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Rekord. Verdächtig.

28, 29, 30. Mario Wächtler zog seine Bahnen. Stoisch, präzise, fast so, wie die Zeiger seiner Taucheruhr über das Zifferblatt glitten. Die eingebaute Kompassnadel drehte sich bei jeder Wende um 180 Grad, nur die Richtung, in die sie sich drehte, variierte manchmal, abhängig davon, ob Mario den linken Arm etwas näher am Beckenrand hatte oder weiter weg. Minimale Variationen die er tolerieren konnte.

Die Uhr hatte er auf einem Flohmarkt erstanden, fast schon eine Antiquität, und sie verrichtete verlässlich ihren Dienst.

31, 32, 33. Das Wasser war kalt, aber Wächtler spürte es nicht. Die Augen brannten vom Chlor, doch auch das spürte er nicht. Seine Gedanken drehten sich nur um das Ziel, das er erreichen wollte: Cara. Seine Frau.

78, 79, 80. Viertausend Meter. Eine Stunde und elf Minuten. Wie immer hielt er sich am Beckenrand fest, schob seinen Körper ganz unter die Wasseroberfläche und zog ihn ruckartig wieder nach oben, während er mit aller Kraft mit den Beinen strampelte, um mit einem Schwung aus dem Becken zu kommen. Es klappte, wie jedes Mal. Als Mario Wächtler sich aufrichtete und das Wasser aus den Augen wischte, erschrak er so, dass er beinahe wieder rückwärts ins Becken fiel. Direkt vor ihm stand einer der Bademeister und grinste ihn an.

"Bravo, junger Mann, das ist ja rekordverdächtig, Respekt! Bist du im Schwimmverein oder so?"

Wächtler schüttelte nur den Kopf, zog die Schwimmhaube herunter und ging zu den Duschkabinen. Fast meinte er die musternden Blicke des Bademeisters auf seinem Rücken zu spüren.

 

Von da ab änderte Wächtler seine Trainingsmethode. Er begann zu joggen, täglich, bevor er zur Arbeit fuhr, obwohl er laufen hasste. Dieses dumpfe Aufprallen der Beine auf dem Boden, das Durchschütteln des Körpers, die ständig wechselnden Bilder, die ihn von seinen Gedanken ablenkten. Ihm fehlten die geraden Linien, die seine Bahn begrenzten, das meditativ-monotone Hin und Her seiner Kompassnadel und die Kühle des Wassers. Als ihm einfiel, dass er auch im Fluss schwimmen könnte, erlangte er wenigstens Letzteres wieder zurück. Es war nicht dasselbe, der Fluss war verdreckt, aber es erfüllte seinen Zweck. Es brachte ihm Cara näher.

 

Seit drei Jahren hatte Wächtler keinen Urlaub gemacht, deshalb befürwortete der Chef seinen Antrag.

Wächtler packte Campingzeug in seinen großen Rucksack und bestieg den Zug. Endlich ans Meer, endlich Salzwasser schmecken statt Chlor oder Güllereste.

Es war herrlich. Das Rauschen der See, der Wind auf der Haut, das Geschrei der Möwen und das Auf und Ab in den Wellen - Mario fühlte sich seit langer Zeit endlich wieder frei. Hier brauchte er keine Monotonie oder gerade Begrenzungen, um seinen Gedanken nachzuhängen, die immer noch um Cara kreisten.

 

An einem Mittwochmorgen kroch er aus seinem löchrigen Zelt, stopfte alles Nötige in einen Tragebeutel und mischte sich unter die Tagesgäste, die die Fähre zur Insel Hiddensee nahmen. In Kloster angekommen setzte er sich zügig von der Urlauberhorde ab, die den Ort überschwemmte wie eine Welle den Strand. Er marschierte direkt zum Schwedenhagener Ufer und stapfte durch den Sand nach Nord-Ost, Richtung Leuchtturm Dornbusch.

Zwischen 'Hucke' und 'Toter Kerl' versteckte er seinen Beutel in einem dichten Sanddorngestrüpp und legte sich in den weichen Sand zwischen dicken Steinen, um sich auszuruhen.

Als es zu dämmern begann waren nur noch wenige Urlauber unterwegs, die sich beeilten, das letzte Schiff zu erreichen, das die Insel verließ. Als keiner mehr zu sehen war kroch Wächtler zu seinem Beutel und dann noch tiefer ins Gebüsch, machte sich ganz klein und unsichtbar und wartete, bis es völlig dunkel war. Nur der Leuchtturm schickte seine Lichtfinger weit aufs schwarze Meer hinaus.

Marios Herz schlug heftig, als er das schäbige Neopren-Shorty anzog, abgeschnittene schwarze Strümpfe über Arme und Beine streifte, ins Wasser watete, Plasteflossen anlegte und Richtung Dänemark los schwamm. Ruhig, stoisch, aber zügig wie im Schwimmbad.

Rekordverdächtig hatte der Bademeister gesagt.

Rekord? Verdächtig! Das hat der Kerl gemeint!, schoss es Mario durch den Kopf, als ihn der Suchscheinwerfer eines mobilen Kommandos der 6. Grenzbrigade der DDR erfasste.

 

Mario Wächtler dachte nur noch an Cara, als er tief Luft holte und untertauchte.

 

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Anmerkung

 

Diese Geschichte ist rein fiktiv, nur der Name des Protagonisten ist real.

Mario Wächtler war der letzte Flüchtling, der lebend über die Ostsee entkam. 19 Stunden lang, fast 38 Kilometer, ist er durch die kalte See Richtung Westdeutschland geschwommen, bis ihn die Fähre Peter Pan zufällig fand und an Bord nahm, kurz bevor ihn ein Suchboot der Grenztruppen der DDR erreichen konnte.

Wir kennen nur die Namen der Flüchtlinge, die es geschafft haben, die Zahl der Toten ist unbekannt.

Weder Stacheldraht noch raue See können Menschen von ihrem Wunsch nach Freiheit abbringen. Das ist wunderbar und lässt hoffen - allen Drohungen und Grausamkeiten zum Trotz.

 

Gerade in diesen Tagen dürfen wir das nicht vergessen.

 

Impressum

Bildmaterialien: Pixabay CCO Public Domain - User: Unsplash
Tag der Veröffentlichung: 20.09.2015

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