„Ich gehe die Straße in der Vorstadtsiedlung entlang. Im Schaufenster der Bäckerei betrachte ich mich stolz. Mein neues Schulkleid ist mir zwar noch etwas zu groß, aber die Schleifen in meinen Zöpfen passen farblich ganz toll dazu. Ich drehe mich noch ein paar Mal und dann geht es weiter. Meinen Turnbeutel schwenkend und von Pflasterstein zu Pflasterstein hüpfend bin ich strengstens darauf bedacht, nicht die Linien zu berühren, die von der Anordnung der Steine gebildet werden. Hier sind die quadratischen Betonsteine schräg verlegt und die Seiten sind von fünfeckigen gesäumt, die in meiner Fantasie Häuser sind. Heute jubeln mir die Menschen aus den Häusern zu, weil ich keine einzige Linie berührt habe. Aber plötzlich kreuzt ein reißender Fluss meinen Weg. Aus vielen kleinen Granitsteinen führt er von einer Grundstücksauffahrt zur Straße. Wie kann ich ihn unbeschadet überwinden? Finde ich ein Boot oder eine Brücke? Da höre ich das Tuten einer Fähre! Gerettet! Ach nein, es war das Pausenklingeln meiner Grundschule. Also habe ich die erste Stunde schonwiedermal verpasst. Den Turnbeutel hätte ich also zu Hause lassen können.“
Das ist die Erinnerung der kleinen Bella, die ich mal war. Heute sitze ich als Isabell Gerber auf der Couch. Warum meine Therapeutin mit mir einen Ausflug in meine Kindheit unternimmt, verstehe ich zwar nicht, aber es ist eine schöne Erinnerung. Ich tauche ein in eine unbeschwerte Zeit.
„Die Buntstifte und der Zeichenblock sind das beste Geschenk zu meinem neunten Geburtstag. Zwanzig Blätter! Das ist nicht viel, aber auch nicht wenig. Ich sitze am Wohnzimmertisch und vor mir liegt mein Schatz. Heute habe ich keine Hausaufgaben zu erledigen, also ist genug Zeit zum Malen. Meine liebste Oma sitzt mit ihrem Strickzeug im Sessel am Fenster Sie kann von dort nicht genau sehen, was ich male. Es wird ein Kalender für sie zu Weihnachten. Die Kalenderblätter nehmen Gestalt an. Jedes wird ein Kapitel einer Geschichte von einem kleinen Häschen. Es heißt Hugo und sucht einen Freund. Im Januar fragt er den Schneemann, im April den Osterhasen, im Mai ein Maikätzchen, im Dezember den Weihnachtsmann, ob sie sein Freund sein wollen. Alle möchten das gerne, aber wenn ein neuer Monat beginnt, ist ihre Zeit vorbei. Für die anderen Monate wird mir auch noch etwas einfallen. Ich habe viel Spaß am Malen und am Erdenken der Geschichte. Selbst das aufwändige Aufschreiben der Kalendertage geht mir freudig von der Hand. So lange meine Oma lebt, wird sie den Hasenkalender Monat für Monat umblättern.“
Ich frage mich, was Frau Schneider mit kleinen Bewegungen in meine Patientenakte schreibt. Es ist doch nichts Ungewöhnliches daran, dass ein Kind für seine Oma etwas bastelt. Ich habe den Kalender förmlich vor meinen Augen. Ich sehe den Oktober mit der Geburtstagstorte, höre das Häschen den Konditor fragen, ob er sein Freund sein möchte.
Und dann höre ich Frau Schneider sagen: “Wie fühlen sie sich Frau Gerber, wenn sie an diesen Kalender denken?“ Wie soll ich mich wohl fühlen. Ich bin stolz, dass ich so ein tolles Werk als Kind vollbracht habe! Aber will sie das von mir wissen? Ich neige meinen Kopf, schaue ihr mit etwas zugekniffenen Augen ins Gesicht und dann sage ich: „Ich bin traurig, dass meine Oma nicht mehr lebt. Sie war immer für mich da. Aber als sie im Sterben lag, konnte ich nicht bei ihr sein. Ich hatte eine Grippe und es ging mir richtig schlecht.“ Wieder das Kritzeln in die Akte. Ich denke, dass ich nicht geschwindelt habe, aber mein erster Gedanke war ein anderer. Werde ich jetzt vielleicht falsch therapiert?
Die Stunde ist schnell vorbei. Wir besprechen kurz den nächsten Termin und dann verlasse ich die Praxis, die in einer alten Villa in der Vorstadt liegt. In meinem Kopf kreisen viele Gedanken. Wird mir Frau Schneider helfen können? Oder bringt mich dieses Gekritzel zur Weißglut? Was hat meine Kindheit mit meinem Problem zu tun? Ich bin einfach nur unglücklich, weil mich mein Ingo kurz vor unserem zehnten Hochzeitstag verlassen hat. Bei jeder Kleinigkeit fange ich an zu heulen. Ich kann abends nicht einschlafen und werde morgens nicht wach. Den ganzen Tag bin ich müde. Ich mag nicht aus dem Haus gehen. Besuch gehe ich aus dem Weg. Beim Frisör war ich auch schon ein paar Wochen nicht mehr. Und jetzt komme ich auch noch an dem Schaufenster der Bäckerei vorbei. Ich drehe mich nicht stolz, sondern schaue erschrocken auf die gebückt schleichende ältere Frau. Muss ausgerechnet jetzt meine Nachbarin Frau Wildkamp in der Bäckerei Kuchen kaufen. Ihr fröhliches Lachen ist bis draußen zu hören. Wie jung und frisch sie aussieht. Dabei ist sie doch neulich fünfzig geworden. Mein Schaufensterspiegelbild sagt mir, dass ich älter als sie bin, obwohl ich vierunddreißig bin. Ich atme langsam und tief ein, damit ich die Tränen zurückhalten kann, was mir nicht gelingt. Also gehe ich mit eingezogenem Kopf schnell weiter.
Mein Weg führt mich an meiner alten Schule vorbei. Das Straßenpflaster mit den fünfeckigen Häuserreihen lässt mich wie in Kindertagen die Verbindungslinien zwischen den Steinen meiden. Ich konzentriere mich auf meine Füße und plötzlich kommt die Auffahrt, die in meiner Kinderfantasie ein reißender Strom war. Wie kann ich diesen Fluss nur überqueren? Ein ungewöhnliches Geräusch weckt mich aus meinem Traum. Was ist das? Ich sehe mich um.
Aus der Grundstücksauffahrt kommt ein mauzendes Katzenbaby auf mich zu. Ich bin berührt, kann mich vor einem tiefen herzerwärmenden Gefühl nicht wehren. Es hat mich mit seinem flehenden Blick aus großen grauen Augen und den tapsigen Schrittchen sofort in seinen Bann gezogen. Ich bücke mich zu ihm herunter. „Du kleines Wollknäul, du! Hast du dich verlaufen? Wohin gehörst du denn?“ Das struppige Fell fühlt sich so wunderbar weich an, auch wenn man jeden einzelnen Knochen hindurch fühlen kann. Ich hebe das Kätzchen hoch und drücke es an meine Brust. Ein wohliges Gefühl durchströmt mich als dieses hilflose Wesen sofort zu schnurren anfängt. „Wo ist denn deine Mama? Ich werde mal im Haus nachfragen, ob dich jemand vermisst.“ Ich möchte die Kleine gar nicht hergeben, aber der Ordnung halber laufe ich die Auffahrt hoch zu der Haustür und treffe einen freundlichen jungen Burschen an. „Nein, meine Dame.“ beantwortet er meine Frage nach dem Zuhause des Findlings. „Zu uns gehört sie nicht. Meine Schwester hat eine Katzenallergie, darum dürfen wir keine Katze haben.“
Auch von den Nachbarhäusern stellt sich keines als das Zuhause der kleinen Mieze heraus. Was liegt näher, als sie zu adoptieren? Ich verschwende noch ein paar Gedanken an Tierheime oder eine Plakataktion, aber dann ist es klar: Ich habe eine Katze, ich bin eine Katzenmama. Auf dem Weg nach Hause überlege ich mir, dass sie Martha heißen soll, wie meine Großmutter.
Zu Hause angekommen, nenne ich sie dann doch Luna, weil das weicher klingt. Beim genaueren Hinsehen, ist Luna eine Glückskatze. Sie ist dreifarbig. Ihr Gesichtchen und der Latz sind hauptsächlich weiß und das ansonsten schwarze Wuschelfell ist von ein paar schattenartigen braunen Flecken durchzogen.
Katzen brauchen Milch. Also stelle ich ihr einen kleinen Teller mit Milch auf den Küchenfußboden und setze sie davor. „Luna, so schleckere doch die Milch, du musst doch total ausgehungert sein! Morgen gehe ich zu dem Tierladen und werde mich genau beraten lassen, was wir brauchen. Aber jetzt nimm doch bitte die Milch.“ Als ich meine Fingerspitze in die Milch tunke, leckt Luna die Milch gierig ab. Später erfahre ich, dass das mit der Milch nicht ganz richtig war, aber erstmal war es eine passable Zwischenlösung für uns. Ein kleiner Karton mit einem alten Handtuch darin soll ihr Bettchen sein. Das ist auch ein Irrtum, denn die Nacht verbringt Luna von nun an in meinem Bett.
Jetzt bin ich also eine von den modernen Frauen, die mit der Liebe zu einem Haustier ihre Flucht aus dem richtigen Leben begründen.
Was haben wir nicht darüber gelästert. Als mein Mann noch bei mir war, stellten wir uns unser gemeinsames Leben eher klassisch vor. Als die Pärchen in unserem Umfeld anfingen, sich Hunde anzuschaffen, fanden wir das unangemessen. Bekommt denn niemand mehr Kinder? Wir wollten so nicht werden. Unser Traum von der Mutter – Vater – Kind – Familie stand wie ein Fels in der Brandung unserer Liebe. Wir wollten nur noch beide die Beförderung zum Abteilungsleiter erreichen, dann wollten wir die Familie komplettieren. Dann kam zuerst meine Beförderung. Ich hatte hart dafür gekämpft und war stolz wie Oskar. Ingos Beförderung stand auch bevor, dann würden wir ein Baby machen. Ich rechnete damit, dass das bald passiert.
Aber es kam ganz anders. Als seine Chefin plötzlich mit einer zweiten Handtasche zur Arbeit erschien, lachten wir noch darüber, als wir mittags in der Kantine zusammensaßen.
„Vielleicht konnte sie sich nicht entscheiden, welche Tasche besser zu ihrem Kostüm passt.“
„Nein, nein, ihre ‚Handetasche muss labendig‘ sein.“
Am nächsten Tag musste Ingo schon mit dem Handtaschenhund Gassi gehen. Noch hatten wir unseren Spaß daran, Witze über diesen rattenartigen Hund zu reißen und über den realitätsfernen Lebensplan seiner Chefin. Bis mein Mann das Hundchen plötzlich ganz lieb und witzig fand und sich sogar ein ganzes Wochenende als Hundesitter einteilen ließ. Als er dann endlich auch seine Beförderung bekam, freute ich mich herzlich mit ihm. Nur an unserem Leben änderte sich nichts. Es kam mit seltsam vor, dass er unseren Babyplänen immer aus dem Weg ging. Dafür waren der Rattenhund und Überstunden für ihn immer wichtiger.
Und ich hatte als einzige nichts gemerkt!
Ich kam mit dem Wochenendeinkauf bepackt eines Freitagabends nach Hause. Wir wollten mit den Nachbarn gemeinsam etwas Leckeres kochen und einen netten Abend verbringen. Es wunderte mich, dass er mir nicht entgegen kam und die schweren Körbe abnahm. Er war weg! Sein Schlüsselbund lag auf dem Küchentisch. Es fehlten seine Kleidung und sein großer Koffer. Ich war wegen der Plötzlichkeit überrascht. Ich war über seine Feigheit entsetzt. Ich war unglücklich.
Mit seiner Chefin ging er eine moderne Hundepartnerschaft ein. Ich hatte jeden Tag im Betrieb dieses plakativ gelebte Glück vor Augen. Eine Welt brach für mich zusammen und ich brach zusammen. Mein Hausarzt zog mich aus dem Verkehr und schickte mich zu Frau Schneider in die Therapie.
Diese komische Therapie! Nach so einer Stunde geht es mir nicht wirklich besser! Aber die kleine schnurrende Luna lässt mich wieder Lächeln.
Wird jetzt alles gut? Moderne Pärchen haben Hunde und moderne Sigle Frauen haben Katzen. Ich werde Frau Schneider nicht mehr besuchen müssen. Meine Luna hat dermaßen mein Herz erwärmt, dass für mich die Sonne wieder scheint und mein Spiegelbild in dem Bäckereischaufenster wieder eine fröhliche junge Frau zeigt. Ich drehe mich davor und wenn meine Nachbarin in dem Laden lacht, gehe ich hinein und lache mit.
Das ist ja einfach!
Ist das einfach?
Guter Dinge nehme ich meine Arbeit wieder auf. Die Kollegen und Mitarbeiter meines Büros freuen sich, dass ich wieder da bin. Nun brauchen sie meine Arbeit nicht mehr mit zu stemmen. Doch hinter meinem Rücken spüre ich ein Tuscheln.
„Ihr Ex ist der Gespiele der Chefin.“
„Die ist durchgedreht, als er sie verlassen hat.“
„Dass die wieder hierherkommt, wo er doch auch hier arbeitet.“
„Was wird wohl passieren, wenn sie sich in der Kantine begegnen?“
„Ob sie wieder mit Tellern schmeißt?“
Was hatte ich? Mit Tellern geschmissen? Das ist mir gar nicht bewusst. Als ich das erste Mal in die Kantine gehe, beschleicht mich eine eigenartige Beklemmtheit. Ich atme tief durch, halte mich gerade und überspiele so mein Gefühl.
Im Büro gibt es viel zu tun. Trotzdem gehe ich pünktlich in den Feierabend, weil meine kleine Luna auf mich wartet. Sie begrüßt mich schnurrend was mir ein paar Tränen der Rührung die Augen treibt. Ich nehme sie auf und drücke sie an mich.
So geht es ein paar Tage weiter. Viel Arbeit, beklemmendes Gefühl in der Kantine und schnurrende Begrüßung zu Hause bilden einen Kreislauf.
Und dann kommt das Unausweichliche. Mein Ex ist mit mir gleichzeitig in der Kantine. Mein Herz klopft bis zum Hals. Wie soll ich reagieren? Ich will ganz gelassen meinen Weg gehen, da merke ich, dass er auf mich zukommt. Es kostet mich große Überwindung, auf seine scheinbar höflichen Fragen unverbindlich zu antworten.
„Hallo, Isabell, wie geht’s, ich habe dich ja ewig nicht gesehen.“
In meinem Kopf hämmert es, dass er ja wohl dazu beigetragen hat, dass ich so lange krank war und sage mit einem gequälten Lächeln: „Stimmt, ist lange her.“
„Wie geht es in deiner Abteilung? Deine Leute haben einen super Job gemacht, solange du nicht hier warst.“
Will er jetzt damit sagen, dass ich nicht gebraucht werde? Wohlmöglich ist seine Neue, die ja auch meine Chefin ist, dann auch dieser Meinung. „Ich habe die ganz gut in die Spur geschickt gehabt! Jetzt war es aber mal wieder nötig, die Zügel in die Hand zu nehmen, damit nichts aus dem Ruder läuft.“
„Man sieht sich, Isabell!“
„Ja, ich muss dann auch.“
Ich gebe mich eilig und verlasse die Kantine. Die Kantinenhilfe läuft mir mit einem Tablet voller Teller über den Weg. Weil ich so schnell wie möglich hier weg muss, komme ich ihr ins Gehege. Sie verliert die Balance und mit einem ohrenbetäubenden Scheppern zerbirst das Geschirr auf dem Fußboden. Schmerzhaft fährt dieser Krach in meine Knochen, löst in mir ein Wirrwarr der Gefühle aus. Ich kann nur noch meine Tasche aus dem Büro holen und tränenüberströmt fluchtartig den Betrieb verlassen.
Zu Hause angekommen, lege ich mich schluchzend ins Bett. Ich weiß gar nicht genau warum ich heule. Das macht mich noch unglücklicher. Auch meine Luna kann mich nicht trösten. Die ganze Nacht kann ich nicht aufhören zu weinen, schlafe kaum, dabei denke ich doch, früh wieder ins Büro zu gehen. Mein Spiegelbild belehrt mich eines Besseren und schickt mich direkt zum Hausarzt.
„Ich bin das erste Mal mit einem Jungen verabredet. Max geht in die neunte und ich bin erst in der siebten Klasse. Wir treffen uns vor der kleinen Bäckerei. Im Spiegel des Schaufensters kann ich sehen, dass wir ein schmuckes Pärchen sind. Er hält mir kavaliersmäßig die Tür auf. Ich fühle mich wie eine Dame. Obwohl ich lieber Kakao trinken möchte, bestelle ich zu dem Törtchen ganz erwachsen einen Kaffee. Mit viel Zucker und Milch kriege ich ihn in kleinsten Schlucken herunter. Dann erzähle ich völlig aufgekratzt lauter dummes Zeug. Es ist mir total peinlich, aber Max behauptet, es niedlich zu finden. Die Verabschiedung vor meiner Haustür fällt ganz kurz aus, weil der Kaffee seine treibende Wirkung zeigt. Am nächsten Tag schaut mich Max auf dem Schulhof nicht mehr an. Er flirtet mit einer kecken Blondine aus der achten.“
„Daran knüpfen wir beim nächsten Mal an, Frau Gerber.“, sagt meine Therapeutin Frau Schneider und kritzelt wiedermal irgendetwas in meine Unterlagen.
Als ich nach der Therapiestunde die Praxis verlassen und zu meiner kleinen Luna nach Hause gehen will, kommt aus dem Wartezimmer plötzlich der Rattenhund auf mich zu gerannt. Ich bücke mich herunter, streichle ihn und flüstere:
„Na du kleine Ratte du, bist du mit Herrchen oder Frauchen hier?“
Bildmaterialien: Cover: Pixabay CCO Public Domain – bearbeitet durch Adry
Tag der Veröffentlichung: 06.03.2016
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