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Die Höllenfahrt

Wie immer war ich müde, als ich am Ende eines langen Arbeitstages in die S-Bahn stieg. Die Fahrt nach Hause dauerte gewöhnlich eine halbe Stunde. Da mein Arbeitsplatz in der Innenstadt lag, war die S-Bahn immer sehr voll. Sie leerte sich allmählich, je näher wir der Endstation kamen. Dort, in einem Vorort der Stadt, lag meine Wohnung.


Auch diesmal freute ich mich auf meine gemütliche Wohnung, auf die Ruhe und auf das bescheidene Abendessen, welches ich mir zu gönnen pflegte. Oft schlief ich während der Fahrt ein, was aber kein Risiko bedeutete, denn an der Endstation hielt die Bahn auf jeden Fall und wartete etwa eine halbe Stunde, bevor sie zurückfuhr.


Ich war meistens der Einzige, der an der Endstation ausstieg, denn mein Arbeitstag dauerte etwas länger als der der anderen. Wenn ich nicht schlief, beobachtete ich die Menschen, die im Abteil saßen oder standen, solange, bis auch der letzte ausgestiegen war. Auch heute gab es auf der letzten Strecke niemanden mehr, den ich beobachten konnte. Also schaute ich gelangweilt durch das Fenster auf die im Dämmerschein liegende Landschaft.


Wie erschrak ich aber, als wir uns der Endstation näherten und die Verlangsamung zusammen mit dem damit verbundenen Bremsgeräusch ausblieb. Die Bahn hielt volles Tempo und fuhr einfach weiter. Ich dachte “Gleich knallt es!” und hielt mich an der nächsten Stange fest. Es knallte aber nicht, sondern statt dessen sah ich die Endstation an mir vorbeirauschen, so als ob im Laufe des Tages eine wundersame Schienenverlängerung stattgefunden hätte.


Kurz darauf hatte ich das Gefühl, als ob die Bahn sich nach vorne neigen und einen Hang hinunterfahren würde. Durch das Fenster sah ich aber nur die schwarzen Wände eines Tunnels. Fuhren wir etwa direkt ins Erdinnere hinein? Eine gute Weile fuhren wir so mit hoher Geschwindigkeit abwärts, und ich verstand überhaupt nicht, wie das möglich war. So oder so glaubte ich, dass mein letztes Stündlein geschlagen hatte, und ich erwog, ein letztes Vaterunser zu beten. Eines war klar: In wenigen Minuten würde ich entweder vor dem Herrn des Himmels stehen oder dem Herrn der Hölle, je nachdem, wie mein Lebenswandel zu beurteilen war.


Als braver Angestellter der Berliner Allgemeinen Versicherung war ich mir keiner Schuld bewusst oder zumindest keiner Sünde. Schuld? Ja, doch vielleicht, wenn ich an all die armen Versicherungsnehmer dachte, denen wir die Ausbezahlung der Versicherungssumme ausgeschlagen hatten, unter Hinweis auf irgendwelche windigen Paragraphen, die winzig klein geschrieben im Versicherungsvertrag standen. Die armen Leuten wussten ja nicht, was sie da unterschrieben, wussten nicht, dass sie ihr Leben lang Beiträge zahlen mussten, ohne je etwas dafür wiederzubekommen.


Aus diesen Gedanken wurde ich durch das plötzliche Quietschen der Bremsen herausgerissen. Die Bahn bremste so stark, als ob es sich um eine Notbremsung handelte. Nach wenigen Sekunden stand sie still und die Türen öffneten sich. Ich hielt den Atem an. Wo war ich? Was geschah nun? Die plötzliche Stille war unheimlich. Ich näherte mich mit vorsichtigen Schritten der Tür und schaute hinaus. Mein Blick fiel auf schwarze Wände auf der gegenüberliegenden Seite. Die Decke war ebenfalls schwarz und wölbte sich hoch über mir wie in einer riesigen Höhle. Ich blickte nach links und rechts, sah aber keinen Menschen. Da ich keine bessere Alternative hatte, trat ich hinaus.


Irgendwas oder irgendwer musste doch jetzt kommen, dachte ich. Aber nichts geschah. Ich schaute mich weiter um und glaubte an dem einen Ende des Bahnsteigs einen schwachen Lichtschein zu erkennen. Ängstlich ging ich darauf zu. Je näher ich kam, desto deutlicher erkannte ich, dass es sich um eine Tür handelte. Als ich davor stand, bekam ich die Erklärung für das Leuchten. Die gesamte Tür bestand aus gehämmertem, schwarzem Blech. In der Mitte war ein Löwenkopf aus Eisen, umgeben von einem Ornament. Aus dem Löwenmaul hing ein Ring heraus, der offenbar als Türklopfer diente. Links und rechts davon aber waren zwei Löcher in der Tür, durch welche ein grellgelbes Licht hindurchdrang. Innerhalb des Ornamentes wirkten diese Löcher wie die Augen eines Raubtieres. Je länger ich mir das anschaute, desto größer wurde meine Angst.


Da ich aber keinen anderen Ausweg entdecken konnte, entschloss ich mich endlich, mit Hilfe des Ringes an die Tür zu klopfen. Irgendwie musste es doch weitergehen. Nach einer Minute wurde die Tür geöffnet. Ein Herr in einem feinen, schwarzen Anzug mit weißem Hemd und rotem Schlips öffnete mir. Auf dem Kopf trug er einen Zylinder. Er lächelte nur und sagte nichts.


“Ich wollte nur fragen…”, begann ich, entdeckte dann aber, dass der rechte Fuß des Herrn nicht in einem Schuh steckte, ja, gar nicht stecken konnte, denn er hatte die Form und Beschaffenheit eines Pferdehufs. Das schockierte mich so sehr, dass ich nicht weitersprechen konnte. Ich schaute mich um und suchte nach der Möglichkeit eines Rückzugs. Doch gerade als ich mich umdrehen wollte, packte mich der Herr am Arm und zog mich hinein.


“Wir haben Sie schon erwartet!”, sagte er dabei.


“Wie, mich erwartet? Wieso?”, fragte ich verdattert.


Er aber lächelte nur und nahm seinen Zylinder ab. Als ich die zwei Hörner auf seinem Kopf erblickte, wurde mir zur Gewissheit, was ich schon befürchtet hatte: Ich befand mich in der Hölle! Zugleich bereute ich es, jemals in der Versicherungsbranche gearbeitet zu haben. Denn anderer Verfehlungen als jener, deren ich mich als Angestellter der Berliner Allgemeinen Versicherung schuldig gemacht hatte, konnte ich mich nicht erinnern. Nun musste ich dafür büßen. Glaubte ich auf jeden Fall!


Es war tatsächlich sehr heiß in der Hölle, und dabei befand ich mich erst im Vorraum.


“Ja, dann werde ich Ihnen mal Ihr neues Quartier zeigen!”, meinte der Teufel im Anzug.


“Übrigens”, fuhr er fort, indem er mich am Arm zu der nächsten Tür zerrte, “ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Ich heiße Lucius Ferus.” Dabei grinste er so teuflisch, wie es nur Teufel können.


Als wir in den nächsten Raum traten, empfing uns ein unangenehmes, rotes Licht und eine ebenso unangenehme, feurige Hitze. In der Mitte des Raumes befand sich so etwas wie eine große Badewanne, in der bequem vier Personen hätten sitzen können. Es saßen aber nur zwei Männer darinnen, die ununterbrochen redeten. Das Wasser in der Wanne sprudelte, wie in einem Whirlpool. An der großen Menge Dampf, die aus der Wanne aufstieg, konnte ich ermessen, wie heiß das Wasser sein musste.


In einer Ecke saß ein Teufel auf einem Stuhl und sah recht gelangweilt drein. Neben sich hatte er ein kleines Tischlein, auf dem so etwas wie eine Schaltuhr stand. Wie ich allmählich erkannte, handelte es sich um einen Regulator, mit dem sich die Temperatur in der Wanne erhöhen oder herabsetzen ließ. Immer wenn die beiden Männer aufhörten zu reden, drehte der Teufel an seinem Schalter. Das Wasser begann stärker zu brodeln, die beiden Männer schrien und begannen sofort, ihre Konversation fortzusetzen. Da mein rotbeschlipster Begleiter Lucius Ferus keine Eile hatte, konnte ich das Geschehen eine Weile verfolgen und dem Gerede der Männer zuhören.


“Wieso wurden dann keine maßgeblich greifenden Antworten gefunden, warum wird das erst jetzt öffentlich?”, fragte der eine, ein älterer Mann, der kaum noch Haare auf dem Kopfe hatte.


Der andere, ein etwas jüngerer Schwarzhaariger, antwortete:


“Ja, welche Heinze sitzen denn da nur in den verantwortlichen Gremien, was tun sie für die Diäten und sonstigen Annehmlichkeiten solcher Positionen?”


“Nichts tun sie, gar nichts. Sie haben den rechtzeitigen Einsatz der Exekutive verpasst!”


“Ja, verschlafen haben sie. Sich in den Positionen gesonnt.Zu gut ist es ihnen gegangen. Immer nur business as usual, auch jetzt noch, wo eine Million Wirtschaftsflüchtlinge unser Land überfluten.”


“Dahinter steht ein amerikanischer Masterplan! Weißt du was? Die Amis wollten Europa schwächen, gerade jetzt, wo Deutschland wieder eine Rolle spielt in der Welt. Deswegen haben sie Nordafrika und den Nahen Osten destabilisiert, damit ein Flüchtlingsstrom entsteht, den man nicht mehr zügeln kann.”


“Ja, auf jeden Fall nicht unsere Regierung. Denk, diese Mutti da oben, die mit einem Pasteur in wilder Ehe lebt, hat das höchste Amt. Da kannst du mal sehen, wie verkommen unsere Parlamentarier sind.”


“Stecken doch alle unter einer Decke. Auch dieser Schulze, der zu doof war, eine deutsche Kleinstadt zu regieren, der ist heute EU-Vizepräsident. Diese Pfeife!”

Nachdem der Kahlköpfige diesen letzten Satz ausgesprochen hatte, fiel ihnen nichts mehr ein. Doch kaum hatten sie eine Minute geschwiegen, drehte der Teufel in der Ecke am Schalter und ließ die Temperatur ansteigen. Die Männer schrien:


“Ah, das ist so heiß! Hör auf! Wir reden ja schon!”

Und schon begann der Schwarzhaarige, mehr schreiend, als redend:


“Nein, nein, böse ist nicht der Kapitalismus, der absolut freie Hand und die Regierung zum Marionettenstadl umfunktioniert hat, böse ist nur der Iwan im Osten, der skrupellos die arme NATO in einen Dritten Weltkrieg hineinziehen …”


Und er andere, der Kahlköpfige, fiel ein:


“Warum? Warum? Warum? Die gesamte Welt ist voll mit Menschen und Produkten! Nur acht Euro fünfzig, und die Armen dieser Welt betragen neun Zehntel und kaufen nichts, rein, gar nichts!”


“Ja, die wühlen in den riesigen Abfällen, und diese werden sogar noch aus Neuseeland in die Philippinen verschifft!”


“Ja, das ist ganz fürchterlich. Da hetzen ein paar Möchtegern-Reporter, und nun wollen die Polizeischutz.”


“Weil, die anderen sind ja so böse. Die blenden uns und pöbeln!”


“Und als einer von uns widerrechtlich ein Podium zum Hetzen benutzen wollte …”


“Da wurde er runtergeschubst! Jetzt haben wir so fürchterliche Angst!”


“Schwestern und Brüder, auf, auf, in die Puschen, oder wir krachen zusammen an die Wand!”


“Lasst euch nicht mit den Gutmenschen ein!”


“Nein, denkt dran: Wer mit den Hunden zu Bett geht, steht mit Flöhen auf.”


“Nein, weißt du noch, das Wutgeheul der Eurokraten und Gutmenschen beim Zaunbau in Ungarn? Verlogene Bande!”


“Willkommenskultur! Diese Volksverräter!”


“Nur Härte hilft!”


“Sonst bricht das Sozialsystem …”


“Alle Sparer werden enteignet!”


“Und die Banken gehen dann doch alle kaputt. Den Iwan wird’s freuen!”


“Unsere Altersversorgung ist am Arsch!”


“Erschießen muss man sie! Die Kanaken! Niemand schießt freiwillig. Aber man muss ja!”


“Ich hasse sie! Und bloß deswegen nennen sie mich einen Rassisten!”


“Nein, so ein Quatsch! Wir sind doch keine Rassisten! Aber wehren müssen wir uns, mit Waffengewalt, gegen Flüchtlinge, Gutmenschen und Eurokraten!”


“Und gegen die Möchtegern-Reporter von der Lügenpresse!”


“Volksverhetzer!”


“Duckmäuser!”


“Landeszerstörer!”


In dieser Weise ging es noch eine ganze Weile weiter. Der Teufel in der Ecke war wieder zufrieden. Mein Begleiter Lucius Ferus, der sah, dass ich begann, mich zu langweilen, führte mich in den nächsten Raum.


Was ich dort sah, überraschte mich sehr. In der Mitte des Raumes stand ein nackter Mann vor einem Bügelbrett und bügelte. Dass er nackt war, war eigentlich nicht so überraschend, denn es war wirklich sehr heiß in dem Raum. Überraschender war vielmehr das, was er bügelte, nämlich lauter kleine, deutsche Fahnen, ungefähr von der Größe eines Waschlappens. Links von dem Bügelbrett war ein riesiger Haufen ungebügelter, deutscher Fahnen dieser Größe, und rechts davon ein ebenso großer Stapel von gebügelten. Der Mann arbeitete also, während ihm der Schweiß von der Stirn lief, von links nach rechts: Links Fähnchen hochnehmen, bügeln, dann rechts ablegen, wieder und wieder, stundenlang. Es gab keine Pause. Schlimm war, dass er dabei ein altertümliches Bügeleisen benutzen musste, so ein schweres aus rostbraunem Eisen, welches man mit glühenden Kohlen bestücken musste. Es dampfte und zischte in einem fort, während der arme Mann bügelte und bügelte und bügelte. Wir gingen zu ihm und Lucius Ferus sagte:


“Und dies ist also unser Bernd, der Fahnenbügler!”


Der Angesprochene sah von seiner Arbeit nicht auf, antwortete aber verärgert:


“Ich heiße nicht Bernd, ich heiße Björn!”


“Schon gut, Bernd”, meinte mein Begleiter, der gutgekleidete Teufel, “wir wissen, wieviel dir an deinem germanischen Namen liegt, aber “Bernd” ist besser. Er bringt besser zum Ausdruck, was du eigentlich bist. Ein selbstverneinender, europäischer Platzhalter!


In demselben Moment öffnete sich die Tür und etwas Schreckliches geschah: Eine Horde schwarzer Männer stürmte herein, Männer, die offenbar dem lebensbejahenden, afrikanischen Ausbreitungstyp zugehörten. Sie lachten und tanzten, umringten den armen Platzhalter Bernd, der anfing zu wimmern:


“Bitte, nicht die gebügelten Fahnen! Bitte, lasst sie liegen!”


Aber das Bitten half nichts. Die afrikanischen Lebensbejaher stürzten sich auf die gebügelten deutschen Fahnen, rissen sie empor, warfen sie in die Luft, fingen sie wieder auf, zerknitterten sie in ihren Fäusten, warfen sie wieder in die Luft, und trieben dieses Spiel so lange, bis von der Bügelarbeit so gut wie nichts mehr übrig war. Dann stürmten sie lachend und johlend hinaus.

Auf dem Boden aber höckte der arme Bernd-Björn und weinte und wimmerte. Er wusste, dass er nun alle die zerknitterten deutschen Fahnen wieder aufsammeln und seine Arbeit von Neuem beginnen musste. Anscheinend war es nicht das erste Mal, dass diese Szene sich abgespielt hatte. Ich fragte meinen Begleiter Lucius:


“Wie oft kommen die denn?”


“Na, so zwei-, dreimal pro Tag!”


“Oh, das ist ja die reinste Hölle!”


“Ist es auch,” sagte Lucius und schmunzelte, “aber es gibt Schlimmeres. Komm!”


Damit führte er mich in den nächsten Raum. Dieser war eher ein Saal zu nennen, und zwar ein riesiger. Er hatte ungefähr die Größe eines Sportplatzes, ja, bei genauerem Hinsehen konnte ich erkennen, dass es tatsächlich ein Sportplatz war, ein Höhlen- oder Höllensportplatz gewissermaßen. Auf der Bahn ringsum gingen Massen von Leuten im Gleichschritt, immer rundherum und rundherum, wie auf einer Demonstration, und grölten:


“Wir sind das Volk! Wir sind das Volk! Wir sind das Volk …”


Merkwürdigerweise ging alle barfuß. Den Grund dafür konnte ich leicht erraten. In einer Ecke saß wieder ein Teufelchen an einer Schaltuhr und drehte die Bodenheizung auf, sobald die Leute vor lauter Erschöpfung ihre “Wir sind das Volk!”-Rufe einstellen wollten. Ich wartete eine Weile, bis dieser Moment eintrat.

Es war deutlich zu sehen, dass die Leute erschöpft waren. Da hatten sie nun schon stundenlang “Wir sind das Volk!” gerufen und konnten und wollten nicht mehr. Ihre Stimmen wurden immer schwächer und schwächer, bis es schließlich ganz still wurde. Daraufhin drehte das Teufelchen in der Ecke an dem Schalter, und die plötzliche Brandhitze unter den Füßen riss die Leute aus ihrer Lethargie. Sie schrien, hüpften in die Höhe, fassten sich an ihre heißen Sohlen, purzelten um, fielen übereinander, während einzelne “Wir sind das Volk!”-Rufe wieder hörbar wurden. Endlich kam Ordnung in die Reihen, alle gingen wieder im Gleichschritt, und der Ruf “Wir sind das Volk!” erscholl wieder im Takt. So trotteten sie weiter herum auf ihrer Bahn, stundenlang, bis zum nächsten Anfall von Erschöpfung.


Angewidert wie ich war, schüttelte ich den Kopf und schaute Lucius Ferus fragend an:


“Gibt es Schlimmeres als das?”


“Oh ja,” lachte er, “komm nur mit!”


Der Raum, in den ich nun geführt wurde, war ebenso groß wie der letzte, nur war er leer und dunkel, genauer gesagt, fast dunkel. An dem einen Ende dieser riesigen Höhle stand ein von Scheinwerfern angestrahltes Rednerpult. Das Eigenartige an diesem Rednerpult war, dass es aus lauter zusammengebundenen, nach oben gerichteten Mistgabeln gebaut war. Obendrauf stand eine Frau und redete, während sich die Spitzen der Mistgabeln in ihre nackten Füße bohrten. Ich schaute um mich, konnte aber in den dunklen Ecken das wohlbekannte Teufelchen am Schalter nicht erkennen, vermutete aber, dass es da war. Denn es war deutlich zu bemerken, dass die Frau, immer wenn sie aufhören wollte zu reden, durch die Hitze in den Mistgabelspitzen im wahrsten Sinne des Wortes angestachelt wurde, weiterzureden. Auch der Inhalt ihrer Reden, der jeglichen vernünftigen Sinns entbehrte, schien durch die Mistgabelspitzenhitze erzeugt zu werden:


“Wir müssen uns endlich wehren, Bürger, wir müssen handeln! Wählt diese Landeszerstörer ab! Zurückschlagen müssen wir gegen die Volksverräter, die Lügenpresse! Lasst die Einwanderer, diese Kulturbereicherer und Fachkräfte, lasst sie nicht herein! Haben wir nicht genug Arbeitslose im eigenen Land, die umgeschult werden müssen? In diesem Unrechtsstaat, dieser Merklungs- und Meinerdiktatur, Entschuldigung, ich meinte …”


Sie hob die Füße und fasste sich an ihre zerschundenen Sohlen, es half aber nichts, augenblicklich stieg die Temperatur an, sie schrie und schrie dann ihre Rede weiter hinaus in das Dunkel dieses riesigen Saals, wo niemand war, der ihr zuhörte:


“Dieser Meinungs- und Merkeldiktatur, wo alle Gutmenschen selbst einmal von dem Kölner Sexmob vergewaltigt und anschließend an die Wand gestellt werden sollten … Bundeskanzlerin, wann verrecken Sie endlich … sie, die ihre Familie und Heimat im Stich lassen, weil es hier „Schöner Wohnen“ und ordentlich Knete vom Staat gibt … diese verkrachten Gender-Tanten, die mit ihrem überzogenen Sexualscheiß unsere Kinder traumatisieren wollen, vor dem Terror der schwulen, lesbischen, queeren sexuellen Minderheit – willkommen in der Freiluftpsychiatrie Deutschland! Wir brauchen gendergerechte Enthauptungen und Kondom-Abrollwettbewerbe in den Kitas, die der weichgespülte, moralisierte Mainstream für nicht anständig hält. Scheiß auf diesen Anstand, der uns durch den Tugendterror der Linken und Grünen und der Duckmäuser und Sozialisten in den Medien in Dauerschleife vorgekaut wird! Wenn die Mehrheit der Bürger noch klar bei Verstand wäre, dann würden sie zu Mistgabeln greifen …”

Bei dem Stichwort “Mistgabel” schrie sie auf und wäre am liebsten in die Höhe gesprungen, was ihr aber nichts genützt hätte, da sie nur umso schmerzhafter auf den heißen Mistgabelspitzen gelandet wäre. Und noch schreiend, redete sie fort, wie von Sinnen:


“... und diese volksverratenden, volksverhetzenden Eliten in die Parlamente, in die Gerichte, in die Kirchen und in die Pressehäuser hineinprügeln. Wann komme ich endlich zur Vernunft? In Zeiten wie diesen: Scheiß auf den Anstand! Bundeskanzlerin, wann verrecken Sie endlich … Hooligans sind die Rebellion gegen unsere feminisierte Kultur, die Frauen und Muslime fördert und weißen Männern den Krieg erklärt. Alles Mistverräter und Scheißgabeln, die zur Vernunft kommen und den Sozialisten die Kondome reichen, nachdem sie die Knete traumatisiert und den Mainstream dauergeschliffen, gendergerecht abgerollt und vergewaltigt, an die Wand geschwult und in die Psychiatrie, die Heimat, die Volksverhetzer, wann verrecken sie endlich, die lesbische Mehrheit muss an die Macht, wir pressen und lügen, wir prügenlessen, wir müssen an die Wand, vom Volk enthauptet, Scheiße!”


Und dann mit schwächerer Stimme:


“Wann verrecke ich endlich …”


Ich war entsetzt beim Anblick dieses Schauspiels, das mir tragisch erschien, zutiefst tragisch. Ich wandte mich an Lucius Ferus und sagte:


“Bitte, erlösen Sie diese Frau! Das ist doch furchtbar! Das ist doch mehr, als ein Mensch aushalten kann! Wer in einem solchen Grade Verstand und Vernunft verliert, muss doch entsetzliche Schmerzen haben!”


Doch Lucius Ferus lächelte nur und sagte:


“Mein lieber Gast, Sie verstehen nicht ganz. Diese Dame hätte schreien müssen, als sie noch oben auf der Erde war, wegen des Verlustes von Verstand und Vernunft. Da sie es dort nicht tat, muss sie es hier tun. Dies ist schließlich die Hölle!”


Ich schwieg. Dann wurde ich neugierig.


“Und was haben Sie mit mir vor?”


“Einen Moment mal, ich bekomme gerade einen Anruf vom obersten Teufel.”


Ich hörte, wie er an seinem Teufelshandy ein paar Worte wechselte in einer Sprache, die ich nicht verstand. Nach dem Gespräch steckte er sein Handy lächelnd in die Jackentasche und sagte:


“Sie haben Glück gehabt. Es ist im Moment kein Platz in der Hölle. Es kommen gerade so viele rechte Seelen aus Deutschland hier herein. Die haben Vorrang!”


Er nahm mich am Arm und führte mich durch verschiedene Gänge wieder zu der Tür, durch die wir hereingekommen waren.


“Tut mir wirklich sehr leid, dass wir Sie hier nicht beherbergen konnten. Vielleicht später einmal!”


Damit schob er mich hinaus. Ich befand mich wieder auf dem großen, leeren Bahnsteig. Schnurstracks begab ich mich zu der immer noch bereitstehenden Bahn und ging hinein. Kaum saß ich, schlossen sich die Türen, und die Bahn fuhr ab. Ich machte drei Kreuze und beschloss sofort, bei der Berliner Allgemeinen Versicherung zu kündigen und mir einen anderen Arbeitsplatz zu suchen. Nach wenigen Minuten kam ich an meiner Haltestelle an. Ich schaute um mich. Die Endstation war immer noch Endstation. Die Schienen hörten eindeutig dort auf. Ich konnte mir nicht erklären, was geschehen war.


“Alles nur metaphorisch?”, fragte ich mich, “Fährt man an der Endstation weiter, kommt man direkt in die Hölle. Politisch. Metaphorisch. Wie auch immer, es war ganz nett, mal mit einem Teufel persönlich zu sprechen. Der schwarze Anzug und der rote Schlips standen ihm doch ganz gut …”

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Bildmaterialien: Cover: Pixabay CCO Public Domain – bearbeitet durch Adry
Tag der Veröffentlichung: 06.03.2016

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