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Vorwort

Wettbewerbsvorgabe für die Februar-Runde

des Anthologie-Wettbewerbs 2016:

 

„Wähle in einem beliebigen Buch auf Seite 77 einen Satz mit mindestens 5 Wörtern aus und schreibe eine Geschichte, in der dieser Satz vorkommt.“

 

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Bei diesem Beitrag wurden folgendes Buch und folgender Satz gewählt:

 

Johann Wolfgang von Goethe – Faust

 

„Au au au au! Verdammtes Tier! Verdammte Sau!“

 

Der ewige Deutsche

Man kann nicht gerade sagen, dass ich keine Übung darin hätte, Menschen vom Diesseits ins Jenseits zu befördern. Im Gegenteil: Im Mittelalter fing ich an, mein Gewissen zum Schweigen zu bringen - damals, als die Katholiken einen großen Bedarf an Henkern hatten. Es gab so viele Ketzer! Immer wieder neue Arten von ihnen tauchten aus dem Nichts auf, so dass die hohen Geistlichen ihre wahre Mühe hatten, sie alle loszuwerden. Wer nun ein Ketzer war und wer nicht und warum, darum kümmerte ich mich nicht. Es war die Sache der geistlichen Gerichte, das auszumachen, und der weltlichen Gerichte, die Todesurteile zu bestätigen. Ich als Scharfrichter aber ließ mein Schwert auf alle niedersausen, auf Jung und Alt, auf Männlein und Weiblein, auf Adel und Bürger, es war mir gleich. Das Wichtigste war, der Kopf fiel ab. Ich war der Vollstrecker der Gerechtigkeit, gewissermaßen das letzte Glied derselben, die ausführende Hand, ohne welche die Gerechtigkeit zur Ohnmacht verurteilt gewesen wäre.

 

Irgendwann hörte ich auf zu zählen. Man gewöhnt sich an alles, an die angsterfüllten Gesichter der Verurteilten, an ihr Weinen, ihren Widerstand, ihre Schreie, auch an die Blutlachen auf den Brettern des Schafotts. Abends trank ich mein Bier und noch ein oder zwei Kornschnäpse dazu und fühlte nichts mehr. Wenn ich etwas fühlen wollte, kaufte ich ein Hure. Das reichte.

 

Irgendwann war auch ich an der Reihe. Nicht dass ich als Ketzer gestorben wäre, nein, Religion war keine Streitsache für mich. Nein, ich starb, weil ich zu viel gesoffen hatte. Mein Hieb war ungenau geworden, so ungenau, dass ich einem Verurteilten das Beil in den Rücken trieb, statt durch den Hals. Seine Schreie waren so tierisch laut und schmerzerfüllt, dass es selbst dem Publikum zu viel wurde. Von dem Tag an war es Schluss mit mir als Henker. Ich wurde entlassen.

 

Ich ging auf die Vierzig zu. Das war für einen Mann des Mittelalters schon ein gehöriges Alter. Aber von den restlichen Tagen meines Lebens bekam ich nicht mehr viel mit. Im Dunst von Bier und Kornschnaps vergingen diese Tage, ohne dass ich sie noch zählen konnte oder wollte, so wenig wie die abgeschlagenen Köpfe.

 

Ich fiel eine steile Treppe hinunter und dachte noch:

 

Au, au, au, au! Verdammtes Tier! Verfluchte Sau!”

 

und brach mir das Genick. Na ja, alles hat ein Ende. Es war nicht schade um mich.

 

Ein paar hundert Jahre später war ich wieder da. Es war eine herrliche Zeit, dieser Dreißigjährige Krieg! Zwischen 1618 und 1648 wogte er in Deutschland hin und her, von Norden nach Süden, von Süden nach Norden, ohne dass eine Entscheidung zustande kam. Katholiken gegen Protestanten, Böhmen gegen Österreicher, Schweden gegen Brandenburger, Spanier gegen Holländer, alle mischten irgendwie mit. Im Lande herrschte die totale Anarchie, es galten keine Gesetze mehr, und wenn sie irgendwo galten, gab es keine politische Gewalt, welche sie durchsetzte. Herrlich! Am besten war man Soldat, dann war man die Gewalt selbst. Egal auf welcher Seite! Alle machten sowieso das Gleiche! Man mordete, quälte, soff und hurte, was das Zeug hielt.

 

Ich selbst war Musketier bei den Sachsen: Mal kämpften wir für den Kaiser, mal gegen ihn, im Grunde war mir das gleich. Hauptsache, ich bekam meinen Sold, und unser Hauptmann erlaubte uns, irgendeines der Dörfer zu plündern, die in der Nähe lagen. Da wurden dann brennende Scheite in die Häuser und Scheunen geworfen, so dass die Frauen und Kinder schreiend herausliefen. Die Männer versuchten mit ihren Heugabeln und Sicheln Widerstand zu leisten, sie hatten aber gegen uns Musketiere und unsere Reiter keine Chance. Noch während sie ihre letzten Atemzüge taten, drangen wir in ihre Häuser ein und bemächtigten uns all der Dinge, die irgendeinen Wert zu haben schienen. Dann griff man sich eine Frau und tat ihr an, was sie verdiente. Die meisten Frauen schrien, wobei man nicht wusste, war es wegen des Unrechts oder war es aus Wollust? Es war mir auch egal. Hinterher ließ ich sie laufen. Im nächsten Dorf gab es neue.

 

Bis auf jenen Tag, als ich an die Falsche geriet. Ich lag gerade auf ihr, genoss meine Lust und ihre Not, als sie von irgendwoher ein Messer zog und es mir in den Rücken rammte. Ich dachte noch:

 

Au, au, au, au! Verdammtes Tier! Verfluchte Sau!”

 

fühlte, wie ich von der Frau herunterrollte und mich in Schmerzen wand. Dann kam mir Blut aus dem Mund. Schließlich bekam ich keine Luft mehr und, im Schein der brennenden Bauernhäuser, verschied ich qualvoll.

 

Es dauerte nicht lange, dann war ich wieder da.

 

Diesmal ging es gegen die Franzosen. Ich hielt eines der neueren Modelle in der Hand, ein Werdergewehr. Das tat gute Dienste. Ich hatte die Welschen noch nie leiden können, diese dunkelhäutigen Weichlinge und Betrüger, die mit ihren süßlichen Komplimenten versuchten, unsere ehrbaren, deutschen Frauen zu verführen - diese Römischen, die unter Napoleon schon versucht hatten, ganz Europa unter ihre Herrschaft zu zwingen. Aber sie bekamen dann ja zu spüren, was ein echter Germane wert ist. Wir überrannten sie, waren dabei, bis nach Paris vorzudringen. Wäre ich nicht von einer Mitrailleuse getroffen worden, hätte ich den endgültigen Sieg noch mitbekommen. Gerade hatte ich einen von diesen Welschen erlegt, da hörte ich das Geknatter der Mitrailleuse und fühlte, wie mehrere Kugeln mich durchbohrten.

 

Au, au, au, au! Verdammtes Tier! Verfluchte Sau!”

 

Na, wartet, ich würde es euch schon heimzahlen.

 

Das tat ich dann auch, als ich im ersten Weltkrieg wieder da war. Aber diesmal war ich die Schießerei schon ziemlich leid und fand die Anwendung von Giftgas viel verlockender. Es war herrlich, als wir diese kilometerbreite Gaswolke abließen und gleich mehrere Hunderte von den Feinden ihr Leben lassen mussten. Darunter war sicher auch jener Welsche, der mich ein paar Jahrzehnte zuvor mit seiner Mitrailleuse zerfetzt hatte. Ich stellte mir vor, wie er anfing zu husten und zu niesen und schließlich keine Luft mehr bekam. Diesmal war ich ihm überlegen.

 

Mehrmals hatten wir großen Erfolg mit unseren Gasangriffen. Doch einmal ging es schief. Der Wind drehte sich, gerade als wir auf den Feind zuritten, und blies mir und meinen Kameraden das eigene Chlorgas ins Gesicht.

 

Au, au, au, au! Verdammtes Tier! Verfluchte Sau!”

 

konnte ich noch denken, während ich fühlte, wie das Gas meine Lungen füllte und mir den Garaus machte.

 

Ach ja, das Gas! Von Krieg zu Krieg wurde es besser. Zyklon B war doch eine wirksame Sache. Diesmal war ich besser geschützt. Nicht nur durch die schwarze SS-Uniform, die ich anhatte, sondern durch die Wände, die mich von den zu Vergasenden trennten. Ich kippte einfach den Inhalt der Büchsen in die dafür vorgesehene Öffnung. Da unten standen sie, die glaubten, sie würden duschen. Ob sie ihren Tod verdient hatten, das war nicht meine Sache, das hatte doch der Führer zu beurteilen. Ich führte nur die Befehle aus, so wie damals, im Mittelalter, als mein Beil die Köpfe der Ketzer abschlug. Papst, Führer, wer auch immer da oben sitzt, ist mir gleich. Ich tue, was man von mir verlangt. Mögen andere sich die Köpfe zerbrechen, ob es richtig ist.

 

Ich konnte nicht verstehen, als ich nach dem Krieg verhaftet wurde, was man mir eigentlich vorzuwerfen hatte. Alle Soldaten in der ganzen Welt führen doch nur Befehle aus, oder? Warum sollte das plötzlich falsch gewesen sein, was ich getan hatte? Ich hatte doch nur mein Vaterland verteidigt, so wie alle meine Kameraden auch.

 

Au, au, au, au! Verdammtes Tier! Verfluchte Sau!”

 

dachte ich, als ich in den Hof geführt wurde, wo das Erschießungskommando schon bereit stand. “Achtung!” schrie der Befehlshabende. Dann “Feuer!”.

Und dann knallte es, und ich sackte zusammen.

 

Es ändert sich nichts in der Geschichte, falls das jemand glauben sollte. Die Menschen sind schlecht und dabei bleibt es. Es gibt nur ein paar Menschen, die meinen, sie müssten gut sein. Das sind die Gutmenschen, aber die sind ganz unrealistisch. Wir, die Realisten, wir kennen die Wirklichkeit und sehen zu, dass das Rad sich weiterdreht. Welches Rad? Na, das: Töten und Getötet-Werden. Fressen, Saufen, Huren. Arbeiten. Das Vaterland verteidigen.

 

Ich hab jetzt wieder eine Knarre bekommen. Eine ganz moderne. Eine effektive. Stehe an der deutschen Grenze, die dichtgemacht worden ist, auf Befehl der Regierung, die jetzt von der „Alternative für Deutschland“ gebildet wird. Ich soll auf Flüchtlinge schießen, wenn sie sich nähern. Tue ich natürlich. Warum auch nicht? Die Regierung hat’s doch befohlen. Soll ich da noch groß drüber nachdenken? Anfangen zu lamentieren wie die Gutmenschen? Ich seh doch, wer daherkommt. Eine Flut von braunen Kanaken! Was wollen die hier? Mir alles wegfressen, was mir zusteht? Haben doch nichts dafür getan! Im Gegensatz zu mir, der ich immer hart gearbeitet habe: mit dem Beil, mit dem Degen, mit dem Werdergewehr, mit den Gasbüchsen, und jetzt wieder mit dem Finger am Abzug. Pang, pang, pang! Alles Arbeit!

Geht dahin, wo ihr hergekommen seid! Habt euch die Scheiße doch selber eingebrockt. Ich löffel doch nicht eure Suppe aus! Was denkt ihr denn? Denkt ihr etwa? Ich denke nicht. Denken ist Zeitverschwendung. Wenn, dann sollen die anderen denken, die da oben. Die werden schon wissen, was richtig ist. Die Flüchtlinge müssen weg, mehr weiß ich nicht. Und mehr will ich nicht wissen.

 

 

Impressum

Bildmaterialien: Cover: Pixabay CCO Public Domain - User: WOODPUNCHER
Tag der Veröffentlichung: 07.02.2016

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