Wie immer blieb Hajo Eggers am Eingang der Bar stehen und checkte die Lage.
Die üblichen Pärchen an den Einzeltischen, drei ältere Typen am Tresen, die er vom Sehen kannte, Jenny, die Bedienung, der Barkeeper Jo – alles okay.
Eggers parkte seinen Parka an der Garderobe und setzte sich auf einen Barhocker neben dem Toilettengang mit größtmöglichem Abstand zu den drei Trinkern, wobei er jeden Augenkontakt mit ihnen vermied. Er hasste es angesprochen und in einen belanglosen Smalltalk gezogen zu werden; er trank lieber allein. Das war sicherer.
Jo kannte das schon und stellte wortlos ein Pils vor Hajo Eggers. Der nickte nur und trank, während er im Barspiegel die Eingangstür beobachtete. Die dezente Musik, das Dämmerlicht, das leise Gemurmel der Pärchen, ab und zu Gläsergeklirre und das Quietschen, das Jo beim Gläserpolieren verursachte schläferten Eggers fast ein, sodass er regelrecht hochschrak, als er die Tür hörte. Dann war er plötzlich hellwach.
Hoppla, was war das denn für eine Frau, die da hereinkam? Halblange, brünette Haare, sportliche Figur, große, dunkle Augen, die aufmerksam umherblickten, eine verdammt sympathische Ausstrahlung. Eggers war fasziniert und ließ den Blick nicht von ihr. Er hatte sie noch nie hier gesehen, aber ihre ganze Erscheinung machte ihn sicher, dass sie keine Gefahr darstellte.
Scheiße, ich werde wirklich langsam schizophren, schimpfte er sich in Gedanken, während er im Spiegel beobachtete, wie sie den Hocker neben ihm ansteuerte, sich mit unnachahmlicher Grazie setzte, die Beine übereinander schlug und ihren Blazer darüber legte.
"Hallo", sagte sie zu Jo mit einer Stimme, die wie Samt und Seide klang und bestellte einen Rotwein.
Als sich ihre Blicke im Spiegel zufällig trafen und länger als nötig aneinander hängen blieben, fühlte Eggers, wie sich sein Puls deutlich erhöhte. Schnell trank er ein paar kleine Schlucke, während es in ihm arbeitete. Sollte er sie ansprechen? Und wenn ja, was dann? Er war hin- und hergerissen. Nun, sie war offenbar fremd hier in dieser Bar, was würde sie wohl von einem Typen halten, der einsam neben der Klotür saß und sein Bier trank? Immer wieder beobachtete er verstohlen, wie ihre Lippen das Weinglas berührten und stellte sich vor …
Endlich gab er sich einen innerlichen Ruck. Er musste sie ansprechen, musste sie kennen lernen, musste … Aber noch während er sich zu ihr hin drehte, erhob sie sich, schlüpfte in ihren Blazer, lächelte ihn an und schwebte zum Ausgang. Entsetzt starrte er ihr nach und blickte dann hilflos zu Jo, der gerade den Schein, den sie auf die Theke gelegt hatte, an sich nahm und nur bedauernd mit der Schulter zuckte. Das nächste Pils trank Eggers sehr, sehr schnell.
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Hajo Eggers lebte allein und zurückgezogen in einem Hinterhaus in der Altstadt. Nicht einmal zu seinen Nachbarn hatte er näheren Kontakt, aber er wusste alles über sie. Das hatte einen guten Grund. Denselben Grund, weshalb er für seine Post ein Schließfach benutzte und kein Namen auf seinem Klingelschild strand. Misstrauen. Und deshalb hatte er auch keine Stammkneipe, sondern eine ganze Liste von Bars, Restaurants und Pubs, aus der er nach dem Zufallsprinzip auswählte, wenn ihm danach war. Er wechselte auch die Strassen, Zeiten und Beförderungsmittel willkürlich.
Deshalb verschlug es ihm buchstäblich den Atem, als er wenige Tage später das Dubliner's betrat. Beim ersten Kontrollblick vom Eingang aus entdeckte er sie. Das kann doch nicht wahr sein, das gibt's doch nicht! fuhr es ihm durch den Kopf. Er atmete tief ein und beschloss, dieses Mal über seinen Schatten zu springen, bevor sich die Gelegenheit wieder verflüchtete. Ohne zuerst zur Garderobe zu gehen trat er direkt neben sie an die Bar und sagte:
"Ach, so ein netter Zufall, darf ich …?" Sie blickte fragend auf, und dann schien es ihr zu dämmern.
"Na so was, vor ein paar Tagen, ähnliche Bar, stimmt's?"
"Ja, richtig. Sie sind da leider so schnell verschwunden, dass ich mich nicht einmal vorstellen konnte. Ich heiße Eggers, Hajo Eggers."
"Sehr erfreut, Janina Cass."
Sie schüttelten sich die Hände, und nur wenige Minuten später waren sie in interessantem Gespräch vertieft. Janina erzählte, dass sie erst vor kurzem aus den USA, wo sie lange gearbeitet hatte - ("daher dieser silly -Milwaukee-Akzent, den ich mir erst wieder abgewöhnen muss") - in diese Stadt versetzt wurde, deshalb noch niemanden kenne und darum nach Feierabend ein paar Restaurants oder Bars ausprobiere. Sie plauderten angeregt über dieses und jenes, entdeckten immer mehr Gemeinsamkeiten, und so war es klar, dass sie sich wieder treffen wollten. Dieses Mal zum Essen.
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Das Restaurant war ausgezeichnet, die Stimmung wunderbar, und schon nach der Vorspeise gingen sie zum 'Du' über. Sie kamen wieder auf dies und das zu sprechen, und als Janina fragte, was er denn so mache, erzählte er ihr, dass er als freier Journalist seit einiger Zeit an einer gewaltigen Story dran sei, einer Geschichte, die man kaum glauben würde, wenn sie nicht wahr wäre. Janina Cass fragte nach und zeigte echtes Interesse, was Eggers dazu brachte, etwas über seine Recherchen preis zu geben. Dabei wunderte er sich selbst, weil er noch mit keinem über seine neue Arbeit gesprochen hatte. Erstens würde ihm momentan sowieso noch niemand glauben und zweitens hatte er Angst. Eine begründete Angst, wie er glaubte, eine Angst, die er vorher noch nie verspürt hatte und die seltsame Verhaltensweisen bei ihm hervorrief. Aber es war merkwürdig – bei Janina dachte er keine Sekunde daran. Es war, als wären sie schon sehr lange befreundet. Und – sie hatte sich schließlich nicht aufgedrängt, hatte den ersten Kontakt nicht genutzt, um ihn auszufragen, das zweite Treffen war reiner Zufall – folglich war sie absolut unverdächtig.
"Also, wie war das?", fragte sie, nippte an ihrem Rotwein und fuhr fort: " Du hast gesagt, dass du an einer ganz geheimen Story arbeitest. Ist die so geheim, dass du mir nichts darüber erzählen willst? Kein Problem, ich verstehe das. Reden wir doch über etwas anderes, Themen haben wir ja genug. Zum Beispiel, was du sonst noch in deiner Freizeit machst – außer in Bars herum zu hängen."
"Freizeit?" Hajo Eggers schien etwas verwirrt. "Äh, nein, ich will dir schon erzählen, woran ich arbeite; du wirst es doch nicht weitersagen?" Er lachte etwas gekünstelt.
"Ich schwöre!" Janina hob drei Finger und blickte dabei so todernst, dass Eggers nun richtig lachen musste.
"Okay, okay", sagte er dann, "wo fang ich nur an? Also, sagt dir novus ordo seclorum etwas? Oder die 33-Grad-Bruderschaft, die Prieure de Sion, die Hochgrad-Freimaurer oder die Illuminaten?"
"Na ja, ich habe den Roman Illuminati von Dan Brown gelesen. Spannend, aber etwas sehr weit hergeholt, findest du nicht?" Eggers wiegte bedächtig den Kopf.
"Wie man's nimmt. Er basiert ja zum Teil auf dem Sachbuch von Lincoln, Baigent und Leigh. Also aus den Fingern gesogen hat er sich das nicht. Andere Gruppierungen: Trilaterale Kommission, Pro Deo, die Bilderberger – klingelt da was bei dir?"
"Bilderberger? Das soll doch die geheime Gruppe von Militärs, Wirtschaftsmagnaten und Politikern sein, die sich regelmäßig treffen – zum ersten Mal in Holland, im Hotel Bilderberg – und die angeblich eine geheime, konspirative Weltregierung bilden. Jetzt verstehe ich langsam. Also ehrlich, gleich kommst du noch mit dem Dollarschein, auf dem sich alle Weltverschwörungssymbole befinden!"
"Richtig. Dieser Geheimgruppe bin ich auf der Spur. Novus ordo seclorum – die Neue Weltordnung, darum geht's!"
"Ach komm, Hajo, das kann nicht dein Ernst sein. Darüber sind schon x Bücher geschrieben worden und gefühlte hundert allein vom Oberverschwörungstheoretiker, von deinem Journalistenkollegen Udo Ulfkotte in diesen dubiosen Kopp-Verlag. Ich … ich bin jetzt etwas enttäuscht von dir, ehrlich gesagt!" Sie wollte aufstehen, doch Hajo Eggers zog sie am Arm sanft auf ihren Stuhl zurück.
"Du hast völlig Recht, Janina, ich wollte dich nur etwas … testen."
"Testen?"
"Na ja, blöd. Diese ganzen Verschwörungstheorien - von der angeblich gefälschten Mondlandung, über die Area 51 mit ihren Aliens, bis hin zu 9/11 – klar sind das völlig blödsinnige Geschichten, die die Leute glauben wollen, weil sie sonst nichts mehr glauben. Clausewitz hat einmal gesagt: 'Alle Nachrichten sind falsch, und die Furchtsamkeit der Menschen wird zur neuen Kraft der Lüge und Unwahrheit.' Zumindest mit dem zweiten Teil seiner Aussage hat er Recht gehabt. Und ich habe nur wissen wollen, ob du an so einen Unfug glaubst. Aber ich habe dich schon richtig eingeschätzt, du hast ein eigenes Gehirn zum Denken."
"Ach ja?" Janina zog spöttisch die Augenbrauen hoch. "Jetzt balancierst du aber auf einem sehr dünnen Seil, mein Freund!"
"Oh Mann, entschuldige bitte. Ja, ich bin durch meine Recherchen so von den Menschen entwöhnt, dass ich manchmal blöd agiere. Es ist jetzt wirklich schwer, den richtigen Anschluss zu finden, aber ich muss gestehen, dass meine Untersuchungen in eine scheinbar ähnliche Richtung führen. Scheinbar. Du kannst jetzt gehen und mich für auch so einen Spinner halten, oder mir zuhören. Ich will dich nicht beeinflussen oder veräppeln oder verdingsbums, verdammt!" Janina lachte.
"Na gut, jetzt mach mal halblang. Fang einfach noch einmal von vorne an. Woran arbeitest du gerade?"
"An einer wirklichen Weltverschwörung. Nicht mehr und nicht weniger. Und ich beweise es dir. Lass mich zahlen und komm mit zu mir; ich wohne gleich um die Ecke."
"Das ist wohl der frechste Abschleppversuch seit Erfindung der Briefmarkensammlung!"
Hajo Eggers sah verzweifelt zur Decke hoch und rief:
"Oh Gott, ich mach alles falsch! Ich will dich nicht abschleppen, oder … Nein, Janina, lass uns das bitte trennen. Ich will nicht, dass du mich für einen Schwätzer hältst, für einen Labersack, der sich blöde Geschichten ausdenkt, um unbedarfte Chicks zu beeindrucken. Du bist doch in einer ganz anderen Liga, ich kann Menschen sehr gut einschätzen, nur meine eigenen Überzeugungen kann ich schlecht vermitteln, so aus dem Stegreif. Ich will dir zeigen, woran ich arbeite und dann kannst du selbst entscheiden. Eine klare, geschäftliche Abmachung, einverstanden?" Janina schüttelte amüsiert den Kopf.
"Du bist schon ein seltsamer Kerl, aber ich mag schräge Typen irgendwie. Geschäftliche Abmachung? Okay. Und ich hoffe, du hast auch noch ein Schlückchen Rotwein zuhause."
"Hab' ich", grinste Eggers erleichtert. " Zahlen bitte!"
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Janina Cass sah sich etwas irritiert um, als sie durch die finstere Einfahrt in der Zweimühlenstrasse zu den Hinterhäusern gingen.
"Na ja, eine Luxusherberge ist das sicher nicht, aber hier bin ich völlig ungestört, und jeder Fremde, der hier durch nach hinten geht, fühlt sich beobachtet." Janina sah zu den dunklen Fensterhöhlen hoch, die wie misstrauische Augen auf sie herab blickten. "In Wirklichkeit aber kümmert sich hier jeder nur um seinen eigenen Kram, und das ist gut so."
Sie stiegen eine knarrende Treppe hoch. Im letzten Stock, direkt unter dem Dach, schloss Eggers seine Wohnung auf. Janina entdeckte keinen Namen an der Tür, dafür aber einen massiven inneren Sicherungsriegel, der in geschlossenem Zustand das Türblatt mit dem Mauerwerk verblockte. Im Flur nahm ihr Eggers die Jacke ab und führte sie in den nächsten Raum, der wohl das Wohnzimmer sein sollte. Wie angenagelt blieb sie stehen und starrte das Tohuwabohu an.
Überall Bücher- und Zeitschriftenstapel verteilt über den ganzen Boden, die Möbel und einen Teil der mit Regalen bestückten Wände, zwei Computer und ein gewaltiges Flip-Chart, das die halbe Wand gegenüber der Dachgaube einnahm. Sie riss sich los, trat näher und schüttelte den Kopf, während Eggers irgendwohin verschwand. O my God! Das Chart war übersät mit Namen und kryptischen Begriffen, verbunden durch verschiedenfarbige Pfeile und gestrichelte Linien, einige davon dick eingekringelt, andere durchgestrichen oder überschrieben. Sebottendorf las sie da, Bakunin und Rothschild, Sion, NSA, Chem-Trails, Carmin und Thule, Protokolle von Zion, Vatikan, Combat 18 und ADL, SAP NS2, Inxight und Palantir, Blackwater und Jeckill Island, und, und, und … Sie war erschüttert.
"Das darf doch nicht wahr sein! Du hast doch gesagt, dass du diese ganzen Verschwörungstheorien für Schwachsinn hältst! Und jetzt so etwas! Wenn es das ist, das du mir zeigen wolltest, wenn das deine streng geheime Superstory ist, dann tust du mir nur noch leid. Hajo?"
"Ich bin gleich da!", rief Hajo Eggers aus der Küche und kam mit zwei Gläsern und einer geöffneten Flasche Gambero Rosso zurück. "Ich erklär's dir gleich, Moment." Er stellte Flasche und Gläser auf ein freies Eckchen des Couchtisches, räumte einen Stapel Zeitschriften von einem Sessel, schob die Bücherstapel auf dem Sofa zur Seite und machte eine einladende Handbewegung. Zögernd Janina Platz.
"Also?" Eggers deutete auf das Flip-Chart und sagte:
"Tja, schaut ziemlich irre aus, nicht wahr? Ist es auch. Aber das alles ist nur – Tarnung."
"Tarnung?"
"Ja, genau. Jeder, der hier reinkommt, erkennt sofort, dass das alles üblicher Verschwörungsunsinn ist. Und er wird sich denken, dass ich ein Spinner bin. Blöd, aber harmlos. Und er wird sich kaum die Mühe machen, nach etwas anderem zu suchen."
"Verstehe", sagte Janina gedehnt. "Das heißt also, dass du etwas anderes, etwas wirklich Brisantes hast, an dem du arbeitest?"
"Richtig, ich hab's dir doch gesagt. Hör mir bitte zu und erkläre mich nicht gleich wieder für verrückt, wenn ich sage, dass ich an einer wirklichen Weltverschwörung dran bin.
Die Leute, die die Welt in ihrem Sinne verändern wollen, ja zum Teil schon unwiderruflich verändert haben, sind einerseits völlig unbekannte No-Names, andere dagegen richtige Stars.
Peter Thiel, Sebastian Thrun – du siehst, auch Deutsche sind führend mit dabei -, Ray Kurzweil, Travis Kalanick. Kennst du einen von denen?" Janina schüttelte den Kopf. "Aber Tim Cook von Apple, Sergey Bin von Google, Marissa Mayer von Yahoo und natürlich den Facebook-Zuckerberg. Die kennst du sicher. Die gehören alle zu der neuen Elite, die uns Menschen verändern wollen, die bestimmen, was wir tun, was wir konsumieren, wie wir leben, was wir denken sollen. Big Brother war ein alter, unwissender, zahnloser Provinzdiktator dagegen. Und alle haben einen Punkt gemeinsam: das Silicon Valley.
Kalanick ist der Chef von Uber, seine Firma hat sich in nur fünf Jahren in über fünfzig Ländern ausgebreitet, in über 260 Städten, sie schert sich einen Dreck um lokale Gesetze und ist mehr wert, als die Deutsche Bank. Kurzweil ist der Chefingenieur von Google, ein Genie. Alle Voraussagen von ihm, für die er erst verlacht wurde, sind schneller eingetreten, als er selbst prophezeit hat. Thrun ist ebenfalls eine anerkannte Autorität im Silicon Valley. Er baut den besten Roboter der Welt – das selbstfahrende Auto von Google. Und bei Google gibt es mehrere geheime Forschungsgruppen für alle Bereiche der Menschheit. Zum Beispiel Google X, die an einem Mittel gegen Krebs arbeitet – schön für die Welt, und vielleicht kommt das sogar billig auf den Markt. Anfangs, bis sie das Monopol haben. Oder die Forschung am Unsterblichkeits-Gen. Glaube nicht, dass es das für die schwarze Mutti in Soweto geben wird. Peter Thiel. Ein Visionär. Er hat Zuckerberg und Facebook erst ermöglicht. Alle gehören sie zu einer Gruppe von etwa fünfzig milliardenschweren High-Tech-Größen, die zwar unterschiedliche Geschäftsmodelle haben, aber ein einheitliches Ziel verfolgen: Sie wollen eine Welt nach ihren eigenen Vorstellungen schaffen. Es sind Visionäre, Ideologen, Fanatiker. Und das unterscheidet sie von der anderen Gruppe, die sich selbst einmal großspurig als Masters of the Universe bezeichnet haben – den skrupellosen Finanzjongleuren. Denen geht es nur um eines: Money, Money, Money. Das ist die Welt, die Religion der Wallstreet-Spekulanten, die mit jedem Teufel Geschäfte machen, um noch mehr Geld anzuhäufen, so sinnlos das auch ist. Götzenglaube eben.
Und das ist der Unterschied zur Silicon-Valley-Gang. Denen ist Geld nur Mittel zum Zweck. Sie haben eine Botschaft, eine Vision, eine Erlöserphantasie. Ihr Glaube ist die grenzenlose Machbarkeit der Technologie und der dadurch wie bei einer Kettenreaktion hervorgerufene komplette Wandel der Welt. Mensch und Maschine werden sich in naher Zukunft durch Netzwerke, Medizin, Robotik, Materialwissenschaften und Biotech so annähern, dass die Menschheit mit einem Paukenschlag auf eine höhere Evolutionsstufe katapultiert wird. Das nennen sie Singularität. Das ist ihr Glaube, das ist ihr Ziel. Und sie halten Gesetze, die von Politikern gemacht werden, für völlig überholt, löchrig und nicht mehr zeitgemäß für das 21. Jahrhundert. Je mehr sie von den einzelnen Individuen wissen, je tiefer sie in die Privatsphären eindringen, desto berechenbarer werden sie. Der Mensch verkommt zu einer Anhäufung von Bits und Bytes – er wird vollkommen gläsern. Das Perfide daran ist, dass sie Angebote schaffen, Spielzeuge wie soziale Netze zur kostenlosen Zeitverschwendung und freiwilliger Datenspende, sie schaffen Nachfragen, die sie sofort befriedigen, sie wollen nicht Nischen besetzen, sondern Monopole schaffen, koste es, was es wolle."
Hajo Eggers hatte sich in Rage geredet, sodass Janina Mühe hatte, eine Frage zu stellen. Als er kurz Luft holte, nutzte sie die Chance:
"Wie bist du denn darauf gekommen? Ich meine, hast du Beweise dafür?"
"Nun, ich habe irgendwann angefangen, mir Fragen zu stellen. Zum Beispiel wer eigentlich die ganzen Server betreibt und bezahlt, die Kabel, die Relaisstationen, die Satelliten, die das Internet in den finstersten Diktaturen am Laufen halten. Wovon existieren IT-Firmen, die zwar auf dem Papier Milliarden wert sein sollen, aber real keinen müden Cent verdienen? Was hat Google für ein Interesse, Häuser zu fotografieren, selbstfahrende Autos zu entwickeln, Fernsehen zu machen? Richtig, um Monopole zu schaffen. Und weil ich bei meinen Fragen nach der Finanzierung immer nur die stereotype Antwort erhielt: 'mit Werbung', habe ich mir die offiziellen Umsätze von Google angeschaut und ins Verhältnis zu der Zahl von Anzeigenkunden gesetzt. Allein die veröffentlichten Zahlen sind unglaublich. Eine Frechheit. Demnach müsste jeder Kunde im Schnitt zwanzig Prozent seines gesamten Umsatzes an Google für die Werbung zahlen – betriebswirtschaftlicher Irrsinn! Bei den anderen Suchmaschinen sieht's ähnlich aus. Und dann – habe ich mir die inoffiziellen Zahlen besorgt. Wie? Na ja, ich habe da so gewisse Fähigkeiten, oder glaubst du, ich gehe mit meinen Rechnern einfach so ins Netz? Also, diese Zahlen beweisen eindeutig, dass die Behauptung, dass es nur um Werbung geht und nur durch Werbung finanziert wird, eine bodenlose Lüge ist. Und die ganzen Firmen sind miteinander verknüpft. Ich nenne sie die Silicon-Valley-Gang, das ist die neue Weltregierung. Und ihre Religion ist die Singularität."
"Wahn…sinn, es ist, es ist…", stammelte Janina, "wer bezahlt dann alles, wie wird das wirklich finanziert? Hast du das auch herausbekommen?"
"Klar", grinste Hajo, "und, um auf deine Frage zurück zu kommen - ja, ich kann das alles beweisen. Das muss ich ja auch, denn kein Mensch würde es glauben, wenn es nicht wahr wäre. Ich zeige dir die Dokumente. "
"Was? Du hast sie hier? Alle? Ist das nicht leichtsinnig?" Jetzt grinste Hajo noch mehr.
"Du hast meine Tarnung erst auch nicht durchschaut. Und die Beweisstücke sind noch besser getarnt. Nicht unter dem Fußboden, nicht hinter dem Schrank, nein, viel besser."
Er stand auf und zog scheinbar willkürlich aus den verstreuten Zeitschriftenstapeln einzelne Exemplare heraus, schlug sie auf und reichte Janina die darin versteckten Dokumente.
"Du bist wirklich verrückt! Du machst es wie in der Geschichte Der entwendete Brief von Edgar Allan Poe. Da hat auch keiner den Brief gefunden, weil er offen auf dem Schreibtisch gelegen ist."
"Genial, nicht?"
"Hoffentlich. Am Anfang der Poe-Geschichte steht ein Zitat von Seneca: Nil sapientiae odiosius acumine ninino – Nichts ist der Weisheit verhasster, als zuviel Scharfsinn. Aber jetzt lass mich mal deine Beweise lesen."
Als Janina nach längerer Zeit wieder aufblickte, war sie sehr blass.
"Das – das ist ungeheuerlich. Wenn du das veröffentlichst …"
"… platzt die größte Bombe des neuen Jahrtausends, ich weiß."
"Und du hast keine Angst, dass deine Mitarbeiter oder Mitwisser etwas vorher ausplaudern?"
"Welche Mitarbeiter? Es gibt keine. Und es gibt auch keine Mitwisser. Halt, doch, einen. Dich."
"Puh. Und alle Beweise sind hier in deiner Wohnung?"
"Ja, alle. Ich kann jederzeit auf sie zurückgreifen." Janina schüttelte wieder den Kopf.
"Unglaublich, ich kann es immer noch nicht fassen. Chapeau! Da ist Edward Snowden ja ein Waisenknabe gegen dich! Lass uns auf deine Recherchen anstoßen, auf dass sie die Reaktion bekommen, die sie verdienen. Ich habe so einen trockenen Hals bekommen."
"Ich auch", lachte Hajo Eggers und goss die Gläser voll. Sie schwieg einen Moment.
"Kann ich … kann ich bitte dazu noch ein Glas Wasser haben?"
"Sehr gerne", antwortete Eggers und verschwand in der Küche.
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Süddeutsche Zeitung, Lokalteil
Großbrand in der Altstadt
Gestern wurde kurz vor Mitternacht Feueralarm in der Altstadt ausgelöst. Ein Brand im Dachgeschoss eines Hinterhauses stellte die Feuerwehren wegen des erschwerten Zugangs vor erhebliche Probleme. Erst durch massiven Einsatz von über zwanzig Löschzügen konnte der Brand unter Kontrolle gebracht werden. In den Trümmern des eingestürzten Dachstuhls wurde die völlig verkohlte Leiche vermutlich des Wohnungsmieters gefunden. Weitere Bewohner des mehrstöckigen Gebäudes wurden nicht verletzt, da sie rechtzeitig evakuiert werden konnten. Es entstand ein Sachschaden in Millionenhöhe, da das gesamte Dachgeschoß betroffen ist und durch den eingestürzten Dachstuhl für die darunter liegenden Stockwerke ebenfalls Einsturzgefahr besteht.
Die Brandursache ist zurzeit noch völlig unklar.
Die junge Frau legte die 'Süddeutsche' zusammen, zog einen Dollar aus ihrer Tasche, las die Aufschrift, die über der seltsamen Pyramide stand und steckte den Schein dann zwischen die Blätter der Zeitung.
"ANNUIT COEPTIS - Unser Vorhaben wird erfolgreich sein", flüsterte sie. "Und der Dollar ist für Charon, den Fährmann, damit er dich über den Styx bringt, mein Freund. Dieses Monopol wird er wohl für immer halten."
Dann warf sie die Zeitung in den Papierkorb und eilte zum Gate 12. Der Flug US 717 nach San Francisco war gerade aufgerufen worden.
$$$$$
"Wer sagt, dass wir nicht tausend Jahre leben können, dass Autos nicht fliegen können?"
Sebastian Thrun
"Wir befinden uns in einem Wettrennen auf Leben und Tod zwischen Politik und Technologie."
Peter Thiel
"Der technologische Wandel wird so schnell sein, dass das Leben unwiderrufbar verwandelt wird."
Ray Kurzweil
Hinweis: Diese Geschichte basiert auf einem Artikel von Thomas Schulz, erschienen in DER SPIEGEL
Tag der Veröffentlichung: 19.03.2015
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