Es hatte den Wanderer auf die schöne dänische Nordseeinsel verschlagen. Eine dramatische Geschichte, die aber hier nicht erzählt werden soll. Wozu auch?
Er hatte schnell Anschluss an die hiesige Mäusegemeinde gefunden, zumal er das spezielle dänische Mausisch sozusagen im Pfote umdrehen verinnerlicht hatte. Mäuse in der Diaspora sind sehr flexibel, wie wir schon länger wissen.
Einige der seltsam nach Fisch riechenden Teenager der rot-weiß geflaggten Kolonie hatten es sich angewöhnt, die Häuser der hiesigen Ferienhaussiedlung unsicher zu machen. Lange Zeit hatte Feivel es vermieden, sich den regelmäßigen Beutezügen anzuschließen. Er hatte gelernt, dass es böse enden konnte, wenn man sich mit fremden Menschen anlegte.
Allein, Björn, ein kleiner, flinker Mäuserich, der gerade der Pubertät entwachsen war und dessen Schnurrhaare gerade erst anfingen, hart zu werden, hatte ihm in überaus lebendigen Farben ausgemalt, welche Köstlichkeiten die Vorratsschränke der Gäste in den Häusern zu bieten hatten. Zudem seien diese Gäste in der Regel ziemlich leicht zu übertölpeln. Feivel schob letztlich seine Zweifel bei Seite und folgte seinem kleinen Freund mit dem lustigen Akzent.
Es war eine Frage von Sekunden und alles wäre gut gegangen. Hätte Marianne den Topf mit dem noch warmen Schokoladenpudding wieder auf den Herd zurück gestellt, bevor sie sich der Schublade zuwandte, wären die beiden einander nie begegnet. So aber balancierte sie den Topf in der einen Hand und zog mit der anderen die Schublade auf. Feivel richtete den Blick nach oben, als ihn plötzlich das grelle Licht traf und blendete. Da hätte es noch gut ausgehen können. Die Frau mit dem gewaltigen Topf in den ebenso gewaltigen rosigen Händen sah nicht herunter und die andere rosige und nicht minder gewaltige Hand kam rasch auf den Wanderer herunter. Er versuchte, sich zwischen den Tüten mit dem leckeren Puddingpulver zu verstecken, aber er hatte vorher ausgiebig von den Grillbriketts gekostet und er war kugelrund und etwas außer Form.
Die großen tastenden Finger erwischten ihn nur leicht am Schwanz, aber Feivel geriet in Panik. Etwas, das einer erfahrenen Wandersmaus, die schon bei Disney als Stuntmaus für die Neuverfilmung des Klassikers gearbeitet hatte, nie hätte passieren dürfen. So aber suchte der kleine runde Kerl sein Heil in der Flucht. Er sprang – wir wissen seit alters her, wie gut Mäuse selbst in vollgefressenem Zustand zu springen in der Lage sind – und landete auf Mariannes beschürzter Vorderfront, krallte sich mit seinen kleinen, spitzen Mäusepfoten am Latz der Schürze mit dem Aufdruck „Kitchen Queen“ fest und versuchte, die Spitze zu erklimmen.
Es dauerte in der Tat einen Moment, bis Marianne den plötzlichen blinden Passagier auf ihrem Balkon der Begehrlichkeiten zur Kenntnis nahm. Dann aber brach die Hölle los. Der Schrei gellte durch das Haus, ließ die Einfachverglasung des Küchenfensters leise klirren, verursachte einen feinen, kaum sichtbaren Riss im Sichtfenster des Kaminofens, der hinter Marianne leise knackend die letzten Grillbriketts verdaute und rief – was der wohl nachhaltigste Effekt der ganzen Sachen sein sollte – den Bewohner des unweit gelegenen Nachbarhauses auf den Plan. Aber diese Geschichte soll später erzählt werden, wenn überhaupt.
Feivel, durch den markerschütternden Schrei bis an den Rand des Wahnsinns erschreckt, versuchte Schutz in der Latztasche der Schürze zu finden, zwängte seinen Kugelbauch mit aller Gewalt durch die schmale Lücke, die ihn, wäre er etwas mehr bei Verstand und zudem ein Menschenmännchen gewesen, an die schmale Stelle zwischen den Schenkeln der Frau erinnert hätte. Eine Stelle, an die man schwer ran kam und manchmal auch nicht wieder heraus.
Marianne indes geriet ihrerseits außer sich und damit der warme Schokopudding in Gefahr. Im Bestreben, sich des panikgeschüttelten Nagers schleunigst zu entledigen, machte es die Frau nur schlimmer. Ehe sich beide, Maus und Marie versahen, ergoss sich der süße, duftende und etwas mehr als handwarme Brei über das Vorgebirge der Frau, das freilich eher an eine sanfte Hügellandschaft denn schroffe Gipfel gemahnte. Feivel war es egal, er bekam in der Tasche, die sich als Falle und Schutzspalte zugleich erwiesen hatte, noch immer reichlich von der süßen Kostbarkeit ins Fell und sogar in eins seiner kleinen niedlichen Knopfaugen. Was wiederum Vor- wie Nachteile aufweisen sollte: Einerseits erhöhte der Pudding auf höchst aufregende Weise die Gleiteigenschaften der Taschenwände, andererseits ließ er den kleinen flüchtigen Mäuserich das eine oder andere Mal ausgleiten auf seinem Weg in die Freiheit.
Und es war in der Tat Eile geboten, denn eine der gewaltigen rosigen Hände schlug auf den Latz, ihn und den wunderbar bebenden Untergrund ein. Nur durch ein Wunder kam niemand zu Schaden, aber mancher der Beteiligten noch zu einem amüsanteren Erlebnis. Aber das ist wiederum die andere Geschichte … Na Ihr wisst schon.
Feivel, sich seines Glückes zunehmend bewusst werdend, noch am Leben und unversehrt an Leib und Leben zu sein, kam wieder soweit zur Besinnung, dass er den Rest seiner Flucht zumindest in groben Zügen planen konnte. Sie führte ihn durch das dichte, lockige Haar der Frau auf deren Kopf und mit einem kühnen Satz hinüber zur Dunstabzugshaube über dem Herd. Von dort war der Rest ein Kinderspiel, wenn die Frau nicht einen dieser tödlichen Kochlöffel in die Finger bekam.
Bekam sie nicht und als die Tür aufflog und der Nachbar herein stürmte, war Feivels Flucht ein Kinderspiel.
Noch heute, viele Mäusejahre später erzählt der ergraute Mäuserich mit der Augenklappe seinen vierzehntausendsechshundertundneun Enkeln dieses Abenteuer. Inzwischen ist sein dänisches Mausisch akzentfrei und er ist seit einem Menschenjahr naturalisiertes Mitglied der Kolonie auf Fanö.
Marianne hingegen kommt immer noch jedes Jahr hier her, aber besagtes Haus hat sie nie wieder betreten. Das des Nachbarn dagegen … Ihr wisst schon.
Tag der Veröffentlichung: 02.11.2015
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