Wettbewerbsvorgabe für die August-Runde
des Anthologie-Wettbewerbs 2015:
„Wähle in einem beliebigen Buch auf Seite 111 einen Satz mit mindestens 5 Wörtern aus und schreibe eine Geschichte, in der dieser Satz vorkommt.“
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Bei diesem Beitrag wurden folgendes Buch und folgender Satz gewählt:
Charlotte Brontë - Jane Eyre
„Und ich werde dich wiedersehen, Helen, wenn ich sterbe.“
Einsamkeit ist ein Zustand, der einem die Sinne rauben kann. Man glaubt, die Welt hätte sich gegen einen verschworen. Verletzbarkeit der Seele könnte man es nennen.
Seit dem Tod meiner Mutter, im vergangenen Sommer, hatte sich alles verändert. Mein Vater war nicht mehr er selbst. Wir Mädchen bekamen ihn kaum noch zu Gesicht. Seine stolze Haltung besaß er schon lange nicht mehr.
Am Vormittag verbrachten meine Schwester Jane und ich die Stunden damit, unserem greisen Lehrer Mr. Perkins zuzuhören. Dafür mussten wir uns ans andere Ende von Kenville begeben. Das war ungefähr eine Viertelstunde Fußmarsch. Der Weg war nicht anstrengend. Nur einmal ging es einen kleinen Hang hinauf. Die Schule unterstand dem örtlichen Pfarramt und wurde von Spenden unterhalten.
Ich hasste meine Schulkleidung, weil der Stoff kratzte und grau nicht unbedingt meine Lieblingsfarbe war. Dennoch duldete Mr. Perkins keinen Widerstand. Unter Gottes Augen sollten wir alle gleich sein.
Im Gegensatz zu mir, war meine Schwester Jane viel zarter gebaut. Sie besaß lange, dünne Beine, die sie nur zu gern unter ihrem, bis zum Boden reichenden Rock versteckte.
Wenn es bei uns zu Hause am Nachmittag Pudding gab, so aß sie immer zwei davon und ich bewunderte sie für ihren gesunden Appetit.
Miss Rittley, die erste Hausdame behielt mich stets im Auge, sodass ich, obwohl ich so gern mehr als einen halben Pudding zu mir genommen hätte, augenblicklich aufhörte, da es doch nicht mein Wille war, noch mehr auf die Hüften zu bekommen. Über Miss Rittleys Lippen huschte dann ein zufriedenes Lächeln.
Manchmal hat sich Jane am Abend in die Küche geschlichen, um mir einen übriggebliebenen Pudding zu stibitzen. Einmal wurde sie dabei erwischt. Jane gab an, ihn selbst essen zu wollen. Und Miss Rittley bestand darauf, dass Jane ihn augenblicklich essen sollte. Meine Schwester würgte ihn dann herunter und kam mit leeren Händen zurück. Ich war todtraurig, hatte ich mich doch so auf den süßen Pudding gefreut.
An Schlaf war in dieser Nacht nicht zu denken. Mein Magen knurrte unaufhörlich, sodass ich mich irgendwann selbst in die Küche aufmachte.
Miss Rittley war nirgends zu sehen, was mich ein wenig beruhigte. In der Küche war auch niemand mehr, sodass ich in Ruhe die Vorräte durchgehen konnte. Ein runder Kuchen stand plötzlich, wie von Geisterhand gelenkt, vor mir auf dem Tisch. Weiß Gott, ein Prachtexemplar. Ich wehrte mich gegen den Gedanken, jene verlockende Erscheinung anzuschneiden. Doch mein Appetit war stärker. Ein kleines Stück würde sicher nicht auffallen. So nahm ich das Messer auf.
Mein Gewissen meldete sich plötzlich zu Wort: „Nein, das darfst du nicht. Du willst doch keinen Ärger, oder?“
Ärger? Welcher Ärger! Niemand würde etwas merken, da war ich mir sicher.
Es war nur ein schmales Stück, was ich herausschnitt, mehr traute ich mich nicht. Es hatte sich wahrlich gelohnt. Der Kuchen war einfach zu köstlich. Geschickt drückte ich das Übriggebliebene zusammen. Niemand würde merken, dass da etwas fehlte. Na ja, ganz so wie vorher sah es dann doch nicht aus, aber unsere in die Jahre gekommene Köchin Anna würde den Unterschied sicher nicht merken.
Jane schlief schon längst, als ich zurückkehrte. Seit dem Tod unserer Mutter teilten wir uns mein Zimmer. Sie wollte und konnte nicht mehr allein schlafen.
Ich kuschelte mich unter meine Bettdecke. Ein Schmunzeln kroch mir über die Lippen. Diesmal hatte ich Miss Rittley an der Nase herumgeführt.
Natürlich war am nächsten Morgen die Hölle los. Kurz nach Betreten der Küche, wollte Anna den schönen Kuchen für ihre Herrschaft anschneiden. Doch der war mittlerweile zusammengefallen. Sie beschwerte sich bei meinem Vater, welcher sofort den Übeltäter überführen wollte. Jane nahm alles auf sich. Ihr unsicherer Blick verriet sie allerdings.
„Du wieder! Kannst dich einfach nicht beherrschen. Wie willst du denn einen Mann abbekommen, wenn du nicht auf dich achtest“, sprach mein Vater mit mir in einem ernsten Ton.
Ich versuchte ein reumütiges Gesicht an den Tag zu legen. Ja, ich versprach sogar, mich zu bessern.
Damit gaben sie sich meistens zufrieden und ich hatte meine Ruhe.
Einmal im Monat, immer an einem Sonntag, fand es in unserem Hause ein Familientreffen statt. Meistens kam die ganze Verwandtschaft, weil es dann bei uns ein Festmahl gab und das schöne daran war, dass ich an diesem Tag einen Pudding ganz für mich alleine hatte. Richtig satt essen, hätte ich mich können. Aber ich tat es nicht.
Einer, von meinen Cousins, in den ich heimlich verliebt war, saß immer auf dem Platz mir gegenüber. Neben meiner Schwester Jane wirkte ich wie ein Pummelchen, was jeden Tag in sich hineinfraß, was es in die Finger bekam. John Wicklay hieß mein Schwarm. Ich erhoffte mir manchmal einen Blick von ihm. Aber mich beachtete John nur wenig. Viel mehr lag seine ganze Aufmerksamkeit auf Jane. Die fühlte sich natürlich geschmeichelt. Sie konnte ja nicht ahnen, welche Gefühle ich für meinen Cousin hegte.
Oh ja, John bleibt mir selbst nach all den vergangenen Jahren noch in Erinnerung. Großgewachsen, war seine Gestalt. Seine Haare so schwarz wie Kohle und sein Lächeln unwiderstehlich.
Ja, Jane hatte Glück und nahm ihn später zum Manne. Doch die Jahre brachten nichts gutes mit sich. John wurde eingezogen. Der Krieg forderte seine Opfer. Auch John war einer von ihnen. Jane brauchte Jahre um darüber hinwegzukommen. Ich wage sogar zu behaupten, dass sie es bis zum heutigen Tage noch nicht überwunden hat.
Sie hatte nie wieder geheiratet und ich blieb auch ehelos. Nicht, dass mich keiner gewollt hätte. Mein Problem war, dass ich immer in Gedanken John vor mir sah. Niemand war ihm ebenbürtig und so ließ ich es bleiben.
Als unsere beiden Elternteile verstorben waren, zog Jane zurück in unser Haus. Unser Vater hatte etwas Geld für uns zurückgelegt. Wir lebten äußerst sparsam, so kamen wir über die Jahre hin.
Immerhin konnten wir uns noch ein Dienstmädchen leisten und den alten Kutscher Harrison haben wir auch behalten. Sodass wir zumindest einmal in der Woche zum nahe gelegenen Markt fahren konnten, um uns mit Lebensmitteln einzudecken.
Unser Brot backte unsere gute Seele Elsa selbst, welche nach dem Tode von Miss Rittley in unser Haus gekommen war. Selbst das Obst, aus unserem Garten, wurde zu allerlei verarbeitet. Marmelade, Kuchen, Kompott, in allem probierten wir uns aus.
Elsa war in all der Zeit nicht nur unser Dienstmädchen. Sie war uns eine gute Freundin geworden.
Sie brachte uns vieles bei, was das Konservieren an betraf. Das half uns dann über den Winter, der in Kenville alles lahm legte. Es schneite tagelang, ohne Unterlass, sodass es Tage gab, an denen wir das Haus nicht verlassen konnten. Der alte Harrison versuchte oft vergeblich, das Gebäude von seiner weißen Last zu befreien. Irgendwann gab er auf, weil es keinen Sinn hatte, sich gegen die Mächte des Himmels zu wehren.
Viele zogen weg, aus Kenville. Wir blieben. Wo sollten wir auch hin? Für mich hatte es nie etwas anderes gegeben, außer unser Haus.
Heute bereue ich es zutiefst, nichts von der Welt gesehen zu haben. Meine Schwester Jane war oft verreist und wenn sie zurückkam so hingen wir an ihren Lippen, um das eine oder andere Erlebnis in uns aufzunehmen.
Selbst im Alter war Jane noch ein Energiebündel. Die 62 Jahre, welche sie auf ihren Schultern trug, waren ihr einfach nicht anzumerken. Ich dagegen war schon immer ein eher kränklicher Typ. Die kalten Winter setzen mir jedes Jahr mehr zu. Ein chronischer Husten ließ mich nicht mehr los.
Ich wusste schon lange, dass meine Tage gezählt waren, Jane wahrscheinlich auch, doch sie hatte immer versucht, mir neuen Mut zu machen.
Wir investierten viel Geld in meine Behandlung, was im Grunde genommen zu nichts führte.
Nun war es kurz nach Weihnachten.
„Es schneit schon wieder“, sprach Jane mit leisen Worten. Mein Blick richtete sich zum Fenster. Ich konnte mich nicht erheben, obwohl ich zu gern die letzten Schneeflocken meines Lebens gesehen hätte. Der Husten wurde so schlimmer, sodass das Blut mir aus dem Munde lief.
Jane ergriff meine Hand.
„Du darfst mich nicht allein lassen, meine liebe Helen“, meinte Jane unter Tränen.
„Wir hatten eine schöne Zeit zusammen. Die uns keiner mehr nehmen kann“, hauchte ich.
Jane drückte mir einen letzten Kuss auf die Wange. „Und ich werde dich wiedersehen, Helen, wenn ich sterbe.“
Tag der Veröffentlichung: 07.08.2015
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