Es war Herbst geworden am Bodensee. Manuel saß auf einer Bank am Ufer, allein, wie er es oft zu tun pflegte, abends, nach getaner Arbeit. Die Bank stand unter einer alten Linde, nur wenige Meter vom Wasser entfernt, das mit leisen Wellen über die Steine des Ufers hinwegplätscherte. Wenn er nach rechts schaute, erblickte er das grandiose Schauspiel des Sonnenuntergangs über dem See. Die rotblauen und grünen Farben des Himmels, nur teilweise verdeckt durch Reihen schmaler, weißgrauer Wölkchen, spiegelten sich im Wasser und verdoppelten die Wirkung des Farbenspiels. Ein leiser Schmerz zog durch seine Seele, und dies war die Stimmung, in welcher die Worte seiner Dichtungen in ihm aufstiegen, wie Perlen im Quellwasser:
Wellen plätschern leis am See,
Blätter segeln leise nieder,
Herbstvergehens leises Weh
rührt die sanfte Seele wieder.
Und die sanften Wellen fächelt
milder Winde liebe Schar,
im geliebten Antlitz lächelt
gütig blickend' Augenpaar.
Rötlich-blaue Farben dehnen
weit sich übers Wasser hin,
und der Liebe tiefes Sehnen
hebt und weitet unsern Sinn.
An welche Liebe dachte er? Nein, in solchen Augenblicken dachte er nicht nur, sondern er gedachte seiner Liebe und feierte sie, eine Liebe, die nun schon über dreißig Jahre gewährt hatte. Manuel war ein einsamer Mann, fünfzig Jahre alt, Bootsbauer von Beruf, wohnhaft in dem romantischen Städtchen Meersburg am Bodensee. Seine Liebe galt Milena, von der er wusste, dass sie auf der anderen Seite des Sees wohnte, in Konstanz.
Manuel erhob sich und ging den Weg hinauf zum Schloss. Dieses thronte am Hang und gewährte von der Terrasse aus einen wunderschönen Blick über die Weiten des Bodensees. Er stützte seine Hände auf den kalten Stein der Mauer, welche die Terrasse zu den unter ihr liegenden Weinbergen und den krummen Dächern der Altstadt abgrenzte.
Gerade legte die Fähre ab und begann ihre kurze Fahrt nach Konstanz hinüber. Kaum eine halbe Stunde würde sie unterwegs sein und dann an dem Kai dieser alten, ehrwürdigen Stadt anlegen. Zweitausend Jahre Geschichte hatte sie gesehen! Die Kelten, die Römer, die Germanen, alle hatten sie diesen lieblichen Ort am See geliebt, der sie zum Verweilen und zum Siedeln einlud. Und jetzt beherbergte sie, nach Manuels Meinung, die schönste Frau, die sich je an den Ufern des Bodensees niedergelassen hatte, seine Milena!
Schauspielerin war sie von Beruf. Das stand ihr zu, meinte Manuel. Dieses wunderschöne, Licht und Liebe ausstrahlende Gesicht, dieser geschmeidig sich bewegende, sehr weiblich geformte und verlockende Körper, diese klare, glockenreine Stimme, überhaupt die seelische Ausstrahlung dieses durch und durch schönen Menschen, all das gehörte natürlich auf die Bühne und musste von vielen Menschen gesehen und bewundert werden!
Sie war nicht sein, obwohl sie seit Jahrzehnten sein Leben beherrschte, als Idealbild, als Traum und als Erinnerung. Ja, sie waren damals auch hier gewesen, hatten nebeneinander an derselben Stelle gestanden, wo er jetzt stand, und über die winkligen Dächer von Meersburg hinweggeblickt:
Wie wir über Dächer blicken,
Gauben, Giebel, Straßenlauf,
schließt ein seliges Entzücken
unsres Geistes Tore auf.
Worte formen sich und binden
an die Liebeswellen sich,
wollen sich im andern finden,
Antwort suchend innerlich.
Ja, es bahnte sich damals etwas an zwischen ihnen, damals, als sie beide noch zwanzig Jahre alt waren. Es war eine wilde Zeit gewesen damals, eine Zeit voller politischer und privater Unruhen. Zwischen den Jugendlichen gab es zahlreiche und zumeist widersprüchliche Beziehungen und Verflechtungen, politisches Engagement vermischte sich mit persönlichen Verbindungen oder Gegensätzen, man wusste nicht, wo man stand oder wo man den anderen einordnen sollte. Alles war irgendwie ungewiss und chaotisch.
Auch er hatte versuchte, sein Lebensschiffchen irgendwo zu ankern. Privat war es leichter als politisch. Seine Freunde versuchten ihn mitzuziehen in die linke Szene, die damals besonders in Zürich aktiv war, aber Manuel war eher ein Bedächtiger. Es ließ sich nicht so leicht radikalisieren. Das Problem löste sich, als sich ihre Lebenswege trennten. Seine Freunde begannen zu studieren, in Zürich oder München, er aber blieb in Meersburg und bemühte sich um eine Lehrstelle als Bootsbauer. Seine Eltern waren entsetzt, als sie hörten, dass er nach dem Abitur nicht studieren wollte. Sie fanden, es sei unter seinem Niveau, einen praktischen Beruf zu ergreifen. Es kostete ihn sehr viel Kraft, seinen Eltern standzuhalten. In ihrer Empörung gingen sie so weit, dass sie sich weigerten, ihn finanziell zu unterstützen. Also musste er sich ganz auf seine eigenen Füße stellen, um den Traum vom Boote-Bauen zu verwirklichen.
Unterstützung und Hilfe bekam er damals nur von seiner Freundin Anna, mit der er auch seine ersten sexuellen Erfahrungen sammelte. Als es ihm ganz schlecht ging, bot sie ihm an, dass er bei ihr einziehen könne, was er dankbar annahm. Sie hatte eine Stelle auf einem Weingut, wo sie gut verdiente. Aber ihre Beziehung zueinander war nicht von starken Gefühlen getragen. Es war eher eine vertiefte Jugendfreundschaft, in welcher sie sich gegenseitig erlaubten, die sinnliche Dimension des Daseins zu erkunden. Am meisten Spaß hatten sie, wenn sie es auf dem Rasen zwischen den langen Weinspalieren treiben konnten, wo das Gefühl, verborgen zu sein, aber doch auch entdeckt werden zu können, ihnen einen besonderen Reiz verschaffte.
Dann aber hatte Manuel Milena kennengelernt, und plötzlich erschloss sich ihm eine neue Dimension des Daseins. Milena mit ihren großen, dunklen Augen, mit ihrem offenen und liebenden Blick, mit ihrer klaren Stimme, die in seinen Ohren klang wie ein Bergbach in den Alpen, der mit seinen reinen Wassern munter über die Felsen springt, sie verzauberte ihn. Er liebte es, ihr zuzuhören, wenn sie von ihren Schauspielprojekten sprach, von den Dichtern, die sie begeisterten, von Dürrenmatt und Peter Weiß und wie sie alle hießen. Ja, er konnte ihre Begeisterung teilen, er liebte die deutsche Sprache ebenso wie Milena und all die Ausdrucksmöglichkeiten, die sie hatte, und all die großen Werke, die in ihr verfasst worden waren.
Aber er war nun mal dabei, ein Bootsbauer zu werden. Milenas Welt und die seine waren doch verschieden, auch wenn sie sich zueinander hingezogen fühlten. Sie konnte ihn nicht ganz verstehen, wenn er das Wohlgefühl beschrieb, das ihn überkam beim Anblick des selbstgebauten Ruderbootes, des glatten, runden Holzes, das er geformt hatte und das bald über das Wasser des Sees gleiten würde.
Darum war die sich entwickelnde Liebe zwischen ihnen wie überschattet, wie bedroht von möglichen Missverständnissen, und sie wussten nicht ganz, wie sie miteinander umgehen sollten. So war es auch damals, als sie auf dieser Terrasse gestanden hatten und dann die Treppen hinuntergingen zum Ufer.
Doch der Wolken schwere Schatten
ziehen schon die Nacht herein,
Licht und Geist und Wort ermatten,
abgedämpft zu schwachem Schein.
Und es ringen in dem Dunkeln
Lebensmächte mit dem Tod.
Während oben Sterne funkeln,
häuft sich unten Schuld und Not.
Frieden senkt sich nur für Stunden
auf die Liebenden hernieder,
und es schließen sich die Wunden
nur im Klang der Liebeslieder.
Heute wusste Manuel, dass er einen großen Fehler gemacht hatte, und zwar als Zwanzigjähriger: den größten Fehler seines Lebens. Es war damals, einige Wochen nachdem er Milena kennengelernt hatte. Er hatte sie zu einem Spaziergang eingeladen, durch das Ried, am westlichen Ufer des Bodensees. Sie waren von Ludwigshafen aus losgegangen, nachdem sie vorher noch in einem Café eine Weile zusammengesessen hatten. Sie wussten, dass es bald dunkel werden würde, aber beide liebten die nächtliche Stimmung am Ufer des Sees und wollten sie genießen.
Sie plauderten rege miteinander, während sie dem Kiesweg folgten, unter den großen Weiden und Pappeln hindurch, die auf Grund ihres Alters schon hohl waren und gestützt werden mussten, damit nicht herabfallende Äste die Spaziergänger erschlugen. In den Hohlräumen wohnten Vögel oder Eichhörnchen. Und je dunkler es wurde, desto häufiger huschten Fledermäuse in ihren raschen, zackigen Flügen über ihre Köpfe hinweg.
Milena erschrak zuweilen, musste aber dann doch über ihre eigene Ängstlichkeit lachen. Vertrauensvoll legte sie ihre Hand in Manuels, und als er auf diese Weise zum ersten Mal in körperliche Berührung mit Milena kam, durchflutete ihn eine Welle von Wärme und Liebe. Er fühlte etwas in sich hochsteigen, das er noch nie zuvor gekannt hatte. Es war ihm, als würde er plötzlich mit dem Leben verbunden werden. Nicht dass er vorher nicht auch gelebt hätte, ja, natürlich, das hatte er, wie jeder andere auch, aber nun empfand er viel mehr. Er empfand etwas ganz Neues und Tiefes, etwas Unbekanntes. Während des Zusammenseins mit Milena erschloss sich ihm das Leben in seiner ganzen Urgewalt, als ob er verbunden worden wäre mit dem Uranfang alles irdischen Lebens, mit jener alles durchdringenden Kraft, die stets neue Wesen hervorbringt. Er fühlte sich geweitet in seiner Existenz, fühlte sich als Glied der aus Urzeiten herkommenden Kette von Lebewesen, die sich fort und fort weiterzeugt und in die Zukunft so weit hineinreicht wie in die Vergangenheit.
Während er so neben ihr herging und aufmerksam auf alle Gedanken einging, die Milena munter plaudernd ihm entgegenbrachte, wurde ihm plötzlich klar, dass er diese Frau liebte, aber nicht nur auf gewöhnliche Weise, sondern auf eine andere, tiefere, kurz auf eine geistige Weise.
Er konnte es selbst nicht erklären, es war eine völlig neue und unbekannte Empfindung. Zugleich war es ihm, als ob er sich selbst auf ganz neue Art kennenlernte.
Zur Linken war das Ufer des Sees, an dieser Stelle ein sumpfiges Gebiet. Ein paar Meter weiter begann das Schilf, das mit seinen langen, dichtstehenden Stängeln den See verdeckte. Nur hin und wieder sah man zwischen dem Schilfmeer hindurch auf das schwarze Wasser des Sees, auf ihm ein paar einsame Enten oder Schwäne, die wie träumend über die Wasseroberfläche glitten.
Es war jetzt völlig dunkel. Hätte nicht der Mond am Himmel gestanden, so hätten sie kaum den Weg vor sich gesehen. Zur Rechten lagen Wiesen und Weiden, jedoch kaum sichtbar, weil weite, flache Nebelschwaden sie überzogen. Das Mondlicht tauchte die Landschaft in ein silbergraues Licht, in welchem einzelne, krummgewachsene Bäume wie unheimliche Gestalten der Vorzeit emporragten.
Links im Schilf war noch Leben. Das Geräusch des glucksenden Wassers vermischte sich mit dem Quaken der Frösche und dem Kluck-Kluck der immer noch eifrigen Wasserhühner. Dazwischen ertönte zuweilen der langgezogene, klagende Schrei einer hungrigen Möwe.
Manuel kannte das Schilf. Er kannte die Stege, die hunderte von Metern durch das Schilf bis zum offenen Wasser führten. Er kannte auch die Pfade, die von den Stegen seitwärts zu einsamen, trockenen Plätzen führten, Inseln gewissermaßen, die aber vom Schilf überwachsen waren. Wenn man das Schilf und das Gras niedertrat, hatte man einen wunderbaren Lagerplatz. Schon oft hatte an warmen Sommernächten Manuel dort übernachtet, in der Einsamkeit, eins mit der Natur, dieser einzigartigen Welt von Schilf, Sumpf, Wasservögeln und Fröschen.
Während er mit Milena durch die Mondnacht ging, streifte ihn plötzlich der Gedanke, Milena hinauszuführen zu einem dieser einsamen Plätze. Aber er wusste, er würde sich, dort angekommen, nicht zurückhalten können. Er würde sie verführen, würde es müssen, denn sein ganzer Körper war in Aufruhr, alles in ihm strebte zu ihr hin und verlangte nach Vereinigung!
Wie sie aneinander hangen,
Leib an Leib und Kuss auf Kuss,
und im zärtlichen Umfangen
sich ergeben dem Genuss!
Zwar gewährt das Sich-Umfassen
ihnen nur vergänglich' Glück,
dennoch mögen sie's nicht lassen:
Ewig sei der Augenblick!
Doch dieser Augenblick trat nie ein. Manuel hatte Zweifel. Durfte er das denn? Hatte er ein Recht auf Milena? Und wie stand sie zu ihm? Mochte sie ihn denn so sehr, dass sie sich ihm hingeben würde? Und dann war da ja noch Anna, mit der er zusammenlebte. Was sollte er sagen? Wie ihr alles erklären?
Manuel zögerte. Ach, er hätte sie so gerne in den Arm genommen, hätte sie so gern geküsst! Und dann würde sich alles andere ergeben. Aber er brachte es nicht fertig. Irgendetwas hemmte ihn.
Als sie in Bodman angekommen waren, machten sie kehrt. Auch auf dem Rückweg rührte er Milena nicht an. Wieder zurück in Ludwigshafen, trennten sie sich, ohne sich geküsst zu haben.
Dies war die Chance seines Lebens gewesen. Das hatte er kurz darauf erkennen müssen. Denn als er sie einige Tage später anrief, um sie zu einem weiteren Treffen einzuladen, nahm sie nicht ab. Auch alle weiteren Versuche, mit ihr in Kontakt zu kommen, schlugen fehl. Er fragte sich, was los sei, ob er auf dem Spaziergang irgendetwas gesagt hätte, das sie beleidigt haben könnte, aber er kaum auf nichts. Erst zwei Wochen später lieferte ihm ein Zufall die klare Erkenntnis, dass er keine Chance mehr hatte. In einem Café in Konstanz sah er Milena zusammen mit einem anderen Mann, und dieser hatte offenbar keine Hemmungen, sie zu küssen. Ja, aus dem ganzen Gebaren dieser zwei Menschen musste Manuel schließen, dass sie ein Paar waren. Ja, jetzt konnte er aufgeben.
In den Wochen darauf verfiel er in eine Art von Depression und führte sein Leben wie ein Schlafwandler. Anna war sehr verwundert über seine Veränderung, konnte aber aus ihm nichts herausbringen. Es währte nicht lange und sie trennten sich voneinander. Manuel bemerkte es kaum. Er fühlte sich so einsam, dass Annas Verschwinden überhaupt keinen Unterschied für ihn ausmachte.
All dies lag über dreißig Jahre zurück. Manuel, der nun als Fünfzigjähriger oben auf der Terrasse vor dem Meersburger Schloss stand, war die Ereignisse jener Zeit in seinem Innern wieder und wieder durchgegangen, und wenn es ihn auch jedes Mal schmerzte, so konnte er das damalige Geschehen nicht vergessen und ablegen, so wie man einfache und klare Dinge irgendwann mal ablegt, um sie loszuwerden. Aber er wurde es nicht los. Tag für Tag, Jahr für Jahr lebte Milena in seinem Inneren wieder auf. Der Grund war einfach: Er hatte nie aufgehört, sie zu lieben.
Manuel ging die Treppe hinunter Richtung Altstadt. Dort besaß er eine kleine Wohnung, nicht allzu weit entfernt von seiner Werkstatt. Sie lag in dem zentralen Bezirk der Stadt, so dass er von seinem Fenster aus stets die zahlreichen, vorbeigehenden Menschen sehen konnte. Das verminderte ein wenig seine Einsamkeit. Er war doch immer unter Menschen, wenn auch der Mensch, den er am meisten an seiner Seite wünschte, nicht da war.
In seinem Wohnzimmer angekommen, zündete er eine Kerze an und brachte die Verse, die ihm heute in den Sinn gekommen waren, zu Papier.
Und ein milder Kerzenschein
dringt hinaus zu welken Bäumen,
mischt sich in das Mondlicht ein,
steigt hinauf zu blauen Räumen.
Mit dem Gang der Sterne hat
sich der Jahre Kreis gerundet,
doch die Seelen, müd und matt,
sind vom Lebensgang verwundet.
Alle Taten sind versiegelt,
alle Chancen aufgebraucht,
alle Tore sind verriegelt,
alle Feuer sind verraucht.
Dann legte er sich zu Bett und, wie gewöhnlich, erschien das Bild seiner Geliebten vor ihm. Mit ihr schlief er ein, und mit ihr wachte er am nächsten Morgen auf. Er erinnerte sich, etwas geträumt zu haben, und Bilder von den Gipfeln der nahegelegenen Alpen tauchten in seinem Innern auf. Er sah sich dort spätabends durch eine schneebedeckte Landschaft gehen, links und rechts hohe Berge oder tiefe Abgründe und über sich das unendliche Gewölbe des nachtblauen Himmels mit seinen tausend Sternen.
Sofort perlten Worte hervor und gestalteten sich zu Versen:
Im Gebirge, weit entfernt,
geht ein Mann im hellen Schnee,
unterm Himmel, hell besternt,
fühlt er seines Daseins Weh!
Ach, verloren ist die Liebe,
die er einst so tief empfand,
durch die Schuld der eignen Triebe,
die er niemals überwand.
Unergründlich tiefe Nacht
tönt aus blauen Himmelsweiten,
kündet ihm des Kosmos Macht,
immer gleich in allen Zeiten!
Und nach oben sich erheben
will der Seele Opfersinn,
doch in ihrem Durst nach Leben
sehnt sie sich zum Anfang hin.
Darauf begab er sich zu seiner Werkstatt und setzte seine Arbeit fort. Die Boote, die er baute, waren bei den Fischern am Bodensee beliebt. Sie waren nicht zu groß und nicht zu schwer, leicht zu manövrieren und hielten sehr gut das Gleichgewicht, was für die Fischer wichtig war, da sie oft aufrecht im Boot stehen mussten. Manuel verkaufte nicht viele von ihnen, aber genügend, so dass er gut davon leben konnte.
In seiner freien Zeit liebte es Manuel, am Ufer seines geliebten Bodensees entlangzuwandern, was natürlich oft am Abend geschah oder an den freien Tagen des Wochenendes. Wenn es aber irgend möglich war, besuchte er die Aufführungen des Theaters in Konstanz. Er interessierte sich durchaus für Literatur und Theater und schrieb ja auch selbst gerne Gedichte. Kreatives Schaffen lag ihm nahe, und so wie er seine Boote schuf, leicht, glatt, rund und geschliffen, so formte er die Sprache seiner Gedichte.
Ein weiterer Grund für die Theaterbesuche war natürlich die Tatsache, dass er auf diese Weise oft seine geliebte Milena auf der Bühne zu sehen bekam, wenn sie eine Rolle hatte in den Stücken, die gespielt wurden. Manches Mal spielte sie ja auch außerhalb, in anderen Städten, besonders als der Grad ihrer Bekanntheit zunahm. Aber ihr dorthin nachzureisen, erwog Manuel nie. Er liebte das Reisen nicht, er hatte seine Wurzeln am Bodensee und fühlte sich hier wohl. Der Ort des Schmerzes war der Ort seines Lebens.
In der Zeitung konnte er manches über sie erfahren. Auch Freunde trugen ihm das eine oder andere zu. Dadurch hatte er erfahren, dass Milena etwa ein Jahr nach ihrem letzten Treffen vor dreißig Jahren geheiratet hatte, und zwar einen Regisseur.
Manuel wusste, dass seine Träume eigentlich vergeblich waren und dass er damit aufhören sollte. Man kann nicht in Ewigkeit einer verlorenen Liebe nachtrauern. Doch dann sagte er sich: Doch, man kann.
Sein ruhiges und beschauliches Leben hatte ihn zum Philosophen gemacht, und im Laufe der Zeit war er zu der Ansicht gekommen, dass der Mensch nicht nur einmal auf der Erde lebt. Es konnte einfach nicht sein, dass eine so komplizierte Schöpfung wie die Persönlichkeit eines Menschen von der Natur nur für die Dauer eines Lebens in die Existenz geworfen wurde. Nein, weder konnte sie so entstehen, noch konnte sie sich im Laufe eines Lebens vollenden. Sie brauchte mehrere Leben dazu. Und das, was sich da von Leben zu Leben in einem immer wieder neuen irdischen Kleid verkörperte, war ein überirdisches Wesen, war das „Ich“.
Er wusste, was das war. Er hatte es ganz deutlich erlebt, damals während jenes Spazierganges mit Milena im Ried. Und das war es, was er liebte. Dieses Ich konnte er nicht verlassen. Er musste ihm treu bleiben, auch wenn er in diesem Leben keine Chance hatte, mit ihm zusammen zu sein.
So lebte Manuel sein Leben, in dieser merkwürdigen Mischung von Schmerz und Zufriedenheit. Bis zu jenem Tag, als eine Nachricht, mit der er nicht gerechnet hatte, ihn aus dem Gleichgewicht brachte.
An diesem Tag bekam er einen Brief. Seine Adresse war darauf mit einer zierlichen, offenbar weiblichen Handschrift geschrieben. Absender: Milena Holodnaja. Sein Herz begann unmittelbar, heftig zu schlagen, es war ihm, als wollte es seine Brust zersprengen. Hastig riss er den Umschlag auf und las:
„Lieber Manuel,
über dreißig Jahre ist es her, dass wir uns zum letzten Mal gesehen haben. Ich hoffe, du erinnerst dich noch an mich. Ich habe keine Ahnung, wie es dir geht, habe aber in Erfahrung gebracht, dass du immer noch in Meersburg lebst.
Mir geht es nicht gut. Ich bin schwer krank und ich weiß nicht, wie viele Tage ich noch zu leben habe. Das zwingt mich, auf mein Leben zurückzuschauen. Es liegt vor mir wie ein Buch mit tausend Seiten. Doch bevor ich die Seite 1000 aufschlage, weiß ich, dass ich noch ein Kapitel fertigschreiben muss, das in diesem Buch seit Jahren unbearbeitet liegt.
Es ist das Kapitel, das von dir handelt, Manuel. Du musst wissen, dass ich damals, als wir zwanzig Jahre alt waren und uns einige Male trafen, unsterblich in dich verliebt war.
Erinnerst du dich noch an unseren Spaziergang im Ried? Ich kann mich noch an alle Einzelheiten erinnern, ich habe immer wieder daran zurückdenken müssen.
Ich sehe es noch vor mir, wie du neben mir gingst und geduldig meinem Geschwätz zuhörtest. Ich hätte lieber still sein sollen und hören sollen, was du mir zu sagen hattest. Vielleicht hättest du mir dann ja gesagt, dass du mich gern hattest. Oder ich hätte dich einfach küssen sollen, dann hätte ich es auf diese Weise in Erfahrung gebracht. Aber ich redete die ganze Zeit und du machtest keine Anstalten, mich in den Arm zu nehmen oder mir auf irgendeine Art zu zeigen, wie du zu mir standst. Das machte mich sehr unsicher und schließlich auch traurig. Ich glaubte nach diesem Abend mich damit abfinden zu müssen, dass deine Gefühle für mich nicht so intensiv waren, wie ich gehofft hatte.
Daraufhin nahm mein Leben einen Lauf, wie er auf eine Art ihm vorbestimmt war dadurch, dass ich Schauspielerin wurde. Es begann ein Leben im Rampenlicht, voller Hektik, voller Wechsel, auch voll all der Erlebnisse, die eine gewisse Berühmtheit mit sich bringen. Der Mann, an dessen Seite ich dann mein Leben verbrachte, gehörte selbst zu dieser Welt, einer Welt des Scheins, der Scheinwerfer und des Glamours, und meine Beziehung zu ihm war sehr davon geprägt, ohne dass uns tiefere Gefühle verbanden. Ich weiß, ich habe es selbst gewählt, dies Leben, aber es gab in mir noch eine andere Seite, eine, die sich nach Ruhe sehnte, nach Beschaulichkeit, nach Einfachheit. In einem solchen Leben hätte ich auch Kinder haben wollen, etwas, was mir durch das Leben als Schauspielerin leider verweigert wurde.
Manuel, du bist der Mann, mit dem ich Kinder haben wollte. Wenn du mir damals gesagt hättest, dass du mich liebst, ich hätte alles hingeworfen, alles hingegeben und wäre dir gefolgt. Ich hätte mein Leben mit dir geteilt, so dass wir beide glücklich geworden wären. Unsere Kinder wären ja heute schon groß, und sie würden uns gerad heute vielleicht besuchen, während wir im Garten sitzen, uns von der Sonne bescheinen lassen und die Blumenpracht bewundern. Aber das ist alles nur ein Traum. So ist es nie gekommen. Doch bevor ich von dieser Erde Abschied nehme, will ich dir, Manuel, sagen, dass ich dich liebe und immer geliebt habe.
Deine Milena
„Oh, mein Gott!“ entfuhr es Manuel, nachdem er diesen Brief gelesen hatte. Das durfte doch nicht wahr sein, dass er dreißig Jahre mit einem Leben zugebracht hatte, das er selbst zum Traum gemacht hatte. Wie hatte er so leichtsinnig sein Leben verspielen können, wie hatte er so ahnungslos sein können!
Aber noch war es nicht völlig zu spät. Noch konnte er wenigstens das aufklären, was noch aufzuklären war. Noch konnte er ihr mitteilen, dass er sie liebte und dass er sie damals schon geliebt hatte.
Er lief hinüber zum Fährhafen und nahm die erste Fähre, die hinüber nach Konstanz fuhr.
Ungeduldig erwartete er, dass sie am anderen Ufer anlegte. Von dort nahm er den Bus zur Mozartstrasse.
Auf dem Weg zu ihrem Haus fragte er sich, ob sie ihm aufmachen würde. Würde sie ihn überhaupt wiedererkennen? Und was, wenn ihr Mann ihm aufmachen würde? Was sollte er dann sagen?
Aber das war ihm jetzt alles egal. Er musste unbedingt seine Botschaft übermitteln, die wichtigste Botschaft seines Lebens. Er stand an der Tür und klingelte. Sein Herz klopfte ungestüm. Er wartete. Niemand machte auf. Er klingelte noch einmal. Keine Reaktion.
Daraufhin klingelte er an der Nachbartür. Eine ältere Dame öffnete ihm.
„Frau Holodnaja? Ja, die ist im Krankenhaus, schon seit vielen Wochen.“
Ohne auch nur eine Sekunde zu warten oder weitere Erklärungen abzugeben, machte Manuel kehrt und sprang die Treppe hinunter. Minuten später befand er sich im Klinikum und fragte in der Rezeption nach Frau Holodnaja.
„Frau Holodnaja?“ Die Krankenschwester sah ihn merkwürdig an und zögerte mit der Antwort. Manuel fühlte, wie ein kalter Schauer seinen Rücken hinunterlief.
„Frau Holodnaja. – Ja, ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Frau Holodnaja heute Nacht verstorben ist.“
Bei diesen Worten war es Manuel, als ergriffe eine kalte Hand aus Eisen sein Herz und presste es zusammen. Von da strömte die Kälte in alle seine Glieder und ließ ihn erstarren. Er konnte nichts mehr sagen. Langsam wandte er sich um und verließ wie ein Schlafwandler das Klinikum.
Ohne zu wissen, wohin er ging, folgte er der nächsten Straße. Er sah keine Menschen mehr, keine Autos, nichts mehr. In seinem Innern war ein Schmerz, so groß, dass er ihn kaum ertragen konnte.
Die Straße führte ihn schließlich an den See. In einer Grünanlage am Ufer stand eine Bank, auf welche er sich setzte. Der Anblick der silbernen Wasserfläche des Bodensees rief ihn zurück ins Leben und gab ihm das Bewusstsein zurück. In dem Augenblick schossen ihm die Tränen in die Augen. Er krümmte sich zusammen und ließ seinen Gefühlen freien Lauf.
Erst jetzt war wirklich alles verloren, wirklich alles! Er hatte nicht nur diese eine Chance damals verpasst, nein, er hatte alle Chancen seines Lebens verpasst. Er hatte eigentlich nicht gelebt.
Wozu war das alles gut gewesen? Wozu ein Leben führen, wenn man eigentlich schon tot ist? Was ist ein Leben ohne Liebe, ohne gelebte Liebe? Ist es nicht das Mindeste, dass man es wenigstens sagt, dass man liebt? Noch nicht einmal das hatte er geschafft.
Mit solchen Gedanken erhob er sich und trat den Rückweg an. Während der Fahrt mit der Fähre über den See stand er an der Reling und starrte in das Wasser, das ihn mit seinen unzähligen Strudeln in die Tiefe ziehen wollte. Warum nicht einfach hineinspringen? War er doch schon so gut wie tot! Aber irgendetwas hielt ihn zurück.
Die Fähre legte in Meersburg an. Nach dem Verlassen der Fähre lenkte Manuel seine Schritte, langsamer und schwerer als gewöhnlich, Richtung Zentrum. Doch was sollte er zu Hause? Es war doch alles sinnlos. Er beschloss, der Uferpromenade weiter zu folgen, immer geradeaus.
Er ging und ging, stundenlang. Er spürte keinen Hunger mehr, keinen Durst. Er war niemand mehr. Menschen kamen an ihm vorbei, doch er schaute sie an wie fremdartige Wesen von einem anderen Planeten. Er gehörte nicht dazu, zu dieser Menschenrasse. Er ging an Häusern vorüber, die ihm so fremd und leer vorkamen wie Ruinen aus alter Zeit. Das einzig Vertraute war das Plätschern der Wellen des Bodensees zu seiner Rechten. Die herbstlichen Bäume warfen ihre Blätter herab und bestreuten Manuels Weg mit gelben, braunen und roten Farbtupfern. Er nahm es kaum wahr.
Schließlich wurde es dunkel, und die Mattigkeit seines Körpers zwang ihn, auf einer der Bänke Platz zu nehmen, die am Ufer standen. Er blickte hinaus auf die weite Seefläche und sah, wie das Licht des Mondes sich in ihr spiegelte und einen langen, silbern flackernden Streifen über sie warf.
Langsam löste sich seine Seele und wie in alter Gewohnheit kehrte er zu dem Anfang seines Lebens zurück. Es gab nur einen einzigen Anfang, diese wenigen Minuten an Milenas Seite, während jenes Spazierganges im Ried. Doch dieser Anfang war zugleich sein Ende gewesen.
Und wieder perlten Worte empor, wie aus einer ewig sprudelnden Quelle, die nie versiegen würde. Und diese Worte formten sich zu diesen Versen:
Anfang war, als wir noch heiter
Arm in Arm am Ufer saßen,
und den mahnenden Begleiter,
schweigend-ernst, den Herbst vergaßen.
Blätter fallen und vergehen,
noch im Welken golden rot,
doch der Wind wird sie verwehen
hin zu ihrem grauen Tod.
Und des Wassers Zitterwellen
schaukeln hin und schaukeln her,
spiegeln schimmernd Himmelshellen,
wie ein Netz, von Silber schwer.
Eines Wasservogels Klagen
tönt verborgen durch die Au,
doch ein tröstlich Finkenschlagen
klingt ganz nahe im Verhau.
Auf dem Weg am Waldessaum
geht ein Paar in gleichem Schritt,
träumt in seinem Lebenstraum
rosenfarbne Träume mit.
Hoffnung trägt uns immer weiter,
sucht in allem Leiden Sinn,
ist der stille Wegbereiter
auch zum nächsten Leben hin.
Tag der Veröffentlichung: 05.02.2015
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