Franziska kam gerade aus Madrid. Der Flug war unruhig gewesen und sie hatte die Zeit nicht, wie gewünscht, nutzen können, ihre Notizen durch zu sehen und zu ordnen. Das brachte sie in Zeitnot. Sie hasste es, wenn solche Dinge passierten und sie tatenlos zusehen musste, wie die Umstände ihr die Bedingungen diktierten. Es würde eine kurze Nacht werden und das Meeting morgen würde sie eigentlich ausgeruht und konzentriert brauchen. Aber es half nichts, sich zu beklagen.
Die Wohnung lag im Dunkeln und wie verlassen. Sie warf die Schlüssel in die Schale auf dem Garderobenschränkchen und hängte den Mantel auf den messingfarbenen Bügel. Die Frau, die ihr aus dem Garderobenspiegel entgegen sah, wirkte müde und ein wenig gehetzt. Sie fand kurz, dass es weit weniger schlimm aussah als sie sich selbst fühlte. Sie würde sich einen starken Kaffee machen, eine Kleinigkeit essen und sich dann an die Vorbereitung für das Meeting machen.
Sie entledigte sich ihrer Business-Kleidung, stieg rasch unter die Dusche und schlüpfte im Anschluss in ihre Schlabber-Jogginghose und das viel zu große Jersey der Berliner Eisbären.
Den Kaffeepott in der Rechten und das Laptop in der Linken, so betrat sie das Wohnzimmer. Die Stehlampe in der Ecke neben der Balkontür riss einen Kegel Licht aus der Dunkelheit. Franziska schreckte zurück, denn scharf am Rand dieses Lichtkegels saß Wolfgang, ihr Mann im Relaxsessel, aber ganz und gar nicht relaxed. Er hatte die Ellenbogen auf die Oberschenkel gestützt und das Gesicht in den Händen vergraben. Vor ihm am Boden lag ein brauner Umschlag, etwas liederlich aufgerissen. Ein paar Blätter sahen aus dem Umschlag hervor.
„Warum sitzt du hier im Dunkeln? Du hast mich erschreckt“, sagte sie, kam zu ihm herüber und küsste flüchtig seinen Schädel mit dem kurzen, eisgrauen Haar. Er nahm die Hände vom Gesicht und sah zu ihr hoch, aber sie hatte sich abgewendet und war hinüber gegangen zum Esstisch.
„Der Rückflug war eine Zumutung, ich kann dir sagen!“, rief sie, während sie die Daten auf das Display des Rechners holte. Das fahle Licht machte ihr Gesicht alt und maskenhaft.
„Die Gespräche war ganz vernünftig. Die Spanier sind immer etwas ausschweifend, du kennst das ja, aber alles in allem können wir ganz zufrieden sein. Ich muss morgen nur noch die Alten vom Vorstand ins Boot kriegen. Wird schwer genug. Wenn ich nur an Kurt Wöller denke...“
„Ich sterbe“, sagte Wolfgang und der Klang seiner Stimme machte, dass Franziska innehielt.
„Du, damit macht man aber keine Scherze!“, sagte sie vorsichtshalber und stand auf.
„Siehst du mich lachen?“, entgegnete er sarkastisch. Aber seine Stimme zitterte verräterisch.
„Was ist denn los?“, fragte sie, diese steile Falte Ungeduld über der Nasenwurzel. Die Linke in die Taille gestützt stand sie vor ihm, sah ihm ins Gesicht. Er bückte sich, hob das Kuvert auf, zog die Blätter heraus und hielt sie ihr hin.
„Was ist das? Nun red’ doch endlich!“, rief sie ungeduldig, sah auf das erste Blatt, merkte, dass sie ohne Brille den kleingedruckten Text dieses Berichtes nicht lesen konnte. Sie sah sich suchend nach ihrem Brillenetui um.
„Die Untersuchungsergebnisse von unserem Betriebsarzt. Wir mussten doch alle zu dieser Routineuntersuchung.“
„Ja, und was steht drin?“ Ihre Ungeduld nahm zu. Sie versuchte immer noch, aus den Blättern schlau zu werden.
„Ich habe ein Leberkarzinom. Der Arzt sagt, ich habe noch zwei, höchstens drei Monate.“
Er sah sie mit Augen an, die so dunkel und inständig um Hilfe flehten, dass es ihr im selben Moment das Herz zerreißen wollte. Sie ließ die Blätter sinken, machte eine hilflose Geste mit der linken.
„Das glaube ich nicht. Wolf, du stirbst doch nicht. Du doch nicht!“ Sie drehte sich suchend zuerst nach rechts dann nach links, nicht wissend, warum. Tränen drängten sich in ihre Augen. Sie biss die Zähne auf einander, versagte sich das Privileg, in Tränen auszubrechen.
„Warum nicht? Weil es dir nicht ins Konzept passt?“ Er richtete sich auf, sein Mund war verzerrt und Franziska sah, dass er geweint hatte, lange vor ihr. Wolf war ein wunderbarer Mann, aber er war nicht besonders stark.
Sie löste sich aus ihrer Starre, ging vor ihm auf die Knie, nahm sein Gesicht in ihre Hände. Ihre Blicke trafen sich aus nächster Distanz. Sie registrierte die kleinen roten Äderchen im Weiß seiner Augen. Sie sah, wie er versuchte, sich auf ihr Gesicht zu fokussieren. Er öffnete den Mund, wollte etwas sagen, aber seine Unterlippe bebte und ein Speichelfaden hing zwischen den Schneidezähen von Ober- und Unterkiefer. Franziska hatte das traumwandlerische Gefühl, die Schlüsselszene eines Dramas in extremem Zoom und Slowmotion ansehen zu müssen.
Alles, was er heraus brachte, war ein klagender, kehliger Laut. Er schloss die Augen und Tränen quollen aus den Augenwinkeln, rollten über die grauen Bartstoppeln seiner Wangen hinab, fielen lautlos auf den zerknautschten Kragen seines dunkelblauen Freizeithemdes, das sie ihm seinerzeit aus Mailand mit gebracht hatte.
Sie nahm ihn in den Arm. Sein Körper wurde geschüttelt und erschüttert. Sie ertrug es, während Gedanken in ihrem aufgewühlten, überreizten Hirn gleich einem Kaleidoskop immer neue Szenarien hervor brachten, ungeordnet, unfertig. Sie hasste diese konfuse Art, sie widersprach ihrem antrainierten Empfinden für Ordnung und Struktur.
Langsam wurde er ruhiger, richtete sich auf, die Nähe zerriss. Er wischte sich fast verschämt und mit der Geste eines kleinen Jungen die Augen.
„Wollen wir drüber reden? Reden hilft manchmal“, sagte sie, erhob sich und deutete auf die Sitzgruppe mit dem Couchtisch. Sie widerstand dem Bedürfnis, sich mit beiden Händen übers Gesicht zu streichen, ein untrügliches Zeichen, wie müde und abgespannt sie sich fühlte. Von weit hinten brachte sich das morgige Meeting wieder in Erinnerung. Ihr Laptop rauschte leise auf dem Esstisch. Vermutlich würde er in wenigen Minuten in Standby gehen.
Das Leben bot eine solche Chance leider nicht.
Er erhob sich aus dem Sessel, drückte den Rücken durch und atmete tief durch. Noch immer waberte in seinem Atem der Weinkrampf, der gerade verebbt war.
Sie setzte sich in den Sessel neben dem Deckenfluter. Er nahm auf dem Sofa Platz, die Hände im Schoß.
„Jetzt erzähl‘ mal in Ruhe und von Anfang an“, sagte sie bemüht ruhig zu ihm. Er zuckte die Achseln, setzte einmal an, schüttelte den Kopf und versuchte es erneut. Nach den ersten Sätzen ging es besser.
„Ich war heute ja nur in der Sprechstunde, weil ich die Untersuchungsergebnisse abholen sollte. Reine Routine, habe ich gedacht. Und dann sitzt dieser Doktor da, macht ein ernstes Gesicht, schiebt mir den Umschlag über den Tisch und sagt: ‚Ich rate Ihnen, sich erst einmal mit ihrer Frau zu beraten, was sie in den letzten Monaten noch tun wollen. Viel Zeit bleibt Ihnen nicht mehr. Ich schätze nicht mehr als drei Monate, eher weniger. Es tut mir leid…“
Wolfgang holte tief Luft und machte eine kurze Pause.
„Das hat er wirklich so zu dir gesagt?“, fragte Franziska ungläubig. Sie war fassungslos. Was war das denn für eine Art, einem Patienten zu sagen, dass er sterben wird?
„Ich denk‘ mir das doch nicht aus, Franzi“, sagte er dumpf. Er nannte sie bei ihrem Kosenamen, den sie allerdings nicht immer leiden mochte. Sie glaubte inzwischen aus dem Alter heraus zu sein.
„Nein, natürlich nicht, entschuldige“, gab sie ihm recht.
Sie begann, ihn über diese Untersuchung auszufragen, versuchte durch Sachlichkeit seine bittere Verzweiflung zurück zu drängen und ihre eigenen Gedanken wieder in geordnete Bahnen zu lenken. Sie brauchte diese Stunde, um zu lernen, mit den Konsequenzen fertig zu werden, die sich so nach und nach aus dem diffusen Brei aus Angst und Verzweiflung heraus schälten. Ihr methodischer Verstand hatte für sich bereits beschlossen, dass diese letzte Konsequenz keine Option für sie war. Sie würden das nicht einfach hinnehmen. Sie würden sich dem nicht ergeben, so wenig wie der Angst und der Verzweiflung!
Franziska beschloss, für ihren Mann den Kampf aufzunehmen. Für ihren Mann und für ihre Ehe, diese feste Größe in ihrem Leben, die ihr die Möglichkeit gab, zu tun, was Sie Tag ein Tag aus tun musste.
Wolfgang war in dieser Stunde viel zu erschöpft, um sich der Energie seiner Frau erwehren zu können. Am Ende saß er in sich zusammen gekauert auf dem Sofa, sah seine Frau mit seinen verwilderten Augen an und schwieg, die Lippen zu einem Strich zusammen gepresst.
„Ich bin völlig fertig, Schatz. Sei mir nicht böse, ich gehe schlafen“, sagte er schließlich, erhob sich schwerfällig, beugte sich zu ihrem Gesicht herüber und küsste sie flüchtig auf die Schläfe. Sie sah ihm nach, wie er aus der Stube schlurfte, seufzte tief auf. Allein, unbeobachtet und über die Maßen angespannt, von Entsetzen gepackt, schlug die Frau die Hände vors Gesicht und ließ dem erstickten Schluchzen seinen Lauf. Der Anfall dauerte genau sieben Minuten. Müde, ausgelaugt und mit einem Gesicht, unbeweglich, wie aus einem Wurzelknorren geschnitten, kehrte sie an ihr Laptop zurück, weckte das Gerät und begann zu arbeiten. Es dauerte länger als gewöhnlich, bis sie ihren Rhythmus gefunden hatte. Immer wieder stieg das Bild ihres Mannes vor ihrem geistigen Auge auf.
Sie stand verloren am Fenster ihres Büros und sah hinunter auf den Verkehr, der sich über die Straßen der City quälte. Das unablässige Gehupe drang nur als schwacher Abglanz der Rushhour zu ihr hoch. Sie legte die Stirn an das gut einen Finger dicke Glas des Panoramafensters und Schloß die Augen. Noch nie hatte sie sich derart alt und leer gefühlt als in diesem Moment.
Dabei war das Meeting gut gelaufen. Man hätte ihr nicht nur in fast allen wichtigen Punkten zugestimmt, sie hätten ihr auch die Leitung des Projektes übertragen. Das bedeutete für mindestens zwei Jahre sichere und gut bezahlte Arbeit. Franziska machte sich nichts vor: mit Mitte vierzig war das nicht so selbstverständlich und als Frau ohnehin nicht.
Aber es bedeutete auch, dass sie zwei Jahre lang zwischen Madrid und Frankfurt pendeln würde müssen. Als ihr dies klar wurde, überfiel sie mit Macht und dergestalt unvermittelt die Erinnerung an den Abend und die Diagnose ihres Mannes, dass ihr der Atem still stand und sie sich rasch am Tisch festhalten musste. Seit diesem Moment fühlte sie sich wie von Bleigewichten nieder gedrückt.
„Ich gratuliere dir, Fran. Nein, ehrlich! Ich gratuliere dir wirklich. Das war Klasse, wie du das gedeichselt hast!“
Franziska hörte den arroganten und selbstgefälligen Ton und wusste nur zu gut, wer dort in der Tür zu ihrem Büro stand, jenes Büros, das er sich seinerseits ausgerechnet hatte.
„Was willst du, Patrick. Ich habe eine furchtbare Nacht hinter mir und eine Menge Arbeit vor mir. Mir ist im Moment nicht nach deinen kleinen Spielchen.“
„Oho!“, sagte er – er war inzwischen zu ihr ans Fenster getreten, beugte sich vor und sah ihr ziemlich unverfroren ins Gesicht.
„Wir schwächeln doch nicht etwa?“, fragte er mit zur Schau gestellten Bedauern. Sie hatte eine deftige Entgegnung auf den Lippen, aber sie wusste, dass er Gönner in der Chefetage hatte und dass er nur darauf wartete, dass sie sich eine Blöße gab.
Sie drehte sich vom Fenster Weg und zeigte ihm ihr strahlendes Lächeln, schob ihn zur Seite und ging mit schwungvollen Schritten zur Tür, öffnete sie und zeigte mit knapper Geste in Richtung Flur.
„Wenn ich bitten dürfte“, sagte sie zuckersüß und jenem stählernen Unterton, der ihr unter Kollegen den Spitznamen „Maggy II.“ eingetragen hatte. Er hob mit schiefem Grinsen die Arme und schlenderte aus dem Zimmer. Sie drückte die Glastür hinter ihm ins Schloß, sah ihm nach, weil sie wusste, dass er nie einfach so abging. Er drehte sich um, sah zurück und zeigte mit dem Lauf seiner lächerlichen Zeigefingerpistole auf sie. Sie hasste diese Machogesten, die er sich aus irgendwelchen amerikanischen Filmen angeschaut haben musste. Er ging davon aus, dass er cool rüber kam. Für sie war er schleimiger Karrierist ohne Moral und Gewissen. Allerdings auch ohne wirklichen Biss.
Sie grinste ihn selbstsicher an, obwohl allein diese Grimasse sie unendlich viel Kraft kostete.
Dann war der Auftritt von Mr. Wichtig vorbei und Franziska schleppte sich zu ihrem Schreibtisch. Ihr Kalender gemahnte sie an das nächste Meeting. Seufzend holte sie sich die Daten auf den Bildschirm und versuchte sich zu konzentrieren.
„Frau Weiser, haben Sie eine Minute, oder ist es gerade schlecht?“
Franziska sah mit jeder Menge Unmut im Gesicht zur Tür. Dort stand Werner Pflüger, die Klinke in der Rechten. Wenn man nur flüchtig hinsah, würde man nicht bemerkt haben, dass dieser Mann auf die Siebzig zuging.
„Ich habe gleich ein Treffen mit der Abteilung Südeuropa. Aber wenn es nicht zu lange dauert...“ Sie deutete auf die Sitzgruppe links von ihr, erhob sich und kam herüber.
„Was kann ich für Sie tun?“, fragte sie, sobald sie ihm gegenüber Platz genommen hatte.
„Sie haben da in Spanien einen guten Job gemacht, Franziska. Und heute Vormittag haben Sie den Deckel drauf gemacht. Ich bin stolz auf Sie, das sollen Sie wissen.“
„Das ist lieb von Ihnen, Werner, das sie das sagen. Ich bin froh, dass ich Sie nicht enttäuscht habe. Sie hatten es ja nicht immer leicht mit mir“, gab sie zurück. Er sah ihr aufmerksam ins Gesicht.
„Etwas scheint Sie aber zu bedrücken. Ich habe das schon heute früh gemerkt. Sie waren nicht so enthusiastisch wie sonst. Was ist los?“
Franziska sah ihren Kollegen an, etwas zu lange, als dass sie hätte eine Ausflucht vorbringen können. Der Mann kannte sie einfach zu gut und auch schon zu lange. Er hatte sie in die Firma geholt, er hatte sich für sie eingesetzt, hatte sich oft weit aus dem Fenster gelehnt. Wenn er nicht wäre, stünde sie heute nicht dort...
„Mein Mann hat gestern eine ziemlich üble Diagnose von seinem Betriebsarzt bekommen“, sagte sie und in diesem Moment stieg das, was sie gleich aussprechen musste, wie eine unbezwingbare Wand vor ihr auf. Sie zögerte, ihr Blick nahm den flehenden Ausdruck an, den sie gestern bei ihrem Mann gesehen hatte. Die Brust wurde ihr eng.
„So schlimm?“, fragte er leise und beugte sich vor. Einem Impuls folgend wollte er ihre Hand nehmen, ließ er es aber bleiben.
Sie nickte.
„Leberkrebs. Ihm bleiben keine drei Monate mehr, sagt sein Arzt.“
„Oh Gott!“, entfuhr es ihm, „ist das sicher?“
„Der Arzt hat Wolf einen ausführlichen Befund mit gegeben. Ich bin keine Ärztin, aber ein Arzt wird doch wohl wissen, was er da sagt, finden Sie nicht?“
Pflüger lehnte sich im Sessel zurück, winkte ab.
„Sie ahnen ja nicht, was alles möglich ist!“, sagte er.
„Soll ich mir jetzt noch mehr Sorgen machen oder sagen Sie mir gerade, der Arzt könnte sich geirrt haben?“, erkundigte sich Franziska mit erstickter Stimme. Ihr liefen mit einem Mal Tränen über die Wangen. Hastig wischte sie sie fort.
„Bitte entschuldigen Sie“, sagte sie fast verschämt.
„Ich bitte Sie Franziska, angesichts dieser Hiobsbotschaft ist es ein Wunder, dass Sie das alles heute so gemeistert haben.“
Nun nahm er doch noch ihre Hand, aber nur kurz.
„Haben Sie denn vor, sich eine zweite Meinung einzuholen?“
„Glauben Sie, das hat Sinn? Ich meine, es gibt diesen Befund, was soll ein anderer Arzt feststellen als genau diesen? Ich weiß nicht, ob Wolf das verkraftet. Er ist ziemlich am Boden zerstört.“
„Wer wäre das nicht?“, sagte Pflüger halblaut und sinnend.
„Meinen Sie nicht, die Ungewissheit würde ihn, würde uns nicht noch mehr zermürbend? Und was, wenn sich am Ende an den Tatsachen nichts ändert. Der Absturz wäre noch schlimmer!“
„Aber ein Spezialist hat vielleicht andere Möglichkeiten, kennt andere, modernere Behandlungsmethoden, Medikamente. Es wäre allemal sinnvoller, als sich kampflos zu ergeben!“
Den letzten Satz hatte Pflüger sehr eindringlich gesprochen. Er sah Franziska über den Tisch hinweg ins Gesicht. In ihren Augen glitzerten noch immer Tränen und ihr Kinn bebte leicht.
„Kämpfen Sie um ihn!“, sagte der Mann ernst. Es entstand eine kurze aber bedeutungsschwere Pause.
„Sie denken an Paula“, fiel es Franziska plötzlich ein. Sie schlug die Augen nieder.
„Daran habe ich nicht gedacht. Es tut mir leid, Werner.“
„Das ist doch Unsinn!“, protestierte er. Er richtete sich auf, sein Gesicht wirkte plötzlich energisch.
„Sie sagen für heute alle Termine ab, fahren nach Hause und sprechen mit ihrem Mann. Sie werden sich doch nicht in dieses Schicksal ergeben. Sie doch nicht!“
„Das geht nicht...“, begann Franziska, aber die Tür zum Büro wurde geöffnet und der blonde Wuschelkopf einer jungen Frau erschien, lächelte entschuldigend.
„Frau Weiser, ich soll Sie an das Meeting erinnern. Die Kollegen wären dann...“
„Sie sollen zurück an ihre Arbeit gehen. Der Termin findet jetzt nicht statt. Es ist etwas wichtiges dazwischen gekommen. Wären Sie so freundlich?“ Pflüger lächelte die Assistentin freundlich an. Die schaute irritiert, ihr Blick ging von Franziska zu ihm und zurück. Dann schloss sie leise die Tür.
„Ich möchte, dass Sie diese Nummer anrufen“, erklärte Pflüger, kritzelte eine Telefonnummer auf ein knallgelbes Postit, reichte es Franziska. Sie hielt das Stück Papier fragend hoch.
„Das ist ein Bekannter, der ist ein ziemlich guter Internist. Ich rufe ihn nachher noch selbst an. Lassen Sie sich einen Termin geben und bringen Sie Wolf dazu, dass er sich noch einmal untersuchen läßt. Es ist zumindest eine Chance.“
„Vielen Dank, Werner“, sagte sie und ihre Stimme, so kläglich und verzagt, klang fremd in diesem Büro.
Als sie kurz darauf durch das Großraumbüro zum Lift ging, hatte sie das überdeutliche Gefühl, dass alle Augen auf sie gerichtet waren. Unwillkürlich straffte sie sich und ihr Gesicht wirkte fast wie immer. Erst also sie im Lift nach unten fuhr, spürte sie, welche Anstrengung sie das gekostet hatte.
Den Weg durch die Stadt durchlebte sie wie in Trance. Später hätte sie nicht zu sagen gewusst, wie sie ihn hinter sich hatte bringen können. Unablässig kreisten ihre Gedanken um diese Ungeheuerlichkeit, mit der sie seit gestern Abend konfrontiert war.
Je näher sie ihrem zu Hause kam, umso mehr spürte sie die innere Anspannung wachsen. Sie hatte keine Ahnung, wie sie ihrem Mann begegnen sollte. Plötzlich wurde ihr klar, dass sie beide nie über die Möglichkeit nachgedacht hatten, dass es sein könnte, dass einer von ihnen sterben könnte. Natürlich wussten Sie beide, dass dies unweigerlich einmal passieren würde.
Aber doch nicht in zwölf Wochen!
Sie ertappte sich dabei, wie sie von der Bahn absichtlich den Weg durch den kleinen Park nahm. Schließlich blieb sie unter einer großen Ulme stehen, sah sich um, sah die Natur, die Menschen, die mit ihren Hunden unterwegs waren oder mit ihren Kindern oder mit ihren Partnern, Arm in Arm, Hand in Hand. Sie setzte sich auf die Bank vor dem alten, ausladenden Baum, lehnte sich für einen Moment zurück und schloss die Augen. Sie wollte das Chaos in ihrem Kopf beenden, sie wollte den Moment der Klarheit und der Perspektive zurück. Sie hatte schon so viele wirklich harte Krisen überstanden, sie war geübt darin, sich zu fokussieren, wenn sie musste.
Aber ihre Augenlider bebten, ihr Atem wurde nicht ruhiger und die Klammer um ihre Brust schnürte tief ein. Sie richtete sich kerzengerade auf, öffnete die Augen und dachte mit angsteinflößender Klarheit: Du denkst die ganze Zeit immer nur an dich! Er stirbt, nicht du!
Was für eine Erkenntnis! Sie sprang auf, hastete den Weg nach Hause, wäre beim Überqueren der Straße zu guter Letzt beinahe noch vor ein Auto gelaufen. Egal, sie musste zu ihrem Mann. Nichts anderes hatte jetzt noch Gewicht!
Also sie die Schlüssel in die Schale auf dem Garderobenschränkchen warf, hörte sie Musik aus dem Wohnzimmer. Es war eine alte Vinylplatte, ein Livekonzert von Herman von Veen. Wie lange hatten sie diese Musik nicht mehr gehört!
Franziska hörte die weiche Stimme des Barden, seinen liebenswerten niederländischen Akzent und die einzigartige Klarheit, mit der er artikulierte. Sie hörte die kraftvolle Melancholie des Liedes, dieses unter Tränen lächeln und sie blieb im Flur stehen. Ihr Herz schlug angstvoll. Sie hatte das Gefühl, dem Mann dort im Zimmer jetzt nicht unter die Augen treten zu können. Sie konnte nur ahnen, wie es in ihm aussehen mochte. Wenn er diese Platte hörte. Ihr grauste vor dem verwilderten Blick, mit dem er sie gestern Abend angesehen hatte.
Dann hörte sie, wie Wolf in den Refrain einfiel. Ihr Mann sang! Das war eine Ewigkeit her, dass sie das gehört hatte. Früher hatte er oft gesungen, hatte Gitarre gespielt. Sie überlegte einen Moment, wie lange dieses Früher her sein mochte. Damals war sie noch Assistentin der Geschäftsleitung in einem kleinen Baumarkt gewesen, draußen in der Vorstadt. Wolf war Filialleiter, einer der jüngsten im ganzen Unternehmen. Gott, sie war so stolz auf ihn gewesen!
„Ich hab’ dich gar nicht kommen hören“, sagte er von der Tür her. Sein Gesicht wirkte etwas verschwommen, unscharf.
„Du hast gesungen!“
„Ja. Du weißt doch, das war immer mein Lieblingslied auf der Platte. Warum haben wir die eigentlich nie als CD gekauft?“
Sie sah ihren Mann aufmerksam an, ging auf ihn zu und nahm ihn in den Arm. Sie spürte einen Moment fast einen Widerstand, dann legte er die Arme um sie. So standen sie im Flur und Franziska wurde überwältigt von diesem tiefen Gefühl von Geborgenheit und Ruhe. Warum hatte sie dies so lange nicht gefühlt, wenn er sie umarmt hatte?
„Willst du reden? Wir können aber auch weiter einfach Musik hören. Das ist vielleicht keine so schlechte Idee.“ Sie überstürzte sich beinahe mit ihren Vorschlägen, während sie wie ein verliebtes Pärchen Arm in Arm in die Stube traten.
Vor der Musikanlage war einem gesprengten Fächer gleich Dutzende von Plattenhüllen und Langspielplatten ausgebreitet.
„Hast du die alle gehört?“, erkundigte sie sich überflüssigerweise.
„Nicht alle und von einigen nur ein paar Titel. Man muss sich die Zeit einteilen, weißt du“, er grinste sie schief an und schaute schnell weg. Er hockte auf den Fersen vor den Platten, schob sie auf dem Boden wahllos hin und her, hob das Cover von „4 Way Streets“ von Crosby, Stills, Nash & Young auf und hielt es ihr hin. Sie nickte, nahm ihm Die Hülle ab, die an den Rücken schon etwas abgewetzt war.
„Find a coast of freedom, barried in the ground...“, flüsterte sie.
„Mother earth is swallow you, lay your body down“, sagte er halblaut. Seine Stimme zitterte.
Sie legte das Cover weg, kniete vor ihrem Mann, streckte ihm die Arme hin wie ein kleines Kind.
Sie weinten beide und es war richtig. Es spülte die schreckliche Fremdheit zwischen ihnen fort, diese Unsicherheit, die machte, dass man glaubte, dort wäre wer anderes.
Dann liebten sie sich neben den Platten auf dem Teppichboden. Fast schien es, als wäre es zu viel für ihn, aber dann war es schön und innig und gut.
„Pflüger hat mit mir gesprochen heute nach meinem Meeting. Er kam einfach und hat gefragt. Er kennt mich einfach zu gut und hat gespürt, dass etwas nicht stimmt.“
„Was hast du ihm gesagt?“
„Die Wahrheit. Werner kann ich nichts vormachen. Außerdem stand ich völlig neben mir.“
„Was hat er gesagt?“
„Er findet, du solltest einen Spezialisten aufsuchen, dich noch einmal gründlich untersuchen lassen. Eine zweite Meinung einholen. Vielleicht, meint er, gibt es neue Behandlungsmethoden, Medikamente. Er meint, wir sollten uns nicht damit abfinden.“
Sie befürchtete, dass er sich neben ihr versteifen könnte. Aber er lag in ihrem Arm, streichelte ihre Schulter und sah zu ihr hoch.
„Meint er das“, sagte er nach einer Weile.
„Er meint es gut, Wolf. Er hat ja auch irgendwo recht, findest du nicht?“
„Das ist in etwa so, als würde ich mir eine beglaubigte Version meines Todesurteils holen wollen. Ich weiß nicht, ob ich das will.“
„Was willst du dann?“, fragte sie mit banger Stimme. Sie richtete sich auf, sah ihn an.
„Die drei Monate nutzen und noch ein paar Dinge tun, die ich mir immer vorgenommen hatte und nie dazu gekommen bin.“
„Das wäre zum Beispiel?“
„Die Niagarafälle anschauen“, sagte er aufs Geratewohl.
„Niagarafälle“, echote sie und über ihrer Nasenwurzel erschien eine steile Falte gleich einem Fragezeichen, „Bei deiner Höhenangst willst du zu den Niagarafällen!“ Sie schüttelte leicht den Kopf, besann sich dann jedoch.
„Aber wenn du das willst! Ich bin dabei!“
„Dafür hast du gar keine Zeit, Franzi und das weißt du“, sagte er sachlich.
„Meinst du. Was, wenn ich auf das alles pfeife und meinen Job kündige? Was, wenn ich die Zeit, die uns noch bleibt, nur für dich da sein will?“
„Du würdest es keine Woche ohne deine Firma aushalten, ohne den Stress und den Erfolg!“
„Ach so siehst du mich? Willst du mich am Ende gar nicht dabei haben?“ Diese Frage war nur zum Schein spaßig gemeint. Ein Lücke entstand, der Faden riss.
„Wir machen jetzt und hier einen Deal, Wolfgang Weiser. Du rufst morgen diesen Arzt an und machst mit dem einen Termin.“ Sie hielt Wolfgang den knallgelben Zettel vor die Nase.
Er nahm ihn, drehte ihn hin und her, wie als würde er prüfen wollen, ob an ihm nicht doch etwas in mit rechten Dingen zuginge. Skepsis schürzte seine Unterlippe.
„Ich werde morgen meinen Job kündigen, ab sofort, ohne Wenn und Aber“, setzte sie den Schlusspunkt. Er sah ihr ins Gesicht, schüttelte den Kopf, nahm sie in den Arm.
„Das wirst du nicht tun, Franzi. Versprich es mir. Nimm dir eine Auszeit, bis es, also bis ich...“, er kam nicht weiter. Sie hielt ihn fest.
„Bitte schmeiß nicht weg, wofür du so sehr gekämpft hast“, flehte er später im Bett. Sie versprach es.
Sein Anruf erreichte sie auf dem Weg zum kleinen Meetingraum. Es würden alle da sein, Martin Feldmann, Jorge Martines, Werner Pflüger und Kurt Wöller nicht zu vergessen. Sie wusste, dass ihr Ansinnen auf blankes Unverständnis stoßen musste, sie wusste, dass die Chancen schlecht standen, dass sie diesen Meetingsraum noch in Amt und Würden verlassen würde. Aber sie fühlte neben der Aufregung auch eine gewisse Erleichterung.
„Wolfgang, was ist los? Ich bin auf dem Weg ins Meeting. Kann ich dich...“, sie verstand ihren Mann am anderen Ende immer schlechter, wechselte das Handy ans andere Ohr. Dann nur noch Besetztzeichen.
„Tolle Technik“, fluchte sie in sich hinein. Sie steckte das Gerät in die Tasche ihres Blazers, nachdem sie es stumm gestellt hatte.
Sie betrat den Raum und alle Augen richteten sich auf sie. Man wies ihr einen Platz an dem ovalen Tisch zu. Frau Seeger, die Sekretärin des Vorsitzenden, bot ihr ein Wasser an. Beide Frauen wechselten einen Blick und Franziska sah, das Bedauern in den Augen der Anderen.
„Frau Weiser, wir wollen nicht lange um die Sache herum reden“, begann Wöller dann in seiner etwas breiten Art, die Franziska immer unruhig machte.
„Sie haben uns in den letzten Jahren mehr als einmal gezeigt, welche außerordentlichen Fähigkeiten in Ihnen stecken. Umso mehr bedauern wir, dass Sie in dieser entscheidenden Phase diese sehr, nun sagen wir, ungewöhnliche Bitte geäußert haben. Sie werden sich denken können, dass wir alle sehr überrascht sind. Wollen Sie uns erklären, was Sie dazu bewogen hat?“ Er sah sie über seine unvermeidliche schmale Lesebrille auffordernd an.
„Es hat Umstände in meinem Privatleben gegeben, die es erfordern, dass ich mich in den nächsten Wochen ganz und gar darauf konzentriere. Ich würde Sie bitten, mir in dieser Sache zu vertrauen und mich nicht um nähere Erklärungen bitten. Es fällt mir sehr schwer, aber mehr kann ich dazu nicht sagen.“
„Sie wissen schon, dass das etwas dürftig ist“, sagte vom anderen Ende des Tisches Feldmann. Er lümmelte wie immer ziemlich unverfroren gelangweilt in seinem Sessel.
„Aber viel entscheidender ist die Frage, was aus dem Spaniendeal jetzt werden soll? Sie haben uns doch das Ganze erst schmackhaft gemacht. Wer soll das denn nun auf die Reihe bringen, wenn sie sich eine Auszeit nehmen wollen? Also mir kommt das sehr spanisch vor!“
Er begann über sein eigenes Wortspiel zu lachen, fand aber keinen Applaus bei den anderen Herren und verstummte.
Franziskas Handy begann zu brummen. Alle Augen waren darauf gerichtet. Eine Pause entstand.
„Gehen Sie ran, Franziska, wenn Sie wissen, wer es ist“, sagte Pflüger in die brummende Stille. Franziska sah Wöller fragend an. Der nickte mit süßsaurem Gesicht.
Franziska klappte die Hülle des Smartphones auf. Eine Nachricht war zu sehen, Absender Wolfgang. Ihr begannen die Hände zu zittern. Sie entsperrte das Handy, öffnete den Messanger, las. Ein Lächeln breitete sich über ihrem schönen Gesicht aus. Sie schloss die Hülle des Geräte und legte es betont leise und vorsichtig vor sich auf den Tisch.
„Es tut mir leid, meine Herren, aber mein Entschluss steht fest. Ich kündige hiermit aus besonderen Gründen mit sofortiger Wirkung. Ich erhebe keine Ansprüche auf Entschädigung oder ähnliches, ein qualifiziertes Arbeitszeugnis, das ist alles, was ich erbitte. Entschuldigen Sie mich. Vielleicht ergibt sich später eine Gelegenheit, Ihnen das Ganze zu erklären. Jetzt habe ich leider einen unaufschiebbaren Termin.“
Sie erhob sich, umrundete den Tisch, wobei ihre Absätze in die Stille klapperten. Bei Werner Pflüger blieb sie kurz stehen, legte ihm eine Hand auf die Schulter und flüsterte ihm ins Ohr
„Es war alles ein Irrtum, wie Sie gesagt haben.“
Der Regenbogen über dem donnernden Fluss war geradezu atemberaubend. Schäumend und dröhnend stürzte der Colorado in die Tiefe. Das ältere Paar stand Arm in Arm am Rand der Plattform und sah dem Naturschauspiel mit versonnenen Gesichtern zu.
„Ich verstehe es trotzdem nicht, warum du gekündigt hast“, sagte er, aber es klang nicht nach einem Vorwurf.
„Sagen wir, es war ein Wink des Schicksals“, sagte sie und küsste sein von der Gischt nasses Gesicht.
„Als wenn du an so etwas glauben würdest.“
Tag der Veröffentlichung: 21.05.2015
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