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Von Samen und Trollen

Mein liebes Kind,

 

wenn du diese Zeilen liest, bin ich nicht mehr am Leben, und der Zeitpunkt ist gekommen, dir die Wahrheit über deine Herkunft zu erzählen. Verzeih mir, dass ich es zu meinen Lebzeiten nicht geschafft habe, deine verständliche Neugierde zu befriedigen.

 

Ich muss ein wenig ausholen, liebste Solveig, das wirst du deiner alten Mutter verzeihen. Mein Vater, den du wie deinen eigenen nicht kennengelernt hast, war ein grantiger, und dennoch ehrlicher und fleißiger Bauer in den Bergen von Kautokeino. Wie alle Samen dieser Region war er abergläubig, und die Geschichten über Trolle und das Unwesen, das sie trieben, gehörten zu seinem festen Glaubenskatalog, neben Jesus und allen Heiligen. Trotz der Ängste, die daraus entstanden, schickte er mich, seine Tochter im fast heiratsfähigen Alter, mit den Rentieren auf die Sommerweide. Er selbst und meine Brüder mussten in der kurzen Sommerperiode das Haus herrichten, Futter für den Winter einbringen und die nun schnee- und eisfreien Wege nach Alta nutzten, um all die Dinge gegen Rentierfelle einzutauschen, die wir nicht selbst herstellen konnten. Es ging also nicht anders, ich musste alleine da hinauf.

 

„Freya“, verabschiedete er mich, „du musst dich dieses Jahr in acht nehmen. Oben in den Bergen wurde ein Troll gesichtet, und du weißt, wie heimtückisch sie sind. Ich werde dir dieses Trollmesser mitgeben, das du in den Türstock unserer Sommerhütte rammen musst, dann kann er die Schwelle nicht überschreiten. Tagsüber wird er dich in Ruhe lassen, erst wenn die Sonne gegen Mitternacht tief steht, wird er gefährlich.“

Mit diesen Worten erschreckte er mich so sehr, dass ich noch weniger Mut aufbringen konnte als zuvor. Doch als Tochter eines Samen wusste ich, dass mir keine Wahl blieb.

 

In den beiden Jahren zuvor hatte ich eine einsame, aber wunderschöne Zeit in der Sommerhütte verbracht. Die Arbeit war nicht schwer, die Rentiere versorgten sich selbst. Da die Sonne niemals unterging, brauchte ich wenig Schlaf und hatte viel Zeit, meinen Gedanken nachzuhängen. Wenn du wüsstest, Solveig, wie viele Prinzen in diesen Wochen um meine Hand angehalten haben, und mit welcher Zuvorkommenheit sie mir selbst meine verrücktesten Wünsche von den Lippen abgelesen haben.

 

Diesmal jedoch waren die Tage durch die Angst vor der Nacht geprägt, und je tiefer die Sonne stand, desto unruhiger wurde ich. Auch wenn ich in den ersten Tagen nichts von einem Troll bemerkte, ereigneten sich ein paar seltsame Dinge. Ein Kamm, den ich beim Hüten verloren hatte, fand sich auf der Hausschwelle wieder. Die Blumen, die ich am ersten Tag gepflückt und in eine Vase auf den Tisch gestellt hatte, verwelkten nicht. Die Rentiere entfernten sich, während ich schlief, nicht vom Haus, und ich hatte keine Mühe, sie wieder einzusammeln und auf Verletzungen zu untersuchen. Verdächtige Dinge, wie mir schien.

 

Doch dann, am Ende der ersten Woche, wollte ich der Sache mit den Rentieren auf den Grund gehen. Ihr untypisches Verhalten machte mich so neugierig, dass die Angst vor dem Troll in den Hintergrund trat. Zudem besaß ich ja das magische Messer, das ich in die Rechte nahm und fest umklammerte, als ich nachts nach draußen schlich. Die Rentiere benahmen sich völlig normal, wenn man davon absah, dass sie sich immer in der Nähe des Hauses aufhielten. Ich beobachtete sie etwa eine halbe Stunde ergebnislos und wollte gerade ins Haus zurückkehren, als ich beim Geräteschuppen ein kaum wahrnehmbares Licht bemerkte, das nur kurz aufleuchtete. Was um alles in der Welt konnte das gewesen sein? Angestrengt starrte ich in diese Richtung und vermeinte, dort einen menschenähnlichen Umriss zu erkennen. Je länger ich furchtsam in die Richtung schaute, desto sicherer wurde ich, dass sich dort jemand befand.

 

Mit bleierner Hand griff die Angst nach meinem Herzen. Kein Mensch kam hierher in der Sommerzeit. Alle waren mit der überlebenswichtigen Vorbereitung auf den Winter beschäftigt. Vor allem würde niemand sich dort hinsetzen und eine Pfeife rauchen, ohne sich vorher mit mir in Verbindung zu setzen. Denn genau das tat dieses Wesen, wie ich jetzt erkannte. Der schwache Schein der mitternächtlichen Sonne hatte nicht gereicht, doch im aufglimmenden Licht des Pfeifenkopfs erkannte ich ein Haupt mit abstehenden Haaren und einer überlangen Nase.
Der Troll war da, saß nur ein paar Meter von mir entfernt und schmauchte seine Pfeife. Direkt bedrohlich wirkte er nicht, denn er war eher klein, doch die schrecklichen Geschichten, die ich über seine Gattung gehört hatte, ließen mir das Blut in den Adern gefrieren. Ich packte das Messer noch fester und schlich ich mich zum Haus zurück.
Ob er mich bemerkt hatte? Fest rammte ich das Messer in den Balken und schloss dennoch vor Angst kaum ein Auge in dieser Nacht. Hilfe gab es hier oben keine, ich musste mit dieser Bedrohung alleine zurechtkommen.

 

Am nächsten Morgen, als ich nach kurzem und unruhigem Schlaf erwachte, war niemand draußen zu sehen und der Tag verging ohne Zwischenfall. Auch in dieser Nacht wagte ich es, nach draußen zu schleichen, und wiederum fand ich den Troll. Er saß an der gleichen Stelle. Meine Neugierde überwog die Angst, und ich beobachtete ihn einige Minuten, bevor ich mich wieder zurückzog. Ob er am Ende doch harmlos war? Er wirkte so gar nicht gefährlich, wie er da saß und an seinem Pfeifchen nuckelte.

 

Noch weitere fünf Tage vergingen auf diese Weise, und ich hätte den Troll schon vermisst, wenn er ausgeblieben wäre, als ich in der sechsten Nacht eines Besseren belehrt wurde. Während ich den Troll beobachtete und wieder bei mir dachte, wie harmlos er doch aussehe, stand er unvermittelt auf, streckte seine lange Nase in den Wind, schnüffelte nach verschiedenen Seiten und ließ plötzlich ein Gebrüll ertönen, das mir durch Mark und Bein ging. Wie eine riesige Schiffsirene klang er, und es dauerte viel länger, als ein menschliches Wesen hätte brüllen können. Sicher war dieser fürchterliche Ton meilenweit zu hören, und alles Vertrauen, das ich zu dem seltsamen Wesen gefasst hatte, war mit einem Schlag verschwunden. Panik überflutete mich, und ich flüchtete Hals über Kopf zurück in die schützende Hütte.

 

Zitternd verkroch ich mich ins Bett und zog die Decke bis zum Hals empor. Wer so brüllte, konnte nicht ungefährlich sein, sagte mir der gesunde Menschenverstand. Vor lauter Schreck hatte ich versäumt, das Messer in den Türbalken zu rammen, sondern hielt es fest umklammert.

Es verging etwa eine halbe Stunde, während der sich mein Herzschlag langsam wieder beruhigte, weil kein weiterer Ton zu hören war. Um so schlimmer traf mich der Schreck, als es an die Tür polterte. Kam er jetzt … mich zu holen?

 

„Ist da jemand?“, erklang eine menschliche Stimme, und vor Freude kamen mir die Tränen. Schon beim zweiten polternden Klopfen war ich an der Tür und fiel dem Eintretenden um den Hals. Mein blondgelockter Retter, dessen Gesicht ich noch gar nicht gesehen hatte, drückte mich an sich, und das Trollmesser fiel scheppernd zu Boden.

„Danke, ich bin fast gestorben vor Angst. Da draußen treibt ein Troll sein Unwesen.“

„Keine Panik, jetzt bin ich ja da, mein Kind.“

Ich war sicher, diese Stimme noch nie gehört zu haben, und als ich endlich wagte, das Gesicht des Ankömmlings zu betrachten, stand ein Fremder vor mir, herrlich männlich, ein Held. Wo kam er her? Und was tat er hier oben im Sommer? Egal, meine Dankbarkeit kannte keine Grenzen.

„Da kannst du ja von Glück sagen, dass ich gerade hier vorbeigekommen bin“, bestätigte der gut aussehende Mann meine eigene Einschätzung. „Wie steht’s mit einem Dankeschön, meine Liebe.“

Natürlich wusste ich, was sich gehört, kniete mich vor der Lichtgestalt auf den Boden und stimmte das traditionelle samische Danklied an.

„So hab ich das nicht gemeint“, unterbrach er mich. „Ich dachte da an etwas Handfesteres.“

Ich hatte keine Ahnung, was er meinte und schaute ihn fragend an.

„Nun stell dich nicht so an. Da steht ein Bett, und dieser Stuhl hier ist ideal zum Ablegen der Kleider geeignet.“

Diese Sätze sprengten mein Vorstellungsvermögen. Was, um Gottes willen, wollte dieser Mann von mir? Ich war ja noch so naiv. Aus purer Verlegenheit stimmte ich mit zittriger Stimme erneut das Danklied an.

„Komm her, ich werd dir helfen, du Miststück“, wurde ich erneut unterbrochen.

 

Riss mich zu sich heran, hielt die Hände mit eisernem Griff, schlug, ins Gesicht, rechts, links, wieder und wieder, die Tränen machten ihn wütend, schrie mich an, meine leichte Sommerkleidung zerriss wie Papier, wollte mich bedecken mit den Händen, ging aber nicht, er hielt mich mit eisernem Griff, woher die Kraft nehmen, ich wimmerte, sein Lachen gellte in den Ohren, lachte, lachte, lachte ...

 

Doch da geschah das Wunder, liebste Solveig. Mit schweren Tritten zerschmetterte dein späterer Vater die Tür, packte den blonden Widerling bei der Hüfte, trug den Mann, der sich mit aller Kraft widersetzte und dennoch nicht den Hauch einer Chance hatte, nach draußen, hob ihn, wie ich durch die kaum noch vorhandene Tür erkennen konnte, hoch über den Kopf und …

Ich will dir die Einzelheiten ersparen, doch wir begruben ihn noch in derselben Nacht. Ich habe nie erfahren, wer er war, noch woher er kam. Dein Vater aber reichte mir ein Laken, damit ich meine Blöße bedecken konnte, streichelte mir wieder und wieder übers Haar, als er mich ins Bett legte und in den Schlaf summte.

 

Abend für Abend besuchte mich der Troll. Sein liebevolles Wesen, seine packenden Erzählungen, seine Zärtlichkeiten eroberten mein Herz und von Mal zu Mal war mir seine Anwesenheit willkommener. So sehr, dass du neun Monate später das Licht der Welt erblicktest, und ich mit dir das Land der Samen verlassen musste. Es folgte eine harte Zeit, doch in keiner einzigen Minute habe ich bereut, was ich getan habe. Wirklich leid tut mir nur, dass ich ihn nie wieder gesehen habe.

 

Nun weißt du, liebe Solveig, woher du stammst und wer dein Vater ist. Du hast viel von seinem gradlinigen und unbeugsamen Charakter und auch deine beiden Söhne sind aus seinem Holz geschnitzt. Bitte verzeih deiner dummen Mutter Freya, die es zeit ihres Lebens nicht fertigbrachte, dir diese Geschichte zu erzählen. Ich liebe dich und werde dich ewig lieben.

Impressum

Bildmaterialien: pixabay CCO Public Domain, User: computerkugel
Tag der Veröffentlichung: 08.04.2015

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