Lilly kannte ihren Onkel eigentlich gar nicht. Eigentlich. Immerhin wusste sie, dass sie jetzt mit ihrem Vater dessen Nachlass verwalten sollte. Ihr Onkel war nun also tot. Wieso und warum wusste sie ebenso wenig, wie sie wusste, wo und wie er gelebt hatte.
Ihr Vater redete fast nie über seinen Bruder. Es gäbe nichts zu erzählen, außer dass er das schwarze Schaf der Familie gewesen wäre. Er selbst habe sich von der Familie abgesetzt. Schon immer habe er sich äußerst merkwürdig verhalten.
Den größten Wert legte Lilly nicht auf Familie. Sie war mit ihren 16 Jahren auch gerade wirklich an anderen Dingen interessiert. Wobei sie auch in der Schule nicht viel Kontakt zu anderen Jugendlichen hatte. Sie verbrachte viel Zeit in ihrem Zimmer zu Hause. Hörte Musik, sehr zum Ärger ihres kleinen Bruders. Ihre Eltern hatten sich damit längst abgefunden. Sie machte sie nicht sonderlich laut.
Ihrer Mutter war es besonders wichtig, dass Alle täglich gemeinsam zu Abend aßen. Diesen Teil des Tages ließ Lilly über sich ergehen, genau wie sie sehr ruhig mit dem in ihren Augen absolut kindischem Verhalten ihres Bruders am Tisch umging. Ihre Eltern ignorierten, dass er immer wieder mit dem Essen spielte und aus den Lebensmitteln irgendwelche Monster oder Tiere formte. Immerhin aß er es auf, was er da bastelte. Und sie fanden ihn kreativ, was Lilly besonders nervte. Sie konnte nichts Kreatives daran finden.
Nun sollte Lilly also mit ihrem Vater zum Haus ihres Onkels. Wie sie das jetzt finden sollte, konnte sie nicht sagen. War es spannend, etwas über den Unbekannten herauszufinden? Oder war es nur viel langweilige Arbeit, die alten Schränke und Pullover eines alten toten Mannes auszusortieren.
Lilly fragte sich, warum gerade sie das machen sollte, und warum ihr Vater nicht ihre Mutter dazu mitnahm. Aber - Entscheidungen ihrer Eltern wurden grundsätzlich nicht in Frage gestellt. Lilly ließ es auf sich zukommen. Sie hätte auch gar keinen Grund anbringen können, warum sie nicht hätte mitgehen sollen - abgesehen von ihrer Unlust, was für ihre Eltern natürlich nie ein Grund gewesen wäre, und das wusste Lilly natürlich und beließ es dabei.
Sie hatten sich für das kommende Wochenende verabredet. Das Haus sollte noch nicht besenrein hinterlassen werden. Vorerst sollte Alles gesichtet werden und entschieden, was mit den persönlichen Sachen passieren soll.
So stand Lilly also da. Vor dem Haus ihres toten Onkels. Ihr Vater war noch nicht da, und somit hatte sie Zeit sich sein Haus von der Strasse aus anzusehen.
Es war ein grauer Tag, passend zur Stimmung der Teenagerin. Es nieselte leicht und die Kälte kroch Lilly bis in die Knochen. Sie verfluchte ihren Onkel. Warum sollten sie sich um seinen Kram kümmern, obwohl sie zu seinen Lebzeiten nie mit ihm zu tun hatten?
Ihre Stimmung sank von Minute zu Minute, die sie auf ihren Vater warten musste. Er schien einfach nicht zu kommen. Draussen wurde es grauer und kälter, dabei war es später Vormittag.
Ein kalter Hauch zog vom Haus herüber, er schlich um Lillys Beine und sie bekam eine Gänsehaut. Aber lag das wirklich nur an der Kälte?
Das Haus stand sehr weit hinten auf dem Grundstück. Eine große Toreinfahrt trennte den Bürgersteig von dem Grundstück, das sich wie ein Hügel aufwölbte. Links und Rechts der Einfahrt erhob sich eine hohe struppige Hecke. Man sah, dass sich lange niemand um all das hier gekümmert hatte. Was man von dem Haus von hier unten aus erahnen konnte war, dass es sehr herrschaftlich daherkam. Es war groß, irgendwie dunkel, hatte hohe schmale Fenster und etliche Balkone und Terrassen. Das Dach war ebenso dunkel gedeckt und es gab ein paar Dachluken und Giebelfenster hinter denen wohl die spannendsten Dinge zu finden waren.
Endlich kam Lillys Vater. Sie begrüßten sich kurz und gingen dann zusammen hinein. Das eiserne Tor quietschte laut, so dass ringsum die Spatzen aufflogen. Das Geschrei der Vögel und das Knirschen der Kieselsteine des Weges gaben diesem unbekannten Ort etwas Unwirkliches.
Beide liefen langsam den gebogenen Weg hoch zum Haus. Von Schritt zu Schritt wurde das Haus größer und größer. Schlussendlich türmte sich vor ihnen das Haus auf, es schien unendlich hoch und lief ganz schmal zu, als wäre es ganz spitz.
Direkt vor ihnen lag die übergroße Tür, zweiflügelig mit einem bronzenen Türklopfer in Form eines Löwenkopfes.
Lillys Vater öffnete die Tür, sie knarrte langsam auf, und im Inneren bot sich ein großzügiger Raum als Eingangssituation dar. Die holzvertäfelten Wände waren hoch und dunkel. Es gingen mehrere große Türen mit dicken verschiedenen Rahmen ab. In der Mitte des Raumes hing ein mächtiger Kristallleuchter. Eine breite, beeindruckende Treppe mit einem massiven, aber dennoch stilvollem Geländer führte nach oben.
Überall war es sehr dunkel. Als die Tür wieder ins Schloss fiel, war kaum die eigene Hand vor Augen zu sehen. Lillys Onkel hatte alle Fenster verhangen. Die schweren Stoffe waren nur mit viel Mühe abzunehmen. Aber nun schien wenigstens etwas Helligkeit in die dunklen Räumlichkeiten. Der aufgewirbelte Staub ließ beeindruckende Lichtkegel entstehen.
Lilly und ihr Vater teilten sich auf, sie wollten so viel wie möglich sehen, bevor es zu dunkel werden würde. Und so gingen sie in unterschiedliche Räume, um sich dann gegenseitig zu berichten, was zu sehen war.
Lilly ging geradewegs auf die größte Tür zu. Als sie diese öffnete, erblickte sie zunächst einen Flur. Sie ging hinein. Die Tür musste sie auflassen, sonst würde es viel zu dunkel sein, um etwas zu erkennen. Der Flur schien sehr lang zu sein, Lilly konnte das Ende bislang nicht ausmachen. Ihre Augen würden sich aber bald an die Dunkelheit gewöhnt haben.
An beiden Wänden hingen große Gemälde – Eines am Anderen. Das erste Bild zeigte eine junge Frau. Sie hatte ein elegantes Kleid an, ein ausladender Rock mit großen Falten aus perfekt gelegter glänzender Seide. Das dunkle Blau des Stoffes verschmolz mit der Farbe des Hintergrundes. Das helle Gesicht und die blonden gelockten Haare leuchteten als Einziges hervor, so dass man fast nur auf das gewinnendes Lächeln und die freundlichen Augen achtete. Wenn man sich aber das gesamte Bild betrachtete, fiel einem auch im Dunklen am Rockende ein Tier auf. Eine Katze lag zusammengerollt und schien dort zu schlafen, sie war schwarz und ihr Fell glänzte mindestens so schön, wie die Seide des Rockes. An irgendjemanden erinnerte Lilly diese Frau, sie konnte nur nicht sagen, an wen.
Auf dem Bild daneben war wieder eine junge Frau abgebildet. Ihr Kleid war weinrot, sonst war auch sie sehr elegant. Die beiden Frauen sahen sich sehr ähnlich, auch wenn es nicht die gleiche Frau war, wie auf dem ersten Gemälde.
Genau so ging es weiter. Auf einem Gemälde nach dem Anderen waren junge hübsche Frauen abgebildet. Jede Einzelne hatte ein sehr einnehmendes Wesen, charismatisch und doch elfenhaft. Was allerdings sehr auffiel, war die schwarze Katze, die wirklich auf jedem der Bilder zu sehen war. Es war scheinbar die selbe Katze auf allen Bildern, obwohl die Frauen doch in einen größeren Zeitraum lebten – das war ihren Frisuren und Kleidern anzusehen.
Am Ende des etwa 20 Meter langen Flures war wieder eine Tür, die nicht weniger prunkvoll war, als die Tür zuvor. Dahinter lag eine riesige Bibliothek. Ein Raum mit geschätzten 5 Metern Höhe und einem alten Buch am Anderen. In der Mitte des Raumes stand ein beeindruckender riesiger Schreibtisch mit einem prächtigen Stuhl dahinter. Auf dem Tisch lag ein großes Buch. Es war aufgeschlagen und lockte Lilly regelrecht, direkt dorthin zu gehen.
Aber auf dem Stuhl auf den sie sich gerade setzen wollte, lag eine Katze. Eine schwarze Katze. Die schwarze Katze? Aber komischerweise wunderte sich Lilly nicht über diesen Umstand. Die Katze schaute auf Lilly mit einem sanften Blick, ganz ohne Scheu. Sie zeigte keinerlei Angst. Im Gegenteil, sie machte einen Satz auf den Tisch – Lilly entgegen. Sie schnurrte laut, ging auf sie zu und erwartete gestreichelt zu werden. Auch von Lilly aus war da eine alte Vertrautheit der Katze gegenüber. Sie zog mit ihrem Gang das Mädchen geradezu um den Tisch herum zum Stuhl. Lilly setzte sich und warf einen ersten Blick auf das Buch. Die Katze legte sich zufrieden daneben, schloss die Augen und verließ sich auf den weiteren Verlauf.
Es war ein sehr dickes Buch. Dicke feste Seiten, alles handgeschrieben. Der Inhalt des Buches bestand aus Namen und Zahlen. Seite für Seite. Bis zum Letzten Wort.
Jetzt war ihr alles klar. Sie war auch nicht böse darüber. Es war doch alles so logisch. Ihr Onkel war also nicht ihr Onkel. Von nun an würde sie hier bleiben.
Bildmaterialien: Cover: Pixabay CCO Public Domain – bearbeitet durch Adry
Tag der Veröffentlichung: 20.03.2016
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