Wettbewerbsvorgabe für die August-Runde
des Anthologie-Wettbewerbs 2015:
„Wähle in einem beliebigen Buch auf Seite 111 einen Satz mit mindestens 5 Wörtern aus und schreibe eine Geschichte, in der dieser Satz vorkommt.“
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Bei diesem Beitrag wurden folgendes Buch und folgender Satz gewählt:
Klaus Cäsar Zehrer, Robert Gernhardt - Bilden Sie mal einen Satz mit ...
Ein Dichterwettstreit
„Ein Hintern wird zum Hindernis,
wenn sichtlich zuviel Spektrum is'.“
Es ist ein Mittwoch, und in einem Kaufhaus steht eine Frau in der Umkleidekabine. Die attraktive Mittdreißigerin zieht abwechselnd Blusen, Kleider und Röcke und Kostüme an, begutachtet sich und zieht sie dann mürrisch wieder aus. Ihr Blick verdunkelt sich zusehends und ihr Geduldsfaden wirkt bedenklich dünn. Skeptisch betrachtet sie im Spiegel ihre Figur, die nichts Auffälliges aufweist, wenn man von dem etwas zu ausladend geratenen Po und Hüftbereich mal absieht.
'Es ist immer dasselbe', denkt sie aufgebracht.
'Die Bluse sitzt gut, aber der Rock ist eine Katastrophe. Mein dicker Hintern fällt sofort auf. Er passt nicht ins Gesamtbild, fast so, als hätte man mich falsch zusammengesetzt oder als ob er gar nicht zu mir gehört.' Sie erinnert sich an viele Stunden in ihrem Leben, die sie mit dem frustrierenden Anprobieren von Kleidungsstücken verplempert hat.
'Eine einzige Zeitverschwendung zu denken, dass mir so ein schickes Outfit passt und ich darin aus Versehen mal nicht wie eine fette Matrone wirke.' Ihr Selbstvertrauen schwindet und ihr Mut sinkt.
Das Handy der Frau klingelt in ihrer roten Beuteltasche aus Leder. In der engen Kabine dreht sie sich um und greift nach ihr, findet das Telefon darin und nimmt es aus der Tasche. Doch es rutscht ihr aus der Hand und schlittert auf dem glatten Boden in die Nachbarkabine. Auf allen Vieren krabbelt sie dem kostspieligen Gerät hinterher und angelt mit dem Arm unter der Trennwand, erreicht es aber nicht. Nur in Unterwäsche kann sie wohl schlecht einfach heraus spazieren und sich das Mobiltelefon zurückholen.
'Jedenfalls nicht mit diesem Hintern', denkt sie missmutig. Also robbt sie flach auf dem Boden entlang und streckt die Hand unter der Abtrennung hindurch weit in die andere Kabine.....
'noch ein Stück, ja, gleich.....oh, Gott sei Dank', freut sie sich, 'jetzt hab ich es.'
Vorsichtig bewegt sie sich zurück.
'Wie gut, dass mich niemand sieht', geht es ihr durch den Sinn, hebt dann den Kopf einen Moment zu früh und stößt sich an der unteren Seite der Kabinentrennwand.
„Aua!“
„Hallo, ich hoffe, Du hast Dir nicht weh getan!“
Erst denkt sie, jemand spricht mit der Kundin in einer anderen Kabine. Plötzlich fällt ihr auf, dass alle Geräusche um sie herum verstummt sind. Wie merkwürdig.
„Hey, Du da unten auf dem Boden. Was machst Du da?!“
Sie dreht sich vorsichtig um und zuckt vor Schreck zusammen. Da schaut eine Gestalt aus dem Spiegel und spricht zu ihr. Die Frau versucht, die Fassung zu bewahren.
„Äh..... Erdkunde!?“, antwortet sie ziemlich verwegen.
„Wie bitte?“, fragt das Spiegelbild.
„Sollte ein Witz sein.“
„Ach, ich verstehe. Okay, Du hast Humor. Das gefällt mir. Wie wär's, wenn Du mal aufstehst?“
Die Frau richtet sich langsam auf, dem Spiegel abgewandt und schüttelt kaum merklich den Kopf.
'Das kann nicht sein. Vermutlich habe ich eine leichte Gehirnerschütterung.'
Dann atmet sie tief ein, um sich dann beherzt umzudrehen. Aber statt einer Spiegelung ihrer selbst sieht sie eine andere Version von sich. Diese Frau sieht aus wie ihr eigener Zwilling: warme braune Augen, feine Gesichtszüge mit leichten Grübchen in den Wangen, mittelbraunes kinnlanges Haar mit hellen Strähnchen. Eine ansprechende Erscheinung. Aber im Gegensatz zu sich selbst strahlt dieses Wesen im Spiegel Zufriedenheit, Lebensfreude und Zuversicht aus.
„Was ist los mit Dir? Was bedrückt Dich?“
„Äh, ja, ich weiß nicht....“, stottert die Frau, die ihr Handy noch in der Hand hält. Mit der anderen betastet sie mit verwirrter Miene vorsichtig ihren Hinterkopf. Der Anrufer hat inzwischen aufgelegt. Sie dreht sich um und legt das Telefon vorsichtig in die Tasche zurück.
'Ich habe wohl ein bisschen zu viel gearbeitet in der letzten Zeit', sagt sie leise zu sich selbst und hofft inständig, dass die Vision im Spiegel verschwunden ist, sobald sie wieder zurückschaut. Vergebens.
„Keine Sorge, ich bin noch da.“
Irritiert lugt die Frau jetzt aus der Kabine durch den Vorhang und stellt fest, dass der gesamte Verkaufsraum in einen Dornröschenschlaf gefallen ist. Die Verkäuferin an der Kasse hält einer Kundin eine Tüte mit Ware entgegen, die Kundin lächelt sie an, mit ausgestrecktem Arm, um ihr die Tasche abzunehmen. Eine andere Frau steht wie eingefroren am Wühltisch mit preisreduzierter Unterwäsche, ein BH in ihrer Hand hängt
in der Luft.
„Kann mich mal jemand kneifen?“
„Warum zum Geier sollte ich das tun? Du bist intelligent genug, um zu wissen, dass ich echt bin. Also, jetzt noch mal: Was genau ist Dein Problem?“
„Ich weiß nicht, was Du meinst“, wehrt die Frau ab.
„Nun, erst wollte ich mich ja nicht einmischen“, fährt das Spiegelbild fort, „aber ich sag Dir jetzt mal, was ich meine. Korrigiere mich bitte, wenn ich falsch liege, aber ich denke, dass Du viel Wert auf Dein Äußeres legst. Daran ist nichts verkehrt, versteh mich bitte nicht falsch, aber man darf die Aufmerksamkeit nicht zu sehr auf die weniger optimalen Stellen richten.“
Ein nur mäßig überzeugtes „Aha“ ist die Antwort der Dame aus Fleisch und Blut.
Das Spiegelbild fährt unbeirrt fort: „Wenn ich das vorhin richtig verstanden habe, fokussierst Du Dich zu sehr auf den auffälligeren Teil Deiner Figur, statt Dein ganzes Spektrum zu erfassen und Deine vielen Vorzüge zu betonen.“ Sie wartet einen Augenblick, um schließlich zu fragen:
„Was sagst Du dazu?“
„Hm...“, die Frau denkt einen kurzen Moment darüber nach,
“Nun ja, ich würde mal sagen, ein Hintern wird zum Hindernis, wenn sichtlich zuviel Spektrum is'.“
Das Spiegelbild lacht schallend.
„Das ist brilliant! Du bist echt witzig und schlagfertig. Und genau das meine ich. Du bist eine clevere, coole und auch sehr schöne Frau. Kein Mensch achtet auf Deine „Problemzone“, wie Du sie vielleicht betiteln würdest. Es kann schließlich nicht jeder die Maße eines halb verhungerten Models haben. Daran ist wirklich nichts Erstrebenswertes.“
„Ja, vom Prinzip hast du schon recht, aber man vergleicht sich halt immer mit anderen und wird ja auch ständig verglichen.“
„Dann spiele doch einfach nicht mit bei diesem lächerlichen Affentheater. Du bist Du. Fertig und aus. Sei einfach Du selbst, zieh an, was Du magst und tu, was Du schon immer tun wolltest. Und wenn Du mich fragst, nimm das flaschengrüne Kleid aus Leinen, das betont auf sehr dezente Weise deine sanduhrförmige Figur.
Aber abgesehen davon, ist es egal, was Du trägst, denn Du bist nicht Deine Kleidung, Du bist nicht Dein Äußeres. Du bist einfach Du. Lass Dich nicht auf diese oberflächlichen Dinge reduzieren.“
„Wahrscheinlich hast Du recht. Aber kann man denn so einfach machen, was man will?
Sind wir denn nicht alle gebunden in Rollen, die wir spielen, an Erwartungen, die an uns gestellt werden?“ So langsam findet die Frau Gefallen an der Unterhaltung.
„Vielleicht und vielleicht auch nicht. Aber darüber müssen wir dann ein anderes Mal sprechen. Ich muss jetzt leider weiter. Lebe wohl.“
„Moment mal, du kannst doch jetzt nicht einfach so ….“
Flupp, ein zischendes Geräusch ertönt und augenblicklich setzen die Kaufhausmusik und alle Umgebungsgeräusche wieder ein.
„...verschwinden“, ergänzt die irritiert blickende Frau tonlos.
Stirnrunzelnd kleidet sie sich an, greift das grüne Leinenkleid und geht damit zur Kasse.
Zuhause angekommen, nimmt sie es aus der Tüte, zieht es über und betrachtet sich im Spiegel. Es ist genau, wie die Erscheinung sagte: Ausgesprochen vorteilhaft.
'Eine gute Wahl', denkt sie, immer noch leicht verstört von dieser Halluzination, und hört das SMS-Signal ihres Mobiltelefons.
„Ich hatte doch recht, oder? Hier noch ein Link zu einem meiner Lieblingssongs. Hör ihn Dir an und Du weißt, was ich meine. Liebe Grüße!“
Er führt zu einem Musikportal, zu einem Lied von Cat Stevens.
„...Well, if you want to sing out, sing out
And if you want to be free, be free
'Cos there's a million things to be
You know that there are...
...And if you want to be me, be me
And if you want to be you, be you
'Cos there's a million things to do
You know that there are...“
Auch wenn der Alltag sie schnell auf den Boden der Tatsachen zurückholt, so hat dieser Tag im Kaufhaus seine Wirkung nicht verfehlt. Mit zunehmender Toleranz sich selbst gegenüber tritt sie einige Zeit später vor den Spiegel, in ihrem neuen grünen Kleid, betrachtet sich erst kritisch, um sich dann verschmitzt zuzuzwinkern. Die Tür fällt hinter ihr ins Schloss und leicht und beschwingt lenkt sie ihre Schritte einem neuen Ziel entgegen.
„Nun gut, dann wollen wir mal. Haben Sie besondere Vorlieben?“, fragt der gutaussehende junge Mann eine Spur zu forsch.
„Wie bitte?“
„Ich meine“, er räuspert sich verlegen“, haben Sie einen Lieblingskünstler oder einen Lieblingssong?“
„Wie wäre es mit Cat Stevens?“ Sie lächelt.
„Oh ja, sehr gut. Er bietet ein breites Spektrum für den Klavierunterricht. Auch für Anfänger.“
Tag der Veröffentlichung: 17.08.2015
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