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Kleine Heldin Samira

 

Balthasar lebte seit Jahren allein und hatte sich daran gewöhnt. Seine Frau Hertha war schon viele Jahre unter der Erde, doch die Sehnsucht nach ihr beherrschte noch immer sein Leben. Wie oft schon hatte seine Tochter Friederike ihn gebeten, das Einsiedlerdasein aufzugeben. Zu ihr zu ziehen … oder in ein Pflegeheim. Doch Balthasar gab auf diesbezügliche Fragen keine Antworten mehr. Demonstrativ schloss er die Augen und sein intensives Schweigen ließ Friederike bald verstummen. „Alter Querkopf“, mochte sie denken. Doch sie liebte ihren Vater, trotz seiner Dickköpfigkeit, mit der sie seit ihrer Kindheit zu kämpfen hatte.

So hätte Balthasars Leben weiter verstreichen können, zwischen Küche, Bad und dem einzigen Zimmer, das er in dem riesigen Haus benutzte, hin und her wandelnd wie ein Gespenst. Doch es sollte anders kommen.

 

Nahebei, in Sichtweite, stand ein altes Hotel leer, in dessen Gastronomie Balthasar früher ab und zu gegessen hatte, als Hertha noch lebte. Inzwischen hatte das Hotel jedoch nicht nur ihn als Gast verloren, auch sonst gingen die Besucherzahlen zurück, sodass der Besitzer es vorzog, in Insolvenz zu gehen und das Hotel leer stehen zu lassen. So war es seit zwei Jahren gewesen.

Dann kam die Stadt auf die glorreiche Idee, dort Asylbewerber unterzubringen. Was ja nicht unbedingt schlecht gewesen wäre, wenn man dieses Ansinnen nicht schon Wochen vorher in der Presse breitgetreten hätte.

 

Die Funken flogen bis zu Balthasars Haus. Die Feuerwehr tat ihr Möglichstes, doch außer Schadensbegrenzung an den umliegenden Häusern blieb nichts mehr zu tun, zu gründlich hatten die Ewiggestrigen mit Brandverstärkern nachgeholfen.

Politiker aller Couleur drückten ihre Empörung aus, die Presse kreuzigte die Politiker wegen Versäumnissen, die Parteien beschuldigten sich gegenseitig der Untätigkeit, kurz, das ganz normale und bereits bestens eingeübte Prozedere für derlei Vorkommnisse.

Dass solch eine menschenverachtende Tat direkt vor seiner Haustür stattgefunden hatte, schockierte Balthasar bis ins innerste Mark. Natürlich wusste er, dass es das gab -solche Ungeheuerlichkeiten aus Fremdenhass. Auch wenn er einsam lebte, das Weltgeschehen verfolgte er in den Nachrichten und der lokalen Zeitung. Doch diese Verbrechen geschahen immer weit weg in anderen Bundesländern oder zumindest in anderen Städten. Unmittelbare Verantwortung traf ihn nicht, das war weit weg und die Menschen, die nun dort nicht einziehen konnten, taten ihm zwar leid, aber den Drang zu aktivem Helfen verspürte er nicht. Ganz anders diesmal.

Die Empörung wurde von Stunde zu Stunde größer, je länger Balthasar darüber nachdachte. Diese Gewalttat in seiner unmittelbaren Nachbarschaft zu verüben, interpretierte er so, dass die Täter auch für ihn sprechen wollten. Wir wollen diese Menschen hier nicht! Wobei das Wort „Menschen“ von Balthasar stammt, die Täter setzten an dessen Stelle sicher ein anderes ein.

„Da mache ich nicht mit!“, war sein Fazit nach zwei Tagen, als der Pegel seiner Wut bereits höher war als seine Schädeldecke. Und was niemand dem alten Eigenbrötler zugetraut hätte, am wenigsten seine eigene Tochter, wurde zu einer Tatsache. Nur zwei Wochen später zogen in seinem Haus drei Asylantenfamilien ein. Ein Vater mit seiner siebenjährigen Tochter aus Afghanistan auf demselben Stock wie Balthasar, im Stockwerk darüber ein syrisches Ehepaar mit drei halbwüchsigen Kindern, und unter dem Dach ein junges Pärchen, das demnächst ein Kind erwartete und ebenfalls aus Syrien stammte.

 

Laut ging es zu in dem Haus, ungewohnter Lärm drang auch zu den Nachbarn und sorgte für Irritationen. Doch Balthasar wusste, dass er das Richtige getan hatte.

„Hertha hätte es gut gefunden“, sagte er zu seiner Tochter, als sie ungläubig nachfragte, ob er sich das auch reiflich überlegt hätte. Ein Argument, dem die Tochter nichts entgegenhalten konnte.

Der Umtrieb im Haus war in der ersten Woche so groß, dass Balthasar sich nicht einmal mit dem jungen Vater auf seinem Stockwerk ernsthaft unterhalten konnte. Doch dann, als Farid, wie er hieß, in der Küche fast einen Brand verursacht hatte, kamen sie ins Gespräch. In Englisch, denn Deutsch verstand und sprach Farid noch wenig.

„Mensch, Farid, du darfst doch bei einem Gasherd nicht den Topflappen ins Feuer hängen lassen“, belehrte der Hausherr seinen Gast. „Hast du denn noch nie am Herd gestanden?“

„Die Küche ist nicht meine Welt, da kenne ich mich nicht aus. Bin Theoretiker, kein Praktiker.“

„Aber du hast eine kleine Tochter, für die du sorgen musst. Wie hast du das denn unterwegs gemacht?“

„Da hat ihre Mutter für sie gesorgt.“

„Und wo ist sie jetzt?“

„Tot. Ertrunken. Ich konnte sie nicht retten. Sonst hätte ich Samira loslassen müssen.“

Die Tränen, die über Farids Wangen liefen, legten Zeugnis ab von der unmenschlichen Entscheidung, die er hatte treffen müssen.

 

Nach dieser Eröffnung wuchs die kleine spindeldürre Samira dem einzigen weißen Hausbewohner noch mehr an Herz. Schon vom ersten Tag an war sie sein Augenstern gewesen, doch jetzt, da er sie mutterlos wusste, vertiefte sich die Beziehung zwischen den beiden. Sie hingen Tag und Nacht zusammen wie die Kletten. Wo Balthasar auftauchte, war Samira nicht weit. Ihr Vater hatte seinen Argwohn längst überwunden und freute sich, dass Samira bei dem bärtigen Alten so schnell Deutsch lernte. Längst hatte sie alle anderen im Haus darin überflügelt.

Nach einigen Wochen durfte Samira sogar mit Erlaubnis des Papas an Balthasars Hand das Haus verlassen und erst nach einigen glückseligen Stunden auf einem Spielplatz tauchten die beiden mit erhitzten Köpfen wieder auf.

 

„Kind, du musst lesen lernen“, entschied der Büchernarr und -sammler Balthasar eines Tages und rannte damit bei Samira offene Türen ein. Denn das Mädchen hatte längst alle Bücher nach Bildern abgesucht, an denen es sich ergötzte. Am besten allerdings hatte ihr eine Abbildung gefallen, die als Lesezeichen in einem dicken Wälzer steckte. Ein kleiner Löwenkopf war darauf abgebildet. Doch geradezu unheimlich wurde das Bild durch die beiden Augen, die darunter derart leuchteten und funkelten, als wäre das Bild lebendig.

Für Samira war vollkommen rätselhaft, was es mit diesem Löwen und den Augen auf sich hatte. Vielleicht gaben die Buchstaben auf der Rückseite Aufschluss. Schnell holte sie das Buch und drückte es Balthasar in die Hand.

„Was steht da?“, fragte sie und überreichte ihm das Lesezeichen.

„Da also steckt dieses geheimnisvolle Bild all die Jahre. Ich habe es schon oft gesucht. Das stammt von meinem Großvater, er selbst hat die Zeilen auf der Rückseite geschrieben.“

„Und was steht da? Die Augen sehen so furchterregend aus und der Löwe so niedlich. Das Bild macht mir Angst und trotzdem finde ich es … schön.“

„Hier steht in Opas Handschrift, dass sich hinter diesem Medaillon eine Tür verbirgt, die sich dem auftut, der an sie glaubt, jedem anderen aber verschlossen bleibt.“

„Das ist komisch.“

„Schon als Kind habe ich gerätselt, was Opa damit gemeint hat. Ich habe das Rätsel nicht lösen können.“

„Vielleicht kann ich es, was meinst du?“

„Ja, denk drüber nach, du bist klug und etwas jünger als ich damals war. Das könnte nützlich sein. Zudem scheint das Bild eher zu deiner Heimat zu passen als hierher.“

„Wie meinst du das?“

„Es sieht doch irgendwie orientalisch aus. Und Löwen gibt es hier auch keine. Die Augen sehen magisch aus und passen besser zu einem Voodoo-Glauben als zur christlichen Lehre.“

„Wo dein Opa das wohl herhat?“

„Keine Ahnung. Aber er war lange Jahre als Missionar in Indien und Afrika. Er hat es mir geschenkt, als ich acht wurde.“

 

Ein paar Tage später feierte Samira ihren achten Geburtstag und alle Einwohner des Hauses schenkten dem quirligen Mädchen, das überall beliebt war, eine Kleinigkeit – soweit eben das Budget reichte.

„Was ist da drin?“, wollte Samira wissen, als Balthasar ihr ein großes Paket überreichte.

„Schau doch nach“, grinste der, „es wird dir gefallen.“

Schwer war das Paket auch, und so musste Balthasar es auf den Küchentisch legen, damit Samira es öffnen konnte. Mit Ungeduld riss sie die Verpackung auf, was ihr ein paar tadelnde Worte ihres Vaters einbrachte. Doch Balthasar freute sich über den Feuereifer seiner Kleinen.

„Oh, das sind Bücher! Lauter Bücher!“, freute sich Samira und klatschte vor Begeisterung in die Hände.

„Sie stammen aus der Kindheit von Friederike. Bilderbücher, welche mit wenig Text und richtige Bücher zum Lesen. Sie sollen die Marschroute für die nächsten Monate bestimmen. Bis du in die Schule kommst, wirst du lesen können.“ Leider war Samira wegen ihrer Schmächtigkeit ein Jahr zurückgestellt worden, sodass sie noch Monate warten musste, bis sie endlich zur Schule durfte. Ein schweres Hemmnis für ihre unersättliche Wissbegierde. Wie gut, dass sie Balthasar als wandelndes Lexikon benutzen konnte.

„Und das ist auch für mich?“, fragte Samira und hielt das Bild mit dem Medaillon hoch. Es hatte zuunterst im Bücherstapel gelegen.

„Ja, du bist jetzt acht wie ich damals. Und wenn du das Rätsel lösen willst, musst du es sehr oft anschauen. Deshalb gehört es jetzt dir.“

Mit einem Indianergeheul stürzte sich Samira auf ihren großen Freund und drückte ihren Kopf an seinen. „Danke!“, flüsterte sie ihm ins Ohr und schaffte es doch tatsächlich, dem alten Kerl ein paar Tränen zu entlocken.

Fast täglich beschäftigte Samira sich mit dem Bildnis, schaute es an, malte es ab, strich zart mit dem Finger über die Oberfläche. Seltsam rau fühlte es sich an.

 

Mittlerweile hatte es sich im Städtchen herumgesprochen, dass Balthasar, der bisher nie im Mittelpunkt des Interesses gestanden hatte, sein Haus mit Asylbewerbern vollgestopft hatte. Ein Zeitungsartikel im lokalen Blättchen brachte ihm Schulterklopfen von unbekannten Menschen im Supermarkt ein. Doch ab und zu auch böse Blicke und Zettel mit anonymen Drohungen im Briefkasten. Doch Balthasar focht das nicht an. Im Gegenteil beglückwünschte er sich immer wieder zu der Entscheidung. Seitdem wurde seine Zwiesprache mit Hertha seltener, doch seine verstorbene Frau freute sich mit ihm über die Gäste, wenn er doch mal Zeit fand, sich mit ihr zu unterhalten.

„Mit wem redest du?“, fragte die neugierige Samira, als sie ihn erwischte, wie er mit geschlossenen Augen in seinem Lieblingssessel saß und vor sich hin murmelte.

„Du kannst sie nicht sehen, sie ist schon tot.“ Noch selten hatte Balthasar diese harte Tatsache formuliert, doch hier und jetzt konnte er die verhassten Worte in den Mund nehmen. „Meine Frau ist vor einigen Jahren gestorben. An Leukämie. Mit ihr unterhalte ich mich ab und zu.“

„Kann man mit den Toten reden?“

„Ja, wenn man sie ganz tief im Herzen mit sich trägt.“

„Das ist gut. Dann kann ich sicher auch mit Mama reden.“

„Ja, versuch es!“

 

Es hätte so weitergehen können. Alles verlief in geordneten Bahnen. Doch es gab Menschen, denen genau das zuwider war. Sie mussten ihre Unzulänglichkeit durch Missachtung Fremder kaschieren und ihr Unglück auf andere projizieren. So kam es, dass eines Nachts böse Menschen ins Haus eindrangen. Sie trieben alle Bewohner in Balthasars Wohnzimmer zusammen. Nur Samira gelang es, sich zwischen den Händen eines massigen Kerls herauszuwinden und durch die Tür in die Küche zu entwischen. Sofort rannte er hinterher, doch wieselgleich schlängelte sich das Mädchen zwischen den Stühlen hindurch, während der Fremde darüber stolperte und der Länge nach hinstürzte. Sein Geschrei lockte einen weiteren bulligen Typ herbei. Zu zweit machten sie sich auf die Suche nach dem Mädchen.

Samira war inzwischen die Treppen nach oben geflitzt und saß in der Falle. Wo sollte sie noch hin, es gab hier keinen Ausgang. Um Zeit zu gewinnen, versteckte sie sich in der kleinen provisorischen Ankleidekammer, die sich neben dem Schlafzimmer im Dachgeschoss befand. Vielleicht kam ja von irgendwoher Rettung. Denn dass die vonnöten war, wusste das kleine dunkelhäutige Mädchen nur zu gut. Die Augen des Menschenjägers waren eiskalt gewesen, als er sich Samira griff.

Schritte dröhnten die steile Treppe zum Dachboden herauf. Mindestens zwei Personen mit schweren Stiefeln zählte Samira. Eiskalte Angst kroch ihr in die Glieder und griff nach ihrem Herzen. Wie ein Kleinkind drehte sie sich zur Wand, um nicht mit ansehen zu müssen, wie ihre Feinde auf sie zukamen. Sie wollte auch noch die Augen schließen, da sah sie aus dem Augenwinkel etwas, das hier nicht hingehörte. Etwas weiter links, einen halben Meter über dem Boden, hing das Bild, das Balthasar ihr geschenkt hatte. Wie kam das hierher? Trotz der lähmenden Angst stellte ihr Gehirn das Denken nicht ein.

Plötzlich durchfuhr sie eine Erkenntnis. Es war nicht das Bild. Die leuchtenden Augen fehlten. Eine Tür … so hatte es geheißen, hinter dem Medaillon befindet sich eine Tür, man muss nur fest daran glauben.

Noch nie hatte Samira an etwas so fest geglaubt wie an diese Tür. Sie musste einfach da sein! Auch auf die Gefahr hin, Lärm zu machen, ergriff sie den Ring in des Löwen Nase und zog daran, so fest sie konnte. Wenn nun doch keine Tür …Doch ihre Befürchtung war unberechtigt, lautlos glitt eine Tür auf und sog das Mädchen förmlich in sich hinein. Ebenso geräuschlos schloss sie sich wieder und Samira befand sich im Dunkeln, sie konnte ihre Umgebung nicht wahrnehmen. War sie hier in Sicherheit? Was, wenn die Jäger den Zugang entdeckten?

 

Langsam, leise drehte sie sich um und entdeckte, dass es zwei kleine Öffnungen auf dieser Seite der Wand gab, die ungefähr dort waren, wo von außen gesehen die Augen des Medaillons sich befinden mussten. Sie bückte sich und versuchte, durch die beiden Löcher zu erspähen, was jenseits der schützenden Mauer vor sich ging.

Es waren wirklich zwei Männer. Zwar konnte sie die Gesichter nicht sehen, weil die Löcher zu tief lagen, doch offensichtlich suchten die beiden nach ihr.

„Verdammt, sie muss hier irgendwo sein!“, fluchte einer der beiden.

„Wenn sie nicht doch unten schon entwischt ist und jetzt Hilfe herbeiholt.“

„Nein, du Trottel, wie soll sie das geschafft haben? Sie ist hier irgendwo, ich rieche das. Neger stinken, das weißt du doch.“

„Du mit deiner elenden Nase. Keine Ahnung hast du.“

„Und was ist das?“

Ein ausgestreckter Zeigefinger wies genau in Samiras Richtung.

„Keine Ahnung, es sieht komisch aus. Die glühenden Augen sind unheimlich. Lass uns gehen, das Mädchen ist verschwunden.“

„Nein, so schnell gebe ich nicht auf. Ist vielleicht ein Türmechanismus. Ich lass mir doch von so einem Balg nicht den Spaß verderben.“

Das Wort Balg kannte Samira nicht, doch dass bei dem Spaß dieses Kerls für sie nichts Gutes herausspringen würde, war ihr klar. Erschrocken fuhr sie zurück, als die Hand des draußen Stehenden plötzlich ihr ganzes Sichtfeld ausfüllte. Ihr Herz tat einen Sprung.

„Au, au, verdammte Scheiße“, fluchte es vor der dünnen Tür. „Der Ring ist heiß wie Teufel. Oh verdammich, schau dir nur mal diese Blase an. Die geht über die ganze Handfläche.“

„Was musst du auch …“, die Worte wurden leiser und unverständlich, denn die beiden Männer waren auf dem Rückzug. Erst jetzt bemerkte Samira, dass ihr die Luft ausging. Sie hatte nicht mehr zu atmen gewagt. Vorsichtig und leise saugte sie neuen Sauerstoff in die Lungen. Das war knapp gewesen!

 

Sie hörte die schweren Stiefel die Treppen hinunterpoltern. Was hatten die beiden jetzt weiter vor? Wie viele dieser Teufel gab es überhaupt? In Samiras Gehirn ratterten die Gedanken auf wackeligen Gleisen im Eilzugtempo. Und wie kam sie hier wieder raus? Vorsichtig drückte sie gegen das, was sie als Tür interpretierte, und tatsächlich entstand eine Öffnung, durch die sie sich hindurchschlängeln konnte. Sie war schon fast an der Treppe, als sie zurückblickte, um das Medaillon noch einmal in Augenschein zu nehmen. Doch da war nur noch glatte Wand, nichts zu sehen.

„Danke“, flüsterte Samira, ohne zu wissen, wem genau ihr Dank gelten sollte.

Sie zog ihre Schuhe aus und schlich die Treppe hinab, immer darauf bedacht, die ihr bekannten knarrenden Stufen auszulassen.

Als sie im ersten Stock angekommen war, hörte sie zwei männliche Stimmen, die miteinander stritten.

„Und ich sage, wir hauen ab! Das ist zu gefährlich. Die Kleine ist sicher schon längst bei der Polizei und die treten hier bald die Tür ein.“

„So ein Quatsch. Wir mischen die jetzt auf. Dafür sind wir hergekommen!“

„Spiel dich mal hier nicht so auf! Du Idiot hast das verfluchte Gör laufen lassen. Und es gibt noch genug Asylantenpack, dem wir zeigen können, was sie in Deutschland erwartet. Und jetzt ab!“

„Au verdammt, so eine Scheiße. Sollen wir nicht wenigstens dem Alten eine Abreibung verpassen? Der hat es unbedingt verdient.“

„Nein, wenn sie uns jetzt schnappen, kriegen sie uns nur wegen Hausfriedensbruch dran. Wenn wir dem Alten was tun, buchten sie uns auf Jahre ein, dann ist Schluss mit lustig!“

 

Die Flüche, die den Rückzug der rechten Horde begleiteten, waren nicht jugendfrei, doch Samira verstand diese Worte ohnehin nicht, auch wenn ihr Deutsch mittlerweile prächtig war. Kaum hatte der letzte der unwillkommenen Besucher die Tür hinter sich zugeschmettert, strömten die Hausbewohner aus dem Wohnzimmer und machten sich auf die Suche nach Samira. Vielleicht war sie ja doch noch im Haus und hatte sich versteckt.

Überschäumende Freude, als die Gesuchte sich am oberen Ende der Treppe zeigte und wie eine Diva, jeden Schritt zelebrierend, langsam nach unten spazierte. Sofort wurde sie umringt und hochleben lassen.

„Dein Opa hat uns gerettet“, flüsterte sie Balthasar ins Ohr. „Ohne sein Bild wäre ich nie auf die rettende Idee gekommen.“

„Ja, er war ein weit gereister und kluger Mann“, erwiderte Balthasar und drückte die Kleine an sich, dass sie keine Luft mehr bekam. Doch diesmal machte ihr das überhaupt nichts aus.

 

Impressum

Bildmaterialien: Cover: Pixabay CCO Public Domain – bearbeitet durch Adry
Tag der Veröffentlichung: 06.03.2016

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