Es war einer dieser bitterkalten Wintertage, die ich so liebte. Die Straßen waren fast menschenleer und ich genoss die Ruhe in den sonst so lauten und hektischen Einkaufstraßen der Innenstadt.
Mir machte der eisige Wind nichts aus, denn ich war warm angezogen und fror nicht. Ich schlenderte durch die Passagen und sah mir die Auslagen in den Geschäften an. Kaufen wollte ich nichts. Ich liebte es, die schönen Sachen einfach nur anzuschauen. Mein Einkommen hätte es mir auch nicht ermöglicht, bei jedem Bummel etwas zu kaufen. Ab und an gönnte ich mir jedoch Kleinigkeiten, die mein Heim verschönerten.
Große Schneeflocken umtanzten mein Gesicht und ich sehnte mich nun doch in mein gemütliches Heim zurück. Die Lust auf eine dampfende Tasse Tee ließ mich ein wenig schneller gehen.
Jäh blieb ich vor einem Geschäft stehen. Dieses kleine Fotoatelier lag etwas versteckt und man konnte dort wunderschöne Bilderrahmen kaufen. Was mich so anzog stand in der Auslage auf einem blauen Samtstoff drapiert.
Es war ein Hochzeitsbild in einem silberfarbenen Rahmen und zeigte ein glücklich in die Kamera lächelndes Paar. Die Braut trug ein modernes, schulterfreies weißes Hochzeitskleid und der Bräutigam einen klassischen schwarzen Anzug.
Ich konnte meinen Blick nicht abwenden. Es schien, als lächelten sie mich an. Mich, die verfroren mit der Nase an der Fensterscheibe klebte. Die junge Frau war sehr hübsch mit kinnlangen blonden Haaren. Ihr Mann passte perfekt zu ihr. Sympathisch und etwas spitzbübisch dreinschauend. Es war eines dieser Paare, denen man auf der Straße nachschaut und weiß, dass sie ein Leben lang zusammen bleiben werden. Innerlich seufzte ich. Mir war dieses Glück vergönnt geblieben. Mit meinen fünfundvierzig Jahren hatte ich einige Partner gehabt, aber es reichte nie fürs Leben aus.
Ich merkte die Kälte an mir hochklettern und beeilte mich zur Bushaltestelle zu kommen. Im Bus sitzend dachte ich unentwegt an das junge bezaubernde Paar auf dem Hochzeitsfoto. Ich schätzte sie beide um die dreißig Jahre und fragte mich, was sie jetzt in diesem Augenblick wohl machten.
„Du bist doch verrückt“, dachte ich und widmete mich während der Fahrt nach Hause meiner Buchlektüre. Zuhause angekommen drehte ich die Heizung auf höchste Stufe und kochte mir einen Tee. Gemütlich in meinen Sessel kuschelnd schaute ich Fernsehen. Irgendwie konnte ich mich nicht auf den Film konzentrieren. Meine Gedanken schweiften ab. Ich musste ständig an die Fotografie denken und an die junge Frau. Sicherlich würde sie jetzt in den Armen ihres Mannes liegen und einen wunderschönen Abend verbringen. Ich ertappte mich dabei, etwas neidisch auf die Beiden zu werden. Es musste einfach an meiner Einsamkeit und an meinen geplatzten Lebensträumen liegen, dass ich so dachte. Wie gerne hätte ich einen Mann an meiner Seite, den ich lieben könnte.
In meiner Vergangenheit gab es einen Mann, den ich wahnsinnig liebte und den ich nie vergessen hatte. Bei dem Gedanken an ihn lief mir trotz der Wärme im Zimmer ein eisiger Schauer über den Körper. Ich zitterte und merkte, dass meine Augen sich mit Tränen füllten.
„Doofe, sentimentale Kuh“. Ich wischte mir die Tränen ab und ging entgegen meiner sonstigen Gewohnheit früh zu Bett. In dieser Nacht schlief ich unruhig und war von unheilvollen Träumen geplagt.
Ich irrte durch ganz enge Gassen und hatte ein Ziel vor Augen. Egal, wohin ich lief, war es der falsche Weg. Die Häuserschluchten wuchsen bedrohlich in die Höhe und wurden eng und enger. Ich lief verzweifelt um mein Leben in ein nirgendwo. Schweißgebadet wachte ich auf. Ich hasste diese „Suchträume“. Der Wecker zeigte mir an, dass es sehr früh am Morgen war und dennoch erhob ich mich aus dem Bett. Ich konnte nicht mehr schlafen und zog mich für die Arbeit an. Lustlos dachte ich an die liegen gebliebene Arbeit im Büro. Sekretärin war nicht mein Wunschberuf gewesen. Aber ich konnte damals froh sein, überhaupt noch eine Ausbildung machen zu können. Als fünfzehnjähriger Teenager hatte ich die Schule ohne Abschluss verlassen. Drei Jahre später ermöglichte mir meine jetzige Firma eine Ausbildung zur Bürokauffrau. Ich fühlte mich in der Firma wohl und hatte kameradschaftliche Kollegen.
Ich hätte gerne Musikpädagogik studiert und mein Traum wäre es gewesen, Kindern an einer Grundschule mein Wissen zu vermitteln. Es blieb ein unerfüllter Wunsch. Ich liebte Musik und sie tröstete mich über manch traurige Lebenshürden hinweg. Der Feierabend nahte und ich stieg in meinen Bus.
Plötzlich stand ich wieder vor dem Schaufenster des Fotostudios. Die Fotografie stand noch immer wunderschön anzusehen im Schaufenster. Das Geschäft hatte geöffnet und mit klopfendem Herzen betrat ich den Laden. Ein netter junger Mann kam auf mich zu und fragte nach meinem Wunsch. Ich erkundigte mich nach einem silberfarbenen Rahmen und beiläufig erwähnte ich, dass ein ähnlicher Wunschrahmen im Schaufenster stand. Wir gingen zum Fenster und ich zeigte auf die Fotografie mit dem Brautpaar. Der Verkäufer bedauerte, dass er diesen Rahmen nicht mehr vorrätig hatte, und empfahl mir einen ähnlichen Rahmen. Ich nahm ihn und bezahlte an der Kasse.
„Darf ich Sie etwas fragen?“, hörte ich mich sagen und zuckte innerlich wegen meines Mutes zusammen. Ich erzählte ihm, dass ich glaubte, die Frau auf dem Foto zu kennen, mir aber der Name nicht mehr einfiel. Mit einer Notlüge offenbarte ich ihm, dass die junge Frau eine frühere Jugendfreundin gewesen ist, die vor langer Zeit aus meinem Leben aufgrund eines Wegzugs verschwunden sei. Ich hoffte, dass der Verkäufer nicht bemerkte, dass eine leichte Röte mein Gesicht überzog.
Der junge Mann schüttelte mit dem Kopf. „Ich darf Ihnen aus Datenschutzgründen nicht helfen, so gerne ich es wollte“, sagte er und ich sah ihm sein Bedauern an.
Wieder drohte ein Abend voller Einsamkeit. Ruhelos lief ich von der Küche ins Wohnzimmer und zurück. Hin und her liefen mir Gedanken durch den Kopf, die ich längst verdrängt hatte. Jetzt waren sie da. Unerbittlich, schmerzvoll.
„Ich muss es ihnen sagen“.
In Gedanken sah ich das schmächtige blasse Mädchen vor mir, wie sie drucksend und den Tränen nahe vor ihren Eltern stand.
„Ich bin schwanger“.
Die Stille im Raum war kaum zu ertragen. Die Zeit stand still. Ich wünschte mich weit weg von diesem Ort.
„Du bist erst vierzehn!“, mein Vater brüllte mich an und meine Mutter lief aus dem Zimmer. Ich war weit über den vierten Monat hinaus und eine Abtreibung kam nicht mehr infrage. Den Vater meines Kindes durfte ich nicht mehr sehen. Briefe an ihn blieben unbeantwortet. Ich hatte ihn doch so sehr geliebt.
Jahre später erfuhr ich, dass er mit seinen Eltern nach Schweden ausgewandert war. Der Druck auf ihn, mich niemals mehr zu kontaktieren war seitens seiner Eltern enorm groß. Ich hatte mit dem Gedanken abgeschlossen, von ihm niemals geliebt worden zu sein. Dennoch dachte ich in all den vergangenen Jahren oft an ihn und ob es ihm gut gehen würde.
Die Monate bis zur Geburt verliefen ohne Freude. Meine Eltern verachteten mich, ich spürte es. Ein paar wenige Freunde waren für mich da und halfen mir über schwere Stunden hinweg.
Der schlimmste Tag in meinem Leben stand mir noch bevor.
Zwei Tage nach meinem fünfzehnten Geburtstag brachte ich ohne Komplikationen meine Tochter zur Welt. Meine Eltern besuchten mich nicht im Krankenhaus. Sie interessierten sich nicht für ihre Enkeltochter und ob es mir gut gehen würde, war ihnen egal. Das Klinikpersonal ging freundlich, aber emotionslos mit mir um.
Wenn ich meine Tochter im Arm hielt, duftete das Zimmer nach frischen Veilchen. Winzig kleine Händchen griffen nach mir und ich drückte sie an mein Herz. Sie sah so unschuldig und süß aus und ich wusste, dass der nahende Abschied unaufhörlich auf uns zukam.
Ich weiß es bis heute nicht, weshalb ich mich in jenen Tagen zu diesem Schritt entschlossen hatte. Die Jugendamtsmitarbeiterin, meine Eltern, ja sogar meine Freunde rieten mir zur Adoption. Völlig benommen und nicht Herr meiner Sinne willigte ich damals ein und als ich die Einwilligungsurkunde unterschrieb, hatte ich das Gefühl sterben zu müssen.
Den letzten Blick auf meine Tochter vergrub ich für immer in meinem Herzen. Ihr sollte es doch einfach nur gut gehen, ich war zu jung für sie und unsere gemeinsame Zukunft.
Die Zeit danach waren die schlimmsten Zeiten in meinem damals noch so jungen Leben. Als ich dann mit achtzehn Jahren meine Lehre begann, zog ich aus meinem verhassten Elternhaus aus und lernte das Lachen wieder. Schritt für Schritt begann ich zu verzweifeln, zu kämpfen, zu verzeihen, zu lieben und zu leben.
In den nächsten zwei Wochen spürte man den nahenden Frühling. Wenn ich mich morgens für die Arbeit anzog, zwitscherten Vögel vor meinem Schlafzimmerfenster. Im Büro scherzte ich mit meinen Kollegen und fühlte mich nach langer Zeit pudelwohl und glücklich. Woran das lag, vermochte ich nicht zu erkennen. Aber ich kannte diese Höhen und Tiefen der Gefühle von mir.
Nach Dienstschluss fuhr ich die Stadt. Auf dem Markt kaufte ich mir den ersten Tulpenstrauß in diesem Jahr. Ich wusste genau wohin ich wollte. Ob es noch dort stand? Ich hoffte es sehr.
Das Bild stand noch im Fenster. Dieses wunderschöne Foto mit dem sich liebenden Paar.
Eine junge blonde Frau ging an mir vorbei und streifte leicht meinen Mantel. Ich drehte mich zu ihr um und sah, dass sie das Fotogeschäft betrat. Als sich unsere Blicke trafen, wusste ich, wer sie war.
Ich folgte ihr in das Geschäft und sprach sie an.
An diesem Nachmittag war ich fürchterlich aufgeregt. Bevor es an meiner Wohnungstür klingelte, überprüfte ich noch mal mein Wohnzimmer. Es war gemütlich und heimelig. Die Kerzen brannten auf dem gedeckten Kaffeetisch und mein Blick schweifte auf das Kommodenschränkchen. Dort stand das Foto im silbernen Rahmen und das Hochzeitspaar lächelte zu mir herüber.
Es klingelte und ich öffnete die Tür.
Vor mir stand meine wunderschöne Tochter und nahm mich strahlend in ihre Arme.
Unser gemeinsames Leben konnte beginnen.
Bildmaterialien: Cover: Pixabay CCO Public Domain - User: Alexander Stein
Tag der Veröffentlichung: 16.01.2016
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