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Cabo da Roca - Wo das Land endet und das Meer beginnt

»J. fuhr nach Spanien, um zu sterben.«

Hier... Wo die Erde endet und das Meer beginnt... (Aqui... onde a terra se acaba e o mar começa)

 

J. fuhr nach Spanien, um zu sterben ... Und ich werde es Josette gleichtun, fügte Johanna in Gedanken hinzu, wenn auch mein Ziel ein wenig weiter liegt. Mit ohrenbetäubendem Getöse fuhr ihr Zug in die Grenzstadt Irún ein. Flirrende Hitze und vielstimmiges Durcheinander schlugen ihr auf dem nur spärlich überdachten Bahnsteig entgegen, während sie sich zu orientieren versuchte.

Gestern hatte sie ihr Leben verlassen, einfach so, ohne Rücksicht auf Verluste. Ihr Job war schon vor Wochen gekündigt und die Wohnung gleich mit. In ihrer Tasche verwahrte sie einen Block, auf dem sie ihren Freitod erklärte. Einzig eine Postkarte hatte sie noch vor der Abfahrt im Bahnhof aufgegeben, auf der nur jener Satz aus dem Roman Tor zur Sonne von Simone Téry stand. Die Vorderseite zierte ein Foto vom Cabo da Roca, ihrem eigentlichen Reiseziel.

An einer Bank in der Nähe stellte sie ihre Sachen ab. Sie hatte das Notwendigste in eine leichte Tasche gepackt, schließlich würde diese Reise ja nicht ewig dauern. Einen Schlafsack und ein kleines Zelt trug sie im Rucksack. Müde und ausgelaugt von der stundenlangen Fahrerei reckte sie sich und zündete eine Zigarette an. Sie sah auf die Bahnhofsuhr – noch vierundzwanzig Stunden. Johanna nickte zufrieden.

 

Als sie mit dem ersten Bus an der Steilküste ankam, war es kurz nach neun Uhr. Im Bus saß nur das Personal für das Café und den Shop. Die meisten Touristen und Schaulustige kamen erst am Mittag oder Nachmittag, wenn der Wind am stärksten war. Johanna stellte ihr Gepäck auf die von niedrigem Gras bedeckte Wiese und sah sich um. Der immerwährende Wind fegte über die Klippen und ließ ihr schulterlanges Haar wie eine Fahne westwärts zeigen. Gleißend weiß hob sich der Leuchtturm gegen den Himmel und die felsigen Grünflächen ab. Da entdeckte sie ein paar wenige Disteln am Rande des Meeres sogenannter Essbarer Mittagsblumen, das sich bis zum Horizont ausbreitete. Sie hatten ihre Köpfe noch geschlossen, aber bald schon würden neben ein paar lila Tupfen ungezählte gelbe auf den von der Seeluft salzigen Wiesen leuchten und Wildbienen sie umschwirren wie Motten das Licht.

Johanna war vor vielen Jahren als junge Frau einmal hier gewesen. Und schon damals hatte sie diese dramatische Landschaft fasziniert. »Nichts hat sich verändert«, murmelte sie. »Der Wind, die Felsen, das Meer ... nur ich.«

Sie hatte geschworen, noch einmal hierher zurückzukommen. »Dass ich es zu diesem Zwecke tu, hätte ich mir nicht träumen lassen.«

Sie trat an die Felskante und sah ehrfürchtig hinab. Es bebte unter ihren Füßen, wenn die Brecher an die Steinwand klatschten und sich ihre Kraft in glitzernden Schaumkronen verlor. »140 Meter sind viel. Vielleicht zu viel?«, fragte sie sich laut. Sie trat ein paar Schritte zurück, der Anblick der Tiefe und die Gewalt der Brandung ließen sie schwindelig werden.

Fernab vom Leuchtturm und seinen Menschen suchte sie sich ein ruhiges Plätzchen. Hier blies der Wind nicht direkt hin, trotzdem konnte sie das Meer überblicken. An den Rucksack gelehnt zogen ihre Gedanken eigene Kreise, die mit jeder Stunde enger wurden. Sie wusste, sie würde es tun! Nicht, dass sie das Leben hasste, nein, es war ihr nur mit der Zeit zum Feind geworden. Sie sah für sich keinen anderen Ausweg, als »dem ganzen Scheiß den Rücken zuzukehren«, wie sie es nannte.

Gegen Mittag füllte sich das Plateau. Sie erhob sich und ging ein paar Schritte. Kinderlachen und Stimmengewirr mischten sich mit der tosenden Brandung. Sie sah die Menschen furchtsam die Klippen hinunter starren. Manche hielten sich gegenseitig fest, aus Angst hinüber zu fallen. Aus einer Laune heraus knipste sie mit ihrer Kamera ein paar Motive. Sie schlenderte zu dem Pfeiler, der den westlichsten Punkt der alten Welt markierte und die Sehnsucht nach der Neuen Welt auf der anderen Seite des Ozeans nährte. Am Kiosk beim Leuchtturm erstand sie von ihrem letzten Geld ein Sandwich und eine Flasche Wasser. Wieder bei ihrem Rucksack angekommen, staunte sie nicht schlecht. Da saß ein junger Mann in einem Rollstuhl und blätterte in ihren Aufzeichnungen.

»Was machst du hier?« Sie entriss ihm den Block und ihre Augen sprühten vor Zorn und Überraschung.

»Das Gleiche könnte ich dich auch fragen, Johanna.« Der Mann sprach mit spanischen Akzent, sein Deutsch war aber sehr gut. Dunkle Augen schauten ernst aus einem jugendlichen, sonnengebräunten Gesicht. Seine schwarz glänzenden Haare gingen ihm bis auf die Schultern. Auffallend war das große goldfarbene Kreuz auf seiner nackten Brust. Er trug nur eine halblange Hose und Sandalen. »Warum willst du dich umbringen? Macht das Sinn?«

»Was geht dich das an? Wer bist du überhaupt?«

»Ich bin José.« Er ließ seinen Blick über das Plateau schweifen. »Ein schöner Ort, zu schön, um sich umzubringen.«

»Lass mich in Ruhe, José!« Ihre Stimme überschlug sich fast. Sie raffte ihre Tasche und den Rucksack. »Ich will allein sein.«

»Das kann ich nicht, Johanna.« José legte seine Hand auf ihre Schulter und seine Augen sahen sie bekümmert an. Seine Stimme war ruhig und fest. »Gott will nicht, dass du dich hier einfach von den Klippen stürzt und dein Leben wegwirfst.«

»Woher willst du wissen, was er will?« Johanna lehnte den Rucksack wieder an den Felsen und ließ ihre Tasche ins Gras fallen. Sie sah José provokant an. »Er hat doch keine Ahnung!«

»Hätte er mich sonst zu dir geschickt, Johanna?«

»Ach, was weiß ich! Ich habe keine Lust auf so ein Palaver, das hatte ich in meinem Leben genug.«

»Nach allem, was ich gelesen habe, palaverst du auch nur.« José nahm den Block aus ihrer Hand und blätterte ein paar Seiten. »Was ist daran so schlimm, dass Gott dir immer wieder von Neuem eine Aufgabe gibt? Er macht es, weil er weiß, dass du seinen Willen erfüllen kannst – wenn du nur willst. Stattdessen flüchtest du dich in dein Schneckenhaus und machst andere für dein Unglück verantwortlich. Da ist es kein Wunder, dass es dich ans Ende der Welt zieht. Schau dich um, was siehst du?«

Johanna starrte auf den Horizont. Sie musste blinzeln, weil der feste Seewind sie in den Augen schmerzte. Eine Träne löste sich und kullerte ihre Wange hinab.

»Wenn ich mir dich ansehe, José, hat dein lieber Gott dich nicht wirklich lieb!« Johannas Augen sahen spöttisch auf den jungen Mann herab. Ihre Stimme überschlug sich fast. »Was soll das für ein Leben sein? Anderen Menschen mit klugen Sprüchen von ihrem Leben abhalten! Ist das dein Leben?«

»Nein, Johanna.« José legte den Block auf ihren Rucksack. »Mein Leben wurde durch einen Unfall beendet. Heute laufe ich nicht mehr kopfüber von einem Abenteuer ins nächste. Aber ich fahre, wohin mich Gott lenkt. Und bislang bin ich gut damit gefahren.«

»Klar, auf fast platten Reifen!«, antwortete Johanna schnippisch und tippte auf die halb leeren Schläuche. »Er hätte dir eine Luftpumpe mitgeben sollen.«

»Aha, auf den Mund gefallen bist du nicht.« José drehte den Rollstuhl so, dass er zum Leuchtturm sehen konnte. »Da schau, all diese Menschen sind auf der Suche. Hier erhoffen sie sich Nervenkitzel, Spannung und mancher Spiritualität. Dieser Ort ist wie geschaffen dafür. Und, nebenbei bemerkt, bist du nicht die Erste, die hier das Ende ihres Weges sieht. Viele schon standen vor dir einen Schritt vom Abgrund entfernt. Alle haben den einen noch gemacht, in die eine wie die andere Richtung.«

»An dir ist ein Philosoph vorbeigegangen. Aber spar dir das lieber für jene auf, die das hören wollen.« Johanna setzte sich ins Gras und lehnte sich an den Rucksack. Mit einer Hand wies sie zum Leuchtturm. »Geh zu denen da und lass mich in Ruhe!«

»Wie du willst, Johanna. Ich halte dich nicht auf.« José sah jetzt zu ihr herab, aber in seinen Augen war nur Zuneigung zu lesen.

»Geh schon.« Johanna nahm ihren Block und blätterte ein paar Seiten zurück. Augenblicke später hörte sie das Schleifen der Rollstuhlräder. Dann war Ruhe bis auf das Pfeifen des Windes.

Diese Begegnung hatte sie aus dem Konzept gebracht. Sie hatte sich das doch alles perfekt zurechtgelegt. Sie war gegangen, ohne Spuren zu hinterlassen; einzig die Postkarte an ihren Anwalt bewies, dass sie aus freien Stücken aus dem Leben schied und nicht einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen war.

»Also alles in bester Ordnung«, murmelte sie.

Während auf dem Plateau und den Felsen ringsum die Touristen fasziniert das Naturschauspiel betrachteten, schrieb Johanna weiter an ihrer Erklärung, wie sie es nannte. Sie hatte kein Auge für die ungezähmte Natur zu ihren Füßen, der sie sich auszuliefern gedachte. Sie sah nicht die Falken, die zu Hunderten in den Felsnischen nisteten und im Steilflug über die Klippen sausten, sie sah nicht die im Sonnenuntergang rötlich schimmernden Felsen, denen die Besucher ihre ganze Aufmerksamkeit schenkten. Seit einer gefühlten Ewigkeit saß sie grübelnd auf ihren Block starrend da und schrieb. Das Licht wurde schwächer, die Menschen weniger und die jungen Falken gaben ihre Flugübungen auf. Und auch der Wind blies auf einmal nicht mehr so stark. Der Sonnenuntergang stand kurz bevor, die dunkelgelbe Scheibe berührte fast das Meer.

Sie legte den Block beiseite, steckte den Stift weg und zündete sich eine Zigarette an. Sie hatte sich überlegt, den letzten Bus passieren zu lassen. Dann wäre sie allein bei der Vollendung ihres Planes. »So, fertig.«

Sie ging ein paar Schritte, vom langen Sitzen waren ihre Beine fast taub. »Dass die hier aber auch keine Bänke haben.«

Nur das Klatschen der Wellen unterbrach die abendliche Stille.

 

Er sah von der Anhöhe aus auf die Frau, die ihm den ganzen Nachmittag nicht aus dem Sinn gegangen war. Stundenlang hatte er zugesehen, wie sie in ihr Schreiben vertieft war. Seit er wusste, dass sie die weite Reise hierher gemacht hatte, um sich von ihrem Leben zu befreien, war ihm klar, dass er ihr helfen musste, den richtigen Schritt zu machen. Er wusste zu gut, wie fatal ein falscher enden konnte. Es hatte ihn den sicheren Stand gekostet. Und noch weit mehr!

Johanna ging wenige Meter vom Abgrund entfernt die Klippe entlang. Manchmal blieb sie stehen und sah über das Meer zur Sonne, die schon zur Hälfte im Meer versunken schien. Lange Schatten wuchsen an den Felsen weit draußen, als ob sie ihre Hände zu ihr ausstreckten. Sie kehrte langsam von der Landzunge mit dem Pfeiler zurück und José atmete hörbar aus. Er musste ihr ein Stück entgegenfahren, sonst wäre alles umsonst gewesen!

José fuhr den Pfad entlang. Manchmal blieb er mit den Reifen fast im lockeren Sand stecken und einmal wäre er beinahe zu Fall gekommen. Die Klippenkante war nur wenig Meter weg und im lockeren Grün hätte er sich nicht halten können. »Das ist nochmal gut gegangen. Wenn ich jetzt hier stürze, geht es abwärts.«

Dann sah er Johanna hinter einem Felsen verschwinden.

»Hoffentlich … Da ist sie ja!« Erleichtert stemmte er die Hände in die Reifen und schob sich die kleine Anhöhe hinauf. Schwer atmend verfolgte er ihren gefährlich nahen Gang an der Kante. Irgendwas ließ ihn hoffen, dass sie nicht den Mut fand, ihrem Leben ein Ende zu setzen.

Wenige Meter trennten sie noch in der Dämmerung. José war drauf und dran, ihren Namen zu rufen. Doch schien es ihm nicht der richtige Moment. Sein Puls pochte und nur mit Mühe hielt er sich zurück.

Plötzlich blieb Johanna stehen. Sie blickte in die untergehende Sonne und atmete schwer. Ihre Schultern hoben und senkten sich. Josés Atem stockte. Die sichtbare Sonne war auf die Größe einer Perle geschrumpft, jetzt blieb nicht mehr viel Zeit. Seine Arme brannten, doch unermüdlich schob er sich an sie heran.

Im letzten Licht des Tages setzte sich Johanna auf die Kante zwischen Leben und Tod. José sah, dass sie weinte. Eine Träne folgte der vorangegangenen und tropfte nach freiem Fall auf den Kragen ihrer Bluse. Sie hatte die Hände in das dürre Gras gekrallt und schien zu warten.

Er schob sich neben sie, legte die Bremsen an und streckte seine Hand aus. Sie blickte nur kurz auf, dann nahm sie wortlos seine Hand und drückte sie ganz sanft.

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Tag der Veröffentlichung: 02.05.2015

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