Wettbewerbsvorgabe für die Februar-Runde
des Anthologie-Wettbewerbs 2016:
„Wähle in einem beliebigen Buch auf Seite 77 einen Satz mit mindestens 5 Wörtern aus und schreibe eine Geschichte, in der dieser Satz vorkommt.“
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Bei diesem Beitrag wurden folgendes Buch und folgender Satz gewählt:
John Katzenbach – Der Patient
„Sie sah ein wenig erstaunt zu ihm auf.“
Der letzte Nacht-Intercity setzte sich in Bewegung und verließ den Bahnhof. Philip starrte ihm regungslos hinterher; verzweifelt bemüht, einen klaren Gedanken zu fassen. „Weg, aus, vorbei ...“, waren die einzigen Wortfetzen, die ihm durch den Kopf schossen. Gefolgt von: „Warum?“
Faktisch wie sprichwörtlich war für Philip der Zug abgefahren. Dieser Zug hätte ihn nach Berlin bringen sollen, wo er am kommenden Vormittag seine Eignungsprüfung an der Universität der Künste ablegen wollte. Seine große Chance. Dieses sollte die wichtigste Schicksalsentscheidung in seinem bisherigen Leben sein. Eine große Wende und die Selbsterfüllung in den Bildenden Künsten – oder ein Verharren als Steuerfachangestellter mit der Option auf ein baldiges Studium der Rechtswissenschaften. Nun war die Chance vertan. Und Philip suchte verzweifelt nach einer halbwegs plausiblen Erklärung dafür.
Es war Jette gewesen, die ihn zu dieser Entscheidung motiviert, regelrecht gedrängt hatte. Jette ... seine beste Freundin aus Kindertagen, sein Sonnenschein. Sie selbst war nicht mehr in der Lage, ihre eigenen Träume zu verwirklichen; dazu hatten ihr die schwere Krankheit und ihr viel zu früher Tod vor ein paar Wochen die Möglichkeit genommen. Noch auf dem Sterbebett hatte sie beschwörend auf Philip eingeredet: „Philip, lebe deinen Traum! Gib ihm zumindest die Chance, gelebt zu werden. Du hast so unendlich viel Talent, das darf nicht in der Steuerkanzlei deines Vaters verschwendet werden. Du musst malen, du musst der Welt zeigen, was in dir steckt! Das Leben ist so kurz ... bei mir siehst du, wie verdammt kurz es sein kann. Du musst etwas tun, was dich wirklich erfüllt und glücklich macht. Versprich mir, dass du es ernsthaft angehst und dich zumindest einer Aufnahmeprüfung stellst. Soll doch das Schicksal entscheiden.“ Lächelnd ergänzte sie: „Wobei ich genau weiß, dass du das packen wirst.“
Und Philip war wild entschlossen, seinem Traum eine Chance zu geben. Die Malerei war es, für die sein Herz schlug, die ihn ausfüllte und antrieb. Die ihm das Gefühl gab, wirklich am Leben zu sein. Nicht der langweilige Beruf, den er in alter Familientradition erlernt hatte und nun auf Wunsch seines Vaters durch ein Studium ausbauen sollte.
Aber bereits als er sich zu der Eignungsprüfung an der Universität der Künste anmelden wollte, geschah es zum ersten Mal. Philip hatte in dem Internetcafé gerade noch den letzten freien Platz an einem PC ergattert und seinen Anmeldebogen vollständig ausgefüllt. Als er diesen noch einmal prüfend durchschaute, fiel sein Blick unvermittelt auf einen entfernten PC in der Menschenmenge. Jette! Dort saß ganz eindeutig seine verstorbene Freundin und starrte ihn an! Ihr durchdringender, unendlich trauriger Blick nahm ihn gefangen. In der Hektik schloss er durch einen unachtsamen Klick das komplette Browserfenster, fluchte kurz und schaute wieder auf. Jette war verschwunden. Dort, wo sie gerade noch gesessen hatte, saß eine andere junge Frau – zwar blond wie Jette, aber ansonsten nicht die Spur einer Ähnlichkeit mit seiner verstorbenen Freundin. So konnte er sich zuvor nicht getäuscht haben! Von Jette weit und breit keine Spur. Schnell sprang Philip von seinem Stuhl auf und lief quer durch das Café zu der jungen Frau an besagtem PC, während er seine Blicke noch weiter durch den Raum schweifen ließ. „Wo ist denn die hübsche blonde Frau, die hier gerade noch saß?“, platzte er aufgeregt heraus, als er bei der Frau am PC ankam.
Sie sah ein wenig erstaunt zu ihm auf. „Ach, und ich bin die hässliche blonde Frau, oder was?“
„Ähm, Ent-Entschuldigung, natürlich nicht“, stammelte Philip unbeholfen. „Aber ich war mich sicher, hier hätte eben noch eine gute Freundin von mir gesessen ... und nun ...“ Er machte eine unbestimmte und hilflose Geste mit den Armen.
„Da musst du dich verguckt haben. Ich sitze schon seit über einer halben Stunde hier und habe mich nicht vom Fleck weggerührt.“
Philip murmelte noch ein paar entschuldigende Worte, kehrte irritiert an seinen Platz zurück und wiederholte den Anmeldevorgang zur Aufnahmeprüfung.
Das zweite Mal sah Philip Jette, als er im Reisebüro am Bahnhof stand und sein Ticket nach Berlin kaufen wollte. Nachdem er eine scheinbare Ewigkeit in der Schlange hatte warten müssen, nahm er Jette eben in dem Moment wahr, als er an der Reihe war. Jette stand vor dem Bäcker gegenüber des Reisebüros und schaute zu Philip herüber. Ganz unverkennbar Jette. Wieder war ihr Blick ernst und traurig, und Philip meinte, ein leichtes, aber anhaltendes Kopfschütteln wahrnehmen zu können. Philip stürzte aus der Reihe hervor und bahnte sich den Weg durch die Menschenmenge. Währenddessen verlor er seine Freundin aus dem Blick und konnte sie nicht wieder ausfindig machen. Was um alles in der Welt hatte das zu bedeuten? Und warum hatte sie den Kopf geschüttelt? Resignierend reihte er sich wieder hinten an einer Menschenschlange vor dem Schalter ein.
Und gerade eben hatte Philip sie zum dritten Mal gesehen. Als der einfahrende Zug stehen blieb, saß sie direkt in dem Abteil vor seiner Nase. So nah, dass Philip der Atem stockte. Obwohl unmöglich, war das ganz eindeutig seine Jette! Mit tieftraurigem und flehendem Blick schaute sie ihn an und schüttelte energisch den Kopf, wobei ihr Tränen über das Gesicht liefen. Philip konnte sich von diesem Anblick nicht lösen, sodass er regungslos verharrte und sie einfach nur anstarrte. Bis der Zug sich wieder in Bewegung setzte ...
Was zum Teufel ...? Es schien, als ob Jette ihm von seinem Vorhaben abbringen wollte. Dabei war sie es doch gewesen, die ihn so eindringlich darin bestärkt hatte! Ratlos schlurfte Philip aus der Bahnhofshalle.
Westfälische Nachrichten, ein Tag später
ICE entgleist – Flammeninferno!
Aus noch unbekannter Ursache ist in der Nacht der ICE von Münster nach Berlin entgleist, mit einem Güterzug kollidiert und in Flammen aufgegangen. Die Anzahl der Todesopfer wird momentan auf 47 beziffert, die Bergungsarbeiten laufen.
Bildmaterialien: Cover: Pixabay CCO Public Domain - User: WOODPUNCHER
Tag der Veröffentlichung: 20.02.2016
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