Jeder Tag unseres Lebens ist ein Sammelsurium von Gelegenheiten.
Wir wachen morgens auf und warten mit verwunderten Augen und aufrecht wie ein König, darauf, dass sie vor uns vorbeidefilieren; und da wir zu dieser frühen Zeit eigentlich wie Neugeborene sind, die mit ihren großen Augen die Wirklichkeit nur verschwommen erkennen können, nehmen wir die Gelegenheit eine an und verwerfen die andere, uns über unsere Großzügigkeit wundernd.
Vergeht der Tag, vergeht das Leben; in der Dunkelheit sehen wir glasklar, dass wir die eine und die andere Gelegenheit verpasst haben. Nach einem Moment der Sorglosigkeit keimt der Gedanke auf, dass sie für ewig verpasst sind, dass sie nie mehr wiederkehren werden; denn sie sind wie wir: vergänglich.
Wir legen uns schlafen; im Traum können wir die Zeit zurückholen und die Gelegenheiten mit schneller Hand ergreifen. Doch beim Erwachen springen sie uns vom Angelhaken, und wir verlieren sie für immer.
Jakob war ein guter Schläfer, ein Schnellschläfer. Er schlafe effektiv, so pflegte er zu sagen. „Im Schlaf verpasse ich sonst zu viele Gelegenheiten.“
Er hatte ein Elite-Studium hinter sich gebracht, und sein Lebensplan hat bisher nichts zu wünschen übrig gelassen. Er hat seinen Traumberuf gewählt, er hat eine gut dotierte Stelle gefunden, eine Stelle mit Perspektive. Sein Weg war so glatt wie seine schwarzen Haare und so eben wie Ebenholz.
Es war da eigentlich nicht viel zu entscheiden gewesen, die Gelegenheiten hatten sich vor ihm aufgebaut, er hatte sie ergriffen.
Nun, mit knapp 30 Jahren, stellte sich ihm die erste Entscheidung in den Weg; und zwar mir solcher Dringlichkeit, dass er nicht einmal eine Nacht Zeit hatte, darüber zu schlafen. Gottlob war er auch ein Schnellentscheider.
Er ist zu einer Party eingeladen; der Kollege, der ihm die Einladung besorgt hat, spricht von „Netzwerkarbeit“. Er sollte Recht behalten: Das Netz ist schon gespannt, in dem Jakob hängen bleibt.
Zuerst hat er keinen Überblick über die Menschen in dieser großen Loft; der Gastgeber, den er flüchtig kennt, hat gerade alle Hände voll zu tun und wird sich später um ihn kümmern.
Er hält sich an dem Champagnerglas fest und redet sich gleichzeitig ins Gewissen, heute nicht allzu viel von diesem prickelnden Nektar zu genießen. Er sollte wachsam sein.
Jakob hat anscheinend einen etwas verrutschten Gesichtsausdruck aufgesetzt, denn eine junge Frau spricht ihn an und meint:
„Die strengen Falten um den Mund stehen Ihnen nicht besonders.“
„Nicht gerade ein Kompliment.“
„Ich bin überzeugt, Sie sehen anders aus, wenn Sie sich im Spiegel betrachten.“
Damit ist ihr Diskurs beendet und die freimütige junge Frau dreht sich weg.
Bei Jakob ist ein leichtes Unbehagen entstanden, das in der Magengegend rumort. Etwas Unverdauliches scheint dort zu rotieren. Er ärgert sich kurz über seine eigene Schwerfälligkeit und seine plumpe Antwort auf die ungewöhnliche Feststellung der jungen Frau, die sich an einer puren Äusserlichkeit festgemacht hatte. Er beschloss, die Sache am besten einfach zu vergessen.
Inzwischen ist der Gastgeber auf ihn zugekommen und hat ihn unter seine Fittiche genommen, indem er ihn den wichtigen Persönlichkeiten des Abends vorstellt, wobei er mit präzisen und prägnanten Worten Jakobs berufliche Laufbahn schildert.
Die alten Herren sind bereits in köstlicher Feierlaune und geniessen offensichtlich die Gesellschaft der buntgemischten Jeunesse dorée, der sie sich mit Tipps und schillernden Tricks anbieten, und die sie dabei immer in der Meinung lassen, ihre Wege ebnen und ihre Schritte führen zu können.
Der ehemalige Vorstandschef und jetzige Aufsichtsratsvorsitzender einer großen Versicherungsfirma hat eine strahlend schöne junge Frau am Arm; Jakob fühlt eine Spur Neid in sich aufsteigen. Der weißhaarige Konsul steigt in ein Gespräch mit ihm ein, und Jakob erkennt sofort, dass er hier auf Herz und Nieren geprüft wird. Die schweigende Schönheit entwindet sich und verschwindet in der Menge.
Als er dem Konsul, der ein Magnet dieser Gesellschaft zu sein scheint und sich um Gesprächspartner keine Sorgen machen muss, entkommen kann, macht Jakob einen Zwischenhalt an der Bar.
Das dumpfe Loch in seiner Mitte verlangt nach einem Whisky.
Er sah sich selbst als Senkrechtstarter. Ein Überflieger, ein stealth-Wunderwerk.
Von seinen Eltern hatte er immer gehört, dass er – der Einzige, ja Einzigartige - der Klügste, der Schönste, der Fitteste und Cleverste sei. Sie hatte ihn auf die richtige Schiene gesetzt und angeschoben. Jede Bestnote garantierte ihm ihre Liebe. Die Superlative erschlugen ihn fast, ihr Gewicht quetschte seine Seele auf ein Minimum zusammen. Die Freiheit stand in der Ecke und schwieg.
In der Pubertät begann die Sache dann schwierig zu werden. Prompt bekam er ‚Druck und Epa’ von zuhause. Die Sache wurde heiss.
Einmal war er dann durchgebrannt. An einen durchgestyleten und computergesteuerten 5Sterne-Haushalt mit glänzenden Oberflächen und blinkenden Geräten adaptiert, hielt er es auf der Straße nicht allzu lange aus. Die Typen dort waren auch allzu einfach strukturiert.
Reumütig hatte er wieder an der Tür geklingelt, am Nachmittag, als seine Mutter allein zuhause war. Sie hatte sogleich ein Nachsehen, umarmen aber konnte sie ihn nicht. Es wehte sozusagen ein kühler Wind durch den Salon, ohne jedoch die Vorhänge zu bewegen. Der Vater, ausgepumpt wie er war, wurde von der Mutter ausgebremst. Die Rückkehr des verlorenen Sohnes ging also biblisch über die Bühne, aber im Himmel war mehr Freude als in seinem Elternhaus.
Von nun an war klar: Ein zweites Verzeihen wird es nicht geben.
Prompt ging alles auf direktem Wege. Abitur, Studium, alles ohne störende Einflüsse von Seiten der Mädchen oder der Politik.
Er hatte kapiert: Leistung zählt. Und ist so schön messbar.
An die Bar lehnt sich – neben ihn – die junge Frau, die ihn so unangenehm überrascht hat. Jetzt erst bemerkt er ihren Duft, den Duft der Freiheit.
„Na, sieht ja schon besser aus.“
Er spült den Whisky hinunter, die Rocks bleiben, was sie waren, und klappern im Glas, als er es absetzt. Eine brennende Wärme breitet sich in seiner Mitte aus.
„Wollen wir uns bei Oberflächlichkeiten aufhalten?“
„Von mir aus: Gehen wir ans Eingemachte.“
„Das klingt nach Hausfrau.“
„Bingo.“
So sieht sie überhaupt nicht aus. Er ist leicht verwirrt.
„Und, was treiben Sie sonst noch?“
„Ich treibe mich herum, so wie heute abend.“
„Eine Hausfrau, als Schmetterling verkleidet?“
„Auch das ist oberflächlich, und anstrengend. Ich glaube, Sie können auch anders oder besser: Sie sind ganz anders.“
Der Konsul tippt ihm auf die Schulter. Er hat wieder die Schönheit am Arm hängen.
„Darf ich Ihnen meine Tochter vorstellen?“
Jakob verkneift sich in seiner Überraschung den Satz: ‚Ich dachte, sie sei Ihre Frau; Sie haben sich gut gehalten.’ und verzichtet so auf die Schnelle auf ein Kompliment ihm gegenüber.
„Nein, keine Komplimente, keine Stemperamente. Ich lasse Sie beide jetzt allein.“
Die Schönheit installiert sich lasziv zu seiner Linken an der Bar. Die junge Frau rechts ist stehengeblieben und zieht eine Augenbraue hoch.
Jakob steht zwischen den beiden Frauen und fühlt sich wie eine Bockwurst zwischen den Hälften eines Brötchens. Jetzt sind Taten gefragt.
In seinem Inneren läuft eine lebhafte Diskussion ab, der er noch ein wenig zuhören möchte. Dieses Interesse für sein eigenes Innenleben ist ganz neu für ihn.
Für und Wider wird austauscht, Gefühl und Verstand streiten bis aufs Messer. Er ist überwältigt von der Einsicht, dass da Gefühle wie aus einem Vulkanschlund hochgeschleudert werden, von denen er bisher keine Ahnung gehabt hatte. Und sie nehmen ihren Platz ein. Der Wind der Freiheit facht die Glut an.
Durch eine einfache Körperbewegung kann er an diesem Punkt in seinem Leben eine endgültige Entscheidung treffen. Er muss sie treffen. Und die Hinwendung entscheidet auch über Erfolg und Niederlage, so glaubt er. Er sieht die Welt als Raster.
Er trifft seine Wahl. Und hat damit gleichzeitig eine Gelegenheit verpasst. Aber daran verschwendet er keinen Gedanken mehr. Die Zukunft steht ihm offen, und sie sollte ihm Klarheit bringen.
Der Weise spricht : „Das Leben präsentiert uns Gelegenheiten. Sie erscheinen meist im Plural, sie brauchen kein Adjektiv.
Werden sie ergriffen, so verwandeln sie sich sofort zu der einen Wirklichkeit, die – auch sie vergänglich – den Boden unter unsere Füße setzt.
Werden sie verpasst, so fliegen sie frei mit dem Wind, der unsere Haare kräuselt.“
Tag der Veröffentlichung: 08.02.2015
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