Cover

Der Engel

„Würdest du dich uns kurz vorstellen?“, bat die routiniert freundlich blickende Therapeutin und sah mich aufmunternd an. Nicht sehr hilfreich, aber das lag sicher nicht an ihr. Es lag an mir. Kein Mensch würde es glauben, wenn es nicht wahr wäre: Ich sah einen Engel und manchmal sprach ich auch mit ihm!

Nein, ich war nicht verrückt, ich sah keine Gespenster und Trugbilder! Trotzdem war ich am Ende hier gelandet.

Was Boris dazu sagte? Er zuckte nur mit den Schultern, schüttelte raschelnd seine gefiederten Flügel und tat gelangweilt.

„Ich bin Gerhardt. Ich habe einen Engel als Begleiter.“

In dem Raum mit den seltsam ungelenk anmutenden Zeichnungen an den Wänden und dem Sammelsurium von Stühlen rings herum erstarb für einen Moment jede Bewegung. Siebzehn Augenpaare richteten ihre Blicke auf mich. Es hätten achtzehn sein müssen, aber der ältere Mann mit der Narbe im Gesicht trug eine große schwarze Brille und überflüssigerweise einen gelben Button mit drei schwarzen Punkten an seinem graugrünen Sweatshirt, das dringend einer Wäsche bedurft hätte.

Boris beugte sich von seinem Platz am Fenster zu dem Mann herunter und wedelte mit seiner langen, schmalen Rechten vor dessen Gesicht herum. Dann sah er mit einem spöttischen Ausdruck zu mir herüber.

Er kann nicht sehen! Wie ist das passiert? Warum macht keiner was dagegen?“

‚FRAG IHN DOCH SELBST!’, war ich versucht, ihn anzuschreien, aber das hatte ich schon seit langem aufgegeben. Boris sprach nur mit mir, wenn überhaupt. Und ein solcher Ausruf hätte es nicht besser gemacht. Ich war nicht grundlos hier gelandet.

Dann redeten alle durcheinander. Die Therapeutin hob beschwichtigend die Arme. Das Geplapper erstarb. Boris hob die Augenbrauen zu einer anerkennenden Geste und schürzte die Unterlippe. Dann verschränkte er die Arme vor der mächtigen Brust und sah interessiert zu mir herüber. Ich mochte ihn nicht besonders, aber in solchen Situation war meine Aversion nahe am Hass. Eine Gemütsregung, die er so wenig verstand, wie Liebe oder Gewalt.

„Ein Engel, wie Michael oder der Engel, der in der Heiligen Nacht den Hirten den Weg gewiesen hat? Bist du ein gläubiger Mensch, Gerhardt?“

Die Therapeutin beugte sich etwas nach vorn und ihre grauen Augen hinter der randlosen Brille schauten nun nicht mehr ganz so freundlich sondern eher routiniert interessiert.

Boris hatte bei Nennung der Namen und Ereignisse nur gelangweilt abgewunken. Er hockte auf dem Fensterbrett und sah hinaus auf den Park, wo eine Gruppe von Patienten langsam im Kreis herum lief. Er schüttelte versonnen den Kopf und die Federn seines Schopfes machten leise zirpende Geräusche. Geräusche, die nur ich wahrnahm, da war der Herr Engel eigen.

„Meinen Sie, ob ich religiös bin, an Gott und himmlische Heerscharen glaube?“, erkundigte ich mich mit leiser Stimme. Ich sah niemanden an, hatte die Hände zwischen den Knien baumeln. Ich hatte im Verlauf des letzten Jahres gelernt, dass die Körpersprache einen in große Schwierigkeiten bringen konnte.

„Nein, Frau Doktor...“

„Edeltraut, wir duzen uns hier alle“, unterbrach sie mich mit dieser Stimme, deren Sanftheit wie eine dünne Schicht Lack über der Ungeduld war. Ich kroch noch weiter in mich zusammen und murmelte ein schüchternes „Edeltraut, ja.“

„Was macht er?“, wollte Felix mit seiner krächzenden Stimme wissen. Felix war ein Mann Mitte Fünfzig mit einer sehr hohen Stirn, die von sorgsam frisiertem Haar - von links nach rechts gelegt – nur spärlich bedeckt wurde. Felix war einmal Lokführer gewesen, wie er bei einer früheren Gelegenheit im Speiseraum verkündet hatte. Aber dann war einiges schief gegangen in seinem Leben und nun saß er mir schräg gegenüber, hielt mit seinen beiden Pranken seinen Kugelbauch und sah mich an. Seine Knopfaugen waren etwas gelblich und die permanent hochgezogenen Augenbrauen gaben ihm etwas Skeptisches.

„Wer?“, fragte ich verdattert und wandte mich dem Eisenbahner zu.

„Ach Boris! Ja, nichts eigentlich“, bekannte ich mit wachsendem Erstaunen. Wenn ich es recht besah, fiel mir das erst jetzt auf.

„Den kenne ich! Das war mal mein Exschwager!“, rief Wagner und hob seine knochige Linke ungefähr in meine Richtung. Wagner war ein Pyromane, dessen Leidenschaft für explosive Stoffe ihn schon vor geraumer Zeit des Augenlichtes beraubt hatte, was vielleicht von Vorteil war, wenn man bedachte, dass derselbe dumme Unfall sein Gesicht auch erheblich verunstaltet hatte.

Heiterkeit machte sich unter den umsitzenden Patienten breit. Das Gesicht von Doris, die mir wie im Speiseraum gegenüber saß, nahm eine bedrohlich dunkelrote Farbe an. Mit ihren Hängebacken und den bräunlich verfärbten Triefaugen sah sie dem Hund meines Nachbarn verdammt ähnlich, aber vermutlich tat ich dem Hund damit Unrecht.

Edeltraut hob wieder beschwichtigend die Arme, was mich an die Geste eines Priesters erinnerte, was ich natürlich für mich behielt, weil ich gerade bekannt hatte, kein gläubiger Mensch zu sein.

Nach ein paar Minuten hatte sie die Situation wieder im Griff. Maja, die kleine Frau vom Nachbarzimmer mit dem schütteren Haar und dem seltsamen Lächeln fragte etwas schüchtern und mit hörbarer Furcht in der Stimme:

„Ist er etwa jetzt auch hier?“

„Natürlich, er sitzt...“, hob ich an und deutete auf die Fensterbank hinüber. Aber das war wieder typisch: kaum wollte man ihn outen, machte er sich aus dem Staub. Das Fensterbrett war leer, was sonst. Aber ich sah etwas, was mein Herz einen kleinen Sprung machen ließ: Unter dem Stuhl neben dem Fenster lag eine kleine weißgraue Feder. Ich erhob mich, was Edeltraut etwas aus der Fassung brachte. Ich bückte mich unter den Stuhl und griff nach der Daune. Kaum hatte ich sie zwischen den spitzen Fingern, löste sie sich auf und kaum sichtbarer silbriger Staub rieselte zu Boden. Dieser Engel war ein Biest, gerissen, ungezogen und ganz und gar nicht engelsgleich. Enttäuscht erhob ich mich, was meine Knie mir übel nahmen. Edeltraut sah mein schmerzverzerrtes Gesicht und ihre Augen bekamen einen kurzen Moment etwas fast menschlich Mitleidvolles.

„Alles gut“, keuchte ich und ließ mich wieder auf meinen Stuhl plumpsen.

„Willst du uns vielleicht erzählen, seit wann du dieses Trugbild siehst?“, erkundigte sich die Therapeutin, was nur scheinbar wie eine Frage klang. Ich wollte eigentlich nicht, ich hatte das schon zu oft erzählen müssen und wusste, dass es in der Regel böse endete. Aber viel weiter, als ich jetzt schon war, konnte ich nicht mehr kommen. Die Zeiten von „Einer flog übers Kuckucksnest“ waren doch sicher vorbei, oder? Das waren sie doch? Ich sah das Metall in den Blicken von Edeltraut und hatte meine Zweifel. Darum wies ich auch nicht darauf hin, dass der Begriff „Trugbild“ nicht nur unzutreffend sondern auch verharmlosend war. Dieser Engel war so wirklich wie du und ich; nun gut, vielleicht nicht genau so, aber wirklich genug, mich in diese unerfreuliche Lage zu bringen.

„Ich bin von Beruf Maschinenbauingenieur. Ich arbeite“, ich konnte mich noch immer nicht dran gewöhnen, „ich arbeitete in einem Werk für Werkzeugmaschinen als Entwickler. Ich bin ein Mann der Zahlen und Fakten und weit entfernt von religiösem Wahn oder romantischen Geschichten von Schutzengeln.“

„Ist er das für Dich – ein Schutzengel?“, fragte Edeltraut dazwischen.

„Lass den Mann doch mal erzählen! Ich muss pi...“, sagte Wagner hörbar genervt. Edeltraut fuhr ihm rasch und erfolgreich in die Parade.

„Ich darf doch bitten!“, kam ihr Einwurf scharf und schneidend. Sie durfte, sie war hier der Boss, kein Zweifel. Wagner hielt ihr mit einer wegwerfenden Geste sein zerstörtes Gesicht entgegen, schürzte die schartige Unterlippe und schwieg.

Inzwischen saß Boris wieder auf dem Fensterbrett, besah sich seine krallenartigen Fingernägel, knabberte daran herum. Engel können furchtbare Unarten haben, wollte mir scheinen.

„Das erste Mal sah ich ihn in der U-Bahn auf dem Weg von der Arbeit nach Hause. Es war spät geworden und die Bahn fast menschenleer. Er hockte auf der letzten Bank des Abteils und ich hielt ihn für einen dieser durchgeknallten Künstler, die neuerdings unsere Stadt bevölkern.“

Unter den Zuhörern wurden ein paar zustimmende Bemerkungen laut. Boris sah auf und fixierte mich mit seinen hellen Augen, deren Farbe sich unablässig zu ändern schien, was es schwer machte, ihn lange anzusehen.

Durchgeknallt, aha“, sagte er verächtlich und wandte sich mit einer affektierten Bewegung ab. Ich hatte Mühe, Ernst zu bleiben. Es waren diese fast kindlichen Gesten, die es so schwer machten, diesem Engel lange gram zu sein.

„Einer Eingebung folgend setzte ich mich ihm gegenüber und sah ihn ein wenig herausfordernd an. Dann passierte es: Er sprach mich an.“

„Was?“, wollte Wagner wissen. Ich sah ihn verständnislos an und zuckte die Achseln. Dann fiel mir ein, dass er diese Geste nicht sehen konnte, aber er kam mir zuvor:

„Was er gesagt hat, Mann! Du bist aber auch schwer von Begriff.“

„Das weiß ich gar nicht mehr so genau“, sagte ich und legte die Stirn in Falten.

Soll ich dich begleiten?“, ließ sich Boris von seinem Fensterplatz aus vernehmen. Ich sah zu ihm hinüber, etwas überrascht von der Bemerkung.

Das habe ich zu dir gesagt. Und du hast mich angesehen, als sähest du ein Gespenst und hast genickt.“, setzte er mit leiser Ungeduld hinzu.

Edeltraut sah mich mit gespannter Aufmerksamkeit an. Ihre Zunge spielte selbstvergessen mit ihren – vermutlich nicht ganze echten - Schneidezähnen, während sie meinem Blick zum Fenster zu folgen versuchte. Das war nicht gut, das war ganz und gar nicht gut! Ich hatte mich von diesem Engel mal wieder überrumpeln lassen. Edeltraut machte sich eine Notiz in ihr unvermeidliches Notizbuch. Ich hatte es gewusst!

Ich schickte dem Engel einen wütenden Blick und fuhr fort:

„Soll ich dich begleiten?“

„Wozu Mann, ich komme auch ohne dich auf’s Klo. Bist auch noch schwul, oder was?“

Wagner hatte die Angewohnheit, alles, was er hörte, mit sich in Zusammenhang zu bringen.

Edeltraut herrschte den Blinden grob an.

„Das hat er zu mir gesagt. Ich war total überrascht, denn er bewegte plötzlich seine Flügel und da sah ich, dass sie echt waren. Ich muss total dämlich aus der Wäsche geschaut haben...“ – der Engel spreizte die Flügel und grinste mir zustimmend zu – „... Also muss ich wohl genickt haben. Jetzt nimmt er es wörtlich und begleitet mich auf Schritt und Tritt.“

„Überall hin? Auch auf’s Klo?“, wollte Doris wissen und rollte mit den Augen.

„Auch auf’s Klo“, bestätigte ich. Ohne dass es mir so recht bewusst wurde, begann mir diese Erzählung Spaß zu machen. Ich war mir der Aufmerksamkeit der Runde gewiss und die war viel unschuldiger, als es sonst so der Fall war.

„Zu Anfang habe ich mir nicht viel draus gemacht. Ich hatte eine menge Stress auf der Arbeit und ich dachte zuerst auch, meine überreizten Nerven würden mir einen Streich spielen. Trugbilder und so...“, sagte ich in Richtung Edeltraut. Sie nickte und schrieb wieder etwas in ihr Buch. Inzwischen war es mir irgendwie egal.

„Ich fing sogar an, allen möglichen Leuten zu erzählen, dass ich einen Engel zum Begleiter hätte. Ich schilderte sein Aussehen, versuchte, ihn zu fotografieren, aber natürlich war auf den Bildern nichts zu sehen. Ich kann eigentlich ganz gut zeichnen, aber wenn ich Boris zeichnen will, kommt immer etwas vollkommen anderes heraus. Der Bursche ist sehr gerissen und kennt ein paar abgefahrene Tricks. Er will nicht...“

Mitten in diesen Satz gellte ein spitzer Schrei durch den Raum, der es inzwischen dringend nötig hatte, gelüftet zu werden. Wie auf Kommando ruckten die Köpfe herum zu Beate, unserer High Society Lady mit den schwarz lackierten Fingernägeln und dem üppigen Busen unter den notorisch etwas zu engen Blusen. Sie riss ihre extrem blauen Augen mit dem Smoky-Eyes-Makeup auf und deutete mit ihrem Zeigefinger auf mich, was eine Leistung war, denn allein an dem befanden sich zwei mächtige Klunkern.

„Jetzt weiß ich es! Du warst doch in der Talkshow, wo dich dieser Komiker versucht hat, auf den Arm zu nehmen, dieser...“

„Der war nicht der einzige, der das versucht hat, glaub’ mir“, bestätigte ich etwas zurückhaltender. Ich dachte immer mit gemischten Gefühlen an das letzte Frühjahr, als ich Gast so ziemlich jeder Talkshow war und sogar eine Einladung in den Vatikan erhalten hatte.

Ich habe einige ganz gute Deals abgeschlossen damals und war schon drauf und dran, mir einen Manager zu nehmen. Aber dann kam alles anders.

„Das war eine verrückte Zeit, das stimmt. Aber ich wusste irgendwie, dass es nicht lange dauern und ein böses Ende nehmen würde. Und das tat es.“ Ich hob die Arme zu einer bedeutsamen und sehr hilflosen Geste. Im Rund wurde genickt und eine Pause entstand, in der das Atmen der Menschen hörbar wurde.

„Was ist passiert?“, fragte Doris mit viel Mitgefühl in der Stimme, sofern ein Reibeisen mitfühlend klingen konnte.

„Alles fing damit an, dass sich meine Frau von mir trennte. Sie hielt den Trubel um den unsichtbaren Engel nicht mehr aus. Aber noch viel schlimmer als der Trubel war das Getuschel der Leute. Ihre Arbeitskollegen steckten die Köpfe zusammen und sahen sie mit dieser geifernden Anteilnahme an. So nach und nach rückten die meisten von ihr ab und als ich für diesen Preis nominiert wurde, wandten sich auch die letzten Freundinnen von ihr ab. Sie hat viel geweint im Sommer.“

Ich hatte Mühe, zu Ende zu sprechen. Ich spürte die Tränen hinter den Lidern und schnäuzte mich geräuschvoll. Boris verdrehte angewidert die Augen.

„Außerdem klappte es auch im Bett nicht mehr so richtig“, gestand ich mit leiser Stimme und sah dabei vor meine Füße, die in den ausgetretenen Latschen steckten.

„Ich konnte es auf die Dauer nicht aushalten, dass er uns immer dabei zusah. Ich sah ständig sein erschrockenes und verständnisloses Gesicht vor mir, wenn ich...“, ich ließ den Rest ungesagt. Jeder wusste, was gemeint war.

„Krass!“, entfuhr es Felix heiser.

„Hat auch Vorteile, wenn man nix sieht, oder?“, ließ sich Wagner grinsend vernehmen.

„Sie ist dann zu ihren Verwandten in den Schwarzwald gezogen. Wollte ein wenig Abstand kriegen, wie sie sagte. Dann kam dieser Reporter dahinter, spürte sie auf. Na, der Rest sollte allseits bekannt sein, oder?“

Ich sah in die Runde und sah in nickende Gesichter.

Die Geschichte war banal wie tragisch. Er passte sie auf dem Weg vom Bäcker zum Haus ihrer Schwester ab und überrumpelte sie geradezu klassisch. Mit ein paar gezielten Fangfragen hatte er meine Edith aus der Reserve gelockt und die Bilder von ihrem verheulten Gesicht mit den trostlosen, verwilderten Augen sprachen eine beredte Sprache.

Von einem Moment zum anderen war ich der Buhmann der Nation.

Ich hatte im Herbst eine schlimme Phase und trank eine Menge. Ich war nicht mehr ich selbst und mein gefiederter Freund war mir auch keine Hilfe.

Unter dem Vorwand, ihm ein Exklusivinterview geben zu wollen, verabredete ich mich mit dem Reporter und ehe er sich versah, schlug ich ihm zwei Zähne aus. Aber es ging mir nicht wirklich besser, denn natürlich schlachtete die Presse meinen Ausraster weidlich aus und ich kam nur mit knapper Not um eine Verurteilung wegen Körperverletzung herum.

Im November kam dann Post von Ediths Anwalt mit den Scheidungspapieren. Meine Ehe war Geschichte. Boris zuckte mit den Achseln, raschelte auf seine aufreizend unschuldige Weise mit den Flügeln und sagte:

Sie war sowieso nicht die Richtige!“

Ich brüllte ihn an, woher er denn das wissen könne, wo er doch keine Ahnung habe, was Liebe und Ehe eigentlich bedeuteten.

„Du hast ja nicht mal einen Schwanz, verdammt!“, schrie ich in seine Richtung. Leider war ich auf dem Weg nach Hause und hatte die Abkürzung durch den Park genommen. Eine Joggerin fühlte sich durch mein Geschrei belästigt und rief die Polizei. Ich verbrachte meine erste Nacht in einer Ausnüchterungszelle, obwohl ich total nüchtern war. Boris hockte am Fußende der Pritsche und starrte zum vergitterten Fenster hinauf. Am nächsten Tag wurde ich einem Polizeipsychologen vorgestellt. Das war der Anfang meiner Patientenkarriere.

„Gerhardt?“

Edeltrauts Stimme klang besorgt und ungeduldig zugleich. Sie hockte vor mir und sah mir ins Gesicht. Offenbar war ich für eine Weile weg getreten gewesen.

„Sollen wir eine Pause machen?“

„Gute Idee. Mir platzt gleich...“

„HERR WAGNER!“ Edeltraut fuhr aus ihrer hockenden Stellung zu dem Mann herum, stemmte die Hände in die Hüften und unterdrückte vermutlich gerade noch den Impuls, mit dem Fuß aufzustampfen.

Sie drehte sich wieder zu mir um, hob fast beschwörend die Hände.

„Es gibt keinen Engel, Gerhardt, habe ich recht?“ Sie zwang mich mit ihren kühlen grauen Augen, ihr ins Gesicht zu sehen. Was ich sah, erschreckte mich plötzlich. Die Frau hatte eine fast panische Furcht davor, sich vielleicht zu irren. Plötzlich tat sie mir leid.

„Nein“, sagte ich und nickte dazu, was ziemlich perfekt meinen Gemütszustand widerspiegelte, „Es gibt keine Engel.“

Edeltraut legte mir eine ihrer schlanken Hände auf die Schulter und erhob sich. Und da stand Boris direkt hinter ihr. Er hatte sich zu seiner vollen Größe aufgerichtet und seine imposanten Flügel ausgebreitet. Sein Gesicht war eine starre Maske aus Zorn. Er umfing die Frau mit seinen starken Armen und presste sie an sich. Dann legte er die Flügel um sie. Ihr Kopf ragte grotesk aus dieser Umarmung hervor. Sie spürte diese Berührung und erstarrte. Ihre Augen ließen von mir ab, richteten sich in eine imaginäre Ferne und ihr Mund verzerrte sich zu einer Grimasse aus Grauen und Verwunderung.

„Boris, lass das sein. Lass sie los!“, zischte ich ihn wütend an. Ich hätte es auch brüllen können, denn alle in der Runde spürten, was geschah.

„Scheiße, nein!“, hörte ich Wagner rufen. Babette, eine magersüchtige Neunzehnjährige mit einer manifesten Essstörung, die neben ihm gesessen hatte, war aufgesprungen und hatte sich angewidert von ihm abgewendet. Ich ahnte, was geschehen war, aber der Engel nahm meine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch.

Sie soll wissen, dass es uns gibt!“, sagte Boris mit einem Ton in der Stimme, der mich schaudern ließ. So hatte ich ihn noch nie erlebt. Er machte mir eine Heidenangst.

„Sie weiß es! Lass sie los, bitte!“

Er ließ ab von der Frau, schien beinahe zu schrumpfen, legte mit einem furchtbaren Rascheln seine Flügel wieder zusammen und kehrte auf die Fensterbank zurück.

Edeltraut stand noch immer wie in Trance. Sie sah mich mit leerem Blick an oder besser durch mich hindurch. Dann kehrte das Leben in ihn zurück.

„Wir machen wirklich eine Pause, denke ich“, sagte sie mit brüchiger Stimme, sah sich mit einer fahrigen Bewegung um und verließ den Raum.

Alle redeten durch einander. Ich saß auf meinem Stuhl, die Arme hingen herab und ich spürte, wie sich um mich ein Bannkreis aus Angst und Fremdheit bildete. Feindselige Blicke streiften mich. Ich kannte dieses Phänomen und doch machte es mich jedes Mal wieder traurig. Ich sah hinüber zu Boris und unsere Blicke begegneten sich.

„Wir gehen!“, sagte er nur und war einen Herzschlag später bei mir. Er hob mich von meinem Stuhl. Ich ließ es geschehen. Es fühlte sich sanft an aber auch unbezwingbar.

Wir gingen.

 

Die beiden Engel sitzen weit hinten in der Bar, die wenig besucht ist. Ein Fernseher flimmert bunte Lichtreflexe auf die Gesichter. Ein Nachrichtensprecher begrüßt mit dieser professionellen Sachlichkeit die Zuschauer.

„In Conradshofen hat sich in den gestrigen Vormittagsstunden eine Tragödie abgespielt in deren Verlauf Gerhardt B. spurlos verschwand. B. befand sich zu diesem Zeitpunkt in der dortigen psychiatrischen Klinik, wo er wegen einer psychischen Störung behandelt wurde. Bekannt war B. vor allem geworden, als er behauptet hatte, er habe einen Engel als Begleiter. Diese Behauptung konnte allerdings nie bewiesen werden.“

Die Szene wechselt und das Klinikgelände kommt ins Bild. Die beiden Engel sehen sich an und lächelten.

„Hier in diesem Gesprächsraum soll sich alles abgespielt haben“, erklärt eine Reporterstimme aus dem Off. Dazu zeigt die Kamera den Gruppenraum. Die Stühle stehen wirr durcheinander, zwei sind umgestürzt. In der Ecke hinten glitzert Flüssigkeit am Boden, als die Scheinwerfer näher kommen.

„Noch ist unklar, was sich hier genau zugetragen hat. Zum Zeitpunkt des Verschwindens befanden sich nach noch unbestätigten Berichten achtzehn Patienten und eine Therapeutin hier zu einer Gruppentherapiestunde. Wie eine Krankenschwester berichtete, hätte es plötzlich einen Tumult in dem Raum gegeben, worauf hin die Patienten den Raum sozusagen fluchtartig verlassen hätten. Die meisten von ihnen seien dabei in einem sehr erregten Zustand gewesen, sodass man bisher nicht in der Lage gewesen sei, verlässliche Informationen zum Verbleib von Gerhardt B. zu erlangen.

‚Kein Mensch würde es glauben, wenn es nicht wahr wäre. Herr B. ist verschwunden!’, so wird die Krankenschwester zitiert, die nicht bereit war, sich vor der Kamera zu äußern.

Die Therapeutin, Edeltraut K. sei unmittelbar vor den Patienten aus dem Raum gestürzt und habe die Station sofort verlassen. Die Klinikleitung und inzwischen auch die Polizei gehen davon aus, dass Frau K. ...“

„Sie ist die Nächste“, sagt Boris und nickt in Richtung Fernsehbild.

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 21.03.2015

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /