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Fünf auf einen Streich


 

Raphael war ein Traum von einem Mann. Als ihm ein Stück meines Herzens zuflog, kannte ich noch nicht einmal seinen Namen. In seinen dunklen Augen brannte ein Feuer, das bis zu meinen Zehen züngelte. Ich musste ihn haben – was in der Regel nicht länger als ein Wimpernschlag dauerte. Mein Spiegel wusste den Grund. Die Natur hatte es mehr als gut mit mir gemeint. Es gab im Umkreis kein ebenmäßigeres Gesicht, keine ausdrucksvolleren Augen und kein glänzenderes Haar. Von der Figur ganz zu schweigen. Ich war der absolute Knaller – perfekt eben. Und die Männerwelt empfand das ebenso.

Ute, meine beste Freundin und engste Vertraute, schlug oft die Hände über dem Kopf zusammen, wenn ich ihr von meinen neuesten Eroberungen erzählte. Sie wunderte sich über die Größe meines Herzens und wie viel Liebe ich darin beherbergte. Ich besaß nämlich die besondere Gabe, mich zur gleichen Zeit in verschiedene Männer verlieben zu können. Unvorstellbar? Überhaupt nicht! Das ging ohne Probleme. Mein Terminkalender quoll über und es bedurfte schon eines besonderen Überblicks, die Dates so zu legen, dass sich „meine“ Männer nicht ins Gehege kamen. Eine Kunst, die ich wie keine andere beherrschte. Ein organisatorisches Talent eben. Zurzeit hatte ich vier Liebhaber am Start und jetzt gesellte sich Raphael dazu. Wie hätte ich ihn lassen können – er war einzigartig. Mit ihm durchbrach ich die Schallmauer. Rekord eben. Fünf Jungs in einer Woche unter einen Hut zu bringen, das sollte mir erst einmal jemand nachmachen.

„Das ist rekordverdächtig. Fünf auf einen Streich.“, bestätigte Ute mein Tun und hob warnend den Zeigefinger. “Pass nur auf, dass dir das Ganze nicht über den Kopf wächst.“

Sie hatte immer etwas zu unken. Ihr fehlte irgendwie die Herzgröße. Mit ernster Miene erklärte sie mir, dass es in ihrem Herz nur für Einen – und zwar den Richtigen – Platz gäbe. Aber wie konnte sie wissen wer der Richtige war, wenn sie keinen Einzigen ausprobierte. Sie glaubte an die Liebe auf den ersten Blick. Sie träumte von dem Prinz auf einem weißen Pferd. Sie war einfach noch ein Kind. Gerne hätte ich ihr das eine oder andere abgelegte Exemplar überlassen. Aber sie lehnte jedes Mal dankend ab. Und so war ihr Herz furchtbar einsam. Was sollte überhaupt das Gerede von dem „Einen“? Ein Herz hatte schließlich zwei Kammern – zwei Stuben, zwei Zimmer – egal wie man es nennen wollte. Somit stimmte ihre Theorie, dass es nur Platz für einen gab, schon mal gar nicht. Aber jeder war seines Glückes Schmied. Ute ließ sich da auch nicht reinreden.   

Bedenkenlos konnte ich ihr alle meine Typen vorstellen ohne dass sie ihre Finger ausstreckte. Eine echte Freundin eben. Zudem wäre es unvorstellbar gewesen, hätte der eine oder andere plötzliches Interesse an Ute bekundet. Man(n) verließ mich nicht – so viel stand fest!

Für diesen Abend hatte ich mich mit Raphael bei ihr eingeladen. Sie musste dieses anbetungswürdige Prachtstück kennenlernen. Sie versprach, ihre herrliche Spinat-Lasagne für uns zu kochen. Wir waren für den Rotwein zuständig.

Als Raphael vor meiner Tür stand, um mich abzuholen, fühlte ich diese seltsame Schwäche, die ich bei jedem neuen Mann verspürte und die mich jedes Mal in die Knie zwang. Es war eine Sucht, ein Rausch, der leider nach kurzer Zeit verflog. Übrig blieb dann ein Raphael von dem das Besondere abblätterte wie zuvor bei Fred, Mark, Eberhard und wie sie alle hießen. Sie verloren ihre Anziehungskraft und verlangten nach Erneuerung. Aber im Moment fühlte ich noch dieses Kribbeln. Raphael sah einfach zum Anbeißen aus, dabei trug er nur eine Jeans, ein hellblaues T-Shirt und Turnschuhe. Seine braunen Haare hingen ihm wirr bis zu den Augen. Gerne hätte ich sie ihm ein wenig aus dem Gesicht gestrichen. Aber eine merkwürdige Scheu, die ich von mir nicht kannte, hinderte mich daran. Das würde sich schon geben. Spätestens wenn ich ihn heute Abend in meine rosaroten Gemächer entführte – unter meinen Prinzessinnen-Baldachin …

***

Ute hatte sich nett zurecht gemacht. Das blonde Haar fiel ihr in weichen Locken auf die Schultern. Ihre blauen Augen strahlten uns an. Wie ein Engel – schoss es mir durch den Kopf. Ute war hübsch – sehr hübsch. Das fiel mir heute zum ersten Mal auf. Bis gestern war sie einfach die altbackene und langweilige Ute gewesen, die erst durch mich zu leben begann. Heute schien sie verändert. Das verwirrte mich. Artig umarmte Raphael meine Freundin und drückte ihr zwei herzhafte Küsse rechts und links auf die Wange. Das gefiel mir nicht. Lag sie nicht viel zu lang an seiner Brust? Ich räusperte mich. Die Aufmerksamkeit solch eines Abends gehörte mir allein. Ute war nur ein unbedeutender Komparse. Bis jetzt hatte das auch immer gut geklappt.

Ihre Lasagne schmeckte natürlich himmlisch. Sie war ja schließlich auch von einem Engel gekocht worden. Raphael schien hin und weg. Vom Essen … und von Ute. Immer wieder ertappte ich ihn, wie er sie anstarrte, wie sich ihre Blicke trafen. So kam es mir jedenfalls vor. Was hatte das zu bedeuten. Nichts natürlich! Er gehörte mir. Wenn ich ihn nicht mehr wollte, konnte sie ihn haben. Aber den Zeitpunkt bestimmte immer noch ich. Also hockte ich da und beobachtete mit Argusaugen, was um mich herum geschah. Meine Freundin lachte viel zu laut, wobei sie gekonnt den Kopf in den Nacken warf. Sie plapperte und kicherte. War sie schon immer so gewesen? Seit heute sah ich sie in einem völlig anderen Licht. Womöglich war sie gar kein Engel. Vielleicht war sie in Wirklichkeit nicht einmal eine Freundin – sondern ein Hexe.

Mein Blick auf Uhr beendete endlich den Abend. Eilig schob ich Raphael zur Tür hinaus. Jetzt würde ich ihm zeigen, wer seine wirkliche Herzdame war. Aber es kam anders als geplant, denn als er mit dem Auto vor meinem Haus einparkte, hockte er wie festgeklebt auf seinem Sitz.

„Es war ein wunderschöner Abend“, nuschelte er und lächelte mich etwas verlegen an. War er zu schüchtern, um den nächsten Schritt zu tun? Gerne wollte ich ihm behilflich sein.

„Magst du noch einen Kaffee oder ein Gläschen Rotwein?“ Eine sehr eindeutige Einladung.

„Lieber nicht. Ich muss morgen früh raus.“ Bedauernd wiegte er den Kopf hin und her und hob gleichzeitig leicht die Schultern. Ich verstand den Sinn seiner Worte nicht. Hatte ich doch mit einer anderen Antwort gerechnet und dann glaubte ich, mich verhört zu haben. Es dauerte ein Weilchen bis ich endlich begriff. Er interessierte sich nicht für mich. Ich war völlig perplex. Niemand hatte mich bisher jemals abgewiesen, mir sozusagen einen „Korb“ gegeben. Wie sollte ich damit umgehen? Stumm starrte ich zur Frontscheibe hinaus. Er erlaubte sich einen Scherz. Anders konnte ich mir das nicht erklären. Aber er machte keine Anstalten, die Situation zu entspannen. Ich wartete auf das erlösende Lachen. Umsonst! Er meinte es so, wie er es gesagt hatte. Peinliches Schweigen. Und weil nichts weiter passierte, außer, dass er mir einen leichten Kuss auf die Wange hauchte, ohne auch nur ein Stückchen Haut zu berühren und dabei „Mach`s gut“ flüsterte, musste ich wohl oder übel aussteigen. Ich war wütend, verletzt, verstört … ich weiß gar nicht was noch alles. Die Gefühle spielten in meinem Inneren Karussell. Wie eine Marionette stakste ich zu meiner Haustür und kramte in meiner Tasche nach dem Schlüssel. Ich wollte so schnell wie möglich aus dem Blickfeld verschwinden. Mein angeschlagenes Ego schleppte ich hinter mir her.

Unfassbar – er verschmähte mich. Und warum? Das lag klar auf der Hand. Ute! Ja, meine Freundin Ute war der Grund. Ein Wolf im Schafspelz. Ein hinterhältiges Frauenzimmer! Raphael war das Opfer ihrer großen unschuldigen Augen geworden. Wie konnte ich mich nur so in ihr täuschen. All die Jahre. Es ist ja nicht so, dass ich keinen Ersatz gefunden hätte. Aber hier ging es jetzt mehr ums Prinzip als um Raphael. Verletzte Eitelkeit tat weh – vielleicht mehr als Liebeskummer. Rachegedanken fraßen sich quer durch meinen Körper. Normales Denken schien fast unmöglich. Eins stand fest - das ließ ich mir nicht gefallen. Nicht von Ute.

Am nächsten Tag trommelte ich wie eine Besessene gegen ihre Tür.

„Mach sofort auf“, brüllte ich. Vielleicht war ihr mein Spektakel im Treppenhaus unangenehm. Auf jeden Fall öffnete sie mir und zog mich schnell in die Wohnung. Sie sah blass aus. Ja, das gönnte ich ihr. Sollte es ihr doch schlecht gehen. Ich hatte kein Mitleid.

„Und?“ Dieses Wort beinhaltete all meinen Schmerz, den Verrat, meine Abscheu und Enttäuschung. Und die Forderung nach einer Erklärung. Einfach alles.

„Er ist der Prinz auf dem weißen Pferd“, flüsterte sie mit gesenktem Blick. Ich schnappte nach Luft.

Er war mein Prinz gewesen. So wie alle anderen Burschen auch.

„All die Jahre habe ich auf jemand wie ihn gewartet. Es tut mir wirklich leid. Ich sehe ihn nicht mehr wieder.“ Das schlechte Gewissen machte sie mit jedem Wort kleiner und kleiner. Ihre Augen bettelten um Vergebung. War Raphael überhaupt dieses Theater wert? Konnte ein Mann unsere jahrelange Freundschaft spalten? Oder sollte ich Nachsicht walten lassen? Aber da war dieser Schmerz, der sich durch mein Innerstes bohrte und der nach Genugtuung schrie. Ich war hin und her gerissen. Wollte ich Ute wirklich verlieren? Ich hatte mich auch schon ohne Skrupel in Beziehungen gedrängt. Und schließlich waren Raphael und ich noch gar kein Paar gewesen.

„Ich schenke ihn dir“, hörte ich mich sagen und staunte über meinen eigenen Großmut. Dann lagen wir uns in den Armen. Ute und ich. Sie schluchzte in meine Halsbeuge, bis es sich nass und eklig anfühlte.

„Genug jetzt!“, schimpfte ich und streckte ihr meine Hand entgegen.

„Freundinnen - für immer.“ Dankbar umschloss sie meine Finger. Ihre blauen Augen strahlten wieder in altem Glanz. Für den Moment war ich zufrieden mit mir und meinem Entschluss. Raphael war es wirklich nicht wert, dass wir uns für immer verloren. Ute konnte froh sein, solch eine Freundin wie mich zu haben.

Ja, und um mein angekratztes Selbstbewusstsein aufzupolieren, vervollständigte ich meine Sammlung mit Julius und Anton. Zwei nichtssagende Burschen, die mich eigentlich nur langweilten. Aber ich musste mich beweisen. Ich konnte jeden haben und so wuchs ich über mich selbst hinaus. Mein Freizeitvergnügen mutierte zur Arbeit. Die Einteilung meiner „Männer“ war anstrengend. Die Woche war ausgefüllt mit Verabredungen - außer sonntags. Mein Ruhetag … aber in Wirklichkeit hielt ich diesen besonderen Tag für Raphael frei. So ganz hatte ich mich noch nicht von ihm befreit. Aber das musste Ute nicht wissen. Mein Blick in den Spiegel sagte mir, dass ich eindeutig die Hübschere von uns beiden war. Auch Raphael würde sich auf lange Sicht dem nicht verschließen können. Und wer weiß, vielleicht bot sich in absehbarer Zeit die Möglichkeit, aus ihm doch noch ein „Sonntagshäppchen“ zu machen.

Das fände ich nur mehr als gerecht und … ich würde mit ihm meinen eigenen Rekord brechen …

Impressum

Bildmaterialien: Pixabay CCO Public Domain - User: dietmaha
Tag der Veröffentlichung: 18.09.2015

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