Es gibt einen Ort, an dem wir viele sind.
Dieser Ort liegt in unseren Herzen, in unseren Gewissen.
An diesem Ort fließen Bäche aus Tränen.
Verschlungene Wege führen zu uns.
Einsamkeit herrscht dort, aber wir sind viele.
Komm und begleite uns auf unserem Weg der Hoffnung.
Ganz fest hielt er meine Hand. Ich spürte die Sehnen auf meinem knochigen Handrücken.
„Du darfst gehen“, sprach er leise zu mir. Ich spürte, wie sehr mein Sohn mich liebte.
In den letzten Wochen merkte ich, dass ich diese Krankheit niemals würde besiegen können. Der Krebs wucherte in mir und ich war sein Lebenselixier. Ich konnte das Bett nicht mehr verlassen und wartete auf mein Ende. Mein Sohn war für mich da. Er hatte es entschieden abgelehnt, mich in ein Hospiz zu verlegen. Er wusste, dass es mein größter Wunsch war in meiner vertrauten Umgebung, in meinem Haus sterben zu dürfen.
Mein Sohn bedeutete alles für mich. Er war mein Seelengefährte. Ich wusste, dass er mich genauso liebte wie ich ihn. Ihn nun loslassen zu müssen fiel mir sehr schwer. Tapfer lächelte ich ihn an, wenn er mich wusch und mir die spärlichen Haare kämmte. Die fürchterlichen Qualen unter denen ich litt, verbarg ich vor ihm. Es waren nicht nur körperliche Qualen. Mich plagte ein schlechtes Gewissen. Es nagte an mir, höhlte mich aus wie der Krebs.
Es gab in diesen letzten Lebenswochen auch viele schöne Momente mit meinem Sohn und seiner Familie. Wir unternahmen kleine Ausflüge und Reisen und ich sog die bunte Welt ganz tief in mich hinein. Bis es nicht mehr ging. Ich wurde zu schwach, um das Haus zu verlassen. Mein Sohn schob das Bett unter das große Wohnzimmerfenster. So konnte ich wenigstens in meinen blühenden Garten schauen.
Ich spürte ihn.
Diesen Moment des Sterbens. Ganz sachte pochte er an und umarmte mich. Mein Sohn musste ihn ebenfalls gespürt haben, denn er legte sich neben mich und streichelte mich unentwegt. Es fühlte sich so schön an.
Ich musste ihm doch noch etwas sagen. Meine Lippen wollten Worte formen, doch ich konnte nicht sprechen, nur etwas flüstern.
„Robert, ich …“
Wärme stieg in mir auf. Unter Roberts Kinn sammelten sich Tränen und sie tropften auf meine Hände.
„Papa, ich liebe Dich“.
Alles verschwamm um mich herum. Stille legte sich über meinen Körper. Wärmende Winde trugen mich in die Lüfte. Ich war so leicht und frei und erlöst.
Es schien, als flöge ich tagelang umher. Mit weiten Schwingen über eine imaginäre Welt. Immer schneller flog ich auf etwas zu. Etwas Bedrohliches.
Ich landete vor einem dunklen Höhlengang. Jäh wich ich zurück, doch ich spürte Druck auf meinem Rücken. Jemand schubste mich nach vorn. Als ich mich umblickte, sah ich niemanden. Der Eingang der Höhle versank in gräulichen Nebelschwaden. Immer weiter schob mich die unsichtbare Kraft am Rücken nach vorne durch einen schmalen Gang. Mit den Händen tastete ich die Wände ab. Sie fühlten sich warm und weich an. Hin und wieder vernahm ich glucksende Geräusche. Ich konnte sie nicht einordnen. Es waren mir völlig fremde Geräusche.
Wo war ich?
Merkwürdigerweise fühlte ich keinerlei Angst. Im Gegenteil, ich bemerkte Wohlgefühle in mir. Schemenhaft erblickte ich einen großen Höhleninnenraum. Der Druck auf meinem Rücken verschwand und ich betrat selbständig den Raum. Meine Augen mussten sich erst an die flackernde Helligkeit in dem Höhlenraum gewöhnen.
Das Flackern rührte nicht von Kerzenlichtern her. Es entsprang milchig weißen Tränen, die mit glucksenden Geräuschen von den Höhlenwänden herunter in einen Bach fielen. Dieser Bach schlängelte sich dicht an den Wänden der Höhle entlang.
Dann sah ich sie. Als sie mich erblickten, hoben sie ihre Köpfe und schauten mich an. Ihre Blicke waren hoffnungsfroh und doch irgendwie leer. Sie saßen in der Mitte des Höhleninnenraums aneinander gelehnt und ich setzte mich einfach zu ihnen.
Ich schaute in viele Gesichter. Alte und junge Gesichter. Frauen und Männergesichter.
Die Frau, die direkt neben mir saß war circa vierzig Jahre alt und sie weinte ununterbrochen. Ihre Tränen flossen im Einklang mit den weißen Tränen der Wände zum Boden herunter. Ich nahm sie in meine Arme. Sie schaute mich an und hörte auf zu weinen. Wir saßen eine ganze Weile eng umschlungen auf dem Boden. Niemand sprach. Plötzlich stand die junge Frau auf und löste sich aus meiner Umarmung.
Erst sprach sie ganz leise, so dass wir sie kaum verstehen konnten, aber dann sprach sie mit fester und lauter Stimme.
~
Dieser Frühlingstag im Mai war für mich der schönste Tag in meinem Leben. Als die Hebamme mir Julia auf den Bauch legte, war ich die glücklichste Mutter aller Zeiten. Dieses zarte Wesen würde ich immer beschützen und lieb haben bis in alle Ewigkeit.
Als Hans das Zimmer im Krankenhaus betrat, sah er so unbeschreiblich aufgeregt und stolz aus. Seinen Anblick habe ich niemals vergessen. Seine Tochter Julia schenkte ihm ein Lächeln und er weinte vor Glück. Wir waren eine perfekte Familie.
Julia wuchs zu einem aufgeweckten, lebenslustigen Mädchen und Teenager heran und war Papas ganzer Stolz. Hätte ich den Mann, den ich im Laufe der Jahre lieben lernte verletzen können? Ich konnte es einfach nicht.
Ich schwieg und begrub die Lüge in meinem Herzen. Dort bohrte sie sich fest und fester. Ich war mir sicher, dass Hans, wenn er die Wahrheit wüsste Julia immer noch lieben würde, aber konnte ich mir da wirklich so sicher sein? Ich lebte mit der Unwahrheit weiter, dass Hans nicht Julias Vater war. Nicht nur Hans wurde betrogen, sondern auch meine Tochter, die inzwischen zwanzig Jahre alt geworden war.
Als Brustkrebs bei mir festgestellt wurde, war es zu spät für eine Heilung. Meine Familie trauerte und ich konnte sie doch nicht noch mehr verletzen. Ich schwieg, bis meine Zeit gekommen war.
Ganz still und leise starb ich in den Armen von Julia und Hans.
~
Alle sahen zu ihr auf. Die junge Frau setzte sich erneut zu mir. Betretenes Schweigen herrschte um uns herum. Zum ersten Mal ließ ich meinen Blick intensiver in die Runde schweifen und war überrascht, dass sich so viele Menschen in der Höhle befanden.
„Ich heiße Simone“, lächelte sie mich an.
„Mich nennt man Heinrich“. Zaghaft griff ich nach ihrer Hand.
Mein Blick fiel auf einen älteren Herrn in einem schwarzen akkurat sitzenden Anzug. Sein ergrauter Bart war gepflegt. Etwas Tragisches ging von ihm aus. Dieser feingliedrige Mann wirkte auf mich einsam und sehr traurig. Weshalb er wohl hier war auf diesem Gewissensfriedhof?
Als hätte er meine Gedanken gelesen, stand er plötzlich auf und setzte sich zu Simone und mich.
„Darf ich mich vorstellen? Mein Name ist Wolfgang“. Er senkte den Blick zu Boden. Ich bemerkte seine zitternden Hände.
„Sprechen Sie“, flüsterte ich ihm nickend zu.
Erleichtert sah er mich an.
~
„Schatz, bald ist soweit“.
Meine Frau hatte ganz rote Wangen. Die bekam sie immer, wenn sie aufgeregt war oder sich über etwas sehr freute. Ich liebte diese roten Bäckchen an ihr. Überhaupt liebte ich meine Frau nach all den vielen Ehejahren immer noch so sehr wie zu Beginn unserer Beziehung. Sie war eine taffe Frau, die niemals über die beschwerliche Arbeit in der Fabrik klagte, sich nach Feierabend um den Haushalt und um die Essenszubereitung kümmerte. Sie war es auch, die beschlossen hatte zu flüchten.
Nächtelang saßen wir hinter verschlossenen Jalousien im abgedunkelten Wohnzimmer und besprachen unsere heimliche Ausreise in den Westen. Ich hatte ein mulmiges Gefühl, aber Ingeborg war nahezu besessen vom großen Glück in der neuen Welt. Sie schwärmte von fremden Ländern, malte sich die Meere blauer als sie waren und verströmte eine zügellose Entschlossenheit.
„Freust du dich etwa nicht?“ Ingeborg schaute mich etwas irritiert an. „Doch Schatz, aber …“
„Papperlapapp aber“. Sie lachte laut und verschloss sich vorsichtig umsehend den Mund mit ihrer rechten Hand. Das mädchenhafte Kichern konnte sie allerdings nicht unterdrücken.
Wir fieberten dem Tag X entgegen. So fröhlich und unbeschwert hatte ich meine Frau in den vergangenen zwanzig Jahren noch nie erlebt.
Unsere letzte Nacht in gewohnter Umgebung brach an. Die teuer bezahlten gefälschten Pässe von den Fluchthelfern organisiert, lagen griffbereit auf dem Wohnzimmertisch. Wir hatten nur zwei kleine Taschen mit ein paar Kleidungsstücken und Fotos gepackt. Es sollte ein endgültiger Abschied von unserem alten Leben werden.
Um drei Uhr schellte es unaufhörlich an der Haustür. Ich ahnte, wer dort draußen stehen würde. Niemals werde ich das entsetzte Gesicht meiner Frau vergessen. Dann ging alles sehr schnell. Wir wurden von der Volkspolizei in Handschellen abgeführt. Uns wurde versuchte Republikflucht vorgeworfen.
Es war das letzte Mal, dass ich meine Frau sah. Ich hätte ihr doch noch sagen müssen, wie sehr ich sie liebte und...
Sie wurde zu vier Jahren Haft in einem Arbeitslager verurteilt. Mir wurde absolute Kontaktsperre auferlegt.
1991 lebte ich in Hamburg und über Umwege erfuhr ich, dass meine Frau aus dem Gefängnis entlassen wurde und noch immer in Dresden wohnte.
Ich sah den Zug näher und näher kommen. Ohrenbetäubender Lärm umfing mich. Die Bremsgeräusche nahm ich nicht mehr wahr.
Stille.
Meine Frau hatte am nächsten Tag durch den Einblick in ihre Stasiakte erfahren, dass ich unter dem Namen IM Herta jahrelang für die Staatssicherheit arbeitete und auch sie verraten hatte.
Von der Haft gezeichnet stand sie an meinem Grab und legte ein paar Blumen nieder.
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Wolfgang drehte sich von uns weg. Ich sah, dass seine Schultern bebten.
Es schien, als flössen viel mehr Tränen als zuvor in den Bach. Das unaufhörliche Rauschen war fast unerträglich.
„Heinrich, möchtest Du erzählen?“
Simone sah mich fragend an. Ich nickte stumm.
~
Es war ein wunderschöner Sommerabend im Juli 1968. Meine Frau Sonja trug ein aufregendes, enganliegendes schneeweißes Etuikleid. Ihre Haare waren hochtoupiert und sie sah unbeschreiblich elegant und sehr weiblich aus. Sie zog alle Männerblicke auf sich und ich war mächtig stolz, dass ich der Mann an ihrer Seite war. Es war der erste Abend nach der Geburt meines Sohnes Robert, an dem wir dank einer lieben Freundin, die auf unseren Sohn aufpasste, einen Ausgehabend für uns alleine hatten.
Das Essen im Restaurant war vorzüglich und nach der zweiten Flasche Wein schlug ich noch den Besuch einer Nachtbar vor. Sonja willigte ein und ich bemerkte, dass sie einen ziemlichen Schwips hatte, der ihr aber gut zu Gesicht stand. Ihre Augen flackerten und sie lachte mich kokett an.
Wir gingen zu Fuß in der herrlich warmen Nacht zu der Bar, die sich nur ein paar Straßen vom Restaurant entfernt befand. Es waren viele Nachtschwärmer unterwegs und die meisten schauten uns, bzw. meiner Frau nach, als wir an ihnen vorbeigingen.
In der Bar fanden wir eine gemütliche Ecke und wir bestellten Cocktails. Wie in früheren Zeiten stand ein Piano in der Ecke und ein junger Mann spielte Jazz und Evergreens. Ich setzte mich neben meine Frau und küsste sie. Wir waren so glücklich. Ich war sowieso der glücklichste Mann auf der ganzen Welt. Meine wunderschöne Gattin hatte mir einen entzückenden Sohn geschenkt. Was wollte ich mehr?
Draußen wurde es langsam hell. Das konnten wir durch die Butzenscheiben deutlich erkennen. Wir zahlten und verließen die Bar. Vogelgezwitscher begleitete uns zum Parkplatz des Restaurants. Hin und wieder blieben wir stehen und fingen wie Teenager an zu kichern. Der Alkohol wirkte.
„Heinrich, Du kannst nicht mehr fahren“. Meine Frau lallte ein wenig.
„Doch Darling, ich kann. Es waren doch nur ein paar Drinks“. Ich hielt meiner Frau die Beifahrertür auf und sie stieg etwas widerwillig in das Auto ein.
Mit Elvis-Musik aus dem Radio fuhren wir los. Wir wohnten etwas außerhalb der Stadt und fuhren auf der Landstraße, die an diesem Sonntagmorgen fast autofrei war. Ich merkte während der Fahrt eine bleierne Müdigkeit in mir aufsteigen. Sonja hatte verdammt nochmal recht. Ich war viel zu betrunken für diese Fahrt.
Die scharfe Rechtskurve übersah ich. Ich musste für ein paar Sekunden geschlafen haben.
Der Versuch, den Wagen noch gegenzulenken misslang. Wir prallten gegen eine riesige Eiche. Sonja schrie gellend auf und dann verstummte sie. Ihr Kopf schlug gegen die Windschutzscheibe.
Im Krankenhaus brachte der Chefarzt mir behutsam bei, dass meine Frau verstorben sei. Mein Schmerz war kaum auszuhalten. Du bist schuldig, hämmerte es mir pausenlos im Kopf herum. Ich hatte kaum Verletzungen und wurde nach ein paar Tagen aus dem Krankenhaus entlassen.
Als ich das erste Mal meinen kleinen Sohn in die Arme nahm, brach ich zusammen.
Ich fand einen milden Richter und erhielt eine beträchtliche Geldstrafe und zwei Jahre Gefängnisstrafe auf Bewährung.
Mein Sohn wuchs ohne Mutter auf. Ich war für ihn da. Er war mein Vermächtnis.
Zeit meines Lebens hatte ich ihm verschwiegen, dass ich Schuld an dem Tod seiner Mutter war. Ich erzählte ihm von einem Autofahrer, der uns bei einem Überholmanöver in Gefahr brachte und ich deshalb von der Fahrbahn abkam. Er beging Fahrerflucht und wurde nie gestellt. Welch eine infame Lebenslüge. Ich war ein verdammter Feigling!
~
Ich konnte nicht mehr reden. Alle Anwesenden in der Höhle sahen mich an.
„Steht auf und geht euren Weg“.
Was war das für eine Stimme? Sie klang sehr bestimmt. Ich bemerkte, dass Simone und Wolfgang sich erhoben hatten und mir zunickten. Sie gingen auf den Höhleneingang zu und wie in Trance folgte ich ihnen.
Die Anderen ließen wir zurück.
Wir durchbrachen mit unseren Händen die Nebelwolken, die sich am Eingangstor aufbauschten und liefen aus der Höhle heraus.
Wärmendes Licht umfing uns. Es roch nach Frühling, nach irdischem Frühling und dann sahen wir sie.
Hans und Julia, Hand in Hand.
Ingeborg.
Mein Sohn Robert.
Ich zitterte am ganzen Körper.
Sie standen vor uns und waren doch weit weg. Sie lächelten uns an und ihre Münder formten Worte.
Wir lieben und vergeben Euch. Ruht nun in Frieden!
Langsam drehten sie sich um und gingen ihren Weg. Sie wurden kleiner und kleiner, bis wir sie nicht mehr sehen konnten.
Wenn wir das Ufer des diesseitigen
Lebens verlassen, liegt ein neues Gewand
am jenseitigen Ufer bereit.
Emanuel Geibel
Bildmaterialien: Cover: Pixabay CCO Public Domain – User: sade
Tag der Veröffentlichung: 17.04.2016
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