines Schlafzimmers, an denen er sich sonst orientierte, fehlten. Die Dunkelheit war endgültig und undurchdringbar.
Unter seinem Rücken spürte er nicht seine weiche Matratze. Er lag auf etwas Hartem. Die Luft roch seltsam muffig.
Das konnte nicht sein! Irgendwas stimmte nicht. Seine Sinne meldeten Gefahr und ein eigenartiges Wissen schob sich in sein Bewusstsein. Ohne etwas dagegen tun zu können, machte sich in seinem Inneren das Gefühl der Angst breit. Seine Hand tastete nach dem Schalter der Nachttischlampe, doch er kam nicht weit, sondern stieß gegen etwas Hartes. Er betastete die undurchdringbare Wand. Unter den Fingerkuppen erfühlte er eine feine Maserung. Holz.
Mit einem Ruck wollte er sich aufrichten, aber auch diese Bewegung wurde jäh gestoppt, als seine Stirn mit einem lauten Knall gegen etwas schlug.
Ihn erfasste Panik, als er es endlich begriff.
„Nein“, flüsterte er leise. „Nicht das … Bitte!“
Er war eingeschlossen. Lebendig begraben.
Zum ersten Mal im Leben verspürte er Angst. Nichts als nackte Angst.
Nie zuvor hatte er Angst vor engen Räumen gehabt. Doch das hier, das war etwas anderes.
„Du perversen Schwein!“, schrie er. Matias ballte die Hände zu Fäusten und hämmerte drauflos. Er wusste ganz genau, wer ihm das angetan hatte. Olaf Bakker. Matias war ihm gemeinsam mit seinen Kollegen auf der Spur gewesen – ihm, der in den letzten fünf Monaten fünf Frauen auf diese Weise getötet hatte. Erbärmlich erstickt in einer vergrabenen Holzkiste.
Die Bilder der Tatorte drängten sich in das Gehirn des jungen Kommissars. Die Kratzspuren an den Sargdeckeln, die Hämatome an den Händen und Armen. Die blasse Haut, die blauen Lippen. Die Angst in ihren Augen.

Immer größer wurde sein Drang, sich aus der schwarzen Enge befreien zu können. Er schlug und trat gegen den Deckel und die Seitenwände, hämmerte mit allem, was er hatte gegen das unnachgiebige Holz.
Sein Brustkorb hob und senkte sich im Sekundentakt. Sein Atem beschleunigte sich, in kurzen, hektischen Zügen sog er die Luft ein. Stickige Luft. Modrige abgestandene Luft.
Er war lebendig begraben. Lebendig begraben, Lebendig …
Sein Verstand wollte es nicht begreifen. Wie war er hierher gekommen? Er konnte sich an die letzten Stunden nicht erinnern. Die letzte klare Erinnerung in seinem Gehirn war die Fahrt vom Präsidium nach Hause. Dann war alles schwarz.
Er trat noch fester, hämmerte unaufhörlich gegen die Holzwände.
Warum?, dachte er. Wieso ausgerechnet er?
Die Angst schnürte ihm die Kehle zu.
Beruhig dich! Panik hilft dir jetzt nicht weiter. Reiß dich zusammen, verdammt!
Es muss einen Ausweg geben.
Er hörte auf zu hämmern und holte einige tiefe Atemzüge, um seinen aufgewühlten Körper zu beruhigen. Dann drückte er die Hände gegen das Kopfteil und stemmte sich mit ganzer Kraft dagegen. Seine Muskeln zitterten vor Anstrengung, doch der Holzdeckel des Sargs bewegte sich kein Stück.
Und dann wurde ihm bewusst, dass es nichts brachte. Er lag mehrere Meter unter der Erde. Es gab keinen Ausweg.
Seine Arme sanken an die Seiten seines Körpers und er starrte mit schreckgeweiteten Augen ins schwarze Nichts.
Er würde sterben. Er lag in einem selbst gezimmerten Sarg und würde sterben. Aber nicht einfach nur sterben, sondern erbärmlich ersticken.
Der schlimmste Tod von allen.
Sein ganzer Körper verkrampfte sich. Die Panik wuchs wieder. Er schnappte nach Luft, doch in seinen Lungen kam nichts an. Seine Arme begangen unkontrolliert zu zittern. Seine Brust fühlte sich an, als hätte jemand einen tonnenschweren Amboss daraufgesetzt.
Ruhig! Matias versuchte, sich zum gleichmäßigen Atmen zu zwingen. Er musste mit dem Sauerstoff aushalten, den er hatte. Nur so würde er Zeit gewinnen. Vielleicht suchten seine Kollegen schon nach ihm. Er würde sicherlich schon vermisst und sie waren auf der richtigen Spur.
Doch seine Panik wuchs bis ins Unermessliche. Er konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Alles was sein Denken beherrschte, war die Angst, dass er hier ersticken würde. Sie würden ihn nicht finden. Nicht rechtzeitig. Wie lange war er schon hier drin? Wie viel Sauerstoff blieb ihm noch, ehe er erstickte?
Das Zittern wurde stärker. Matias schnappte hektisch nach Luft, der Druck in seiner Brust ließ ihn kaum Atmen. Er verlor einmal mehr die Kontrolle über seinen Körper. Von einem Moment zum anderen wurden seine Bewegungen aufgeregter, unkontrollierter. Sein Herz galoppierte wie verrückt.
Wie besessen begann er gegen die Wände zu hämmern. Dicke Tränen traten aus seinen Augen und rannen ihm an den Wangen herunter.
„Nein!“, schrie er heiser. „Bitte, holt mich raus!“
Die Luft wurde immer knapper, seine Angst wuchs noch mehr, ging über in Panik. Er keuchte. Hustete. Versuchte, nicht in die Bewusstlosigkeit zu gleiten. Sauerstoff, er brauchte Sauerstoff!
Nach weiteren qualvollen Luftzügen gab er auf und trieb der Schwärze entgegen.

 

Schweißgebadet schreckte Matias hoch und saß senkrecht in seinem Bett.
Das Gefühl der Angst hatte ihn immer noch mit ihren eisigen Krallen fest im Griff. Er sah sich um, als könnte er nicht glauben, dass er sich nicht mehr in dem dunklen Sarg unter der Erde befand. Die weiche Matratze unter seinem Rücken, der Radiowecker, die Sonne, die durch das Fenster schien.
Es war nur ein Traum gewesen. Nur ein fürchterlicher Traum.
Matias lachte auf und fuhr sich mit den Händen durch seine schwarzen Haare. „Ein verdammter Traum!“, flüstere er. „Nichts weiter.“
Erleichterung breitete sich in ihm aus. Das war es also, was Polizisten passierte, wenn sie einen Fall nicht loslassen konnten und mit nach Hause nahmen.
Sein Oberkörper sank zurück auf die Matratze und er sah an die helle Decke seines Schlafzimmers. Nie in seinem Leben hatte er ein solches Glücksgefühl verspürt. Er lag nicht lebendig begraben in einem Sarg, er war nicht das nächste Opfer von Olaf Bakker.
Er sah auf die grünen Ziffern seines Weckers. Es war gleich halb acht, bald würde er zur Arbeit müssen.
Matias schlug die Bettdecke zurück und stand auf. Langsam ging er ins Bad und stellte das Wasser der Dusche an. Als er den rechten Arm wieder aus der Duschkabine nahm, hielt er inne. Er hob den Arm näher an sein Gesicht heran. Seine Augen fixierten die rötlichen Stellen, die sich über seine gesamte Hand zogen. Der schwarzhaarige Hauptkommissar drehte die Hand und blickte auf die blutigen Abschürfungen an seinen Fingerkuppen. Die linke Hand sah nicht viel besser aus.
Dieser Traum … Matias setzte sich auf den Rand der Badewanne. Er starrte durch das kleine Fenster nach draußen. Es würde ein schöner Sommertag werden. Die Sonne stand hoch am Himmel und nicht die kleinste Wolke trübte das Gesamtbild. In ihm sah es ganz anders aus. Dort fegte ein Orkan und riss alles mit sich.

Er betrachtete seine Hände. Es fiel ihm schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Wo hatte er die Verletzungen her? Wieso konnte er sich nicht daran erinnern überhaupt ins Bett gegangen zu sein?
Die Angst kämpfte sich wieder an die Oberfläche. Dieser Traum … Er konnte sich an jede Kleinigkeit aus dem Traum erinnern. Alles war so real gewesen. Und dennoch – er war hier, nicht in einem Sarg unter der Erde.
Aber diese Verletzungen? Es musste doch eine Erklärung für die Verletzungen geben. Die Finger der rechten Hand fuhren über die roten Stellen an der linken.
Er stoppte in seiner Bewegung. Übelkeit stieg in ihm auf, seine Atmung beschleunigte sich.
Er zog sich den Splitter aus der Haut und ein Tropfen Blut trat aus einer winzigen Wunde an seinem Handballen. Er stierte den winzigen Holzsplitter an. Die Panik wurde immer größer, nahm ihn ein. Wie konnte das sein? Es war doch nur ein Traum gewesen …
Matias sprang auf, rannte zum Klo und übergab sich. Nach Luft japsend blieb er über der Kloschüssel hängen und versuchte, sich wieder zu fangen. Es gab sicherlich eine logische Erklärung für das Ganze. Alles andere würde überhaupt keinen Sinn ergeben. Er war ja immerhin hier. Zu Hause und nicht in einem Sarg.
Vielleicht hatte er sich den Splitter ganz woanders zugezogen? Das hieß doch überhaupt nichts!
Mit zittrigen Armen stemmte er sich wieder nach oben. Er holte einige Male tief Luft. Ruhig atmen, nicht in Panik verfallen.
Er versagte kläglich. Er hatte schon längst Angst. Diese Unsicherheit und Furcht in ihm drin, die war nicht mehr einzudämmen. Sie breitete sich in ihm aus, wie ein Feuer, das alles niederbrannte und nichts als Verwüstung hinterließ.
Für einen Augenblick schloss er die Augen, doch als die Bilder der Nacht zurückkehrten, riss er sie wieder auf. „Verdammt!“, schrie er wütend.
Nur schwer gelang es Matias, seinen aufgewühlten Körper wieder unter Kontrolle zu bringen.

Erst als das Zittern langsam nachließ, traute er sich, das Bad zu verlassen. Er ging zurück in sein Schlafzimmer und griff nach dem Smartphone auf seinem Nachttisch. Er musste mit seinem Kollegen sprechen. Jetzt brauchte er jemanden, der seine konfusen Gedanken sortierte und ihm sagte, dass es für alles eine logische Erklärung gab.
Während das Freizeichen ertönte, ging er mit dem Handy am Ohr ging er den Flur entlang in Richtung Küche. Ein starker Kaffee würde jetzt sicherlich Wunder bewirken.

Matias erstarrte. Am Küchentisch saß ein Mann mit schmalen, länglichen Gesicht und kurzen brauen Haaren. Olaf Bakker. Bakker hielt eine Kaffeetasse in der Hand, lächelte ihn an. „Bergmann“, begrüßte er ihn und Matias ließ das Handy in seiner Hand sinken. Sein Herz schlug schneller und seine Kehle schnürte sich zu. Beides fast schon schmerzhaft. So als würde er noch immer in zwei Metern tiefe in dem Sarg liegen.
Olaf Bakker lächelte nur noch breiter. „Ich habe Kaffee gemacht, Bergmann.“ Bakker nickte in Richtung der Kaffeemaschine. „Nimm dir doch etwas.“
Matias reagierte nicht. Er starrte den Mann vor sich an. Sein Gehirn zerbröselte. Nun wusste er endgültig, dass es kein Traum gewesen war. Er war tatsächlich in dem Sarg gewesen. Das war die Realität.
„Was ist los Bergmann? Hat es dir die Sprache verschlagen?“
„Wieso?“
„Wieso?“, wiederholte Bakker die Frage von Matias. „Wieso, was?“
„Ich … der Sarg …“ Matias merkte, wie das Zittern größer wurde. Er hatte unglaubliche Angst.
„Willst du zurück unter die Erde? Ich kann das arrangieren, wenn du willst …“ Bakker lachte laut. „Nun bist du nicht mehr so schlagfertig was?“
Der braunhaarige Mann stand auf. Er ging an Matias vorbei in das angrenzende Wohnzimmer.
„Komm Bergmann“, rief er durch die geöffnete Tür. „Ich habe etwas für dich!“
Mechanisch, wie ein Roboter, setzte sich Matias in Bewegung. Als er in das Wohnzimmer trat, hockte Olaf Bakker vor dem Fernseher und legte eine DVD ein. Obwohl es die perfekte Möglichkeit wäre, den Mann zu überwältigen, konnte der junge Kommissar diesen Befehl seines Gehirns nicht umsetzen. Die Angst lähmte ihn.

Dann spielte die DVD ab. Matias sah verpixelte Bilder. Er erkannte sich selbst, wie er in völliger Dunkelheit erwachte. Er sah, wie er verzweifelt nach Luft rang, in Panik verfiel … wie er weinte und schließlich bewusstlos wurde.
Auch als der Film schon lange zu Ende war, konnte Matias die Augen nicht vom Bildschirm lösen.
„Wieso?“ Ihm versagte die Stimme, er spürte, wie Tränen seine Wangen entlang liefen.
Olaf Bakker stand auf, ging auf ihn zu, bis sie nur noch Zentimeter trennten. Dann beugte er sich vor, bis sein Kopf neben seinem war. „Ich wollte dich umbringen, Bergmann“, flüsterte der ungebetene Gast in Matias‘ Ohr. „Doch dann habe ich begriffen, dass ich für dich etwas Besseres bereithalten sollte.“
„Etwas Besseres?“ Die Stimme des schwarzhaarigen Kommissars zitterte. Was sollte Bakker mehr Zufriedenheit geben, als sein Tod? Den Tod des Kommissars, der öffentlich angekündigt hatte ihn zu jagen.
„Die Angst!“ Bakker lachte. So laut, dass Matias zusammenzuckte. Dann beugte sich der Serienmörder herunter und spielte die DVD erneut ab.
„Du wirst mich nie vergessen können, Bergmann!“, säuselte er. „Niemals!“


Matias bekam nicht mit, wie es an seiner Haustür klingelte, die Tür schließlich aufgebrochen wurde und die Kollegen hereinstürmten. Er bekam nicht mit, wie sein Partner Olaf Bakker auf den Boden warf und festnahm. Alles was er sah, war die Hölle, die sich im Fernseher einmal mehr wiederholte. Die Dunkelheit, die Panik, das Gefühl keine Luft mehr zu bekommen.
„Matias?“
Er hörte sein eigens dumpfes Klopfen gegen die Wände.
„Matias! Was soll die Scheiße! Komm endlich zu dir!“
Er spürte, wie der Sauerstoff immer weniger wurde.
Jemand packt ihn am Kragen, schüttelt ihn. „Matias! Verdammt noch mal, komm zu dir!“
Die Stimme seines Freundes arbeitet sich langsam in sein Bewusstsein. Matias löst die Augen von dem Fernseher und blickt in die blauen Augen von Magnus Brenne.
„Wieso seid … ihr hier?“
Magnus griff nach Matias‘ rechten Hand und zog das Smartphone langsam aus der Umklammerung. „Du hast es zum Glück nie ausgestellt“, erklärte der blonde Hauptkommissar. „Was hat er dir angetan?“
„Mich lebendig begraben“, war alles, was Matias Bergmann rausbrachte, ehe er auf die Knie sank und zu weinen begann.

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Bildmaterialien: Cover: Pixabay CCO Public Domain – User: Wikilmages
Tag der Veröffentlichung: 03.05.2016

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