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Seelenweg

Das war also die Überraschung, die meine Eltern angekündigt hatten. In wunderschöner Schreibschrift hielt ich einen Einladungsbrief, den meine liebe Mutter verfasst hatte in den Händen.

„Liebe Sigrid, dein Vater und ich möchten Dich anlässlich unserer Eisernen Hochzeit zu einer kleinen Feier an den Lutersee einladen. Die Feierlichkeiten werden in dem Hotel stattfinden, in dem ich meinen geliebten Johann und deinen Vater zum ersten Mal getroffen hatte. Ein Zimmer über das gesamte Wochenende ist für Dich gebucht.

Bring bitte gute Laune mit und keine festliche Kleidung in schwarz. Wir sind fröhliche Menschen und keine Spießer, du kennst uns doch mein Kindchen.“

Ich musste herzhaft lachen. Das war so typisch für meine sechsundachtzigjährige Mutter und das Kindchen werde ich ihr wohl niemals austreiben können.

Der Lutersee im wunderschönen Fellital gelegen war mir sehr vertraut. Oft hatte ich mit meinen Eltern dort die Sommerferienzeiten verbracht. Unbeschwerte, fröhliche Wochen an die ich mich sehr gerne erinnere.

Mir kam eine Idee für ein Geschenk an meine Eltern. Ich brauchte nicht lange suchen und hielt ein abgenutztes Fotoalbum in den Händen. Das sich zwischen den Seiten befindliche Pergamentpapier raschelte während ich blätterte.

Neunzehnhundertneunundvierzig steht auf der Fotografie. Es zeigt meine Eltern vor einem malerischen Gutshof in der Schweiz. Im Hintergrund glitzert der Lutersee.

Mein Vater Johann steht stolz und würdevoll in einem eleganten, zweireihigen Nadelstreifenanzug neben seiner Braut. Die weiße Fliege hängt ein wenig schief und sorgte beim Herumzeigen des Bildes in späteren Jahren immer wieder für Lacher.

Meine Mutter Anna schaut ihren Mann in einem blütenweißen Kleid aus Seide lächelnd an. Das Kleid ist traumhaft schön. Hochgeschlossen mit Stehkragen und langen Puffärmeln. Ihr hübsches Gesicht ist eingerahmt durch einen kleinen Schleier, der durch einen Kranz aus frischen, weißen Margeriten auf den blonden Locken hält.


Im Fellital begann ihre Liebe. Mein Vater ist gebürtiger Schweizer und studierte in Graubünden Architektur. Mit ein paar Kommilitonen fuhr er 1948 zur Sommerfrische an den Lutersee. Sie übernachteten im Gernshügel, einem kleinen Gutshof. Mein Vater war dreiundzwanzig Jahre jung als ihm in diesem Sommer die Liebe seines Lebens begegnete.

Meine Mutter machte mit ihren Eltern Urlaub in der Schweiz und übernachtete ebenfalls im Gernshügel. Ihre erste Begegnung fand an einer Uferböschung am Lutersee statt. Meine Mutter geriet am steilen Ufer ins Rutschen und hielt sich an dem Ast einer Erle fest. Mein Vater war mit seinem besten Freund auf einer Wandertour unterwegs und sah am See angekommen meine Mutter, die sich am Ast festhielt. Er rettete sie vor dem Hinabrutschen mit voller Kleidung in den See und ab diesem Zeitpunkt waren sie unzertrennlich. Es war die berühmte Liebe auf den ersten Blick. Sie verbrachten fast jede Minute in diesem Sommer miteinander.

Schmerzlich war der Abschied, als meine Mutter mit ihren Eltern zurück nach Deutschland fuhr. Sie schrieben sich lange Briefe und ein halbes Jahr später brach mein Vater sein Studium in der Schweiz ab und immatrikulierte an der Universität in Würzburg. Die Eltern meiner Mutter waren hocherfreut und ließen den jungen Studenten in ihrem Haus wohnen. Mein Vater wurde deutscher Bundesbürger.



Im Sommer 1949 heirateten sie am Lutersee und ein Jahr später kam ich auf die Welt. Dieser kleine Gasthof war meine Zeugungsstätte und wurde zum Zeichen ihrer Liebe. Immer wenn ich diesen Gasthof besuchte, fühlte ich mich als wäre ich Zuhause angekommen. Meine Eltern feierten sämtliche Feste, Geburtstage und Jubiläen im Fellital. Nur an Weihnachten blieben wir in Deutschland.

Die Gastwirtin und Gutshofbesitzerin Frau Klara Hafner wurde mir im Laufe der vielen Jahre zur vertrauten Freundin. Sie starb kurz nach der goldenen Hochzeit meiner Eltern im Jahre 1999. Ich war unendlich traurig, denn sie war eine der liebenswertesten Menschen, die ich kennenlernen durfte. Mit viel Witz, Humor und Fleiß bewirtschaftete sie bis ins hohe Alter den Gutshof und auf ihrer Beerdigung erschienen viele Stammgäste, die ihr freundschaftlich verbunden waren.



Meine Eltern führten eine liebevolle und auf gegenseitiger Achtung beruhende Ehe.

Ich genoss ihnen zuzuschauen, wie sie im Park händchenhaltend spazieren gingen. Alle Menschen drehten sich lächelnd nach ihnen um, denn dass ein Paar auch im hohen Alter so vertraut und zärtlich miteinander umgeht ist eher selten. Begegnete man meinen Eltern zum ersten Mal, ging eine unglaublich ruhige und schöne Aura von ihnen aus. In ihrer Gesellschaft musste man sich einfach wohlfühlen.

Sie strahlten ihre Liebe nach außen aus. In all den Jahrzehnten gab es keinen ernsthaften Krach zwischen meinen Eltern. Die paar kleinen Streitereien waren meist schnell vergessen. Sie stritten sich, wenn mein Vater meine Mutter Ännchen nannte. Das konnte sie nicht leiden und ich hatte den Eindruck, dass mein Vater viel Freude daran hatte, sie extra damit zu ärgern und aufzuziehen. Ännchen und Johann, zwei Seelen die zusammengehörten.


Leider blieb mir so eine glückliche Ehe, wie meine Eltern sie führten vergönnt. Mein Mann und ich ließen uns scheiden, als ich fünfzig Jahre alt wurde. Unsere Ehe blieb leider kinderlos und ab und an haderte ich daran. Bereit für eine neue Liebe war ich in den vergangenen Jahren nicht. Umso mehr bewunderte ich meine Eltern für ihre über die Jahrzehnte hinaus intakte Partnerschaft und innige Liebe.


Vorsichtig löste ich die schwarz-weiße Fotografie aus dem Album. Ich hatte mich bei einem Künstler erkundigt, ob er ein Ölgemälde einer Fotografie meiner Eltern anfertigen könne. Der Preis war erschwinglich und es gab fast keine schönere Vorlage als das Hochzeitsbild meiner Eltern. Es sollte mit bunten Farben gemalt werden und die Schönheit der malerischen Seenlandschaft einfangen. Meine Eltern würden sich bestimmt sehr über das Gemälde freuen.



Die Vorfreude auf die Hochzeitsfeier meiner Eltern wuchs mit jedem Tag je näher die Reise in die Schweiz nahte.

Ich saß im Zug und während die Landschaften an mir vorbeirauschten, rauschte mein Leben mit meinen Eltern gedanklich an mir vorbei. Ich war froh, dass ich in einer intakten Familie aufgewachsen war.

Ich hatte Vater und Mutter zur Selbstfindung gebraucht. Mal benötigte ich meinen Vater mehr als meine Mutter und in vertraulicheren Dingen wollte ich meine Mutter nicht missen. Ich liebte meine Eltern sehr. Mein Vater besaß Stärke, war wortgewaltig und konnte Menschen in seinen Bann ziehen. Meine Mutter war wunderschön, mädchenhaft und hatte den Schalk im Nacken. Ihr Wesen war von Güte und Sanftmut geprägt.

Ich durfte Kind sein, ohne Zwänge, mit Liebe aufgezogen. Meine Eltern brachten mir Werte bei, mit diesen Werten konnte ich dann als rebellischer Teenager nichts anfangen. Was waren schon Werte? Damals begriff ich es nicht.

Und heute? Ich denke schon.



Der Zug hielt am Bahnsteig. Ich stieg aus und atmete tief durch. Frische Luft umfing mich. Es roch nach Leben. Jeder Grashalm und jedes Gänseblümchen verneigten sich sinnbildlich vor mir und begrüßten mich.

Ich war angekommen.

Die Pension hatte sich in all den Jahren kaum verändert. Wie lange war ich nicht hier gewesen? Zu lange.


Mein Vater kam mir lächelnd entgegen. Den Stock und das er sein linkes Bein beim Gehen kaum noch hochhalten konnte übersah ich. Ich wollte es nicht sehen.

„Papa“ rief ich ihm zu. Er humpelte und die Anstrengung beim Gehen war in seinen Augen abzulesen.

Als ich ihn in meine Arme nahm erschrak ich. Ich fühlte zitternde Knochen, die mich umfingen. Seine Augen waren glasig und dennoch funkelte Leben in ihnen. Ich mochte ihn kaum drücken, so zerbrechlich war er. Als er mich fest an sich drückte, durchflutete ein unglaublich schönes Gefühl der Geborgenheit meinen Körper.


„Kindchen“, ihre Stimme war einmalig. Die kleine Frau mit den schlohweißen Haaren breitete ihre Arme aus und ich war wirklich angekommen. Im Schoß meiner geliebten Mutter. Ich wollte sie nicht loslassen. Ich klammerte mich an sie. Diese kleine, zarte Frau bedeutete mir so viel. Sie war meine Lebensvertraute, ging durch alle feindlichen und guten Lebensmomente mit mir.

Sie war ich und ich war sie. Ich war und blieb ihr Kindchen. Sie lachte mich an und ihr feines Gesicht strahlte trotz ihres hohen Alters immer noch Schönheit aus. Arm in Arm begleitete sie mich zu meinem Zimmer.


 

Ich bezog meine Pensionsstube. Der Raum hatte sich seit meinem letzten Besuch kaum verändert. Die mit blauen Streublümchen gemusterten Vorhänge hingen akkurat in Falten gelegt an den Fenstern. Das alte Bauernbett war mit gestärkter, weißer Bettwäsche bezogen und die kleine, hölzerne Jesusfigur hing wie immer über dem Bett. Es roch nach Vertrautheit. Ich fühlte mich geschützt und zu Hause.


Am nächsten Abend fand die Hochzeitsfeier statt. Ich zog mich um.

Das zitronengelbe Kleid stand mir richtig gut. Ich drehte mich vor dem altmodischen Spiegel hin und her. Meine Haare hatte ich zu einem Zopf geflochten. Ich öffnete die Tür meines Zimmers. Aus dem Untergeschoß drang Musik nach oben, begleitet von gedämpftem Gemurmel.

Leise schloss ich die Tür meines Zimmers und ging die Stufen nach unten.


Mittig auf der Treppe blieb ich stehen.

Die kleine Gratulationsgesellschaft bestand aus ehemaligen Geschäftspartnern meiner Eltern, ein paar verschwägerten Cousins und Cousinen, Nachbarinnen und Nachbarn. Ihre besten Freunde waren längst verstorben.

„So ist das also“, dachte ich, wenn man fast ein Jahrhundert alt wird und alle Familienverwandten schon vorher gegangen sind. Ich schwankte zwischen Traurigkeit und Mut machenden Gefühlen.

„Jetzt bloß nicht sentimental werden“. Mit strahlendem Lächeln ging ich die Treppe hinunter.


Die kleine Gesellschaft dort unten feierte und ich beeilte mich, mitzufeiern. Das Essen war vorzüglich. Die Stimmung ausgelassen. Es wurde viel gelacht und man sah in fröhliche Gesichter, so wie es sich meine Eltern gewünscht hatten.

Der Garten der Pension war festlich geschmückt.

Meine Eltern tanzten. Mein Vater bemühte sich sein Ännchen wie in alten Zeiten beim Tanz zu führen.

Sie umfassten sich, zwei seelenverwandte Märchenwesen tanzten ihren letzten Tanz.

Jeder Schritt im Einklang.


Schritte auf dem Seelenweg in die Unendlichkeit.


Niemals werde ich diese Nacht vergessen.

Niemals!

Als alle Gäste gegangen waren, riefen meine Eltern mich zu sich.

„Kindchen, wenn Du nachher aufwachst werden dein Vater und ich gemeinsam in einem anderen, vielleicht neuem Leben sein.

Unser Leben war selbstbestimmt und unser Tod wird es auch sein. Dein Vater und ich hatten ein wunderschönes Leben. Unsere Lebenskräfte gehen zu Ende. Wir hatten ein überaus gesegnetes, sehr langes Leben. Das Zeichen unserer Liebe bist Du. Wir werden in Dir weiterleben.

Keiner von uns möchte den geliebten Partner in Trauer zurücklassen. Wir möchten gemeinsam das Leben heiter verlassen.

Auch wenn Du es jetzt nicht verstehen wirst und uns für die Geheimhaltung des letzten Schrittes vielleicht verachten wirst, so schaue irgendwann zum Himmel hinauf und winke uns zu. Wir winken zurück und sind glücklich.

Nicht das ewige Leben ist Erfüllung, sondern das Leben und Sterben in Würde ist Erfüllung.

Wir lieben Dich und werden jeden Lebensschritt von Dir begleiten.

Unser Tod ist unser gemeinsamer Tod, von uns bestimmt ohne Bevormundung und langem Leiden.“



Wie im Drogenrausch vernahm ich die letzten Worte meiner Mutter und rannte weg.

Rastlos lief ich in dieser Nacht im Garten des Gutshofes hin und her. Ich war wütend, verstört, traurig, fassungslos und sprachlos. Nach Stunden des Weinens hatte ich keine Tränen mehr, meine Augen schmerzten und brannten. Sie ließen mich einfach zurück. Das konnten sie mir doch nicht antun.


Am Ufer des Lutersee brach ich zusammen.

 

Als die ersten zaghaften Sonnenstrahlen hinter den Sommerwolken hervorlugten, tippte mich eine Frau an. Ich schrak hoch. Wie lange hatte ich hier gelegen?

Ich sah in ernste, dunkelbraune Augen. Diese Frau strahlte Entschlossenheit und Selbstsicherheit aus. Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und atmete tief durch.

„Möchten Sie ihre Eltern sehen?“ Verstört blickte ich die fremde Frau an.

„Ich bin die Sterbebegleiterin ihrer Eltern und weiß, was Sie jetzt durchmachen“

Sie nahm meine Hand und zog mich hinauf. Ich folgte ihr wie in Trance.


Der Gesang eines Buchfinken begleitete uns. Wir gingen auf den Gutshof zu und die Frau sprach unentwegt mit leiser Stimme auf mich ein. Ihre Worte prallten an mir ab.

Für mich war die Zeit stehengeblieben. Tanzend sah ich meine Eltern vor mir.

Behutsam öffnete die fremde Frau die Tür vom Schlafzimmer meiner Eltern.

Das Zimmer war sonnendurchflutet.

„ich lasse Sie jetzt mit ihren Eltern alleine“, flüsterte die Frau.


Mit taumelnden Schritten ging ich auf das große Bett zu.

Es schien, als ob meine Eltern schliefen. Sie hielten sich an den Händen und ihre Gesichter waren einander zugewandt.

Die Fenster waren weit geöffnet und das Singen der Vögel drang in das Zimmer.

Ich nahm es nicht wahr.

„Mama, Papa“, rief ich mit zitternder, bebender Stimme.

Ihre Gesichtszüge waren entspannt und sie lächelten. So ein Lächeln hatte ich noch nie gesehen, es hatte etwas Magisches an sich.

Entspannt und glücklich auch im Tode vereint.

Vorsichtig strich ich über ihre Wangen und Haare. Ich küsste sie auf die kalten Lippen.

„Wir sehen uns“ mit tränenerstickter Stimme verließ ich das Zimmer.

Meine Eltern hatten in ihrem Testament verfügt, dass ihre letzte Ruhestätte am Lutersee sein solle.

Der kleine Friedhof lag nicht weit vom Gasthof entfernt. Die Beerdigung fand in der winzigen Friedhofskapelle statt. Der Pfarrer kannte mich und meine Eltern sehr gut und seine Worte waren tröstend für mich. Er stand mir in meiner Trauer freundschaftlich verbunden bei.

Nach einer Woche verließ ich die Schweiz und fuhr heim.



Ein Jahr der Trauer lag hinter mir. Ich verarbeitete den Tod meiner Eltern und gelangte zu dem Entschluss, dass ich mein Leben, wenn ich es für richtig halten würde, genau wie es meine Eltern getan hatten, beenden werde. Ich war dankbar, dass ich die Schönheit des Todes in den Gesichtern meiner Eltern sehen durfte.


Am ersten Todestag fuhr ich ins Fellital zurück.

Ich stand vor dem liebevoll geschmückten Grab meiner Eltern. Die Glocken der Kapelle läuteten.

Es regnete unaufhörlich und so vermischten sich meine Tränen mit den Regentropfen. Nach einer Weile brach ich zum Lutersee auf.


Ganz nah am Ufer beobachtete ich, wie die Regentropfen auf das Wasser des Sees prasselten und kleine Fontänen erzeugten.

„Junge Frau, passen Sie auf, das Ufer ist hier sehr rutschig“.

Ich drehte mich um. Der ältere Herr schmunzelte mich an. Er streckte mir seine Hand entgegen und mein Herz fing ganz leise an zu pochen.


Es hatte aufgehört zu regnen. Die Sonne brach mit voller Wucht durch die Wolken und verwandelte den See in ein Meer aus glitzernden Funkenstrahlen.

Blinzelnd schaute ich zum Himmel hinauf und mir schien, als ob meine Eltern mir zuwinkten.

Lächelnd winkte ich zurück.


„Ich liebe Euch“

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 21.05.2015

Alle Rechte vorbehalten

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