Anna hat sich gut eingelebt in der Wohngemeinschaft. Sie versteht sich mit ihren Mitbewohnern Robert und Tina bestens. Das Bafög und die wenigen Euro aus dem Aushilfsjob als Kellnerin in einem kleinen Café sind gerade so zum Leben, für die Monatskarte und hin und wieder einen Kinobesuch genug. Ihr kleines Zimmer hat sie mit den Kinderzimmermöbeln von zu Hause eingerichtet. Das Bett, die Kommode und der kleine Computerarbeitsplatz reichen ihr völlig aus.
Es ist Spaghetti-Donnerstag. Heute hat Robert gekocht, Tina hat den Wein besorgt und Annas Zimmer ist heute der Speisesaal, sie soll den Tisch decken. Nun, von Tisch decken kann nicht wirklich die Rede sein, denn die spärliche Möblierung in ihrem Zimmer macht Improvisationstalent notwendig.
"Tina, schau mal, so langsam wird es gemütlich in meinem Zimmer."
Mit einer gelben Bettdecke und ein paar bunten Kissen hat Anna versucht ein bisschen Gemütlichkeit in ihr neues Zuhause zu bringen. Nach dem nächsten Lohntag möchte sie noch einen kleinen Teppich und Vorhänge kaufen und so Schritt für Schritt eine kleine Puppenstube aus ihrer Studentenbude machen
"Für unseren Spaghetti-Abend fehlt jetzt noch ein Tisch."
"Ach iwo. Anna, zum Essen setzen wir uns auf den Fußboden. Du weißt doch, wir nehmen es locker."
"Ja, aber das ist schon ungewöhnlich für mich. Zu Hause gab es so etwas nicht. Da wurde immer sehr auf Etikette geachtet. Mein Vater hat immer gesagt, dass ich mich so benehmen soll, als würde ich auf einer Bühne sein. Das Leben wäre ein ewiges Schauspiel."
Tina fängt an zu prusten. Sie kann sich kaum halten vor Lachen: "Anna, dann gibt es heute auf deiner Bühne "Die Räuber". Wollen wir uns noch verkleiden?"
Erst fällt Anna in das Lachen mit ein, aber dann wird sie nachdenklich. Es fällt ihr schwer, aus ihrer Haut zu gehen. Es ist ihr förmlich eingebläut worden, sich in jeder Lebendlage korrekt und ordentlich zu benehmen. Was würden die Eltern sagen, wenn sie hier für ihre Gäste den Tisch nicht stilvoll eindeckt, sondern die Teller, das Besteck und die Gläser auf ein paar Geschirrtücher, die nicht einmal richtig gebügelt sind, stellt. Sie legt die Kissen auf den Fußboden und betrachtet ihr Werk. Ein gemischtes Gefühl überkommt sie. Es hat so etwas von Abenteuer aber auch von Angst, die Enttäuschung der Eltern zu spüren zu bekommen. Sie hört ihren Vater sagen: "Anna, geh bitte in dein Zimmer und denke darüber nach, wie man sich richtig benimmt." Oder vielleicht würde er auch sagen: "Du enttäuschst uns wiedermal, Anna." Dass in ihrer Studentenbude die heimischen Kinderzimmermöbel stehen, macht die Vorstellung noch viel plastischer. Sie atmet schneller und verdrückt eine Träne.
"Träume nicht, Anna!"
Robert hat umständlich mit dem Ellenbogen die Tür geöffnet und stellt den großen Kochtopf mit den Spaghetti auf den Fußboden zwischen die Teller. Tina bringt die Kasserolle mit der Tomatensauce und den Rotwein. Anna erringt schnell ihre Fassung zurück. Sie stellt die passende Musik auf ihrem Rechner ein. Das Donnerstagsessen kann beginnen.
"Leute, das hätte ich mir nicht so lustig vorgestellt." Nach dem Essen haben sich alle drei quer auf das Bett gesetzt und mehr oder weniger tiefsinnige Gespräche geführt. Tina hatte gemerkt, dass Anna mit ihren Eltern einen wunden Punkt hat und das Thema geflissentlich ausgelassen. Studium, Studenten, Dozenten, Professoren und Nachbarn bieten genügend Stoff zum belanglosen diskutieren. Und dann holt Robert noch seine Gitarre und die kleine Studentenbude wird zum imaginären Lagerfeuerplatz.
Als Anna dann in ihr Bett sinkt, ist sie glücklich wie lange nicht. Einfach nur so zusammensitzen, ob auf dem Fußboden oder dem Bett, mit unkomplizierten Leuten. Das hat ihr gut getan.
Der Wecker erinnert Anna daran, dass sie zur Vorlesung muss. Und sein durchdringender Ton erinnert sie an das letzte Glas Wein, das wohl zu viel war. Sie schleicht ins Bad, und sucht unkonzentriert nach einer Kopfschmerztablette. „Ich muss Tina fragen.“ Aber Tina war schon weg und Robert schlief noch ganz fest. „Dann werde ich gleich zur Apotheke gehen.“
Was ist das jetzt? Der Wecker nochmal? Hat Anna die Schlummertaste gedrückt? Oh, nein, das Telefon meldet einen Anruf ihrer Mutter.
„Hallo Mama.
Ja, es geht mir gut, ich muss gleich los zur Uni.
Das ist schön.
Ich freue mich.
Bitte grüß Papa von mir.
Auf Wiedersehen, bis Samstag.“
Was hat Annas Mutter gesagt? Am Samstag kommt sie mit Papa, das Zimmer von Anna anzuschauen. Und Mama bringt zum Mittagessen ihr leckeres Putengeschnetzeltes mit. Anna braucht nur noch den Reis vorzubereiten. Das ist keine Hürde der kostet nur ein paar Cent. Anna schaut in ihr Portemonnaie und stellt fest, dass sie noch etwas über fünf Euro hat. Davon kann sie den Reis kaufen und auch noch eine Flasche Weißwein, damit sie den Tisch stilvoll vorbereiten kann. Und dann fällt es ihr ein. "Sch...., ich habe keinen Tisch! Ich muss unbedingt einen Tisch kaufen."
Ach, das liebe Geld. Anna wollte Sonnabend ins Café arbeite gehen, damit sie den Lohn und das Trinkgeld für die nächste Woche für den Einkauf zur Verfügung hat. Nun werden die Eltern da sein, sie muss in einen Tisch investieren und auf den Aushilfslohn verzichten. Es ist ein verdammter Teufelskreis!
„Robert.“, Anna ist in sein Zimmer geschlichen. „Hallo Robert, bist du schon wach?“ Robert knurrt sie missmutig an. Der duftende Kaffee, den sie Robert unter die Nase hält, bewirkt, dass seine Wachgeister allmählich von ihm Besitz ergreifen. Zu zweit denkt es sich dann besser nach.
„Ach Kleene, musst du es dir so schwer machen? Es war gestern so gemütlich in deinem Zimmer. Glaubst du nicht, dass es deinen Eltern nicht auch so gefällt. Sie sollen doch sehen, wie du hier lebst und sich freuen, dass es dir hier genauso gefällt.“
„Du kennst sie halt nicht, Robert.“
Und Robert sieht in Annas traurigen Augen und an ihren hängenden Schultern, dass sie sich in einer verzwickten Situation befindet. Den Eltern gerecht zu werden und gleichzeitig ihre neu gewonnene Unabhängigkeit anzusteuern, löst in ihr widersprüchliche Gefühle aus.
„Okay, wir lösen dein Problem. Als erstes fällt heute mal die Uni aus. Du weißt, es gibt doch immer diese Wasserschäden.“
Anna schaut erst ungläubig, aber dann kommt der Scherz bei ihr an und sie kann sich ein verschmitztes Lächeln nicht verkneifen. Ihr schlechtes Gewissen schaltet sie ganz schnell aus, denn auf den Lehrinhalt könnte sie sich sowieso nicht konzentrieren.
„Als zweites fahren wir mit dem Neuner-Bus zur Möbelbude, in der ich neulich meinen coolen Schreibtisch gekauft habe.“
„Gute Idee, Robert. Gebrauchte Möbel in liebevolle Hände abzugeben! Deren Werbespruch gefällt mir. Aber ich, “ Anna fiel Ihr Portemonnaie ein. „ich bin sehr klamm.“
„Ach Kleene, das bisschen strecke ich dir mal vor.“
Im Neuner-Bus träumt Anna so vor sich hin und kommt zu dem Schluss, dass sie es gut getroffen hat mit ihrer Wohngemeinschaft. Das Studium wird eine tolle Zeit werden. Tina ist sehr nett und Robert gefällt ihr nicht nur als Mitbewohner. Vielleicht entwickelt sich da noch etwas?
„Aussteigen!“ Robert reißt sie aus den Gedanken.
In der Möbelhalle werden sie schnell fündig. Für einen Zehner kaufen sie einen kleinen leichten Küchentisch von dem zum Glück die Beine abzuschrauben gehen, so können sie ihn bequem mit dem Bus nach Hause transportieren. Schnell sind die Beine anmontiert. Anna schwingt den Putzlappen und die Errungenschaft steht in Ihrem Zimmer. Robert zieht sich den Schreibtischstuhl an den Tisch und Anna setzt sich auf das Bett. Dann fangen beide an zu lachen, weil Anna geradeso mit der Nase über den Tisch reicht. Für drei Stühle reicht der Platz in ihrem kleinen Zimmer nicht, einer wird auf dem Bett sitzen müssen, also muss schonwiedermal eine Lösung her. Mit Roberts handwerklichen Fähigkeiten ist es nicht so weit her. Eine Säge ist halt keine Gitarre.
Und was jetzt folgt gleicht einem Stummfilm von Dick und Doof. Messen - Anzeichnen – Sägen – Aufstellen – und der Tisch wackelt! Wieder Messen - Anzeichnen – Sägen – Aufstellen – und der Tisch wackelt immer noch! Noch mal das gleiche Procedere – und der Tisch wackelt.
„Jetzt müssen wir aber ganz vorsichtig vorgehen, sonst könnt ihr nur auf Kissen auf dem Fußboden am Tisch sitzen.“
„Das hätten wir ja billiger haben können.“
Also wird noch einmal ganz pedantisch gemessen, exakt angezeichnet und genau gesägt. Der Tisch wackelt nicht mehr. Die Höhe geht grade noch, wenn man den Schreibtischstuhl etwas nach unten verstellt. Einen kleinen Hocker holen sie aus Roberts Zimmer dazu und die beiden blicken stolz auf ihr Werk.
Als Tina nach Hause kommt staunt sie nicht schlecht. Und schlägt gleich einen Spaghetti-Freitag vor, denn so eine Leistung muss gefeiert werden.
„Meine sehr verehrte Damen und Herren, treten sie ein in den Speisesaal das Festessen ist aufgetan.“ Die Spannung ist von Anna gewichen. Sie genießt den Abend mit ihren Freunden und ihr ist vor dem Besuch der Eltern nicht mehr bange. Es wird wieder ein sehr lustiger Abend, an dem alle Drei natürlich wieder zum Schluss quer auf dem Bett sitzen. Der Tisch steht etwas im Weg und gemütlicher war es sowieso ohne ihn, aber keiner spricht es aus, denn Anna und Robert sind stolz auf das Geschaffte.
Sonnabend früh putzt Anna ihr Zimmer, Küche, Bad und Flur. Sie deckt den Tisch ordentlich ein, huscht schnell in den Supermarkt um Reis und Wein besorgen. Sie ist froh, dass sie die ganze Zeit so beschäftigt ist, dass ihre Aufregung keine Möglichkeit hat, sich auszubreiten. Alles ist bestens vorbereitet. Anna freut sich jetzt auf den Besuch, hat sie doch alles richtig gut gemacht.
Und dann ist es soweit. Die Eltern stehen vor der Tür. Sie umarmen Anna zur Begrüßung. Mama steht eine kleine Träne in den Augen. Papa schaut erwartet skeptisch, als Anna die Eltern durch die Wohnung führt. Und als sie zuletzt dann Annas Zimmer mit dem gedeckten Tisch betreten, schaut Mama ganz verlegen.
„Anna, mein Liebes, das tut mir aber jetzt leid. Ich habe es gar nicht mehr geschafft, das Geschnetzelte zu kochen. Wir haben gedacht, dass wir dich doch lieber zum Essen in ein Restaurant einladen“
Anna atmet kurz durch, schluckt mit einem angestrengten Lächeln eine aufsteigende Wut bühnenreif herunter und sagt mit einer Bestimmtheit, die ihre Eltern so nicht von ihr kannten: „Setzt euch wenigstens fünf Sekunden an meinen Tisch! Bitte!“
Bildmaterialien: Pixabay, CCO Public Domain, User: nile
Tag der Veröffentlichung: 12.07.2015
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