Cover

Vorwort

 

Wettbewerbsvorgabe für die Februar-Runde

des Anthologie-Wettbewerbs 2016:

 

„Wähle in einem beliebigen Buch auf Seite 77 einen Satz mit mindestens 5 Wörtern aus und schreibe eine Geschichte, in der dieser Satz vorkommt.“

 

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Bei diesem Beitrag wurden folgendes Buch und folgender Satz gewählt:

 

Lutz Seiler – Kruso

 

„Rund um die Anpflanzungen waren Schnapsflaschen eingegraben.“

Hangover

Die Welt ist ein Buch. Wer nie reist, sieht nur eine Seite davon.

Aurelius Augustinus

 

*

 

Es war ein düsterer, kalter Nachmittag im März, Nachwehen des bereits dahin gegangenen Winters. Ludwig Sailer saß in seinem Wohnzimmer und starrte verdrossen durch das schmutzige Fenster in seinen Miniaturgarten. Seine Frau hatte damals ein Schmuckstück aus dem nicht viel mehr als handtuchbreiten Grundstückchen gemacht, bevor sie ihn verlassen hatte. Mit ihr war auch Sailers Wille verschwunden, den Garten weiter zu pflegen. Im Gegenteil. Er verwandelte die ehemalige Augenweide durch boshafte Einbauten und gezielte Verwahrlosung zum Abbild seiner Stimmungen. Rund um die Anpflanzungen waren Schnapsflaschen eingegraben. Das Ganze erinnerte an den Garten eines Trinkers und seinen Wunsch nach Versöhnung mit der Welt.

Missmutig wandte er den Blick von der Trostlosigkeit ab, schaltete den gewaltigen Panasonic Flachbildschirm ein, ließ sich auf die Couch fallen und legte die Beine hoch. Auf dem Beistelltisch wartete schon sein Feierabendbier. Ludwig Sailer hatte zwar keinen Feierabend, da er seit dem Verschwinden seiner Frau keinen Tag mehr gearbeitet hatte, aber für ein Bier nach vier gab es auch genügend andere Gründe. Und wenn es mal erst drei Uhr war, dann sagte er sich, dass es irgendwo auf dieser Welt immer schon nach vier war.

Stöhnend erhob er sich noch einmal und hinkte in die Küche. Er hatte den Klaren vergessen, der zum Oettinger Export gehörte, wie Ketchup zu Pommes. Seit er seine Tage vorwiegend vor dem Fernseher auf der Couch verbrachte, machte ihm seine rechte Hüfte zu schaffen.

Wie so oft nach dem vierten oder fünften Bier nahm er sich auch an diesem Abend wieder einmal vor, bald mal etwas Sport zu betreiben. Aber was? Mit Stöcken durch den Wald rennen? Das war doch reiner Weiberkram. Radfahren? Vielleicht noch mit Klickpedalen, Helm und Telekom-Trikot? Niemals! Er hatte diese übergewichtigen, schwitzenden Gestalten deutlich vor Augen, die sich auf sauteuren Carbonbikes den Wolf strampelten. Mamils. Middle Aged Men In Lycra. Nichts für ihn. Oder doch wieder mal in das Fitnessstudio, wo er vor vielen Jahren ein Schnuppertraining absolviert hatte? Aber die Erinnerung an den Geruch der schweißgetränkten Funktionswäsche der an den Geräten herumhampelnden, stöhnenden, keuchenden, schwitzenden Gestalten und den Anblick der aufgepumpten Muskelpakete, die vor Kraft nicht laufen, geschweige sich bücken konnten, ließ ihn schaudern. Und dann noch die verbissenen Gesichter der in die Jahre gekommenen Vorstadtschönheiten in ihren vermeintlich aufreizenden neonfarbigen Strampelanzügen, die auf Fahrrädern, die sich keinen Millimeter vorwärts bewegten und in Rudermaschinen, die kein Tröpfchen Wasser kräuselten dem Alter davonfitnessen wollten – es war absurd.

Also widmete er sich lieber wieder dem Fernseher, auf dem gerade dumme junge Mädels um einen Bachelor buhlten, als wäre Frauenemanzipation eine eklige Krankheit. Nach einer Zigarettenlänge schaltete er angewidert ab.

Ludwig Sailer hasste sich oft dafür, dass er seine Zeit so verplemperte und dabei auch noch seine Gesundheit ruinierte. Der morgendliche Husten war schon beängstigend. Aber warum alt werden? Seit Hilde weg war, hatte das doch gar keinen Sinn mehr. Ja, sie war schuld! Alles wäre anders gekommen, wenn sie nicht einfach verschwunden wäre. Zum Trost wankte er wieder zum Kühlschrank und holte sich ein neues Oettinger.

Und so oder ähnlich ging das Tag für Tag.

 

Eines Abends, als er sich wieder einmal sinnlos von Programm zu Programm zappte, blieb er an einer Sendung hängen, deren Bilder etwas in ihm hervorriefen, das er längst vergessen hatte. Hohe Dünen waren zu sehen und weite Landschaften, fremde Menschen und wilde Tiere, bizarre Felsen und tiefe Schluchten. Namibia.

Ja! Dorthin hatten sie reisen wollen, er und Hilde, damals, als sie noch zusammen waren. Runter nach Windhoek, einen Jeep mieten und kreuz und quer durch die ehemalige Kolonie fahren. In den Süden, über Mariental zum Fish River Canyon, rüber durch alte Geisterstädte nach Lüderitz, hoch zu den Dünen von Sossusvlei in der Namib-Wüste, weiter entlang der Atlantikküste zu den Felsen von Twyfelfontein und Vingerklip, nach Osten in den Etosha Nationalpark und, und …

Ach Hilde, dachte er seufzend und spürte, wie sich seine Augen mit Sentimentalitätstränen füllten. Ach Hilde, was hatten wir noch alles vor: Über Singapur nach Bali zum Tauchen, einmal im Leben auf den Kilimandscharo und den Mont Kinabalu klettern, oder nach Honduras auf den Spuren der Maya, zu den Schlachtfelder am Little Big Horn, oder auf die Färöer-Inseln und dann weiter nach Island …

Schnell kippte er ein paar Korn, wischte sich die Augen und starrte wieder auf den Bildschirm. Jetzt lief ein Terra-X-Film über die Pharaonen, und da wurde Sailer richtig wütend.

"Blödes Moslem-Gschwerl!", plärrte er den Fernseher an. "Jetzt könnten wir nicht mehr nach Ägypten. Oder nach Indonesien. Oder mit dem VW-Bus um die ganze Ostsee herum fahren!"

Ihm war zwar klar, dass es an der Ostsee kaum Muslime gab, aber das war wurscht.

"Mordende Muselmanen, brutale Russen, diebische Inder – alles dasselbe Pack, das die Auswahl an Reisezielen immer weiter einengt! Und die irren Amis, die alles niederknallen, von den drogenabhängigen Lateinamerikanern ganz zu schweigen – Mord und Totschlag überall! Ach Hilde, Hilde", schluchzte er, "hätten wir das doch nur alles gemacht, als die Welt noch in Ordnung war!"

Er schlurfte wieder zum Kühlschrank und nahm gleich zwei Oettinger heraus. Und sicherheitshalber auch noch die Flasche Wodka Gorbatschow, die er immer im Gefrierfach hatte. Der Rückweg zur Couch fiel ihm schwer, zumal ihm der Rauch der Camel in die Augen stieg und er sie fast aushustete. Mit einer Schulter schabte er sich an der Wand entlang und musste dann grinsen, als er einen Sturz gerade noch vermeiden konnte.

"Hoppala!", rief er und verlor seine Kippe endgültig.

Die momentane Stimmungsaufhellung verdampfte rapide, als er wieder auf seinem Sofa flackte. Flacken ist die schwäbische Form von Lümmeln, aber nicht ganz. Lümmeln ist etwas relativ Aktives, flacken dagegen die kontraproduktive Steigerungsform. Vom lateinischen flaccere. Schlaff sein. Früher hatte er sich immer darüber amüsiert, aber heute war es ihm egal. Auf dem Sofa flacken und in die Glotze glotzen, das war ihm lateinisch genug.

Wieder schrie er den Namen seiner Frau, und wieder füllten sich die Augen mit Tränen und der Mund mit Wodka.

"Aber warum warst du nur immer so bockig? Warum hast du immer rumgenörgelt, weil ich nicht auf deine absonderlichen Abenteuer eingehen wollte?"

In seinem alkoholisierten Hirn kristallisierte sich bruchstückhaft heraus, warum sie immer gestritten hatten. Er hatte ja den Überblick gehabt, den Realitätssinn, der ihr völlig fehlte. In die Türkei hatte sie gewollt! Dabei waren dort damals schon die Muselmanen. Oder nach Italien. "Bist du irre?", hatte er seine Frau angeraunzt. "Da gibt’s die Mafia und Taschendiebe und Autoknacker schon am Brenner!" Oder zu den Tschuschen nach Jugoslawien? Ja geht’s noch?

Was hatten sie für schöne Reisen stattdessen gemacht. An den Chiemsee, zum Beispiel. Oder in den Bayerischen Wald. Oder gar in die Eifel. Das war Abenteuer pur gewesen!

Ludwig Sailer hustete heftig, gurgelte dann zur Desinfektion mit Gorbatschow und versuchte sich genauer zu erinnern. Ja, damals waren sie noch jung gewesen, hatten sich einmal sogar nach Mallorca getraut. All inclusive! Das war ganz nett gewesen. Sie mussten in dieser Woche nicht ein einziges Mal aus dem Hotel raus.

Aber dann ist Hilde mit immer absurderen Ideen gekommen. Mexiko, Kuba, Namibia und anderes abstruses Zeugs. Ludwig hatte zwar immer gute Mine zum blöden Spiel gemacht, hatte alles mitgeplant und es sich mit Hilde ganz toll ausgemalt, aber es war ja klar für ihn, dass das alles ein Traum bleiben würde. Ein Albtraum.

Während diese Erinnerungen sein vom Alkohol und Zigarettenrauch benebeltes Hirn durchfluteten, starrte er weiter auf den riesigen Fernseher. Er hatte ihn damals extra für sie gekauft und gesagt:

"Schau her, Hildeschatz, was die Reise kosten würde, die du machen willst, dafür habe ich dieses tolle Gerät angeschafft. Da laufen die besten Reisefilme, von den besten Leuten gemacht, das ist viel beeindruckender, als man es selbst erleben würde. Und sicherer! Das ist doch was, und es geht doch nichts über unsere schöne Heimat, oder?"

Aber nein, aber nein. Sie hat immer weiter gequengelt. Hat gesagt, dass sie noch etwas von der realen Welt sehen wolle, dass sie etwas Echtes erleben wolle, hat dann sogar noch den alten Aurelius Augustinus zitiert, der irgendwas vom Reisen und einem Buch gefaselt haben soll. So ein Quatsch. Wozu braucht man Bücher, wenn man einen Fernseher hat? Warum soll man ins Ausland reisen, wenn man so eine wunderbare Heimat hat? Daheim ist es doch am Schönsten – das wäre das richtige Zitat gewesen! Aber Hilde ist immer wütender geworden, und dann hat sie gedroht, dass sie ihn verlassen würde, und dann…

 

Ludwig Sailers Gedanken schweiften kurz bedauernd zu seiner Garteninstallation mit den Schnapsflaschen, unter denen Hilde seitdem in bester Heimaterde ruhte, dann schüttete er sich den Rest der Wodkaflasche in den Hals und schlief ein.

 

Stechende Brustschmerzen weckten ihn, ekelerregende Kotze blockierte seine Lunge und bizarre Lichter flackerten vor den Augen. Verschwommen sah er noch den Eingang des Reisebüros vor sich, zu dem ihn Hilde einmal vergeblich gezerrt hatte, dann versagte sein Herz.

Seine letzte Reise ging weiter als nach Hiddensee, wohin er mit seiner Frau noch vor dem Streit hatte fahren wollen. Viel weiter. Es wurde eine Reise in die Ewigkeit.

 

 

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Impressum

Bildmaterialien: Cover: Pixabay CCO Public Domain - User: WOODPUNCHER
Tag der Veröffentlichung: 16.02.2016

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