Wettbewerbsvorgabe für die August-Runde
des Anthologie-Wettbewerbs 2015:
„Wähle in einem beliebigen Buch auf Seite 111 einen Satz mit mindestens 5 Wörtern aus und schreibe eine Geschichte, in der dieser Satz vorkommt.“
*****
Bei diesem Beitrag wurden folgendes Buch und folgender Satz gewählt:
Karen Rose - Feuer
„Das Lächeln verschwand, während sie zuhörte."
Ob ein Mensch ein Palindrom sein konnte? Vielleicht wenn er mit den Füßen voraus geboren wurde und auf den Namen Natan ohne „h“ hörte – so wie ich. Es hatte einige Zeit gedauert, bis ich erkannte, dass ich ein Rückwärts-Vorwärts-Phänomen war.
Nach dieser Erleuchtung erklärte sich mir mein Leben. Es erstrahlte in einem neuen Licht. Plötzlich war es nicht mehr verwunderlich, dass ich die Rolle rückwärts besser beherrschte als vorwärts und das Alphabet in atemberaubender Geschwindigkeit von hinten nach vorne plapperte und irgendwann war ich Herr der Rückwärtssprache.
Kein Wort war seit dem vor mir sicher. Mein Umfeld reagierte mit Unverständnis. Ja, es schien nahezu genervt. Aber warum? Ich verlangte lediglich ein Mindestmaß an Aufmerksamkeit, damit es in den von hinten her aufgereihten Buchstaben einen Sinn erkannte. Ich vermisste ehrliches Interesse an einer etwas anderen Verständigungsvariante.
Sogar Ella, meine geliebte Ehefrau, blockierte sich in dieser Hinsicht total. Sie hatte absolut kein Verständnis für das „Kauderwelsch“, wie sie meine Entdeckung nannte. Sehr enttäuschend. Glaubte ich doch bis zu diesem Augenblick, dass unsere Partnerschaft seine Kraft aus bruchsicherem, solidem Vertrauen sog.
Ich mochte nicht länger über ihr verletzendes Verhalten nachdenken, zu sehr war ich schon in meine genialen Gedankengänge verstrickt und übte mich unermüdlich in dieser besonderen Kunst des Sprechens …
… bis aus einem anfänglich harmlosen Spiel ein allmähliches Begreifen wurde, das sich dahinter verbarg. Bis mir dämmerte, was für eine Welt mir Tür und Tor öffnete. Diese Entdeckung ängstigte mich so sehr, dass ich Augen und Ohren verschloss und mir verbot, mich daran zu erinnern. Und trotzdem kreisten alle meine Gedanken nur noch um diese besondere Gabe und ich gestand mir endlich das Unfassbare ein.
Dieses „Palindrom-sein“ ermöglichte es, in die Vergangenheit einzutauchen, getragen von Worten, die kaum gesagt im Gestern verschwanden. Zwar tänzelten sie noch wispernd durch die Gehörgänge, versuchten, Teile des Gehirns zu erobern, aber viele verhallten unverstanden zwischen Amboss, Hammer und Steigbügel.
Jetzt stellte sich die Frage, was tat man in einem Wirrwarr von verbrauchten Buchstaben, Punkten und Kommas? Ich wagte es nur zu flüstern, diese Ungeheuerlichkeit, die ungeheuerlicher nicht sein konnte.
Wie es genau funktionierte, wusste ich nicht. Aber jedes rückwärts geplapperte Wort, das ich in der Vergangenheit wieder vorwärts sprach, schenkte mir Lebenszeit. Wie viel wusste ich nicht. Auf alle Fälle erforderte es ein Maximum an Konzentration. Ich krallte mich an ein von hinten nach vorne gesprochenes Wort, lauschte seinem Echo nach, sprang kopfüber in das eben Gesagte und landete zwischen all dem Geschwätz längst vergangener Zeit. Der Verstand weigerte sich, zu verstehen, blendete das Geschehen völlig aus und doch passierte es – für niemanden sichtbar.
„Hörst du mir überhaupt zu, Natan?“ Ellas Stimme polterte gegen mein Innenohr. Ihre Worte fielen auseinander und blieben beleidigt liegen.
Ich musste wohl oder übel meine Tätigkeit unterbrechen. Das Auftauchen aus der Erinnerung bereitete keinerlei Schwierigkeiten. Es geschah genauso lautlos wie unauffällig.
„Natürlich, Liebes.“ Ich suchte Blickkontakt, setzte mein reinstes Gesicht auf, dass sie die Wahrhaftigkeit meiner Aussage erkannte. Aber ich hatte nicht mit Ellas scharfer Beobachtungsgabe gerechnet.
„Ich sehe doch, dass du mit deinen Gedanken schon wieder ganz woanders bist. Wie so oft in letzter Zeit.“ Tadelnd zog sie eine Augenbraue in die Höhe und machte gleichzeitig einen Schmollmund.
Gefährliches Terrain. Jetzt nur nichts Falsches sagen und ich setzte auf Altbewährtes. Ich hängte mich in die Warteschleife und hoffte, dass Ella den Faden wieder aufnahm und mich damit ungewollt auf den richtigen Pfad führte. Aber ich hatte Pech.
„Und? Was sagst du dazu?“ Erwartungsvoll schaute sie mich an.
Ich hatte nicht den geringsten Schimmer, um was es ging. Am besten ich sagte gar nichts. So stierte ich erst einmal vor mich hin und kaute angestrengt auf meiner Unterlippe herum, dass es den Anschein erweckte, als überlegte ich.
Wäre es nicht fair gewesen, Ella an diesem unheimlich Geschehen teilhaben zu lassen? Ihr zu beichten, wohin ich mich verkroch, wenn ich gedankenverloren durch sie hindurch starrte? War es Betrug darüber zu schweigen?
Ich liebte Ella. Sie war der Mensch, mit dem ich alt werden wollte. Ich hatte es damals geschworen – ihr und mir. Wie würde es sein, wenn sie alterte, ich aber als ewiger Jungbrunnen neben ihr her tänzelte. Und später, wenn ich sie gar zu Grabe trüge. Ein wahnsinniger Schmerz bohrte sich durch mein Herz. Unvorstellbar, ohne Ella sein zu müssen.
Die Entscheidung war gefallen. Ich brauchte sie auch in der Ewigkeit.
„Ella hör zu …“ Ich zwang ihr meinen Blick auf und versuchte, den Wahnsinn in verständliche Worte zu kleiden – behutsam und doch eindringlich. Ich verlangte nicht, dass sie es verstand. Sie sollte mir einfach nur glauben. Sie musste mir glauben. Ich konnte sie nicht verlieren. Aber es kam anders als ich mir erhoffte. Ihr anfangs entspannter, ja fast amüsierter Gesichtsausdruck wurde düster. Das Lächeln verschwand, während sie zuhörte.
„Du machst mir Angst“, flüsterte sie mit weit aufgerissenen Augen.
Alle Mühe war umsonst gewesen. Ich hatte mir gewünscht, dass sie mir wirklich zugehört hätte – zusammen mit ihrem Verstand. Es würde alles verändert haben. Aber sie ließ sich nicht darauf ein. Für sie waren meine Worte jenseits ihres Verstehens.
„Ella, probiere es doch wenigstens. Spreche die Worte rückwärts und fühle dich in sie hinein. Atme dich in deine Worterinnerungen und verlängere dein Leben Stück um Stück. Ella, bitte, versuche es – um unseretwillen. Wir werden ewig leben – du und ich.“
Sie verzog angewidert ihr Gesicht.
„Ich will davon nie wieder etwas hören, Natan – nie wieder!“ Böse funkelte sie mich an. Und ich begriff, woran es lag. Ella war kein Palindrom. Sie würde niemals diesen Schauer spüren, dieses irre Gefühl, das sich beim Rückwärtsfallen in die Vergangenheit in das Gehirn krallte. Ich wusste, dass ich sie verlieren würde. An den Tod.
Aber so schwer es mir auch fiel, konnte ich es nicht ändern. Die Reisen in die Worterinnerungen waren zur Sucht geworden. Unmöglich davon zu lassen. Mein Schwur, gemeinsam mit Ella zu altern, wurde zur Farce. Ich schämte mich, aber ich hatte mich an die Ewigkeit verkauft. Und so versank ich täglich in einem Buchstabenmeer, um mein Leben immer weiter in die Unvergänglichkeit zu treiben. Die Gier nach Unsterblichkeit ließ Ella einfach aus meinen Gedanken fallen.
Und es kam wie es kommen musste …
… die Zeit machte sich an ihr zu schaffen, veränderte sie. Aus einer jungen Frau wurde ein alterndes Weib. Argwöhnisch betrachtete sie meinen Körper, die feste Haut, das volle Haar, meine ungebrochene Lebensenergie. Sie fing an, mir glauben zu schenken, flüchtete sich in meine Arme und weinte bittere Tränen. Schluchzend erklärte sie mir, wie töricht sie doch gewesen sei und sie endlich verstünde.
Verzweifelt versuchte sie nun, meinem Beispiel zu folgen. Sie sprach die Worte rückwärts, vorwärts und wieder zurück – Tag und Nacht. Sie atmete tief in ihren kostbaren Wortschatz, bis ihr die Sinne schwanden und sie ohnmächtig in meine Arme sank. Aber es nutzte nichts. Meine Welt blieb ihr verschlossen. Es gab keine neue Lebenszeit für Ella. Ich wusste nicht, wie ich ihr helfen konnte.
Und so saß ich eines Tages an Ellas Bett und hielt ihre Hand. Noch immer hatte sie die Hoffnung nicht aufgegeben. Mit gebrochener Stimme hauchte sie ein Kauderwelsch von verdrehten Buchstaben, die keinen Sinn mehr ergaben. Zu spät … für uns. Das ewige Ticken der Zeit nahm mir das Liebste.
Meine unendliche Trauer ergoss sich in einem Meer salziger Tränen. Ich drohte darin zu ertrinken. Ein Leben ohne Ella. So unvorstellbar und doch war es geschehen. Zweifel nagten an meinem Tun. Hatte ich falsch gehandelt? War es von mir egoistisch gewesen, mich für die Unendlichkeit zu entscheiden – gegen Ella, trotz des Schwurs?
Ich war allein in meiner Rückwärts-Welt, auch wenn ich mich neu verliebte. Sie könnte mir nicht folgen. Keiner könnte es. Kaum geliebt, müsste ich Abschied nehmen – wieder und wieder.
Und ich wanderte durch leere Jahre, durch ein endloses Leben voller Einsamkeit. Angst, erneut mein Herz zu verschenken.
***
Gedankenverloren schob ich meinen Einkaufswagen durch die Gänge des Supermarkts.
„Entschuldigung, sie sind so herrlich groß. Sie reichen sicher problemlos an die Kekse.“ Eine junge Frau deutete auf die oberste Reihe des Süßigkeiten-Regals. Sie schenkte mir einen atemberaubenden Augenaufschlag. Mein Herz kippte aus seiner Halterung, verlor den Rhythmus und schlug unkontrolliert gegen meinen Rippenbogen. Ein fast vergessenes Gefühl katapultierte mich auf eine rosarote Wolke.
Welches Glück, so hoch gewachsen zu sein. Sie hätte mich sonst sicherlich nicht um Hilfe gebeten. Betont lässig griff ich nach der Packung und gab sie ihr mit einem strahlenden Lächeln. Was sollte ich nur sagen, ich konnte sie doch nicht einfach wieder aus meinem Leben verschwinden lassen.
„Darf ich sie auf einen Kaffee einladen?“ Du meine Güte, was plapperte ich da. War mir nichts Klügeres eingefallen? Oder etwas Witziges? Lachen verband. Eine Einladung auf einen Kaffee war viel zu plump. Schweiß trat aus meinen Poren und alles Blut sammelte sich in den Ohren, wie bei einem Schuljungen. Verschämt brach ich den Blickkontakt ab und versuchte krampfhaft, die aufsteigende Röte wegzudenken. Über die vielen Jahre hatte ich das Flirten verlernt.
„Sehr gern.“ Zwei wunderbare Worte hüpften mir entgegen, nahmen mir den Atem, berauschten mich. Als schillernde Schmetterlinge tanzten sie durch meine Gehirnwindungen, bis sie von Glückswellen getragen in meinem Magen strandeten.
Da streckte sie mir auch schon ihre Hand entgegen.
„Hallo, ich bin die Anna…“.
Tag der Veröffentlichung: 05.08.2015
Alle Rechte vorbehalten