„Nur fünf Sekunden“, murmelte Peter, während er die Abdeckung entfernte, „Das ist nicht viel, aber es müsste noch reichen.“
Im zuckenden Licht der Rundumleuchten sah er das Innere. Das Display beleuchtete grell rot sein Gesicht.
Vier Sekunden.
Die Platine war seitenverkehrt, aber das war kein Problem. Er löste mit raschen Bewegungen die Verschraubung und klappte das Board hoch.
„Franzis drei, deine Kamera ist ausgefallen!“, ertönte es aus seinen Helmlautsprechern. Seine Hand blieb ruhig. Er löste das schmale Kupferband aus der Schnittstelle.
Zwei Sekunden.
Das Display leuchtete grell rot.
Das konnte nicht sein! Ein Schweißtropfen rann ihm ins rechte Auge. Er blinzelte.
Eine Sekunde.
Er prüfte die Platine. Es war die falsche!
Das Display verlosch...
Jamie lag angeschnallt auf der Pritsche und sein linker Arm war ausgestreckt an dem Ausleger fixiert. Der Arzt hatte die Zugänge gelegt und überprüft. Wenn er seinen Kopf etwas nach oben drehte, konnte er die Normaluhr über sich gerade so erkennen.
„Nur fünf Sekunden“, dachte er und schaute zur Decke. Hatte er Angst? Er wusste es nicht. Sein Fühlen war irgendwie ins Koma gefallen, nachdem sie ihn hier rein gebracht und auf der Liege mit dem dunkelbraunen Kunstleder festgeschnallt hatten. Er registrierte nur noch. Durch die Scheibe hatte er die Zuschauer sehen können, das Arschloch von Staatsanwalt vorn in der ersten Reihe und die Alte hinten rechts. Das war die Witwe des Bullen, er hatte sie von der Verhandlung wiedererkannt. Ob es ihr eine Genugtuung sein würde, wenn sie zusah, wie er an dieser Infusion verreckte? Vielleicht würde sie aber auch eine Zeitlang schlecht träumen danach. Dem Staatsanwalt, diesem verdammten Rassisten, würde höchst wahrscheinlich einer abgehen, wenn er es sah. Auch egal, der Kerl war sowieso ein Wichser.
Vier Sekunden.
Jamie schloss die Augen vor dem grellen Licht, das die Kabine erbarmungslos ausleuchtete. Draußen auf dem Gang stand sein Pflichtverteidiger und wartete auf den Anruf vom Gouverneur wegen der Begnadigung. Sollte er. Er hatte seinen Job ganz gut erledigt, aber für Jamie war klar, dass keiner anrufen würde. Nicht bei einem Bullenmörder.
Drei Sekunden.
Unter der Pritsche wurden leise Geräusche hörbar. Die Pumpe begann summend, die Flüssigkeiten in den Behälter zu saugen. Man hatte ihm die ganze Sache genau erklärt. Er hätte drauf verzichten können, aber die hatten ihre Vorschriften.
Vor Jamies innerem Auge tauchte wieder das erstaunte Gesicht des Bullen auf. Er hatte irgendwie nicht fassen können, dass der Nigger, den er da am Boden hatte, sich wehrte.
In den letzten acht Jahren war keine Nacht vergangen, in der Jamie diese Fratze ihm nicht erschienen war. Jetzt war es wohl das Letzte, das ihm erscheinen würde. Was für ein Scheiß!
Eine Sekunde.
Da kam die Angst. Unter ihm surrte die Todesmaschine auf Hochtouren. Jamie spürte Hitze in seinem Arm. Verdammt, er war doch erst Mitte dreißig! Das könnt Ihr doch nicht wirklich machen!
Im Schaltraum nebenan begann das Telefon zu klingeln. Der rote Sekundenzeiger der Normaluhr sprang auf Null. Der Vollzugsbeamte sah den Anstaltsleiter an. Der nickte. Der Beamte sah zum läutenden Telefon. Dann drückte er den roten Knopf...
Der heiße Wind bauschte die Zeltplane und Staub wirbelte unter ihr herein. Die Frau auf der Liege atmete schnell und stoßweise. Ihr Gesicht, das von ein paar kaum verheilten Wunden schrecklich entstellt war, glänzte von Schweiß und Tränen. Ihre großen, aufgeworfenen Lippen waren aufgesprungen und bluteten. Die nächste Wehe brach über die Kreißende herein. Sie litt heftige Schmerzen, aber die junge Ärztin konnte nichts dagegen tun. Sie war klein, fast zu schmächtig für diese Arbeit hier, aber der erste Eindruck trog. Natalie Werner war eine Kämpfernatur. Trotzdem sah sie in diesem Moment besorgt aus. Nengai ging es nicht gut. Lange durfte diese Entbindung nicht mehr dauern.
Die Schreie verklangen, die Frau war zu erschöpft, ihre Kehle wie ausgedörrt. Die Ärztin prüfte wieder den Geburtskanal.
„Du hast es bald geschafft, halt durch!“, sagte sie in ihrem deutsch gefärbten, seltsam klingenden Französisch. Nengai nahm es nur noch im Dämmer ihres schwindenden Bewusstseins wahr. Sie spürte, dass die Kraft sie verließ. Sie glaubte zu wissen, warum dies geschah. Ihr Körper sträubte sich gegen das Kind in ihm. Alles, was mit ihm zusammen hing, war mit Schmerz und Demütigung verbunden. Sie konnte nicht mehr sagen, wie oft sie von den Männern mit den Maschinengewehren und den grässlichen Macheten vergewaltigt und geschlagen worden war. Später kamen andere Männer mit Maschinengewehren, die das Dorf besetzten. Ihre Peiniger wurden vertrieben. Aber auch sie wurde vertrieben. Man warf ihr vor, sie hätte gemeinsame Sache gemacht...
Die nächste Wehe und Nengai spürte, wie etwas in ihr zerriss. Ihr schwanden die Sinne, aber diese junge weiße Ärztin zwang sie energisch, wach zu bleiben.
„Einmal noch, einmal noch“, redete sie beschwörend auf sie ein. Sie benetzte Nengais Lippen mit lauwarmem Wasser und Nengai fand die Kraft, etwas davon abzulecken. ‚Nicht noch einmal!’, schrie ihr geschundener Leib.
Und dann war es auf einmal vorbei.
„Schau her, es ist ein Mädchen!“, rief die Ärztin. Die Anstrengung war gewaltig, aber Nengai hob die Lider und schaute. Sie sah das kleine Etwas in den blutbeschmierten Händen der kleinen Frau. Es war stumm und es bewegte sich kaum.
Was auch immer Nengai bis hierhin gefühlt und gedacht hatte, jetzt erfüllte sie eine panische Furcht. Was, wenn das Mädchen starb?
Natalie begann das Kind zu säubern. Sie sah auf die Uhr: Eine Sekunde!
Es atmete nicht!
Natalie Zwang sich zur Ruhe. Sie untersuchte den Mund der Kleinen, die Atemwege.
Zwei Sekunden.
Sie hob das Kind an den Beinen hoch, klopfte vorsichtig auf den winzigen Rücken. Das Kind wand sich ganz schwach.
Drei Sekunden.
Natalie wusste, dass ihre Möglichkeiten in diesem improvisierten Kreißsaal mehr als beschränkt waren. Sie würde nicht intubieren können.
„Hilf ihr!“, krächzte Nengai von der Liege her, „sie soll leben!“
Vier Sekunden.
Runzlige schwarze Hände griffen plötzlich von der Seite nach den Beinen des Kindes. Natalie sah in das Gesicht einer Frau, deren Mund eingefallen war und umgeben von einem feinen Netz von Fältchen.
Die Frau hob das Kind und schlug mit der flachen Hand zu. Natalie hätte später nicht sagen können, wie heftig dieser Schlag gewesen sein konnte.
Fünf Sekunden.
Das kleine Mädchen gab einen schwachen meckernden Ton von sich und der winzige Körper bewegte sich. Der erste Schrei erklang! Die Alte gab das Kind Natalie mit einer raschen Bewegung zurück. Die Blicke der beiden Frauen trafen sich.
„Mercí“, sagte die junge Frau fast andächtig. Die Alte neigte den Kopf.
Natalie wandte sich Nengai zu, wollte ihr das Mädchen geben. Nengai lag sehr still und ihre Augen sahen in eine ferne Zukunft.
Die Uhr stand bei fünf Sekunden. Der Christoph schwitzte, leckte sich die Lippen. Das Glas vor ihm war leer. Wegen fünf Sekunden würde die hübsche langbeinige Assistentin kein neues mehr bringen.
„Konzentration jetzt, dies ist die letzte Frage. Wer diese zuerst richtig beantwortet, ist der heutige Gewinner!“
Der Spielleiter beherrschte seinen Job. Das Publikum im Studio hielt förmlich den Atem an.
Die Sympathien waren klar verteilt. Auf der anderen Seite saß dieser selbstsichere Typ mit den intelligenten kalten Augen und diesem Herablassung signalisierenden Lächeln. Er, Thilo, hatte den ganzen Abend wie der sichere Sieger ausgesehen und nun war es am Ende doch ein Kopf- an-Kopf-Rennen geworden.
Die Kontrahenten umklammerten die dicken, roten Buzzer-Knöpfe. Auf der Videowand begannen die Felder zu blinken.
„Fußball!“, verkündete der Spielleiter und ein Raunen ging durch die Zuschauer. Christoph wischte sich über die Augen. Thilo ließ kein Auge von ihm.
„Welcher Spieler wechselte vor Kurzem für die Rekordablösesumme von einundzwanzig Millionen Euro vom FC ...“
Das hässliche Geräusch des Buzzers ertönte. Christoph zuckte die Achseln, machte eine resignierte Handbewegung in Thilos Richtung. Dessen Lächeln wucherte zu einem Grinsen heran. Er saß mit weit abgespreizten Beinen auf seinem Hocker, hatte die Hände auf die Oberschenkel gestützt und sein zweiter Vorname, so wollte es scheinen, war in diesem Moment Triumph.
Vier Sekunden.
„Das ist der Mittelfeldspieler, der früher bei Genua und Paris gespielt hat. War nur zwei Jahre in München“, dozierte er mit Kenner-Attitüde.
Drei Sekunden.
„Ich hab’s neulich erst im Kicker gelesen“, sagte er und sein Grinsen welkte schon.
Zwei Sekunden.
„Ich brauche den Namen, Thilo!“, mahnte der Spielleiter mit kühler Sachlichkeit.
Thilo sagte ihn, lehnte sich zurück.
Eine Sekunde.
Im Studio war es totenstill. Es ging um viel, aber ums Leben ging es nicht. Ein leiser, aufreizender Herzton lag über der Szene.
Das Signal ertönte. Es war das böse für die falsche Antwort.
„Christoph. Du hast jetzt die Chance. Wenn du richtig antwortest, gehört der Sieg dir.“
Im Publikum wurde es unruhig, Beifall und Rufe wurden laut, pflanzten sich als Welle durch die Reihen fort.
„Bitte noch einen Moment Ruhe, damit sich Christoph konzentrieren kann!“, mahnte der Spielleiter. Ruhe zog wieder ein.
Christoph spielte nervös mit dem leeren Wasserglas. Schweiß rann ihm die Schläfen herab. Er murmelte tonlos und sein Gesicht machte einen fast infantilen Eindruck.
Die Uhr begann wieder zu zählen.
Fünf Sekunden.
Christoph begann zu sprechen, hatte einen Kloß im Hals, räusperte ihn weg. Sagte den Namen. Sagte ihn zögernd und fast als Frage intoniert. Vorn in der ersten Reihe wurde bereits geklatscht. Die Fanfare schuf Tatsachen. Christoph hatte gewonnen. Irritiert sah er ins Publikum.
„Meine Damen und Herren, ein überaus spannender Abend hat einen Überraschungssieger gefunden! Christoph aus ...“ – der Ortsname ging im Beifall unter – „... hat den Einkaufsgutschein in Höhe von Eintausend Euro gewonnen!“
Thilo kam zu Christoph herüber, der verwirrt Hände schüttelte und den überdimensionalen Gutschein in Richtung der Kameras hielt.
„Gratuliere. Ich hab ehrlich gestanden nicht ganz mitbekommen, was du gesagt hast“, sagte er und schüttelte Christoph die Hand.
„Da bist du offenbar nicht der Einzige“, sagte der und zum ersten Mal grinste er.
„Prosit Neujahr, mein Schatz!“, sagte meine Frau und sah mich zärtlich an. Ihr Glas stieß gegen das meine und es gab einen wunderbaren Klang.
„Aber es sind noch fünf Sekunden!“, sagte ich, hob das Glas und trank.
„Was sind schon fünf Sekunden?“
Bildmaterialien: Pixabay, CCO Public Domain, User: nile
Tag der Veröffentlichung: 10.07.2015
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