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Flammen im September

Die Sonne glitzerte auf der Wasseroberfläche während die Sonne hinter den entfernten Bergwipfeln der Eifel unterging. Der Himmel war in diversen Blau-, Orange- und Rot-Tönen eingefärbt. Die Wolkenfetzen schmiegten sich sanft in das Bild ein und reflektierten die Farben. Die Rhein-Schiffe wirkten wie kleine Spielzeuge, die von der Strömung dahingetrieben wurden.

 

Julia blickte hinunter in das Rheintal, dass wenige hundert Meter unter ihr an die ersten Hänge des Westerwaldes grenzte. Bei guter Sicht konnte sie bis zum Deutschen Eck gucken, wo die Mosel in den Rhein mündete. Hinter ihr flackerten die aktuellen Nachrichten über den Fernsehbildschirm. Schon den ganzen Tag berichteten sie von diesem unglaublichen Ereignis, dass die Welt gerade wach rüttelte.

 

Die Wangen schimmerten feucht. Julia hatte aufgegeben, sie ständig trocken zu wischen. Das lag nicht zuletzt an den starken Schmerzen in den Gelenken ihre Hände, die kein Schmerzmittel mehr lindern konnte. Mal stechend wie ein Messer, mal brennend wie Feuer und manchmal so verzehrend wie Säure.

 

Gedankenverloren kreuzte sie die Arme vor der Brust, während Bilder der Vergangenheit vor ihren geistigen Augen vorbeiflogen.

 

Gemeinsam mit ihren Freunden April, David, Kevin und Sanchia hatte sie die Altstädte von Koblenz, Köln und Frankfurt unsicher gemacht. Dort wo sie auftauchten, war Party angesagt. Das Quintett fiel nicht nur durch die gute Laune auf, die Teenager hätten nicht unterschiedlicher sein können.

 

Da war das quirlige Geschwisterpaar April und David. Beide blond, beide blauäugig, beide mit sportlicher Figur, sie hätten ihre Verwandtschaft mit keinem Roman der Welt verneinen können. Ihre Eltern waren erfolgreiche Geschäftsleute mit eigener Firma. Hauptsitz war in Chicago, USA. In den späten Achtzigern bauten sie eine Zweigniederlassung in Köln auf und nahmen die Kinder mit, damit sie Deutschland kennen lernen konnten.

 

Im Schlepptau hatten sie den entfernten Cousin Kevin. Ein Bild von einem Kerl. Groß, schwarze Haare und leuchtend grüne Augen. Seine Lippen sahen immer so aus, als würde er verschmitzt lächeln. Julias Herz hatte schon damals immer wie wild geschlagen, wenn er sie ansah. Aber sie hatte sich geschworen, die Clique nicht mit Liebesdingen zu zerstören. Deswegen blieben diese Gefühle jahrelang ihr Geheimnis. Dachte sie jedenfalls.

 

Irgendwann hatte April sie beiseite genommen und gefragt, wann Julia denn endlich Kevin den Gnadenstoß geben würde. Es wäre ja bald nicht mehr mit anzusehen, wie sich die Beiden nacheinander verzehrten und doch wie die Königskinder nicht zueinander kamen. Völlig entsetzt von der Aufdeckung hatte Julia erstmal alles abgestritten. Die beste Freundin anzulügen war aber noch nie von Erfolg gekrönt. Und so kam, was kommen musste. Julia ließ sich endlich in die starken Arme ihres Geliebten fallen und genoss die schöne Zeit. Auch wenn sie nicht so lange dauerte wie sie es sich gewünscht hätten.

 

Und dann war da noch Sanchia. Die brünette Südländerin, die jedem Mann den Kopf verdrehte nur in dem sie ihre Hüfte einen Zentimeter bewegte. Ein Vamp wie sie im Buche steht. Was wohl aus ihr geworden ist? Julias letzte Erinnerung an sie war die Begegnung auf der Beerdigung von Svodja, einem der engsten Freunde der Clique. Das schwarze Kleid mit dem großen Hut machte aus der trauernden Frau eine Lady des Hochadels. Das Gesicht sah trotz der getrockneten Tränen engelsgleich aus. Und immer hatte sie ein aufmunterndes Lächeln für ihre Freunde über.

 

Ein Blick auf das Thermostat der Heizung sagte Julia, dass ihr Gefühl sie trügte. Trotzdem zog sie die Häkelstola vom neben ihr stehenden Sessel und legte sie über ihre Schultern. Dabei fiel das Fotoalbum herunter. Bilder aus einer glücklichen Zeit starrten sie an. Fast wirkten sie, als würden sie Julia anklagen.

 

Mit einem Tritt ließ sie den Albumdeckel zufallen. Sollten diese Bilder doch ihre Anklagen woanders geltend machen. Sie hatte ihre eigenen kund zu tun.

 

Die Stimmen aus dem Fernseher erinnerten sie daran, dass sie dazu keine Gelegenheit mehr bekommen würde. Zum x-ten Mal wiederholten sie das grauenhafte Geschehen, was die vergangene Nacht so kurz gemacht hatte. Und das weltweit. Wie so ein lokales Geschehen die Welt beeinflussen konnte, würden die nächsten Wochen und Monate zeigen. Julia hoffte, dass sie das nicht miterleben musste.

 

Wieder kam dieses sarkastische Lachen aus ihrem Hals. Nein, wirklich. Was für Gedanken sie heute hatte. Als würde der schwarze Mann jeden Moment an der Türe klopfen.

 

Minutenlang ruhten ihre Augen erwartungsvoll auf der Eingangstür. Doch nichts geschah. Kein Klopfen. Kein Klingeln. Niemand, der nach Einlass verlangte. Außer der Katze, die an der Balkontür saß und sich die Lunge aus dem Leibe schrie. Die gut isolierte und abgedichtete Front ließ jedoch keinen Laut hindurchdringen. Schließlich gab die Katze auf, streckte sich und fuhr mit den ausgefahrenen Krallen über das Glas.

 

Julia öffnete die Balkontür, damit die kleine Fellnase mit der ihr eigenen Gemächlichkeit jeden Zentimeter des Einganges genießen konnte. Der Schwanz gerade in die Höhe gestreckt, dem Frauchen keines Blickens würdigend, stolzierte das Tier zur Küche. Dort angekommen stellte sie fest, dass der Futternapf leer war. Mit klagendem Miauen machte sie ihrem Dosenöffner klar, dass dies ein nicht zu akzeptierender Zustand war.

 

„Ich komme ja schon! Du armes, verhungerndes Dickerchen!“

 

Dieser Kommentar brachte Julia einen vernichtenden Blick ein, der wohl sowas sagen wollte wie „Ich bin nicht dick!“ Die Ausdrucksfähigkeit dieses Blickes hatte dem Fellknäuel den Spitznamen Obelix eingebracht.

 

Nachdem Obelix endlich seinen Willen bekommen hatte, lief er einmal um den Napf herum, um sicher zu gehen, dass auch wirklich nichts daneben gefallen war. Die Inspektion war positiv ausgefallen, so dass der Kater sich ungeniert seiner Fellpflege mit anschließendem Nickerchen auf dem Küchenfenster widmen konnte. Der Napf blieb vorerst unberührt.

 

„Typisch“, lachte Julia.

 

Um sich von den vorherigen Gedanken abzulenken, räumte sie erst mal die Küche auf. Die Spülmaschine wollte ausgeräumt, das Geschirr an seinen Platz im Schrank und die Mülltüte zur Tonne gebracht werden. Nach nicht mal der Hälfte der erforderlichen Arbeit, brach Julia ihre Bemühungen ab. Die Schmerzen waren einfach zu stark.

 

Sie schleppte sich zur Couch und ließ sich darauf fallen. Obelix trabte hinter ihr her und legte sich nach ein paar Runden um sich selber auf Frauchens Hände. Seit die Schmerzen begonnen hatten, war der Kater der Einzige, der ein wenig Linderung bringen konnte. Julia war sich durchaus bewusst, dass das eher Einbildung war, aber solange sie sich dadurch besser fühlte, war es ihr egal.

 

Gemeinsam kosteten sie die Schmuseminuten aus und vergaßen für ein paar Momente die Welt da draußen. Doch die Nachrichten im Fernseher wiederholten sich immer und immer wieder. Eine Weile hatte Julia versucht, ein anderes Programm zu finden. Aber wenn ein solches Unglück passierte, wurde einfach überall ununterbrochen davon berichtet. Das war sogar verständlich. Nie hätte jemals jemand geglaubt, dass das in der heutigen Zeit passieren könnte.

 

Hunderte von Menschen hatten ihr Leben verloren, wahrscheinlich sogar tausende. Noch mehr wurden vermisst. Die Welt war im Schockzustand.

 

„Ich hätte da sein müssen“, dachte sie nicht zum ersten Mal heute. „Das sollte mein Schicksal sein!“

 

Wieder kehrten ihre Gedanken zu ihrer besten Freundin April zurück. Als sie 1998 die Führung der Zentrale in New York übernahm, hatte sie Julia einen Job in der Führungsebene angeboten. Nicht, weil sie von ihren Fähigkeiten überzeugt war, sondern weil sie ihre Freundin in ihrer Nähe haben wollte.

 

Der Stolz hinderte Julia daran, das Angebot anzunehmen. Sie fand, dass sie mit Anfang zwanzig zu jung war, um eine Führungsposition einzunehmen. April war gerade mal vier Jahre älter, deswegen galt das Argument nicht. Da war aber gerade diese neue Stelle gewesen, die Julia erst wenige Wochen zuvor angenommen hatte. Sie wollte ihren Lebenslauf nicht unnötig aufbauschen.

 

April hatte Recht! Das waren alles nur vorgeschobene Gründe. Auch, dass die Eltern krank wären und sie in der Nähe bleiben wollte. Sie wollte nur nicht zugeben, dass sie Angst hatte. Vor dem Unbekannten. Vor der unbekannten Stadt. Vor den Menschen, die kein Deutsch sprachen. Angst, dass ihre Sprachkenntnisse nicht ausreichen würden. Dass die Angestellten sie mobben würden, wegen dieser Vetternwirtschaft.

 

Angst. Ja, Angst war eine wirklich gute Motivation etwas nicht zu tun. Julia blieb wo sie war. April ging. Die Freundschaft brach nicht, aber sie kühlte sehr stark ab. Das Telefon klingelte immer seltener, die Mails wurden kürzer, bis sie ganz ausblieben. Heute wünschte Julia sich, sie hätte sich anders entschieden. Ihr Herz weinte bei dem Gedanken, dass sie jetzt, in diesem Moment, bei ihren Freunden sein könnte. Das all die Schmerzen ein Ende hätten haben können. Nicht irgendwann – sondern heute. In dieser Nacht!

 

Die Schmerzen, die Julia seit knapp zwei Jahren begleiteten, rührten von einer degenerierenden Erkrankung, für die die Ärzte nicht mal einen Namen hatten. Sie wussten nur, dass sich die Gelenkknorpel auflösten. Später waren die Knochen und Sehnen dran. In diesem Stadium konnte man nur noch seine Angelegenheiten regeln und warten. Die Ärzte hatten keine Ahnung wie schnell die Krankheit fortschreiten würde. Nur, dass es sehr schmerzhaft werden wird.

 

„Die haben ja keine Ahnung“, stieß Julia verächtlich aus. Sie rieb ihre Füße einander, hoffend, dass dieses Brennen nachlassen würde.

 

Wofür waren all die studierten Doktoren gut, wenn sie nicht mal Schmerzen stillen konnten? Was lernten die denn, wenn sie nicht mal eine Ursache für eine Krankheit feststellen konnten? Oder war sie nur ein Versuchsobjekt, an dem man neue Methoden ausprobierte?

 

Der Frust in Julia wurde von Stunde zu Stunde größer. Sie versuchte die Tage so gut es ging zu verbringen. Ein Ausgehen, Spaß haben mit Freunden – das war leider nicht möglich. Die Qual der Bewegung kam und ging ohne Vorwarnung. Mit jedem Tag kam sie öfters, blieb länger und ging nur noch langsam. Ein normaler Umgang mit ihren Mitmenschen war gar nicht mehr möglich. Wer wollte auch mit jemandem im Café sitzen, der ständig sein Gesicht schmerzgepeinigt verzog?

 

In der Eingangstür drehte sich ein Schlüssel im Schloss. Obelix spitze kurz die Ohren, blickte über die Schulter in den kleinen Flur und kuschelte sich wieder zu einem kleinen Wollknäuel zusammen. Frau Arani, Julias persönliche Fee, kam herein und trug in jeder Hand drei Einkaufstüten mit sich.

 

„Ah, Frau Müller, die Menschen sind heute wieder alle verrückt. Was für ein Einkauf! Was für ein Einkauf!“

 

Jammernd und klagend verfrachtete die ältere Frau die Lebensmittel in die Küche und räumte sie an ihren Platz. Dabei wäre sie fast gegen die Tür der Spülmaschine gestoßen, die immer noch offen stand. Ihr Herz füllte sich mit Mitleid für die arme Frau, die im Wohnzimmer auf der Couch liegend zum Fenster raus starrte.

 

Seit knapp einem Jahr war Frau Arani die gute Haushaltsfee. Seit dem bekam sie fast täglich mit, wie sich der Zustand ihrer Arbeitgeberin von Tag zu Tag verschlechterte. Alle möglichen Hausmittel, Quacksalber-Salben, moderne Heilmethoden und sogar esoterische Wege war die junge Frau gegangen. Aber nichts half. Ihr Leid verringerte sich einfach nicht. Im Gegenteil.

 

Vor weniger als 2 Wochen hatten die Ärzte sie dann offiziell zu einem unmöglichen Fall erklärt. Sie waren am Ende mit ihrem Latein und hatten Julia Müller mit ihren erst 42 Jahren als unheilbar nach Hause geschickt. Wohl wissend, dass ihr Körper früher oder später dem qualvollen Leiden erliegen würde. Es konnte noch Wochen oder Monate dauern. Aber auch Jahre waren nicht unwahrscheinlich.

 

„Jahre“, flüsterte Frau Arani vor sich hin. „Das wünscht man doch keinem Köter! Warum muss sich die arme Frau nur so quälen? Gibt es denn keine Macht in dieser Welt, die das beenden kann?“

 

Ohne nachzufragen, kochte sie Julia erst mal einen Kräutertee, bevor sie sich ans Aufräumen und putzen machte.

 

„Danke, Frau Arani! Sie sind so gut zu mir!“

 

„Na, dafür bezahlen Sie aber doch auch!“ Schnell fügte sie hinzu: „Sie wissen, wie ich das meine. Ich mache es gerne. Wenn Sie noch was brauchen, dann sagen Sie Bescheid, ja? Ich kümmere mich jetzt erst mal um die Küche.“

 

Julia sah der Frau nach. Einige der graugesträhnten Haare hatten sich beim Einkauf aus dem sonst ordentlichen Pferdeschwanz gelöst. Das Gesicht mit den geschichtenerzählenden Falten und Narben wies immer ein kleines Lächeln auf. Was immer diese Frau schon mitgemacht hatte, sie ließ sich das Leben nicht vermiesen. Ein Vorbild für Julia. Wenn auch ein unerreichbares.

 

Wie sehr sie sich wünschte, jetzt in Kevins Arme sinken zu können. In die Arme, die sie vor knapp achtzehn Jahren so strikt und unwiderrufbar zurück gewiesen hatte. Viel zu gut erinnerte sie sich noch daran.

 

Kevin arbeitete in der Kölner Zentrale von „Knights Machines“, der Firma von Aprils und Davids Eltern. Nachdem die Geschwister nach New York gingen übernahm Kevin die Leitung. Er hatte eine Menge zu tun, musste er doch direkt zwei Personen ersetzen. Zu dieser Zeit erhielt Julia die zweite Chance, in die Firma einzusteigen.

 

Gemeinsam mit ihrem Liebsten in einer Firma? Und sogar als seine rechte Hand? Nein, keine gute Idee. Wieder lehnte Julia ab. Wollte Arbeit und Privates getrennt halten. Lehnte sich wieder gegen die Vetternwirtschaft auf.

 

Also musste sich Kevin eine andere Assistentin suchen. Daraus wurden dann zwei, weil eine allein einfach nicht das Zeug dafür hatte. Beide attraktiv, aber nicht sonderlich jung. Damals im Alter wie Julia jetzt. Deswegen hatte sie sich sicher gewähnt. Ein fataler Fehler. Heute wusste sie, dass gerade Frauen in den Vierzigern genau wussten, was sie wollten. Und wie sie es bekamen!

 

Immer länger wurden die Arbeitstage. Immer kürzer die gemeinsamen Nächte und Wochenenden. Julia hatte gemerkt, dass etwas nicht in Ordnung war, versagte sich aber selber die Lösung. Dann hatte sie die genialste Idee, die sie glaubte je haben zu können.

 

Es war mal wieder einer dieser Tage, an denen eine stundenlange Videokonferenz mit New York anstand. Julia wollte Kevin im Büro mit einem improvisierten Picknick überraschen. Doch als die dort ankam, erfuhr sie, dass die Konferenz abgesagt worden war. Die Empfangsdame kannte sie gut und ließ sie mit einem „Sie wissen ja, wo Sie hinmüssen“ ohne weitere Anmeldung nach oben.

 

Das Vorzimmer von Kevins Büro war leer. Beide Assistentinnen waren wohl schon nach Hause gegangen. Aus seinem Büro kamen laute Stimmen. Nicht unbedingt freundlich, aber auch nicht wirklich alarmerregend. Die Tür stand einen großen Spalt offen und daher sah Julia keine Veranlassung zu warten. Sie ging auf das Büro zu, öffnete die Tür vollends – und sah zu, wie ihre Welt wie ein Kartenhaus zusammenfiel.

 

Eine der beiden Assistentinnen, Sarah, rekelte sich halbnackt auf Kevins Schreibtisch und hatte sich seine Krawatte zwischen ihren Beine zur ihrer Brust gleiten lassen. Kevin stand mit offenem Hemd vor ihr und gestikulierte mit den Händen. Was genau er zu Sarah sagte weiß Julia nicht mehr. Überhaupt hatte sie von dem Gespräch nichts mitbekommen. Wie in Trance hatte sie den Picknickkorb auf dem Tisch abgesetzt, direkt neben der sie entsetzt anstarrenden Frau. Dann inspizierte sie die Konkurrentin mit abschätzendem Blick, drehte sich um und ging. Kevin beachtete sie nicht eine Sekunde lang.

 

Der Mann folgte ihr mit dem üblichen „Es ist nicht das, was Du denkst. Lass es mich erklären! Julia! Bitte!“

 

Julia dachte nicht daran. Sie fuhr nach Hause, packte ihre Sachen und nur eine Stunde später war sie auf dem Weg zu ihrer Mutter. Keine zwei Wochen später waren die restlichen Sachen in der neuen Wohnung angekommen, die sie erstaunlich schnell gefunden hatte. Mit Kevin hatte sie nie wieder ein Wort gesprochen.

 

April hatte damals zu vermitteln versucht, wollte Julia dazu zu bewegen, sich wenigstens einmal mit Kevin zu treffen und ihn erklären zu lassen. Dann hätte sie zumindest die Chance, ihm eine gehörig zu kleben. Das war der einzige Grund, warum Julia ganze zwei Minuten darüber nachdachte, dem Drängen nachzugeben. Die zwei Minuten waren schnell rum. Ihre Freundin verstand, fragte nie wieder danach.

 

„Ob er wohl noch in Köln ist“, seufzte sie.

 

Langsam stand sie auf. Dabei scheuchte sie Obelix runter, der das mit einem Doppelsalto quittierte, weil er gerade aus dem Tiefschlaf kam und nicht genau wusste, was gerade passierte. Julias Lachen wurde mit einem intensiven Pfotenlecken beantwortet. Wie peinlich! Einfach runtergefallen!

 

„Ist alles in Ordnung?“ Frau Arani steckte den Kopf durch die Küchentür.

 

„Jaja. Obelix war nur nicht schnell genug.“

 

Wieder hörte sie die bekannten Sätze im Fernseher, die sie zurück zu ihren Gedanken brachten. Im Augenwinkel lockte ein giftgrüner Pfeil ihre Aufmerksamkeit an.

 

April hatte ihr das Bild vor zwei Wochen per Boten zukommen lassen. Ein erneuter Versuch, Julia zu überzeugen, zu ihr nach New York zu kommen. Und das nach so langer Zeit.

 

Es gab zwei Jahre keinen Kontakt mehr zwischen den Freundinnen, als es eines Morgens an der Tür klingelte. Ein Bote brachte ein großes, aber relativ flaches Paket. Nur persönliche Übergabe! Julia hatte keine Ahnung, wer ihr etwas schicken könnte. Überraschungen waren auch nicht ihr Ding, aber sie wollte den armen Boten nicht vor den Kopf stoßen. Er war gerade vier Stockwerke durch ein enges Treppenhaus mit diesem Paketmonstrum gestiefelt. Sie quittierte daher und bat ihn, das Paket ins Wohnzimmer zu stellen. Da der Bote Julia und ihre Beschwerden kannte, hatte er keine Einwände.

 

Neugierig öffnete die Beschenkte das Paket. Sie pfiff leise durch die Zähne, als die Kartonage zu Boden fiel. Es gab kein Begleitschreiben, keinen Hinweis darauf, woher der Inhalt kam. Trotzdem wusste Julia sofort, worum es ging, als sie das Bild und vor allem den grünen Pfeil sah.

 

Der Pfeil trug eine Beschriftung: „Dein Büro!“

 

Nicht mehr.

 

Erneut lachte Julia sarkastisch. Hätte sie doch an diesem Tag ihre Koffer gepackt und wäre zum Flughafen gefahren. Jetzt war es zu spät. Ein letzter Wink des Schicksals. Eine letzte Gelegenheit, ihrem Leiden kurzfristig ein Ende zu setzen. Und Julia hatte sie zum dritten Mal verpasst.

 

Sie versuchte die Stockwerke zu zählen, bis sie an ihrem vermeintlichen Büro ankam. Bei zwanzig hörte sie auf und entschied, dass es wohl irgendwo der 100ste oder so sein musste. Der hunderste Stock in einem von zwei Türmen.

 

„Frische Luft. Ich brauche frische Luft“, sagte sie leise, als sie endlich realisierte, was gerade vor sich ging. Keuchend und hastig riss sie an der Balkontür, stolperte hinaus und atmete tief durch.

 

Heute hätte es enden können. Und sie wäre nicht allein gewesen. Gemeinsam mit ihren Freunden an ihrer Seite wäre sie heute die unendlichen, die unerträglichen Schmerzen losgeworden. Das sollte ihr Schicksal sein! Sie blöde Kuh hatte es mit Füßen getreten, war darauf rumgesprungen und hatte es verachtend bespuckt.

 

Julia bekam kaum noch Luft, musste sich übergeben, brach schluchzend zusammen.

 

Durch die Scheibe schimmerte das Licht des Fernsehers. Wie schon so oft am heutigen Tag zeigten die Bilder, wie das erste Flugzeug in den 417 m hohen Turm des World Trade Centers flog.

 

 

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Tag der Veröffentlichung: 18.02.2015

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