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Ich stand auf unserer Terrasse und starrte gedankenverloren auf den letzten gelben Fleck am Horizont, bis auch dieser endgültig verschwand. Seufzend blickte ich in der finsteren Nacht umher. Warum musste alles immer ein Ende haben? Warum konnte nichts einfach mal so bleiben wie es war? Warum musste sich unsere Erde immer weiter drehen? Denn manchmal wünschte ich mir, die Welt würde stehen bleiben, um einen Augenblick festzuhalten, und ihn nie mehr loszulassen.

„Sie ist weg, Kim“, hallte die Stimme meines Vaters in meinem Kopf. „Komm rein.“

Diese Worte rissen mich aus meinen Gedanken. Mein Vater wusste nicht, was er da sagte, an was es mich erinnerte. Ich wusste, dass er in diesem Fall nur die Sonne meinte, doch meine Erinnerungen trugen mich beim Klang dieser Worte fort, viel zu weit fort, bis zu einem längst vergangenen Sommerabend vor vielen Jahren, an den ich mir streng verboten hatte, jemals wieder zu denken...Damals stand ich genau hier, an dieser Stelle und blickte in die Ferne, dort, wo ich meine beste Freundin Alice das letzte Mal sah, bevor sie endgültig verschwand. Blickte ihr ungläubig hinterher, wusste nicht, was ich denken sollte, wusste nicht, was ich machen sollte, vor allem nicht, was ich fühlen sollte, wusste nicht mehr, was zu tun war.

Damals, und obwohl es schon so lange her war, war es präsent wie keine andere Erinnerung, sagte mein Vater dasselbe:

„Sie ist weg, Kim. Komm rein.“ Er war nie ein sonderlich gefühlvoller Mensch gewesen, mehr gab es da nicht zu sagen.

Alice war weg. Genauso wie die Sonne...

Als ich mich von der Erinnerung lösen konnte, starr von der Überwältigung, fragte ich mich, warum ich mich daran erinnerte. Warum ausgerechnet jetzt? Warum jetzt, wo ich es geschafft hatte, mich genug zusammenzureißen, mit diesem Kapitel meines Lebens abzuschließen? Verächtlich lachte ich über meinen Gedanken. 'Man soll aufhören wenn's am Schönsten ist.' Es war ein trockenes, bitteres Lachen. Wann hatte ich das letzte Mal wirklich gelacht, einfach weil ich glücklich war? Früher hatte ich es nicht sagen können, weil ich so oft gelacht hatte, dass ich nicht mehr wusste wann genau das letzte Mal war. Heute lachte ich gar nicht mehr. Wenn man von den starren, gespielten Lächeln absah, die ich inzwischen schon wieder hervorbringen konnte. Meine Fröhlichkeit war genauso wie Alice verschwunden.

Von meinen Gedanken festgehalten, blieb ich noch lange dort stehen, bis kein einziger warmer, gelber Sonnenstrahl mehr vom Horizont schien. Die Kälte kam mit dem Einbruch der Nacht, sie kam kriechend, langsam durchfuhr sie mich. Und doch schien sie mit jeder Sekunde, jedem monotonen Ticken der Uhr schneller zu werden, bis sie auf mich zuraste wie die Realität.

Als ich damals begriff, dass Alice wirklich weg war, war ich in Tränen ausgebrochen. Doch heute weinte ich nicht. Denn ich wusste, dass die Sonne mit ihrem tröstlichen, warmen Licht morgen wiederkommen würde. Anders als Alice. Sie war für immer weg.

 

 

 

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„Ich muss weg“, hatte Alice damals gesagt. Sie sprach es seltsam aus...so...bestimmt - dass ich ihr fast glaubte. Sie beteuerte auch immer wieder, dass es nichts mit mir zu tun habe. Als ob das was ändern würde... Und doch redete ich mir dasselbe pausenlos ein, wie ein verfluchtes Mantra – 'Es hat nichts mit mir zu tun, es hat nichts mit mir zu tun...'

„Eines Tages werden wir uns wiedersehen, und dann werde ich dir alles erklären können. Alles. Doch heute, hier und jetzt, vermag ich es nicht.“

'Vermag ich es nicht' – das klang so seltsam aus ihrem Mund, denn Alice benutzte keine so gehobene Sprache. Es hörte sich an als ob es von jemand anderem käme. Aber von keinem, den ich kannte.

Doch sie ließ mir keine Zeit Fragen zu stellen, ließ mir keine Zeit um sie umzustimmen, sondern drehte sich um und lief davon. Für immer. Aber das schlimmste war nicht, dass sie weggegangen war, sondern das Gefühl der Zurückweisung. Alice hatte mich im Stich gelassen, sich gegen mich und für jemanden oder etwas anderes entschieden. Es tat weh, zu wissen, dass sie für mich immer das Wichtigste war, ich anscheinend jedoch nicht für sie.

 

Anfangs hatte ich noch an 'Eines Tages' geglaubt, doch jetzt, heute, auf den Tag genau nach zwei Jahren, hatte die untergehende Sonne all meine Hoffnung, die die letzten Jahre überlebt hatte, mit fort genommen, und ich wusste, dass sie sie morgen nicht mehr mitbringen würde.

Man sagt ja bekanntlich, die Hoffnung stirbt zuletzt. Doch das stimmt nicht. Denn erst wenn die Hoffnung gestorben ist, kann der Schmerz einen völlig zerstören. Erst dann kann er einem das Herz aus der Brust reißen und völlig gebrochen wieder falsch herum hinein kleben. Doch so, dass es bei der nächsten Gelegenheit wieder herausfallen und zerschellen kann. Bis es irgendwann niemals wieder richtig zusammenwächst. Und ich hatte ein Gefühl, tief unten in der Magengegend, dass dies bald bei mir einsetzte.

 

 

 

-3-

Nachdem mein Vater das dritte Mal meinen Namen gerufen hatte, wandte ich widerwillig meinen Blick vom Horizont. Floey, meine schwarze Babykatze, hatte sich auf meinen Füßen zusammengerollt. Die Wärme, die sie ausstrahlte, die sonst immer meine trübseligen Gedanken vertreiben konnte, übertrug sich, auch als ich sie in meine Arme schloss und das Gesicht in ihrem weichen Fell vergrub, heute nicht auf mich. Meine Gedanken kreisten immer weiter um Alice und ließen sich nicht von ihr lösen. Ich sagte meinem Vater Gute Nacht und ging mit Floey in mein Zimmer. Dort warf ich mich angezogen auf mein Bett und fing an zu weinen. Alles, wirklich alles kam wieder in mir hoch und begrub mich unter einer Welle Erinnerungen – ob es gute oder schlechte waren, konnte ich nicht sagen, denn sie rauschten wie ein zu schneller Film vor meinen Augen vorbei und umzingelten mich doch vollkommen. Schlaflos warf ich mich in meinem Bett umher. Ich drehte mich hin und her, doch sobald ich die Augen schloss, waren sie wieder da, die Erinnerungen. Die guten Erinnerungen, sie machten mich traurig, weil ich sah, wie gut ich es damals mit Alice hatte. Die schlechten Erinnerungen, sie machten mich noch trauriger, weil sie mich an den Verlust erinnerten und an die Gegenwart.

Da diese Trauer mir all meinen Schlaf raubte, stand ich auf und ging hinaus. Schlaflos torkelte ich aus meinem Zimmer, aus dem Haus, hinaus in die sternenklare Nacht. Langsam schlurfte ich den kleinen Weg zum Strand hinunter. Ich stieß mir meine Füße mehrmals an, fiel hin, doch der Schmerz erreichte mich nicht. Nichts durchdrang meine düsteren Gedanken und meine Trauer. Ich blieb in mir selbst gefangen.

Obwohl es mitten im Sommer war, fror ich grauenvoll. Ich spürte nichts außer dem Schmerz der Erinnerungen und der Kälte. Doch diese Kälte kam von innen – und ich wusste nicht, wie lange sie anhalten würde. Ich stolperte bis zum Strand herunter, und da ich nicht wusste was ich machen sollte, setzte ich mich in den schneeweißen Sand und lehnte mich an eine der beiden Palmen an. Erschöpft schloss ich die Augen, ließ mich von dem Geräusch der Wellen, welche sanft an den Rand des Strandes plätscherten, umhüllen, und erzitterte vor Kälte. Schützend schlang ich die Arme um meinen Oberkörper, nicht nur, um mich zu wärmen, sondern auch, um mich vor dem Zerbrechen zu bewahren. Meine Gedanken kamen und gingen mit den Wellen des Meeres, waren nur abgehackte Erinnerungen und Gefühle, die mir immer wieder einen Schauer über den Rücken jagten. Ich versuchte, sie einfach durch meinen Kopf ziehen zu lassen, wie die Wolken am Himmel, und sie nicht festzuhalten. Doch so sehr ich mich auch dagegen wehrte, konnte ich nicht verhindern, dass einzelne Bruchstücke hängen blieben. Die Erinnerung, wer mit mir die beiden Palmen eingepflanzt hatte, und wer immer dort mit mir gesessen hatte, war wie eine schwere Gewitterwolke, die sich nicht vom Wind vertreiben ließ. Alice hatte die Palmen mit mir eingepflanzt. Alice hatte immer an der anderen Palme gesessen. Wir hatten immer Alice & Kim in den Sand geschrieben, und ein riesiges Herz darum gemalt. Ich erinnerte mich an einen Spruch, den ich auf einem Grabstein auf dem Friedhof gesehen hatte, als ich meinen Opa dort besucht hatte. Spuren im Sand vergehen – Spuren im Herzen bleiben für immer. Alice liebte solche Sprüche, genau wie ich. Aber was wenn...wenn...sie...der Grabstein...

Ich spürte einen schrecklichen Schmerz in meiner Brust, tief in meinem Herzen. Abrupt stand ich auf und begann zu laufen. Einfach nur weg zu laufen, weg vom Strand, von all den schmerzvollen Erinnerungen, weg von meinen Gedanken. Doch es war ein Rennen ohne Ziel, denn es war wie im Traum – ich rannte, doch ich kam nicht von der Stelle. Meine Gedanken ließen sich nicht abschütteln, waren immer ein bisschen schneller als ich, sodass ich jedes Mal wieder in sie hinein rannte und mich in ihnen verirrte. Es war ein endloser Teufelskreis.

Bald konnte ich nicht mehr und brach am Rand des Weges zusammen, ließ mich vollkommen erschöpft in das weiche Gras fallen. Ich weiß nicht, wie lange ich dort lag, aber der Schmerz in meinem Herzen wurde nur noch größer, vor allem, als ich mich mühsam aufrichtete und den großen, breiten Stein wiedererkannte, an dem Alice und ich immer Pause beim Joggen gemacht hatten. Verdammt, gab es denn nichts was mich nicht an sie erinnerte?!

Es hatte angefangen zu regnen, als wollte auch das Wetter mein Inneres widerspiegeln. Schon bald klebte mein Oberteil an mir, wie eine zweite Haut, und auch meine Hose haftete klitschnass an meinen Beinen. Auch das Gras, was mir erst so gemütlich erschien, wurde nass und verwandelte sich rasch in eine matschige Oberfläche. Daher hievte ich mich mühsam auf den Stein, auf den Alice und ich immer perfekt zu zweit draufgepasst hatten. Auch wenn der Stein, als ich meine Stirn dagegen presste, eine erfrischende Wirkung hatte, so fehlte trotzdem etwas. Er erschien mir auf einmal so riesig, und ich fühlte mich allein und verloren darauf. Alice fehlte überall. Ein weiterer Schmerz durchfuhr mich, es fühlte sich an, als ob man mir ein Schwert in die Brust stoßen würde, welches eine klaffende Wunde in mir hinterließ. Ich wusste nicht, ob diese Wunde jemals verheilen würde, ob sie wie eine Narbe war, von der man ein Leben lang etwas mit sich trug, oder ob sie immer wieder aufreißen würde. Je mehr ich darüber nachdachte, desto schlimmer wurde es. Desto größer wurde die Leere neben mir, die sonst immer Alice ausgefüllt hatte. Inzwischen zitterte ich am ganzen Körper, denn meine Kleidung war durchnässt, es wehte fürchterlich, und der Schmerz hörte nicht mehr auf. Ich umschlang meine Beine mit den Armen, zog sie an meinen Oberkörper und wartete auf den Tod. Ich begann, ihn mir herbeizuwünschen, denn wenn dies erst der Anfang vom Schmerz sein sollte, wollte ich lieber tot sein, als den Rest zu ertragen.

Der Regen, der über mein Gesicht lief, vermischte sich mit meinen Tränen. Ich schmeckte den salzigen Geschmack der Tränen in meinem Mund, welcher mich an zahlreiche Urlaube am Meer erinnerte. Auch an den letzten Urlaub – den mit Alice. Schnell raffte ich mich auf, doch durch das matschige Gras stolperte ich und schlug mir dabei den Kopf an der Kante des Steines an, was mich vollkommen zu Fall brachte. Ich presste meine Hand gegen die Stirn, und fühlte das warme Blut an der Innenseite meiner Hand. Doch ich rannte weiter fort – fort vor der Erinnerung, dem Schmerz, vor dem es kein Entkommen gab.

 

-4-

Am nächsten Morgen erwachte ich angezogen und dreckig in meinem Bett. Verwirrt schlug ich die Augen auf. Langsam durchdrang die Erinnerung an den gestrigen Abend den Schutz meines Schlafes. Panisch fuhr ich mit der Hand an meine Stirn – und packte in getrocknetes Blut, welches mein Gesicht hinuntergelaufen war. Mühsam richtete ich mich auf – und erschrak. Denn mein Kissen war ebenfalls blutbefleckt. Langsam stand ich auf und warf einen Blick auf mein Handy. Es war zum Glück erst 5 Uhr, also hatte ich noch über eine halbe Stunde, um die Spuren zu vernichten, bevor meine Eltern sie sahen. Als ich ein paar Schritte ging, um in den Spiegel zu sehen, begann sich auf einmal mein Zimmer zu drehen und ich merkte, wie der Fußboden mir gefährlich nah kam. In letzter Sekunde hielt ich mich an meinem Sessel fest und setzte mich mühsam darauf. In meinem Kopf drehte sich immer noch alles, also rutschte ich auf den Boden und steckte den Kopf zwischen die Knie. Bald blieb der Boden, wo er war und ich hob den Kopf. Ich quälte mich aus meinen Schuhen und zog auch die, immer noch nicht vollständig getrocknete, Hose aus. Vorsichtig, einen Schritt nach dem anderen, ging ich zum Spiegel. Als ich an mir herunterblickte, merkte ich, dass nicht nur mein Kopf schrecklich aussah, sondern dass auch der Rest von mir auch nicht besser war. Ich hatte eine tiefe Schnittwunde am rechten Fuß, mehrere, jetzt schon dunkle Blutergüsse an den Beinen. Ich wollte nicht wissen, wie diese in ein paar Tagen aussahen. Meine Stirn pochte wie verrückt, doch das alles war nichts gegen den Schmerz in mir. Es schien, als habe er mich in der Nacht verschont, nur damit er mich am Tag erneut niederdrücken konnte. Ich merkte jetzt schon, wie er wieder begann, mich von innen nach außen zu zerfressen.

Letztendlich stand ich auf, schnappte mir den dreckigen Kissenbezug und schleppte mich ins Bad. Ich ließ ihn in kaltem Wasser im Waschbecken einweichen; drehte dann das Wasser kochend heiß auf und stieg unter die Dusche. Ich verbrannte mich prompt an dem Wasser, doch es machte mir nichts aus. Denn gegen den Schmerz in meinem Inneren kam mir dies nahezu lächerlich vor – denn dieser wurde nicht verbrannt. Im Gegenteil – er loderte so heiß wie noch nie. Schließlich sah ich wieder weitestgehend vorzeigbar aus, meinen Pony hatte ich so weggesteckt, dass er die Wunde an der Stirn perfekt überdeckte. Nur an meinem schmerzverzerrten Gesichtsausdruck musste ich noch arbeiten. Sobald ich mich angezogen hatte und meine Schultasche gepackt hatte, setzte ich ein falsches Lächeln auf und ging zu meinen Eltern in die Küche. Nach den üblichen morgendlichen Floskeln wurde es ein ziemlich schweigendes Frühstück. Schließlich stand ich auf, räumte meinen Teller weg, verabschiedete mich von meinen Eltern, schnappte mir meine Tasche und stieg wie an jedem Montagmorgen in den Bus ein. Schnell kramte ich mein Handy und meine Kopfhörer heraus, steckte sie mir in die Ohren und sank tiefer in den Sitz.

Ich lehnte meinen Kopf gegen die Scheibe, blickte hinaus in den regnerischen Himmel und ließ meine Gedanken mit den Regentropfen, welche die Scheibe runterflossen, ziehen. Die Musik entspannte mich wie jedes Mal, sodass ich dachte, dass ich den Schmerz wenigstens für den Schultag verbannt hatte.

Als ich schließlich an der Schule ankam, wurde ich freudig von meinen Mitschülerinnen begrüßt, die schon anfingen, irgendetwas, was sie erlebt hatten, zu erzählen, doch ich bekam es gar nicht mit. Ich war immer noch in meinen trüben Gedanken versunken, aber sie redeten immer weiter, merkten gar nicht, dass ich nicht zuhörte, dass ich gar nicht wirklich anwesend war. Alice hätte so was sofort gemerkt.

Auch wenn sie es nicht bemerkten, so spürte ich trotzdem einen Blick in meinem Rücken, von dem ich genau wusste, wem er gehörte. Doch ich drehte mich nicht um, denn ich musste mich schon so immer wieder zusammenreißen um nicht zu weinen, und wenn ich in seine strahlend grünen Augen geblickt hätte, und das wusste ich ganz genau, hätte ich ihm sofort die ganze Wahrheit erzählt. Doch das hätte ich nicht ausgehalten. So wandte ich ihm stur den Rücken zu und ertrug stumm meine Gedanken.

Als es klingelte, ging ich mit den anderen die Treppe hoch, doch mir schmerzte alles, bei jedem Schritt. Sobald mir dann auch noch einfiel, dass wir in der ersten Stunde Mathe hatten, konnte ich nicht anders, als aufzustöhnen. Musste das denn sein? Ich setzte mich leise an meinen Platz in der letzten Reihe, und als ich meine Tasche auf den freien Platz neben mir stellte, war es, als würde ich erneut zum ersten Mal bemerken, wie leer der Platz neben mir war, an dem sonst immer Alice gesessen hatte.

Ich schob den Gedanken schnell weg und versuchte mich auf die Matheformeln zu konzentrieren, doch ein bitterer Nachgeschmack blieb.

Ich versuchte wirklich, mich auf den Unterricht zu konzentrieren, vor allem da unser Mathe-Lehrer Herr Graf für nächste Woche eine Arbeit angekündigt hatte. Daraufhin begann eine lautstarke Diskussion in der Klasse, weil sich die Schüler beschwerten, dass sie nur noch so wenig Zeit zum Vorbereiten hätten, während Herr Graf darauf aufmerksam machte, dass man, wenn man im Unterricht aufpasste, ja gar nicht für die Arbeit lernen müsste, und dass man früher Arbeiten überhaupt nicht angekündigt hatte...So ging das vor jeder Arbeit, ich kannte es schon fast auswendig. Langsam schweiften meine Gedanken wieder ab, da Herr Graf nun in eine langatmige Erzählung aus den bitteren Zeiten vertieft war. Nun machte sich auch mein fehlender Schlaf bemerkbar, denn ich fühlte, wie meine Lider immer schwerer wurden, und jeder Augenaufschlag anstrengender wurde. Ich musste aufpassen, dass ich nicht einschlief, denn dann würde ich wahrscheinlich von Alice träumen, und mitten in der Klasse herumzuschreien, wäre weniger vorteilhaft für meinen Zombie-Ruf. Ach, Alice...

„...Stimmt’s, Fräulein Pecher?“ Herr Grafs harte Stimme riss mich aus meinen Tagträumen. „Was?“, fragte ich verwirrt. Natürlich drehte sich sofort die ganze Klasse zu mir um, woraufhin ich wahrscheinlich zu einem wundervollen Rotton anlief. „Würdest du uns bitte die trigonomische Formel erklären?“ Ich musste mich zusammenreißen um nicht 'die trigowas?!' in die Klasse zu rufen. „Heute besser nicht“, antwortete ich stattdessen ausweichend. „Soso, heute nicht...“, murmelte Herr Graf, während er sich eine Notiz in sein Kursbuch machte. Der Tag lief ja heute echt genial. Vielleicht sollte ich mich einfach abholen lassen? Ein bisschen Bauchschmerzen hatte ich ja wirklich...und Kopfschmerzen vorzuspielen war nicht allzu schwer...Doch der Pausengong erlöste mich vorerst von meinen Überlegungen. „Denkt dran, macht im Buch bitte noch die Aufgaben 13 und 14 auf Seite 137!“, rief Herr Graf in die Klasse. Kotzbrocken, dachte ich mir nur.

Die Pause verging, so wie immer im Flug, doch mit jeder Sekunde schien es mir schlechter zu gehen. Irgendetwas in diesem Schmerz erinnerte mich an den Schmerz von gestern Abend, an den ich am liebsten gar nicht denken wollte. Doch mein Schmerz nahm immer und immer mehr zu, wurde langsam zu einem unerträglichen Dauerleiden. In Deutsch setzte ich mich verkrampft auf meinen Platz neben Emma, doch es lag nicht an ihr, dass ich so guckte, als ob ich in eine Zitrone gebissen hätte. Rasch packte ich meine Deutschsachen auf den Tisch, um direkt danach die Arme wieder vor meinem Bauch zu verschränken und meinen Kopf, der inzwischen so dröhnte, als würde ein Presslufthammer darin arbeiten, auf die Tischplatte zu legen, um ihn wenigstens bis zum Beginn der Stunde zu kühlen. Unsere Deutschlehrerin betrat den Raum und schloss die Tür hinter sich. „Guten Morgen!“, rief sie fröhlich. „Guten Morgen Frau Blossey!“, antwortete die Klasse, doch ich presste es nur zwischen den Zähnen hervor. Es war nicht dieses langweilige, getragene 'Guten-Morgen', sondern ein peppiges, frisches 'Guten-Morgen!'. Frau Blossey hatte das direkt am Anfang eingeführt, weil sie diesen getragenen Morgenchor genauso satt hatte wie wir. Ich mochte sie, sie war wirklich eine coole, junge Lehrerin und hatte echt Style. Doch heute konnte selbst ihre fröhliche Art mich nicht aufheitern, denn der Schmerz breitete sich immer weiter in mir aus.

Langsam ging er mir durch Mark und Bein, wie ein tödliches Gift, das sich in meinem Körper ausbreitet. Doch das Schlimmste war mein Herz. Es war, als hätte ich kein rotes Herz, das mir jedem Schlag Blut durch meinen Körper pumpt, sondern als säße dort ein schwarzes Loch, das mit jedem Atemzug meinen Körper weiter aussaugte, bis er irgendwann tot zu Staub zerfiel.

Ich wünschte mir immer noch, dass der Tod mich gestern geholt hätte, denn es wäre tausend Mal besser gewesen als diesen Schmerz zu ertragen – aus dem es kein Entrinnen gab.

„Kim? Ist alles okay?“ Die Stimme meiner Deutschlehrerin holte mich zurück in die Realität. Am liebsten hätte ich ihr mit voller Wucht 'Nichts ist okay, das sieht man doch!' ins Gesicht geschrien, doch ich stammelte nur:

„Ich...ich glaub' es geht mir nicht so gut.“

„Das glaube ich auch. Hm...Emma? Begleitest du Kim ins Krankenzimmer?“

„Ja klar, mach ich“, sagte Emma noch, dann machte sie sich schon eifrig daran meine Sachen zusammenzupacken. Am liebsten hätte ich auch sie angeschrien, dass ich das gefälligst selber könne, doch ich saß nur stocksteif da und spürte die Blicke meiner Klasse auf mir ruhen. Irgendwie hatte ich das Bedürfnis alle anzuschreien – und doch ergriff ich nur stumm Emma‘s Hand, die sie mir auf meine Reglosigkeit hin reichte. Als wir schon fast aus der Tür waren, drehte ich mich noch einmal kurz um – alle Blicke waren wieder auf die Tafel gerichtet – bis auf den einen, der mich auch schon vor dem Unterricht beobachtet hatte. Und dieser eine betrachtete mich umso intensiver. Er durchstach mein Äußeres, ging tief bis in mein Inneres – und las aus mir wie in einem offenem Buch: Sams Blick. Mein bester Freund hatte schon immer das empfunden, was mich quälte; und so sah ich auch jetzt die Sorgenfalte auf seiner Stirn, als ich die Tür schloss.

Ich war froh, dass unser Deutschraum nicht weit vom Krankenzimmer entfernt war, sodass ich schon bald das kalte Leder der Krankenliege unter mir spürte. Ich wusste, dass ich es nicht viel weiter geschafft hätte.

Ich dachte nach. Diesmal nicht über Alice, sondern über Emma. Emma war schon immer freundlich und hilfsbereit gewesen, hatte keine Geheimnisse verraten – war im Grunde genommen eine perfekte Freundin...für jeden, nur nicht für mich. Ich brauchte meine Alice, mein Gegenstück, die mich meine Meinung sagen lässt, mich gegen alles, gegen das ich rebellieren will, rebellieren lässt, mit mir die größte Scheiße baut und allen Ärger zusammen mit mir aussteht. Und trotz unserer so engen Freundschaft hatten wir beide immer noch ein eigenes Leben. Plötzlich wurden meine Gedanken von einem unheimlichen Schmerz unterbrochen, ich hörte mich schreien, doch es hörte sich verkehrt, irgendwie falsch an. Ich hatte das Gefühl, als würde ich wild um mich schlagen. Als ich jedoch aus den Augenwinkel spähte, sah ich, dass ich völlig bewegungslos dasaß. Ich schaute zu Emma – in ihr kalkweißes Gesicht, das sich abermals verzog.

Nicht ich hatte geschrien, sondern Emma.

Und dann sank ein Schwarz, dunkler als jede Nacht, über mich und verschloss mich.

 

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...Langsam füllte sich die Leere, die so lange in mir geherrscht hatte.

Es war, als wäre mein Gedächtnis vollkommen ausgelöscht. Ich wusste nichts mehr: Wo ich war, was ich hier machte und...ob ich noch lebte. Konnte man im Himmel denken? Oder war ich doch in der Hölle gelandet? Vielleicht entschied auch gerade das Fegefeuer über mich. Ich wartete, doch nichts geschah. Ich sah nichts, ich hörte nicht, ich fühlte nichts. War das die Wirklichkeit? Mein neues Leben? Doch so sehr ich es auch versuchte, ich konnte meine Augen nicht öffnen, denn ein Bild flackerte immer wieder auf und hinderte mich daran.

Schließlich gab ich es auf und mich ganz dem Bild hin. Es war ein schönes Bild, mit vielen leuchtenden Farben. Als erstes stach mir die strahlend gelbe Sonne ins Auge; sie hatte schon lange nicht mehr so hell für mich geschienen. Genauso kräftig war auch die grüne Wiese, auf der zwei Kinder saßen und picknickten. Es waren zwei Mädchen, etwa vier Jahre alt. Als sich das eine umdrehte, schnappte ich nach Luft – dass waren meine braunen, leicht gelockten Haare, meine nussbraunen Augen, die mich aus meinem Gesicht heraus anstarrten. Sie starrten mich nicht direkt an, es sah eher so aus, als schauten sie durch mich hindurch, als wäre hinter mir etwas, das ich nicht sehen konnte. Als ich, oder eher mein Double, das andere Mädchen anstieß und in meine Richtung zeigte, drehte sich dieses ebenfalls um – und ich schnappte erneut nach Luft. Alice starrte mich aus ihren strahlend karamellfarbenen Augen an. Dann blieb der Film stehen, als raste etwas ein, und ich sah Alice und mich lächelnd auf der Wiese vor dem Kindergarten sitzen. Es war das gleiche Bild, das auch zuhause an meiner Wand hing. Ich betrachtete uns lange. Als ich uns so glücklich sah, durchströmte mich eine Freude, die ich nicht mehr verspürt hatte, seit Alice verschwunden war...bis ich merkte, wie lange dies schon her war, und dass es nie wieder so sein würde. Nie. Schmerzhaft versuchte ich meine Augen zu öffnen, ich wollte diesem Bild entkommen, welches mir jetzt bei jedem Anblick ein Schwert in die Brust zu stoßen schien. Doch so sehr ich auch an meinen Augenlidern zerrte, sie bewegten sich kein Stück. Es war, als hielte mich dieses Bild gefangen, als klebte es wie Patex zwischen meinen Augenlidern. Als dann endlich das Bild vor meinen Augen verschwand, dachte ich, ich hätte es geschafft. Doch anstatt aufzuwachen, schob sich eine neue Erinnerung in meinen Kopf. Es war Alice' und mein erster Schultag, das erkannte ich sofort, wie wir beide, Seite an Seite, in den  Klassenraum gegangen waren. Als wir unsere Namensschilder gefunden hatten, merkten wir, dass wir jeweils am anderen Enden des Klassenraums saßen. Natürlich liefen wir sofort zu unserer Lehrerin und bettelten sie mit der herzzerreißenden Kraft von zwei Fünfjährigen an. Sie laberte irgendetwas von 'neue Kontakte knüpfen', doch das war uns herzlichst egal. Wir bettelten und flehten so lange, bis wir unseren Willen bekamen – am Ende des Tages saßen wir in jedem Fach nebeneinander.

Wie zuvor durchströmte mich ein unaufhaltsames Glücksgefühl, es ging durch meinen ganzen Körper, lies mich in Gedanken erstrahlen – nur damit ich umso tiefer fallen konnte. Auch bei der nächsten Erinnerung sträubte ich mich noch dagegen, doch als ich einsah, dass das alles nichts half, gab ich mich schließlich den Erinnerungen und Emotionen hin.

Sobald ich diese Entscheidung getroffen hatte, war es, als würde alles von vorne anfangen, als hätte man in meinem Leben auf die Replay-Taste gedrückt – doch es sprang nicht direkt zum Anfang, sondern spulte schnell zurück. Wie bei diesen altmodischen Kassettenplayern. Es war nicht so, wie wenn man starb, und sein eigenes Leben mit all den Facetten von Anfang an einem vorbei zog – eher so, als würde ich all meine Erinnerungen verpassen, als würde ich wieder in mein Baby-Ich gesteckt – und wüsste aber wie mein Leben abläuft. Ich müsste all die Dummheiten, die ich begangen hatte und bereute, mit ansehen, obwohl ich wusste, wie ich alles hätte verhindern können. Doch ich konnte nichts daran ändern. Ich müsste all meine Tiefs, all meine schlimme Erinnerungen, all meine verdammten Taten noch mal erleben – nur mit dem Wissen, was mich danach erwartete.

Plötzlich hielt mich eine neue Erinnerung fest – eine Erinnerung, von der ich nicht einmal wusste, dass ich sie hatte – und die Welt um mich verschwand.

Ich konnte nicht viel sehen, es war alles trüb und rötlich, als würde ich durch einen Nebel gucken. Jemand klopfte mir auf den Rücken, ich hörte Stimmen, doch sie waren verzerrt. Insgesamt waren meine Sinne eingeschränkt. Auf einmal merkte ich, was mir fehlte – ich atmete nicht. Mich durchströmte das Bedürfnis, laut loszuschreien, und da mein Gehirn nicht nützlicher als der Rest meines Körpers war, tat ich es auch und plötzlich war es, als ob jemand den Schleier von mir abreißen würde, den Nebel wegpusten würde. Ich schnappte erschrocken nach Luft – so viel wahrzunehmen war neu für mich. Kurz darauf wurde ich von etwas Warmen umhüllt, Arme umschlossen mich, jemand gab mir einen Kuss auf die Stirn – ich fühlte mich vollkommen geborgen.

   „Es ist ein Mädchen. Sie ist so hübsch.“ Als ich die Stimme ohne den nervigen Nebel hörte, erkannte ich sie – es war die liebliche, zarte Stimme meiner Mutter.

'Meine Geburt', war der einzige Gedanke, den ich fassen konnte, bevor eine neue Erinnerung meine Gedanken kontrollierte.

Impressum

Texte: Lara S.
Tag der Veröffentlichung: 09.09.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für mich, als Erinnerung an den tollsten Sommerurlaub 2012 in Norwegen, und einfach nur weil ich Schreiben liebe; und für die besten Freunde der Welt, die einfach immer für mich da sind, und für dich Charly, dass du mich immer beim Schreiben unterstützt, und für Sarah, die auch so gerne probeliest obwohl wir uns gar nicht kennen. ♥

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