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Mein Gewissen

Heute startete der erste Probelauf. Ich war auf der Suche nach meinem Gewissen. Ich brauchte den Dialog mit ihm. Es sollte mir sagen, ob es bereit war, meinen Körper zu verlassen …

 

… langsam schlenderte ich durch die Kosmetikabteilung. Lässig, cool ... und ziellos. Aber das schien nur so. Ich schmeckte pures Adrenalin auf meiner Zunge oder war es nur armselige Angst? Meinem Blick entging nichts. Die viel zu stark geschminkte Kosmetikberaterin war gerade mit einer Kundin zugange, pinselte ihr hellblaue Farbe auf die Augenlider. Viel zu grell für mein Empfinden. Aber vielleicht hatte ich auch nur keine Ahnung.

Die Kameras verunsicherten mich. War ich im Blickfeld? Um sie zu überlisten musste ich auf meine Geschicklichkeit setzen. Ich hatte flinke Finger. Ich strickte so schnell, dass selbst ich die Maschen kaum noch wahrnahm, wenn sie von einer Nadel auf die andere hüpften. Aber ich konnte es noch besser. Meine Hände flogen über die Computer-Tastatur, dass ihnen das normale Auge nicht mehr folgen konnte. Das waren doch beste Voraussetzungen.

 

Um keine Aufmerksamkeit zu erregen, griff ich nach einem Nagellackfläschchen, betrachtete interessiert das Etikett. Ich benutzte keinen Nagellack. Ordentlich stellte ich es wieder an seinen Platz und widmete meine Aufmerksamkeit der schier grenzenlosen Farbenvielfalt der Lippenstifte. Und dann folgte ich einem Impuls, diesem beherrschenden Bauchgefühl, das mir sagte, dass jetzt der beste Moment war. Ein leichtes Anheben des Kopfes, ein kurzes Vorschieben der Unterlippe und schwupp landete der Lippenstift in meiner Handtasche. Ob es jemand gesehen hatte? Mein Herz pumpte wie verrückt Blut durch die Adern, meine Herzkammern wurden geflutet. Sie ertranken in der roten Flüssigkeit. So fühlte es sich an. Ich schnappte nach Luft. Schwer zermahlten meine Backenzähne die übermächtig werdende Panik und ich unterdrückte einen aufkommenden Fluchtreflex. Stattdessen atmete ich langsam ein und aus bis sich der Puls etwas beruhigte und mein Kiefer wieder entspannt in der Muskulatur hing. Selbst meine Schultern fielen leicht nach vorne. Die Anspannung schien aus meinem Körper zu weichen.

 

Ja, dies hier war ein Test. Der erste einer längeren Versuchsreihe. Mein Ziel? Ich wollte mein Gewissen aus dem Körper filtern, wollte es in meinen Händen halten. Seine Beschaffenheit studieren ... und noch einiges mehr.

Aber im Moment konnte ich überhaupt nichts darüber sagen. Es hatte sich nämlich in den letzten Winkel meines Körpers verzogen, erschrocken über das, was ich ihm gerade angetan hatte.

Möglichst unauffällig marschierte ich an den vierstöckigen mit Shampoos und Deos bestückten Regalen vorbei, immer mein Umfeld im Auge. Immer Ausschau haltend nach dem Detektiv, der sich vielleicht gerade in diesem Moment an meine Fersen heftete. Ich konnte nichts feststellen. Nach einer Weile kehrte ich an den „Ort des Geschehens“ zurück. Geschäftig kramte ich in meiner Tasche und legte den Lippenstift zurück.

Ein unglaublich gutes Gefühl durchströmte mich, floss heiß bis in die Fingerkuppen und bildete augenblicklich eine harmonische Einheit von Körper und Geist. Mein Gewissen schien zufrieden mit mir. Ich aber nicht mit ihm. Zeit, nach Hause zu gehen.

 

***

 

„Es sträubt sich.“ Wütend schleuderte ich meine Schuhe über den Flur und tapste barfuß ins Wohnzimmer.

 

„Das wird schon. Du musst ein bisschen Geduld haben“, erklärte mir Jan mit besänftigender Stimme und breitete seine Arme aus.

 

Als wenn ich das nicht selbst gewusst hätte. Er sollte mich nicht so ansäuseln, als fehlten mir einige Tassen im Schrank. Die Lust auf seine Nähe verschwand zwischen seinen hirnlos dahingesagten Worten.

Seit ich ihn in meinen Plan eingeweiht hatte, hielt er mich sowieso für total durchgeknallt. Ich merkte das genau. Ob ich ihn überfordert hatte?

 

Noch immer streckten sich mir Jans Arme begehrlich entgegen.

„Komm doch her und erzähle wie es war“, er blinzelte mich neugierig an.

Ich mochte jetzt nichts dazu sagen. Ich musste darüber nachdenken und die gewonnen Eindrücke nicht zerreden. Ich brauchte Ruhe.

 

Ohne ihm Beachtung zu schenken steuerte ich auf meinen Lieblingssessel zu und kuschelte mich an die mit dunkelrotem Samt bezogene Lehne. Er bot genügend Abstand zu Jan. Die Arme um meine hochgezogenen Knie geschlungen, suchte ich im Inneren nach einer Antwort. Doch ich spürte nur den gleichmäßigen Schlag meines Herzens. Mein Gewissen blieb stumm.

 

„Na dann eben nicht“, schmollend sank Jan in sich zusammen. Ich versuchte seinem verletzten Blick auszuweichen. Er sollte mir jetzt kein schlechtes Gewissen machen, das störte nur meinen Plan.

Mein Plan? Wie war der überhaupt? Mein Gewissen hielt sich jedenfalls an gar nichts. Ich hatte versucht ihm zu erklären, dass es wichtig war, sich zu zeigen. Körperlich. Soweit es überhaupt einen Körper besaß. Günstig fände ich, es wäre flüssiger Natur oder gasförmig. Es gestaltete sich dann einfacher, die Welt mit ihm zu überschwemmen oder einzunebeln. Niemand könnte sich dem entziehen.

Vielleicht war ich wirklich verrückt. Und meine Idee, der Gewissenlosigkeit den Kampf anzusagen oder sogar mit einem einzigen Schlag auszumerzen, war einfach utopisch.

Gestern erschien mir alles noch so klar, so logisch. Deshalb, und auch nur deshalb hatte ich mich hinreißen lassen und Jan in meinen Plan eingeweiht.

 

Ich werde mein Gewissen aus dem Körper locken. Mit dem richtigen Nährboden wird es wachsen und wenn es groß genug ist, wird es fähig sein, auch in den entlegensten Winkel unserer Erde zu gelangen.“ Ich strahlte ihn an. Berauschte mich erneut an diesem Gedanken. Ich gebe zu, dass dies vielleicht eine etwas kindliche Vorstellung war. Aber ich glaubte fest daran. Jan nicht.

 

Er schaute mich eine Weile sprachlos an, als ob irgendein Kauderwelsch aus meinem Mund gequollen wäre. Dann strich er mir mit einer seltsamen Zartheit über mein Haar, als wäre ich krank. Sehr krank.

 

Und wie kommt es aus dir heraus? Und was für ein Nährboden soll das sein?“ Seine Stimme klang viel zu hoch und völlig fremd.

 

Das weiß ich noch nicht. Aber ich werde es schaffen“, erklärte ich in inbrünstigem Ton.

 

Was für ein genialer Einfall.“ Seine Worte sollten überzeugend sein, aber er konnte mich nicht täuschen. In seinen Augen las ich Unverständnis. Ja, sogar Angst. Angst, um mich und meinen Verstand und letztendlich auch um unsere Liebe, die vielleicht daran zerbrechen würde.

 

Und heute? Nichts hatte sich geändert. Ich sah es an Jans ganzer Haltung. Aber ich ließ mich nicht davon abbringen. Ich musste wieder Kontakt mit meinem Gewissen aufnehmen und machte mich auf den Weg zum Supermarkt.

 

***

 

 

Irgend etwas lief total schief. Eine Hand legte sich schwer auf meine Schulter. In meiner Tasche lag

ein abgepacktes Stück Rinderbraten – aus der Hüfte. Dass ich es wieder zurückgelegt hätte, wurde mir nicht geglaubt. Und als ich ihnen meinen Plan, der ein Segen für die gesamte Menschheit darstellte, offenbarte, sah ich an ihren Blicken, dass dies ein großer Fehler gewesen war. In ihren Augen war ich eine Irre. Verwirrt, zu verwirrt, um wieder auf die Straße entlassen zu werden und so landete ich, gegen meinen Willen, in der geschlossenen Abteilung der Psychiatrie.

 

„Das ist nur vorübergehend bis wir uns ein Bild gemacht haben“, wurde mir von der Dame in Weiß erklärt, die sich als Frau Doktor Braun vorstellte. Dabei nickte sie mir aufmunternd zu. Sie führte mich in ein Zimmer, schob mich hinein und schloss die Tür hinter mir. Sie ließ mich allein. Ich schaute mich um. Ein weißer zweitüriger Schrank, ein Krankenbett mit sterilem weißen Bettzeug – sonst nichts. Ein weißes, einsames Zimmer ohne Leben.

Aber im Grunde beunruhigte mich das nicht. Jan würde mich hier rausholen, das wusste ich. Und ich setze mich auf die Bettkante und winkte freundlich in die Kamera, die den gesamten Raum ausspionierte.

„Das ist nur für die ersten Tage. Eine Vorsichtsmaßnahme. Später werden sie in ein anderes Zimmer verlegt“, auch das hatte mir die Ärztin erklärt.

 

Ich brauchte kein „später“, das war wohl klar. Jan würde mich hier rausholen. Noch heute.

 

***

 

In dem Zimmer gab es keine Uhr, nur diese bescheuerte Kamera. Sie stahl mir meine Privatsphäre. Sie nahm mir mit ihrem glotzenden Auge meine Würde und ich wartete immer noch auf Jan. Das Zeitgefühl war mir völlig abhanden gekommen. Aber ich war mir sicher, dass schon Tage vergangen waren. Ich verstand das nicht.

 

„Warum darf ich keinen Besuch haben“, fragte ich Frau Dr. Braun.

 

„Natürlich dürfen sie das“, dabei nickte sie mir lächelnd zu und ich konnte Mitleid in ihren Augen aufblitzen sehen. Ich war die arme Irre, um die sich niemand kümmerte.

 

Ich verstand die Welt nicht mehr, konnte es nicht glauben. Jan würde mich hier nicht allein lassen. Keine Sekunde … oder doch?

Plötzlich war ich mir gar nicht mehr so sicher.

Aber wie könnte er das mit seinem Gewissen vereinbaren? Oder hatte er gar keins? Und mir war es nur nicht aufgefallen?

Ha … wie krass! Leise kicherte ich vor mich hin. Er wäre der erste Nutznießer meines Einfalls und letztendlich wäre ich der Gewinner, weil er mich, mit dem wachsenden Pflänzchen Gewissen in seinem Inneren, wieder nach Hause holen würde.

 

Aber so weit war ich leider noch nicht. Vielleicht ließ mich mein lieber Jan wirklich hier schmoren. Womöglich war er froh, dass ich mit meiner verrückten Idee endlich aus dem Verkehr gezogen worden war und hoffte, dass alles in mir drin wieder in Ordnung käme, dass die Ärzte meine Gedanken heilen konnten. Was für ein Verrat. An mir. An unserer Liebe. An der ganzen Welt. Vielleicht hatte ich ihn wirklich überfordert. Er war nicht reif genug, um die Bedeutung des Ganzen zu verstehen

Manchmal war ein Gehirn einfach zu schwach, große Zusammenhänge zu erkennen und zu begreifen. Sein Horizont durchbrach nicht die Schallmauer des Geistes, sondern steckte irgendwo in der Einfältigkeit fest. Armer Jan.

 

Ein Grund mehr, an meinem Plan festzuhalten. Gleich morgen würde ich mit Frau Doktor Braun noch einmal über meine Idee sprechen. Ich würde es wieder und wieder tun, bis sie begriff um was es ging. Ich musste versuchen, sie auf meine Seite zu ziehen. Ich wusste, dass es mir gelingen würde ...

Impressum

Bildmaterialien: Cover: Pixabay CCO Public Domain – User: sade
Tag der Veröffentlichung: 10.04.2016

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