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Samhain

 

Der Tag war grau und verhangen, und am späten Nachmittag setzte auch noch leichter Nieselregen ein.

Leopold Steiner schlug den Kragen hoch und sah sich um. Er war ziellos umhergewandert und stand nun vor einem grauen Gebäude in einer grauen Strasse einer grauen Vorstadt. Über dem Eingang hing ein Schild mit der Aufschrift 'Cafe-Bar Brazil'. Aus den Fenstern drang schwacher Lichtschimmer. Steiner sah zu den grauen Wolken hoch, schüttelte sich und öffnete die Tür. Er war überrascht. Er hatte eine Vorstadtspelunke erwartet, in der schon am Nachmittag diverse, in die Jahre und Kilos gekommene Teilzeitfriseusen lautstark mit schnauzbärtigen, tätowierten Gelegenheitsautohändlern und Aushilfstankwarten schäkerten.

Aber die Bar war geradezu elegant, der Mahagonitresen lief über die gesamte Längsseite des Raumes, Gläser, Flaschen und Mixbecher funkelten sauber in dezentem Halogenlicht, und an der gegenüberliegenden, holzvertäfelten Wand standen einige Bistrotische. Eine nette, kleine Bar. Und sie hatte für Steiner noch einen Pluspunkt: keine Gäste. Nur ein Barkeeper, der freundlich grüßte und Leopold Steiner anlächelte. Dieser erwiderte den Gruß, blickte sich unschlüssig um und wählte dann einen Barhocker ziemlich abseits der Tresenmitte.

"Einen Tullamore Dew, bitte!"

"Sehr gerne", antwortete der Barkeeper und nahm eine Fasche mit grünem Etikett aus dem Regal hinter ihm.

"Ohne Eis, bitte."

"Natürlich, sehr gerne!"

Der Tumpler mit dem passenden Brennereilogo war gut gefüllt, und der harmonische Duft stieg wohltuend in Steiners Nase, während er den Whiskey leicht im Glas kreisen ließ. Das Licht zauberte kleine, goldgelb leuchtende Punkte in das Uisge Baugh, das 'Wasser des Lebens'.

Steiner entspannte sich. Ja, hier war es gut. Keine lärmenden Menschen, gemütliches Ambiente, und von den kreischenden Vampir- und Werwolfhorden, die trotz des Regens die Gegend unsicher machten und lautstark 'Süßes oder Saures' forderten, drang kein Laut herein.

Halloween – Steiner hasste diesen amerikanischen Blödsinnsimport. Er wollte seine Ruhe. Aus den Augenwinkeln heraus beobachtete er den Barkeeper, der am anderen Ende der Theke Gläser polierte. Ein absoluter Profi. Er hatte sofort erkannt, dass sein Gast kein Gespräch wollte. Die leise Barmusik packte Steiner wie in Watte, während er seinen Whiskey trank. Und er brauchte nur kurz aufzublicken - schon stand ein neuer in einem frischen Glas vor ihm. Perfekt. Die Unruhe, die ihn seit Tagen und Wochen plagte, ließ etwas nach.

 

Plötzlich hörte er ein leises Geräusch. Im Spiegel des Flaschenregals sah er eine Frau die Bar betreten.

Hey, dachte Steiner, nicht schlecht! Vielleicht geht mit der was!

Aber er verwarf diesen absurden Gedanken sofort wieder. Er wollte seine Ruhe. Außerdem sprach er nie von sich aus eine Frau an. Er konnte das nicht. Alle Frauen, die er bisher gekannt hatte, waren auf ihn zugekommen. Er hatte immer bewundert, wie Bekannte mit den dämlichsten Sprüchen gepunktet hatten, während er immer fürchtete, sich zum Idioten zu machen. Das wäre das Schlimmste gewesen: sich zum Idioten zu machen. Und, so wie die Frau aussah, hatte sie sich hier mit ihrem gutaussehenden, erfolgreichen Freund verabredet, mit dem sie später auf eine lustige Halloween-Party gehen und sich prächtig amüsieren würde. Auch ohne Deppenkostüm.

Er senkte den Blick wieder in sein Glas. Doch plötzlich glaubte er zu spüren, dass die Frau ihn musterte. Er schaute wieder in den Spiegel und tatsächlich, sie starrte ihn an. Als sie seinen Blick bemerkte, gab sie sich einen Ruck und ging auf ihn zu.

"Entschuldigen Sie bitte, dass ich ..., darf ich?" Sie deutete auf den Hocker neben ihm. Steiner nickte. Er war verwirrt. Ihre Augen. Sie hatte unglaublich tiefgründige Augen. Aber warum ließ sie ihn nicht in Ruhe seinen Whiskey trinken? "Tut mir leid, dass ich Sie einfach so anspreche, aber... Sie sind doch Leo, Leopold Steiner, nicht wahr?"

Steiners Vorbehalte schmolzen. Sie hatte ihn erkannt! Er nickte wieder, unfähig, etwas Vernünftiges zu antworten. Sie streckte ihre Hand hin. "Ich bin Helena. Helena Petrovna. Hach, es ist so toll, Sie zu treffen! Wissen Sie, ich bewundere Sie."

"Ach ja?", sagte Steiner und gab sich innerlich eine Ohrfeige. Brachte er nichts Besseres heraus? Aber ihre Augen verwirrten ihn sehr.

"Ja, ich verfolge alle Ihre Abenteuer, ihre Aktionen, Ihre Stunts, seit ich denken kann! Sie sind ja einer der erfolgreichsten Facebook-Stars, soviel ich weiß!"

Steiner grinste dümmlich.

"Ja, Sie sind der Größte. Unglaublich! Ich weiß noch, wie Sie sich in einem Fass die Niagara-Fälle hinab gestürzt haben, wie Sie den Ärmelkanal durchschwommen haben, in völliger Dunkelheit, weil Sie keine Erlaubnis bekommen hatten, und dann die Sache mit dem Karate-Motorrad. Das sind Sie mit 300 Sachen auf der Autobahn an allen vorbeigebraust, auf dem schmalen Streifen zwischen Überholspur und Leitplanke. Und das haben Sie auch mit einer Helmkamera gefilmt! War das mutig! Wahnsinn!"

"Na ja", antwortete Steiner geschmeichelt. "Das Motorrad war allerdings eine alte, getunte Suzuki Katana, keine Karate, hehehe, aber der Film, den ich ins Internet gestellt habe, hat mir auch eine gehörige Strafe eingebracht. Einer hat meine Maschine erkannt und mich angezeigt."

"Ja, blöd, ich hab's mitbekommen. Aber Sie haben ja Erfahrung mit den Bullen. Ich denke da nur an die One-O-One-Sache in Taiwan!"

"Stimmt. Da hatte ich gerade meine Base-Jumping Phase. Ich war ja kurz bei der Fallschirmjägertruppe beim Bund, aber das ist nur was für Weicheier. Da hat einfach der Kick gefehlt. Deshalb bin ich dann auf eigene Faust gesprungen – von irgendwelchen hohen Sachen, weil mir das Geld für Flugzeugabsprünge gefehlt hat. Deshalb BASE – building, antenna, span und earth. Also hohe Gebäude, Antennenmasten und so."

"Und die Christusstatue in Rio und der Taipei 101!"

"Ja, vor allem der 101 war eine geile Sache. Ich bin kurz nach dem Felix Baumgartner gesprungen; die Chinesen waren stinksauer und haben mich erst einmal eine Zeitlang eingebuchtet. Aber es war's wert."

"Puh! Aber darf ich Sie mal etwas fragen? Das ist doch alles extrem lebensgefährlich, nicht wahr? Base-Jumping, das Hinabhüpfen von Berghängen mit Skis oder Mountainbikes, wo sonst keiner auch nur mit dem Seil absteigen würde, Freiklettern ohne Sicherung, das Balancieren auf Trageseilen von Bergbahnen oder was Sie noch alles getrieben haben. Warum machen Sie das?"

Steiner blickte sie irritiert an.

"Nun ja, es macht Spaß, es erfüllt mich mit Genugtuung, es bringt mir den Kick, den ich haben will!"

"Verstehe. Aber ..." Sie nuckelte an dem blutroten Drink, den ihr der Barkeeper unauffällig hingestellt hatte. "Aber warum? Ich meine, warum wollen Sie diesen ... 'Kick' unbedingt haben? Auch wenn Sie dabei draufgehen können? Ist das eine Sucht?"

"Äh, ja, kann man vielleicht so sagen. Das versteht man nur, wenn man es selbst erlebt hat, wenn man das Glücksgefühl einmal ausgekostet hat, wenn man sich überwunden und überlebt hat."

Helena strahlte ihn aus ihren endlosen Augen an.

"Ich bewundere Sie. So viel Mut. Sie könnten jederzeit tot sein." Sie schwieg eine Weile und fuhr dann fort: "Aber vielleicht wollen Sie das ja insgeheim? Ich meine, sich von den Welt verabschieden. Und wenn das so ist, warum … warum bringen Sie sich dann nicht einfach um? Wäre doch zumindest billiger."

 

Steiner war erst sprachlos und holte dann tief Luft.

"Was reden Sie da? Das ist alles x-mal berechnet, ich gehe das geringst mögliche Risiko ein, ich plane alle Aktionen sorgfältig, und meine Sponsoren stellen die teuersten Berater. So blöde Aktionen wie damals mit der Katana mache ich schon lange nicht mehr, weil da ja andere Menschen gefährdet waren. Das waren Jugendsünden!"

"Entschuldigung, ich wollte Sie nicht ärgern. Nur verstehen. Sie wollen also kein Risiko für andere eingehen, nur für sich selbst. Das ehrt Sie. Aber ich wiederhole meine Frage: Warum? Wozu? Ich meine, Sie waren ja schon in der Schule auffällig, sind die Sporthallenwand wie eine Fliege hochgekrabbelt, obwohl Sie eine Fünf in Sport hatten, sie haben auf dem Ausleger eines Baukrans Purzelbäume geschlagen und was weiß ich noch. Warum? Hatten Sie Minderwertigkeitskomplexe?"

"Herrgottnochmal! Sie sind kein Fan, sondern eine verdammte Klatschreporterin, oder?"

"Nein, nein, das bin ich nicht. Und wenn ich eine wäre? Ihnen geht's doch um Aufmerksamkeit, um Zuneigung. Sie wollen beachtet werden um jeden Preis, nicht wahr? Und weil nach jedem Stunt, nach jeder Aktion das Interesse der Regenbogenpresse sehr schnell wieder nachlässt, folgt die nächste, noch spektakulärere. Wie bei einem Junkie, stimmts?"

Sie sah ihn mit ihren Augen, die wie tiefe, klare Bergseen schimmerten an, und sein aufkeimender Zorn verflüchtigte sich. Sie hatte ja Recht. Sein letztes Ding war schon zu lange her, deshalb war er so unruhig, so unausgeglichen gewesen, bevor er diese seltsame Bar betreten hatte. Aber er wollte etwas richtig stellen.

 

"Wissen Sie", begann er nach einem großen Schluck Tullamore Dew, "Sie liegen völlig daneben. Es geht mir um die Sache an sich. Das Interesse der Öffentlichkeit schmeichelt mir, so wie es mir geschmeichelt hat, dass Sie mich erkannt haben. Das gebe ich offen zu. Aber im Grunde ist es mir völlig egal. Ich muss niemand etwas beweisen. Nur mir."

"Ach?", sagte die Frau und blitzte ihn spöttisch an. "Und was wollen Sie sich beweisen?"

Steiner gab keine Antwort, sondern starrte in sein Glas, das er drückte, bis seine Knöchel weiß wurden. "Was ist der Grund, dass Sie sich ständig in Lebensgefahr begeben?", bohrte Helena weiter. "Und das, seit Sie ein kleiner Junge waren. Was ist damals geschehen? Ich glaube, in Ihrem Innersten wissen Sie die Antwort. Sie suchen den Tod, aber gleichzeitig fürchten Sie ihn unendlich, vielleicht, weil er ewig ist. Habe ich Recht? Ihnen fehlt der Mut, der Tatsache ins Auge zu sehen."

Steiner kippte den Rest Whisky hinunter und nickte dem Barkeeper nach Nachschub.

"Sie reden völligen Blödsinn, Lady. Mir fehlt Mut? Dass ich nicht lache. Ausgerechnet mir? Allein bei dem Gedanken an das, was ich mache, scheißen sich andere die Hosen voll, so schaut´s aus! Hören Sie doch auf mit diesem Psychologenquatsch! Wenn jemand Mut hat, dann doch wohl ich, oder?"

"Na ja", antwortete Helena leise, "es gibt solchen Mut und solchen. Wären Sie bereit, etwas zu tun, das wirklichen Mut erfordert? Etwas, das absolut an Ihre Grenzen geht?"

 

Steiner starrte sie an. In ihm arbeitete es. Er war auf Entzug. Ihm fehlte der nächste Kick, er hatte nicht einmal eine Planung. Vielleicht ...?

"Wie soll ich das verstehen?", fragte er. "Was soll das sein, wirklicher Mut?"

Helena Petrovna drehte ihr Glas in ihren schlanken Händen. Erst jetzt fiel ihm auf, dass sie auch unglaublich schöne Hände hatte. Er sah in ihre Augen. Was meinte sie? Jetzt war er bereit zu allem. Der Tullamore Dew tat seine Wirkung.

 

"Ich bringe Sie an einen Ort, der Ihre ganze Kraft erfordert. Dort können Sie selbst entscheiden, ob Sie sich der Aufgabe stellen wollen. Heute ist genau der richtige Zeitpunkt dafür. Aber bedenken Sie: Wenn Sie sich für die Tat entscheiden, wird es kein Zurück geben. Sie werden allen Ihren Mut brauchen – oder Sie werden sterben."

Steiners Hirn lief auf Hochtouren. Was meinte die schwarze Lady? Sprach sie vielleicht von einer perversen SM-Nacht mit ihr? War sie so drauf? Und wenn schon! Er hatte schon andere Aufgaben bewältigt, weiß Gott! Aber warum redete sie so idiotisch um den heißen Brei herum? Egal!

"Okay, ich bin bereit", sagte er dann und grinste so breit, wie er es nüchtern nie getan hätte.

"Worum geht's also?"

 

"Sie trinken irischen Whiskey", antwortete sie und beobachtete seine Reaktion. "Das passt schon mal; außerdem ist Halloween."

"Was hat dieser Amiquatsch damit zu tun?"

"Mehr, als Sie denken. Sind Sie bereit?"

"Bereit, wenn Sie es sind, Lady", antwortete er und fügte in Gedanken hinzu: wenn es nicht vorher zu so einer blöden Halloween-Party geht.

 

Er warf einen Schein auf die Theke, nickte dem Barkeeper zu und folgte Helena Petrovna hinaus in den grauen Spätnachmittag. Es hatte aufgehört zu regnen, aber von den Vampirkids war nichts mehr zu sehen. Sie ging zu einem schwarzen Dodge, ließ ihn einsteigen und sagte dann:

"Es ist leider außerhalb, aber nicht sehr weit."

Über die Autobahn fuhren sie nach Westen, bogen irgendwo ab und erreichten über kleine Nebenstrassen ein elendes Kaff mit dem Namen Holzhausen. Am Waldrand stoppte sie den Wagen.

"Von hier geht's nur zu Fuß weiter."

Steiner glaubte, zu träumen.

"Das ist nicht dein Ernst! Hey, wir sind mitten in der Pampa, und es wird gleich dunkel. Was soll das?"

"Keine Angst", sagte sie und nahm seine Hand, "es gibt hier keine Vampire oder Werwölfe."

"Haha", knurrte er, genoss aber den Druck ihrer Finger.

Einige Zeit gingen sie schweigend durch den Wald, bogen in Nebenwege ein und durchquerten schließlich ein dichtes Gestrüpp, bis sie plötzlich vor einem hoch aufragenden Erdwall standen.

 

"Da sind wir", sagte Helena.

"Hier? Was soll das sein?"

"Das ist eine sogenannte keltische Viereckschanze."

"Keltisch? Bist du da nicht etwas daneben? Wir sind doch nicht in Irland oder Schottland!"

"Falsch, mein Freund. Das Ursprungsland der Kelten ist hier in Süddeutschland, Böhmen, Nord-Österreich. Und Halloween hat hier seinen Ursprung. Vor 2500 Jahren hieß dieses Fest noch Samhain. Die Kelten, die unter dem Druck der Germanen und Römer auf die britischen Inseln abgewandert sind, haben es später nach Amerika mitgenommen. Und dort haben es Disney und Konsorten so verblödet, wie es heute ist. Und jetzt kommt die späte Rache als Halloween zurück zu uns. Ist das nicht witzig?" Steiner fand diese Belehrung nicht besonders lustig.

"Nun ja, aber was, zum Teufel, hat das mit einer Mutprobe zu tun?" Ihm war mittlerweile alles egal. Je schärfer die Sache war, desto eher würde sie ihn aus seiner depressiven Stimmung bringen. Und wenn die Tusse ihn in diesem verdammten Wald verführen wollte – auch recht.

"Pass auf, mein Freund", antwortete Helena, "wir klettern erst einmal da hoch."

Der Wall war glitschig und steil, aber kurze Zeit später standen sie oben.

"Siehst du? Diese Mauer umschließt ein Viereck von mehreren tausend Quadratmetern. Davon gab's früher zahllose von Tschechien bis nach Frankreich. Die meisten sind verschwunden, eingeebnet, umgepflügt, überbaut. 2500 Jahre einfach weg. Eine Schande."

Steiner war durchaus beeindruckt.

"Wow! So alt wie die Akropolis! Aber was war ihr Zweck, wofür war so eine Keltenschanze gut?"

Helena Petrovna lachte.

"Das, mein Lieber, wissen die Gelehrten bis heute nicht. Sie spekulieren über Fürstensitze, Bauernhöfe, Viehpferche und anderen Quatsch. Ein Kuhstall, umgeben von sechs Meter hohen Wällen mit Palisaden drauf, darum ein drei Meter tiefer Graben, das glaubt doch keiner. Und für Befestigungsanlagen liegen sie oft absolut ungünstig, etwa unter einem Hang, wo aus die Belagerer von oben reinspucken können. Nein, die Idee von Klaus Schwarz, dem ersten Experten, war richtig. Die Schanzen liegen auf Kreuzungspunkten der geheimen Kraftlinien der Kelten. Sie waren Kultorte." Und dann fügte sie noch leise hinzu: "Und sie sind es noch heute."

Bevor Steiner etwas sagen konnte, kletterte sie die Innenseite des Walls hinunter und bedeutete ihm, ihr zu folgen. Inmitten des düsteren Vierecks setzte sie sich auf einen umgestürzten Baumstamm und klopfte mit der Hand neben sich.

 

"Setz dich, Leopold Steiner." Er gehorchte. "Und jetzt kommt deine Mutprobe, du Held.

Dies ist ein magischer Ort, ein Tor zur Anderswelt, wie die Kelten sagten. An Samhain, dem Tag vor Allerheiligen, das die Christen daraus gemacht haben, oder Halloween, von dem die Kids nie erfahren werden, woher es kommt, kann man an solchen Orten einen Blick in die Anderswelt werfen, in die Welt der Ahnen, der Toten. Das ist wahr, aber das ist nur ein Nebenaspekt. Es gibt noch eine andere, viel tiefer gehende Wahrheit. Eine Wahrheit, die allen Mut erfordert. Und diese Wahrheit zu erfahren, kann das Grausamste, das Entsetzlichste sein, das man sich vorstellen kann. Hast du, Leopold Steiner, der du doch der Tapferste bist, den man sich vorstellen kann, den Mut dazu?"

Steiner drehte den Kopf und starrte sie an.

"Äh, spinne ich jetzt? Ist das die Mutprobe? Glaubst du etwa, ich habe Angst davor, hier zu sitzen, weil es dunkel wird? Glaubst du, ich fürchte mich vor Kindermärchen, vor dem bösen Wolf, vor Graf Dracula? Sag mal, bist du völlig verrückt? Los, fahr mich zurück!"

 

"Ach Leo. Du kannst nicht mehr zurück. Erinnerst du dich, als du damals als Jugendlicher in Griechenland warst und vom Strand aus dieses vorgelagerte Inselchen beobachtet hast? Du hast gewusst, dass es sehr gefährlich war, da rüber zu schwimmen, du hast die Strömungsschlieren genau gesehen. Aber je länger du da gesessen bist, desto unausweichlicher wurde es. Und schließlich bist du geschwommen. Heute ist es genauso. Du musst, du wirst den Blick in die Anderswelt riskieren. Aber es sind nicht die Toten, die dich schrecken werden. Für das, was du sehen wirst, brauchst du vielleicht mehr Mut, als du hast."

Die Schwarzhaarige stand auf.

"Wer ... wer bist du?", stammelte Steiner.

 

"Wer ich bin? Eine Hexe, eine Waldgöttin, eine Druidin – such´s dir aus. Aber jetzt verlasse ich dich. Die letzten Stunden musst du allein verbringen. Um Mitternacht, wenn sich die Grenzen öffnen, wirst du erkennen, warum du allen Mut brauchst, den du hast. Und ich kann dir nicht versprechen, dass er reichen wird. Denn das, was du sehen wirst, wirst ... du selbst sein. Du wirst in dein Innerstes sehen, in deine finstersten Abgründe, in deine tiefsten Ängste, in deine geheimsten Winkel, die du so lange vor dir verborgen hast. Deine Mauern werden einstürzen, deine Panzer reißen. Und all deine verborgenen Dämonen werden frei. Ich wünsche dir, dass du den Mut hast, ihnen ins Auge zu sehen, und ich wünsche dir die Kraft dazu, mein Freund."

 

In einem Nebelschleier verschwand Helena, und schlagartig brach die Nacht zum 1. November herein.

 

 

 

ΔΩΔ

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 03.11.2015

Alle Rechte vorbehalten

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