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Kapitel 1 - Liv

Die Gänge der Schule sind leer, was nichts wirklich ungewöhnliches ist denn erst in zehn Minuten ist Pause. 

Trotzdem kommt mir die Stille bedrohlich vor. Das Quietschen, welches meine Schuhe auf dem orangenen Linoliumfußboden verursachen und die Tür direkt vor meinen Augen, wirken angsteinflößend auf mich. 

Diese leicht Panik verschwindet auch nicht als ich leise mit meinen Fingerknöcheln gegen die Tür klopfe, nein sie verschlimmert sich sogar und meine Angst ist nicht unbegründet, schließlich könnte das was hinter der Tür lauert meine ganze Familie auseinander reißen.

Mrs Wilson will mit meinen Eltern reden, dass das so gut wie unmöglich ist weiß sie nicht und deswegen bin ich hier.

Natürlich habe ich mir einige Ausreden überlegt wieso ich heute da bin und nicht meine Eltern aber im Lügen bin ich nicht gut.

Leise klopfe ich mit den Fingerknöcheln an die hölzerne Tür, kurz darauf werde ich herein gebeten.

Das Büro ist nicht groß es ist in etwa so klein wie ein Badezimmer und die hintere Wand ist komplett verglast. Die orangenen Wände lassen den Raum warm erscheinen, allerdings lassen ihn die großen Schränke noch kleiner wirken.

Überall sind Aktenordner auch auf dem großen Schreibtisch der aus dem gleichen dunklen Holz gemacht ist, wie die Schränke. Walnuss schätze ich.

Hinter dem Schreibtisch sitzt eine korpulente Frau mittleren Alters. Sie hat blonde Haare und einen Bob, der aber leicht ungepflegt wirkt da ihre Haare sehr kaputt sind. Sie trägt eine Brille die ihre kalten blauen Augen noch größer wirken lässt und ihre Lippen sind mit einem stark roten Lippenstift angemalt was nicht so schlimm aussieht wie es sich anhört. Sie sieht mich nicht einmal an, ihr Blick ist auf ihre Unterlagen gerichtet und sie schreibt etwas auf.

„Ja bitte? Was kann ich für Sie tun?"

Ich schätze sie würde es mir überhaupt gar nicht abkaufen wenn ich sagen würde, dass ich Olivers Mutter bin, auch wenn das die Sache wesentlich vereinfachen würde.

,, Ich bin Liv, die Schwester von Oliver Caulder. Wir haben einen Brief bekommen, dass sie mit uns sprechen wollen."

Jetzt sieht sie auf, sie starrt mich direkt an und unter dem stechenden blau ihrer Augen die in meine blitzen habe ich Angst dass sie alles sehen könnte und deswegen wende ich den Blick ab. Ein schwerer Fehler wie ich in der nächsten Sekunde bemerke. Jetzt denkt sie ich sei schwach und dabei hatte ich vor einen selbstbewussten Eindruck abzugeben.

„Ich bin mir sehr sicher dass ich den Brief an ihre Eltern geschrieben habe also was suchen Sie hier Olivia?"

Auch wenn mir Ihre Stimme bedrohlich vorkommt - sie ist viel zu herrisch um die Direktorin einer Grundschule zu sein- hebe ich den Blick wieder, ich bin auf die Frage vorbereitet und weiche ihren Augen diesmal nicht aus.

„Meine Eltern sind leider verhindert Mrs. Wilson. Stattdessen bin ich da"

Sie hebt eine Augenbraue.

„Dann verlegen wir diesen Termin, mir wäre es lieber mit ihren Eltern zu reden.", sagt sie.

Mir wird von Sekunde zu Sekunde unbehaglicher. Vielleicht habe ich ja durch den kleinen Raum akute Platzangst bekommen, so fühlt es sich zumindest an.

„Das ist nicht möglich, Ma'am. Sie machen momentan eine Weltreise und werden erst in 3 Monaten zurückkommen"

Eine Lüge, die sie zu glauben scheint. Sie klopft mit ihren rot lackierten Fingernägeln auf ihrem Schreibtisch herum, was mich ehrlich gesagt noch viel nervöser macht.

„Das heißt Sie und ihr Bruder Leben momentan alleine? Nichts gegen Sie Olivia aber ich denke nicht, dass sie bereits erwachsen sind. Das ist gegen das Gesetz."

„Wir haben noch einen Bruder, Grey, er ist 21 und momentan unser Erziehungsberechtigter."

„Nun, dann würde ich gerne mit ihrem Bruder sprechen."

Diese Frau macht mich wahnsinnig! Wirklich! Mit vermeintlich unschuldigen Blick blinzelt sie mich an und ich habe das Bedürfnis sie anzuschreien. Es geht nun mal nicht, weder Grey noch meine Eltern können kommen! Nur ich! Und ich bin hier.

„Ja das verstehe ich, aber Grey muss gerade arbeiten, ich werde ihm und meinen Eltern aber natürlich alles berichten was sie mir gleich erzählen werden." Ich höre mich nett und freundlich an während ich das sage, doch innerlich koche ich. Sie scheint endlich zu kapitulieren, denn sie seufzt und zeigt auf einen grün gepolsterten Stuhl.

„Nun denn. Wir müssen noch auf die Mutter von Timothy McCain warten."

Also setze ich mich widerwillig hin und wir warten. Zwischendurch versucht Mrs Wilson Smalltalk zu halten aber sie und ich kommen schnell zu dem Schluss, dass wir das beide nicht wollen.

Nach gefühlten 30 Minuten des Schweigens (die in Wirklichkeit nur 5 Minuten waren) klopft es endlich -endlich!- ich drehe mich zur Tür doch statt einer Frau mittleren Alters kommt ein junger Mann, wahrscheinlich etwas älter als ich, herein. Ich sehe Mrs Wilson an, die genauso ratlos wirkt wie ich, doch dann scheint ihr ein Licht aufzugehen und sie beginnt zu lächeln.

„Oh Mr. McCain. Schön, dass Sie gekommen sind. " Der junge Mann mit den hellbraunen hochgegeelten Haaren durchkreuzt den Raum und schüttelt Mrs. Wilson die Hand.

„Meine Mutter hat Ihnen gesagt, dass ich stellvertretend für sie komme, nicht wahr?" Mrs Wilson nickt und er lässt sich neben mir in den Stuhl fallen. Er hat mich bisher keines Blickes gewürdigt und auch ich wende mich von ihm ab. Irgendwie kommt er mir bekannt vor.

Mrs Wilson legt die Arme auf den Tisch und räuspert sich.

„Nun denn, der Grund weswegen ich sie beide habe herkommen lassen ist folgender: Oliver und Timothy waren nun ja... Sie haben sich unangemessen einer Lehrkraft gegenüber verhalten."

Ich verschränke die Arme vor dem Körper und nehme dadurch bewusst eine Abwehrhaltung ein. Oliver, mein kleiner Bruder, ist leider viel zu anständig geraten (im Gegensatz zu mir und Grey) wenn er sich wirklich schlecht Verhalten hat dann gibt es einen triftigen Grund dafür.

„Könnten Sie eventuell spezifizieren worum es geht?", frage ich nachdem weder der Junge noch Mrs Wilson weiter reden. Meine Frage hört sich vermutlich etwas giftig an aber das kümmert anscheinend weder mich, noch sonst jemanden im Raum.

„Also, normalerweise sind Timothy und Oliver ja sehr nette Jungs und mir ist vorher auch noch nie zu Ohren gekommen, dass sie solch ein Verhalten an den Tag gelegt haben wie heute, deswegen wird die Strafe der Schule wahrscheinlich eher gering ausfallen. Ich möchte Sie beide nur bitten den beiden zu erklären, dass das was sie gemacht haben nicht geht und dass sie eine kleine Strafe bekommen wie zum Beispiel Fernsehverbot."

Erstens haben wir keinen Fernseher, weswegen es keinen Sinn machen würde Oliver das Fernsehen zu verbieten und zweitens werde ich langsam wirklich ungeduldig und da bin ich nicht die einzige.

„Kommen Sie doch bitte auf den Punkt. Wir werden uns eine angemessene Strafe überlegen aber das geht nicht wenn Sie uns nicht erzählen was vorgefallen ist."

„Ja natürlich, sie haben vollkommen recht. " Sie rutscht auf ihrem Stuhl herum. Noch vor zehn Minuten dachte ich sie wäre herrisch und sehr selbstsicher, doch nun komme ich immer mehr zu dem Schluss, dass sie leicht chaotisch und rein gar nicht selbstsicher ist, so wie sie mit ihren Fingern spielt, scheint sie sehr nervös zu sein. Doch wieso nur?

„Also es spielte sich vorgestern in der 3. Stunde statt, die beiden hatten Religionsunterricht bei mir, wir sprachen über die Bibel und das was Gott billigt und was nicht. Auf jeden Fall beleidigte mich Timothy auf einmal und Oliver stieg mit ein."

„Ist denn davor irgendwas vorgefallen? Es kann ja nicht aus dem nichts heraus gekommen sein."

Wir -der Junge und ich- redeten noch ca. 10 Minuten auf sie ein, doch sie beharrte darauf, dass weder sie noch irgendein anderer Schüler vorher irgendetwas provozierendes gesagt habe. Doch ich glaube ihr nicht. Ich kenne zwar Timothy nicht aber Oliver würde so etwas nicht machen. Als wir schliesslich den Raum verlassen, haben wir noch nicht mehr Informationen erhalten außer der dass die Jungs einen 10-seitigen Aufsatz darüber schreiben müssen, warum es unmöglich ist seine Lehrerin zu beleidigen und darüber wie sehr es Ihnen leidtut und ich schätze was wirklich vorgefallen ist werde ich nur von Oliver selbst erfahren. Also gehe ich die Treppe herauf zum Klassenzimmer meines Bruders, hinter mir höre ich Schritte, die eindeutig von dem Jungen stammen. Auch er hat anscheinend die Idee seinen Bruder abzuholen. Kurz vor dem Klassenzimmer kommt mir Oliver auch schon entgegen und grinst mich an. Mein kleiner Bruder ist stets gut gelaunt und ich habe keine Ahnung wie er das schafft. Schließlich ist unser Leben nicht gerade einfach.

„Hey Livvy!", sagt er und lächelt.

Er ist der einzige Mensch der mich Livvy nennen darf, schließlich reicht ein Spitzname doch. Ich wuschle ihm durch seine blonden Locken und nehme ihn dann kurz in den Arm. Noch lässt er sich das -wenn auch wiederwillig- gefallen und ich habe Angst vor dem Tag an dem es ihm peinlich wird seine große Schwester zu umarmen.

„Hey kleiner, ich muss mal mit dir reden"

„Okay was ist denn?", fragt er unschuldig, dreht sich dann aber um, läuft weg und ruft mir über die Schulter zu „Warte kurz ich muss dir jemanden vorstellen!"

Ich sehe ihm hinterher und kurz darauf kommt er mit einem kleinen Jungen mit braunen Haaren und einem großen Jungen mit braunen Haaren zurück. Timothy und sein Bruder.

„Das sind mein neuer bester Freund Timmy und sein Bruder Äh.."

„Vince", hilft ihm dieser.

„ Ja genau! Timmy und Vince! Und das ist meine Schwester Livvy"

„Liv", verbessere ich.

Jetzt wo wir uns gegenüber stehen sehe ich Vince zum ersten Mal genauer an. Er sieht gut aus, hat markante Gesichtszüge und eine Narbe auf der Stirn, über der Augenbraue. Man würde ihn nicht als klassische Schönheit bezeichnen, sondern als... Anders. Er hat etwas besonderes an sich, seine Ausstrahlung ist selbstsicher und auch irgendwie düster, als hätte er etwas zu verbergen, wie ich...

Er ist größer als ich, ungefähr 15 Zentimeter, er hat breite Schultern, ist aber keinesfalls dick. Und das wichtigste: er kommt mir bekannt vor. Ich habe das Gefühl ihn schon einmal gesehen zu haben aber ich komme partout nicht darauf wo und wieso. Vielleicht ist er auch nur irgendwann mal zufällig an mir vorbeigekommen aber ich habe das Gefühl da ist mehr.

Er kommt mir bedrohlich vor, doch ich habe keine Angst vor ihm.

„Hallo, ich bin Vince. Schön dich auch einmal so kennen zu lernen.", reißt mich Vince plötzlich aus meinen Grübeleien.

Ich sehe ihn an und reiche ihm meine Hand, die er daraufhin umschließt und kurz schüttelt.

Irgendwas liegt in der Luft, doch ich kann nicht sagen ob es Angst ist oder Unbehagen. Auf jeden Fall irgendwas negatives.

Ich denke er weiß woher wir uns kennen.

Er blickt mich finster an. Er weiß es und er weiß, dass ich es nicht weiß.

Und jetzt habe ich doch Angst vor ihm.

Schon wieder werde ich aus meinen Überlegungen gerissen, dieses Mal von Oliver der an meiner Jacke zieht.

„Du wolltest mir doch etwas sagen!"

Ich denke kurz nach, doch dann redet Vince schon weiter: „Ich schätze ich weiß worüber deine Schwester mit dir reden will und das betrifft nicht nur dich sondern auch Timothy."

Ich löse mich entgültig von meiner Trance und schüttele alle negativen Gedanken Vince gegenüber ab. Ich versuche ehrlich gesagt gar nicht mehr an Vince zu denken, sondern konzentriere mich voll und ganz auf meinen Bruder und Timothy.

„Ja genau, Mrs. Wilson hat uns erzählt, dass ihr sie beleidigt habt, ohne Grund!"

Timothy kratzt sich nur ratlos am Kopf, Oliver klappt der Mund auf und sofort beginnt es aus ihm rauszusprudeln:

„ Das stimmt nicht! Wir wollten nur Claire beschützen!"

„Wer ist Claire?"

„Eine aus unserer Klasse", meldet sich nun auch Timothy zu Wort.

„Genau! Also wir haben in Religion über das geredet was Gott gut findet und was Gott nicht gut findet und dann hat Mrs. Wilson gesagt, dass nur Mann und Frau sich lieben dürfen und dass auch nur die heiraten dürfen, die Mann und Frau sind, also nicht Mann und Mann und auch nicht Frau und Frau und dann hat sich Claire gemeldet und erzählt dass sie aber zwei Papas hat und dass die auch verheiratet sind und dann hat Mrs Wilson gesagt, dass Gott sie und ihre Papas dann nicht mehr liebt, weil sie nicht das gemacht haben was Gott will und außerdem hat sie gesagt dass Claires Papas nicht ihre richtigen Papas sind, sondern dass sie adoptiert ist, weil man keine zwei Papas haben kann und Claire hat angefangen zu weinen und Timothy ist hingegangen und hat sie getröstet und ich dann auch und dann hat Mrs Wilson gesagt dass man nicht im Unterricht aufstehen darf aber Timothy und ich sind trotzdem bei Claire geblieben und dann habe ich gesagt, dass Mrs Wilson eine dumme Kuh ist und Timothy hat 'Genau' gesagt. Die ist selber schuld! "

Oliver kann sich gar nicht mehr einkriegen, redet hastig und gehetzt und mir klappt der Mund auf. Ich war glaube ich nie stolzer auf meinen Bruder und auch Vince scheint sichtlich beeindruckt.

„Ist das wirklich so passiert?", fragt er Timothy und dieser nickt.

„Bekommen wir jetzt viel Ärger?"

Vince und ich sehen uns einmal an und wenden uns dann wieder unseren Brüdern zu.

„Nein.", sagen wir wie aus einem Mund, ich schätze zu mehr sind wir momentan nicht im Stande. Kurz darauf verabschieden sich Timothy und Vince von uns und auch Oliver und ich verschwinden. Am liebsten würde ich mir diese Mrs. Wilson mal gehörig vorknöpfen aber ich denke das in Anwesenheit von Oliver zu tun wäre unangemessen.

 

Oliver und ich fahren mit dem Bus zu einem großen, gelben Hochhaus. Es ist ehrlich gesagt ziemlich hässlich. Doch hier wohnt die Person die als einzige als Mutter für uns in Frage kommen könnte. Tess. Als wir im 15. Stock ankommen läuft Oliver sofort zu ihrer Tür und klopft, sie öffnet sich sogleich und Tess steht mit ihrem gutmütigen Lächeln vor uns.Oliver fällt ihr sofort in die Arme und auch ich kann mein Lächeln nicht unterdrücken.

Tess ist eine 60-jährige, etwas molligere, schwarze Frau mit dunklen, grau durchzogenen Haaren. Sie ist vor 40 Jahren illegal aus Südafrika, Nigeria, einwandert... Und seit dem auch nicht legal geworden.

Wir haben sie kurz nach der Sache mit unseren Eltern kennengelernt, also Oliver gerade einmal 7 Monate alt war und sie hat mir, Oliver und selbst Grey so etwas wie neue Lebensfreude gegeben. Seit dem bringe ich Oliver jeden Tag nach der Schule zu ihr und manchmal bleibe ich auch da. Oliver nennt sie sogar 'Oma', sie ist sowas wie unser Anker. Unsere Familie.

„Liv, möchtest du zum Essen bleiben?", fragt sie mich gutmütig, doch ich muss leider absagen, denn ich habe noch etwas zu tun.

„Ach ja, Oliver? Was ich dich noch fragen wollte: was ist eigentlich mit Claire? Geht es ihr wieder besser?", frage ich noch während ich raus gehe.

 

Als ich um die Ecke biege bemerke ich sofort den grossgewachsenen Jungen der vor dem Haus steht, das auch ich ansteuere. Oliver hat mir erzählt das Claire seitdem nicht mehr in der Schule war und dass er glaubt, dass es ihr nicht gut geht. Ich habe mir dann von ihm ihre Anschrift geben lassen und bin zur ernannten Adresse gefahren.

Ich verstehe nicht wie man so handeln kann, wie es Mrs. Wilson getan hat, ob sie überhaupt ein gewissen besitzt?

Claire und ihre Väter wohnen in einem kleinen aber sehr schön gepflegten Reihenhaus, mit weißen Fensterrahmen. Ich gehe zur Haustür und stelle mich neben Vince, der soeben geklingelt hat.

„Schön dich wieder zu sehen Liv."

Ich nicke nur und kurz darauf macht uns ein Mann mit schwarzen Haaren und einer Nerd Brille auf, er trägt ein hellblaues Hemd, das am Kragen Puderzucker aufweist. Er sieht uns erwartungsvoll und leicht skeptisch an, fast erwarte ich, dass er im nächsten Moment 'Wir kaufen nichts' sagt aber Vince kommt ihm zuvor.

„Guten Tag Sir, mein Name ist Vincent McCain und das ist Olivia Caulder. " er zeigt auf mich. „ wir sind die älteren Geschwister von Timothy und Oliver, vielleicht hat ihnen ihre Tochter Claire von ihnen berichtet."

Nun erhellt sich die Miene von -ich schiele auf das Namensschild neben der Tür- Mr. Lincoln. Er weiß offensichtlich wer die beiden sind. „Wir wollten uns erkundigen wie es Claire geht.", ergänze ich. Mr. Lincoln öffnet die Tür und zeigt ins Innere, sagen tut er nichts, weswegen ich mir unsicher bin ob ich wirklich eintreten soll, doch Vince geht ins Innere des Hauses und so folge ich ihm. Das Haus ist sehr aufgeräumt und schön eingerichtet. Es riecht nach Blumen. Mr. Lincoln begleitet uns ins Wohnzimmer wo ein kleines braunhaariges Mädchen mit Zöpfen und ein Mann mit Glatze sitzen und lachend Berliner essen. Als sie uns bemerken verstummen sie und die beiden Mr. Lincolns tauschen einen Blick aus, dann beginnt der Nerd Brillen Lincoln in einer Zeichensprache mit dem glatzen Lincoln zu kommunizieren. Und ich verstehe. Brillen Lincoln ist stumm. Nun wendet sich Glatzen Lincoln zu uns und lächelt. „ Schön, dass sie beide hier sind. Claire hat uns erzählt was vorgefallen ist und wir möchten Ihnen und ihren Geschwistern unseren Dank aussprechen. Setzen sie sich doch, wir essen gerade Berliner. " Widerwillig setze ich mich in Bewegung und setze mich neben die kleine Claire, Vince nimmt mir gegenüber Platz und Brillen Lincoln setzt sich neben ihn. „Nehmen Sie sich doch einen Berliner." Doch Vince und ich lehnen ab, worauf Mr. Lincoln sofort weiter spricht. „Ach wie dumm von mir, Peter hat mich gerade darauf aufmerksam gemacht, dass wir uns noch gar nicht vorgestellt haben. Ich bin Hank und er", Hank zeigt auf den Brillen Lincoln, der wohlmöglich Peter ist. „Ist Peter." Wusste ich's doch. „Peter ist leider stumm aber falls ihr irgendwelche Fragen an ihn habt, fragt gerne, ich vermittle euch seine Antwort." Wir blieben ungefähr eine Stunde bei Peter, Hank und Claire. Alle drei waren sehr, sehr freundlich zu uns und ich frage mich wie jemand gegen Homosexualität sind, denn so liebevoll wie Hank und Peter gehen nicht mal frisch verliebte Paare miteinander um, zumindest habe ich noch keins gesehen. Hank und Peter wissen von dem Vorfall in der Schule bescheid, wissen aber nicht wie sie dagegen vorgehen sollten und so schmiedeten wir einen Plan, der zugegebener Maßen ziemlich genial ist.Peter und Hank waren weder verklemmt noch in sonst irgendeiner Weise Jugendlichen Streichen abgeneigt und so waren wir alle, selbst Vince von dem ich eigentlich dachte er wäre der kalte, unnahbare Junge, damit beschäftigt einen Plan zu entwickeln, der Mrs. Wilson heimzahlen würde, was sie Claire angetan hat. Als Vince und ich, nachdem wir uns gebührend verabschiedet haben, aus der Tür gehen, herrscht eine peinliche Stille. Für eine Minute spricht keiner ein Wort, doch dann fasst sich Vince ein Herz und sagt „Tschüss Liv, wir sehen uns." Ich murmelte eine Verabschiedung und bin heilfroh, dass wir nicht in die gleiche Richtung müssen. Ich muss mich beeilen, ich habe noch etwas zu tun. Ich stecke die Hände in die Jackentaschen, für November ist es wirklich kalt. Als ich 20 Minuten später an Grey's Wohnung ankomme, merke ich sofort, dass irgendwas ganz, ganz falsch läuft. Auf dem Flur hängen normalerweise Bilder, doch diese liegen nun wild verteilt im Treppenhaus herum, es ist offensichtlich, dass sie mutwillig abgerissen wurden. Als ich den Roten, verschmutzten Teppich entlang gehe, der zur Treppe führt, höre ich auch schon das Geschreie. Ich kann nicht verstehen was es ist, da die Wände es dämmen aber ich weiß, dass es mein Bruder ist der rumschreit und ich weiß, dass er sehr sehr sauer ist. Ich überlege kurz umzudrehen aber ich denke es würde ihn noch saurer machen, wenn ich nicht auftauchen würde obwohl ich gesagt habe, dass ich komme. Also stecke ich meinen Schlüssel in das Türschloss und die hölzerne Tür schwingt auf „... wie können die es wagen! Ben! Du weißt, dass die das waren, du weißt es genauso gut wie ich! Diese Schweine! Diese elenden..." „Hey", melde ich mich zu Wort bevor mein Bruder wen auch immer weiter beleidigen kann. Grey steht zusammen mit Ben, Jared und Tobe im Flur, mit dem Rücken zu mir. Grey dreht sich zu mir um, sein Gesicht ist puterrot und seine Hände sind zu Fäusten geballt. Er geht auf mich zu, umschließt meinen Ellenbogen, zieht mich in den nächsten Raum und schließt die Tür. Im ersten Moment habe ich Angst, doch dann weiß ich wieder mit wem ich es zu tun habe, das ist mein Bruder, der mir nie etwas antun würde. Sein Gesicht beginnt langsam wieder eine normale Farbe anzunehmen. Er geht zum Fenster und sieht hinaus, stützt seine Hände am Fensterrahmen ab. Ich bleibe wo ich bin, mitten im Raum. „Was ist passiert?", wage ich zu flüstern. Grey reagiert nicht und ich gehe auf ihn zu und lege meine Hand auf seine Schulter. „Grey?" Jetzt dreht er sich zu mir um und sieht mich traurig an. „ Irgendwer ist hier eingebrochen, ich vermute es waren Hunter und seine Leute... Sie haben Mom's Kette mitgenommen, das ist auch der Grund wieso ich gerade so ausgerastet bin. " Er sieht auf den Boden und schweigt, genau wie ich. Dann sieht er mich wieder an. „ Es tut mir leid, dass du das gerade mit ansehen musstest." Ich schweige immer noch und Grey nimmt mich in den Arm, es tut gut meinen großen Bruder zu umarmen, bei ihm fühle ich mich sicher und geborgen, ich weiß, dass er mich vor allem beschützen würde, egal was ist. Ich lege den Kopf an seine Schulter und er legt seinen auf meinen, so stehen wir für zehn Minuten, versuchen die Trauer zurück zu halten, die wir nie zugelassen haben... Und auch nie zulassen werden. Ich bin heilfroh, dass Oliver von dem ganzen Theater damals nichts mitbekommen hat und auch heute nur wenig davon zu hören beziehungsweise zu sehen bekommt. Früher sind Grey und ich damit mehr schlecht als recht klar gekommen und zumindest ein bisschen auf die schiefe Bahn gelangt, Grey mehr als ich aber trotzdem sind wir seitdem nicht mehr wieder auf die richtige Bahn gelangt. Dass mein kleiner Bruder, damals noch zu klein war um alles zu verstehen, scheint wie ein Geschenk des Himmels. „Was machen wir jetzt?", frage ich nach einiger Zeit kleinlaut. Wir dürfen die Kette unsere Mutter einfach nicht verlieren, sie ist das einzige was wir noch von ihr haben. Grey löst sich aus unserer Umarmung, fährt sich durch die Blonden Haare und runzelt die Stirn, dann lässt er sich auf das grüne, alte Sofa fallen, das wir vor 3 Monate an einem Straßenrand gefunden, bereit für den Sperrmüll. „ Die Jungs und ich statten Hunter einen Besuch ab." „Ich komme mit." „Nein Liv, vergiss es, du weißt nicht was das für Typen sind! Die sind total gefährlich!" Ich stemme die Hände in die Hüften. Zu gefährlich? Ich bin gefährlich wenn man die Kette meiner Mutter klaut, dagegen sind die gar nichts! „ Nein Grey, vergiss du es! Ich werde mitkommen und damit.. " in diesem Moment klopft es an der Tür und Tobe tritt ein. „ Ich wollte nur sehen, ob ihr beide noch lebt, es war so still hier drin.", sagt er und schließt die Tür dann geräuschvoll wieder. Ich gehe einen Schritt in Richtung Grey, der wahrscheinlich gerade heilfroh ist, dass Tobe nicht eine Minute früher rein gekommen ist und uns in verzweifelter Pose aneinander geklammert gesehen hätte, das hätte ja seine Autorität untergraben. Seiner Meinung nach. „ Grey sie ist auch meine Mutter. Es ist toll, dass du auf mich aufpassen willst und du dir Sorgen um mich machst aber das brauchst du nicht. Ich bin fast 18 Jahre alt, alt genug um selbst zu entscheiden was gut für mich ist und was nicht. Ich möchte die Kette wieder haben und ich denke ich kann sachlicher mit Hunter verhandeln als du, du bist momentan viel zu aufgebracht um normal mit ihm reden zu können. Und das weißt du. Lass mich mitkommen und ich erlaube Dir, dass du jeden umbringen darfst, der mich auch nur falsch ansieht." Während ich rede trete ich immer weiter an Grey heran und lege letztendlich meine Hand auf seine Schulter um ihn zu besänftigen. Ich rede mit meiner ruhigen und selbstbewussten Stimme und hoffe ihn so überzeugen zu können. „Worauf du dich verlassen kannst, dass ich das tun werde. ", knurrt Grey und ich werte das als ja. Ein Glück. Als wir 20 Minuten später in eine düstere Seitenstraße einbiegen, wird mir doch etwas mulmig. Die Gegend hier ist noch schlimmer als die in der Greys Wohnung ist, überall fliegt Müll herum und die Wände sind mit Graffiti beschmiert, die meistens nicht mal wirklich schön aussehen, sondern nur sinnloses Gekrakel sind. Als wir schließlich vor einer Tür stehen bleiben, die genau in diese Gegend passt, bin ich gespannt wer mich erwartet. Obwohl mein Bruder und seine Freunde seit drei Jahren im "Krieg" mit Hunter und seinen Freunden sind, habe ich weder ihn noch einen von seinen Gefolgsleuten je gesehen. Ich weiß nicht womit der Streit zwischen den beiden, nennen wir sie mal Gangs, angefangen hat und ich bezweifle ehrlich gesagt auch, dass sie das noch wissen, doch das ewige hin und her, das Raub, Prügeleien und jede Menge Hass beinhaltet, setzt sich seit dem fort. Aber dieses Mal sind sie wirklich zu weit gegangen. Dieses Mal kann mich Grey nicht mehr zurückhalten. Grey klingelt und kurz darauf hört man ein Rauschen und es ertönt ein genervtes „Was?". „Hunter, hier ist Grey." Die Stimme beginnt zu lachen und mir läuft ein eiskalter Schauer über den Rücken. Diese Stimme... Sie... Ich kenne sie irgendwo her. „ Na hallo Grey, schön dass du dich mal wieder hier her traust. " Im Hintergrund hört man einige Leute lachen. Grey schnaubt hörbar sauer aus. „ Hunter, komm runter, ich will mit dir reden. Bring ruhig deine kleinen Freunde mit, wenn du dich dann stärker fühlst." Das Rauschen bricht ab und kurz darauf geht das Licht im Treppenhaus an. Es ist mittlerweile fünf Uhr am Nachmittag und da November ist, ist es schon jetzt sehr dunkel. Die Tür wird aufgestoßen und ein großer, kahlköpfiger, sehr sehr muskulöser, tätowierter Typ kommt heraus. Hunter. Gefolgt von... „Liv...", Vince sagt es gerade so laut, dass ich und somit auch Grey es hören können. Ben, Jared und Tobe stehen hinter uns und werden es wahrscheinlich nicht gehört haben. Es kann doch nicht sein, dass ich Vince dreimal an einem Tag begegne und es kann doch auch nicht sein, dass er am Diebstahl beteiligte war, schließlich waren wir die ganze Zeit bei dem Lincolns. Oder hat der Einbruch schon heute Nacht statt gefunden? Grey macht einen Schritt auf Vince zu, der etwa gleich groß ist wie er. „Woher kennst du meine Schwester?", fragt er aufgebracht. Ich gehe zu Grey, ziehe ihn zurück und sage ihm, dass ich ihm das später erzähle und er sich nicht aufregen soll, zu meiner Überraschung gehorcht er mir und zieht sich zurück. Hunter verzieht sein Gesicht zu einem Grinsen und lacht. „ Hat da jemand Angst um sein Schwesterlein? Keine Sorge Grey, wir alle kennen schon die liebe Liv." Ich erwarte, dass mein Bruder nun auf Hunter losgeht und halte ihn am Pullover fest. Doch er bewegt sich nicht mal. Wie aus dem Nichts tauchen auf einmal drei weitere Personen auf. Alle drei tragen Lederjacken. Es sind 2 Männer und eine Frau, alle so ungefähr 20 Jahre alt. Die Frau hat hellblonde Haare und einen Nasenpircing. Sie sieht mich finster an, genauso wie der schwarzhaarige riesige Typ und der schwarze Mann neben ihr. Mein Blick wandert wieder zu Hunter, der meinen Bruder fixiert und dann wieder so gruselig lacht. Ich kenne sie! Sie alle! Aber woher? Ich kenne den Schwarzen, die blonde Frau, den großen Typen, Vince und Hunter. Dennoch bin ich mir sicher, nie etwas mit Ihnen zu tun gehabt zu haben und gleichzeitig bin ich mir dessen unsicher. Als ich versuche genauer darüber nachzudenken bekomme ich Kopfschmerzen. Irgendwas ist hier faul. „Was möchtest du denn von mir, Grey? Wie ich sehe, hast du deinen gesamten Freundeskreis mitgenommen.", sagt Hunter immer noch grinsend. Grey beginnt zu schnauben. „ Du hast etwas was mir gehört, Hunter, wenn ich es nicht wieder bekomme werde ich sehr ungemütlich." „ Ach du armer, vermisst du etwa deine Würde, oder deinen Mut? Oder etwa nur deine Balletschühchen?" Alle auf der anderen Seite fangen an zu lachen, nur Vince und der Schwarze nicht und obwohl zwischen mir und Hunter zwei Meter liegen, rieche ich seinen Mundgeruch. Ekelhaft. Grey fletscht die Zähne. „ Provozier mich nicht Hunter, ich werde mich nicht vor meiner Schwester mit dir prügeln." Ach daher weht also der Wind, er geht nur nicht auf die anderen los, weil er mich da nicht mit herein ziehen will. „ Na komm Greylein, sprich, was habe ich was dir gehört, mach's doch nicht so spannend. " „ Ja Grey, was willst du?" Mischt sich nun auch der große Blonde mit ein. „Ich glaube Greyi hat Angst.", sagt die große Blonde in einem ironischen Tonfall und ich merke, dass ich sie nicht ausstehen kann,noch weniger als Hunter. Sie macht einen Schmollmund und grinst Grey dann böse an. „Ihr habt meine Kette und ich will sie wieder haben." Sofort fängt Hunter wieder an hämisch zu lachen und dreht sich zu seinen Anhängern um. „Habt ihr das gehört? Die kleine Greygina möchte ihre Kette wieder haben." Wieder lachen die mit, die auch vorher mitgelacht haben. Ich sehe nach Vince. Er steht einfach da und macht keinen Laut, als er bemerkt, dass ich ihn beobachte wende ich schnell den Blick ab, sehe aber noch wie er mir zulächelt. Wieso lächelt er mir zu? Es wirkt schon fast entschuldigend, doch ich glaube ihm nicht, dass er das was hier grade passiert nicht genießt. „Hunter, gib ihm doch einfach die Kette zurück, ich habe keine Lust auf Ärger.", sagt Vince kurz darauf und ich traue meinen Ohren kaum. Wenn ich ehrlich sein soll, hätte ich mich niemals getraut so mit Hunter zu reden, auch nicht wenn ich eine von seinen Leuten wäre. Er hat einfach diese gefährliche Ausstrahlung. Doch Vince hört sich schon fast genervt an,als er das sagt. Hunter hört abrupt auf zu lachen, sowie alle anderen auch. „ Tja Vince", knurrt Hunter jetzt in einer angsteinflößend tiefen Stimme und ich habe wirklich Angst, dass er Vince etwas antut, doch dieser bleibt tiefenentspannt, verzieht nicht eine Miene. „Das Problem ist nur, dass wir die Kette gar nicht haben." So ein elender Lügner. Wer soll es bitte sonst gewesen sein? Auch Grey scheint sich nun kaum noch im Zaum halten zu können.„Hunter verdammt nochmal! Ich habe keinen Bock mehr auf diesen verschissenen Kinderkram! Diese Kette ist uns wichtig, du kannst den Fernseher behalten und auch das Geld, dass du uns geklaut hast, aber gib uns diese Kette wieder, dann gehen wir."Grey klingt als würde er jeden Moment auf Hunter los gehen und obwohl beide in etwa gleich viel Muskelmasse besitzen und auch etwa gleich groß sind, habe ich das Gefühl, dass mein Bruder nicht so große Chancen hat, gegen Hunter zu gewinnen. Hunter zuckt nur mit den Achseln. „Tja Grey, wo nichts ist, da ist nichts." Wieder dieses schäbige Grinsen. „ Hunter, wir wollen keinen Ärger machen, gib einfach her und gut ist. ", mischt sich nun auch Tobe mit ein, doch Hunter grinst nur weiter. Plötzlich stürmt Grey auf Hunter zu und gibt ihm einen Kinnhaken. Dieser pariert sofort, doch die Wut hat meinen Bruder unbändig gemacht, während er auf ihn eindrischt schreit er ihn an: „ Gib... Mir... Die... Verdammte... Kette... Du... Bastard.", sagt er abgehackt. Mit dreht sich der Magen um. Was ist, wenn Grey etwas passiert? Nun hat plötzlich Hunter die Oberhand. Er stößt Grey das Knie in den Magen, worauf dieser hinfällt und sich krümmt. Hunter blutet an der Lippe und an der Schläfe, doch es scheint ihn nicht zu stören er wirft sich auf Grey und prügelt weiter auf ihn ein. Frei nach dem Motto 'Wer am Boden liegt, verdient keine Gnade' langsam taue ich aus meiner Schockstarre auf und meine Hände ballen sich zu Fäusten. Ich sehe zu Ben und Tobe, wieso tun sie denn nichts? Wieso lassen sie zu, dass Grey so verprügelt wird? „Grey!" mit einem Aufschrei stürze ich mich auf Hunters Rücken und versuche ihn zu würgen, doch er schüttelt mich mühelos ab und trifft dabei mit voller Wucht meine Nase mit seinem Ellenbogen. Ich spüre wie mir das Blut in die Nase schießt, aber das ist mir momentan egal. Genauso wie der stechende Schmerz, der meine Nase pochen lässt. Kurz denke darüber nach, wie schrecklich mein Gesicht wohl mit gebrochener Nase aussieht, doch dann versuche ich mich wieder auf Hunter zu stürzen, doch dieses Mal werde ich noch beim 'draufstürzen' daran gehindert. Zwei starke Arme umfassen meine Taille und ziehen mich zurück als ich mich umdrehe sehe ich Vince, der mich besorgt ansieht. Besorgt? Er soll mich zu meinem Bruder lassen! Was ist wenn Hunter ihn... Ich kann den Gedanken nicht zu Ende führen, er ist zu grausam. Ich versuche mich aus Vince' Armen zu winden, doch er hält mich fest umklammert. „Vince lass mich los! Ich muss meinem Bruder helfen.", schreie ich ihn an, doch er beachtet mich nicht einmal, hält mich aber nach wie vor fest umklammert. Ich drehe meinen Kopf zu Ben, Jared und Tobe die immernoch da stehen und nichts tun. Ben sieht einfach nur zu, ihm steht der Mund offen, während Tobe fast schon gleichgültig aussieht, wie versteinert. Jared sieht einfach nur verzweifelt zu. Und keiner von ihnen tut etwas! „ Verdammt nochmal Jungs! Hilft verdammt noch mal Grey und steht da verdammt nochmal nicht so blöd rum!" Doch ich bin zu leise, zu ängstlich, sie hören mich nicht. Ich sehe wieder zu Grey, der wirkt als wäre er bewusstlos, doch Hunter schlägt immer wieder auf ihn ein. Ihm muss doch jemand helfen! Mit Steigen die Tränen in die Augen. Hunter kann die Kette behalten, solange er nur meinen Bruder nicht... „ Vince, lass mich los, ich muss ihm helfen! Lass mich verdammt nochmal los!" Ich fange an zu schluchzen. „ John, Tyler! Hunter ist völlig außer Kontrolle! Wenn er so weiter macht wird das für uns alle nicht gut enden!" Vince ist laut genug und alle hören ihn, sofort setzen sich alle Fünf (Ben, Tobe, Jared, John und Tyler) in Bewegung, erwachen aus ihrer schockstarre beziehungsweise nehmen den Befehl entgegen und ziehen den immer noch auf Grey einprügelnden Hunter von ihm runter. Dieser wehrt sich zwar aber obwohl er der stärkste ist, hat er gegen diese fünf keine Chance. Grey liegt noch immer regungslos da. „ Es hat doch gerade erst angefangen spass zu machen. ", schmollt die Blondine, ich bin so sauer auf sie, ich könnte sie umbringen. Doch im Moment ist mir nur Grey wichtig. Plötzlich lockert Vince seinen Griff um mich und ich stürze auf Grey zu ich hocke mich auf die Knie und von dem nassen Boden durchweicht meine Hose aber auch das ist mir egal. Ich umfasse Greys Gesicht mit beiden Händen und streiche über seine Wange, eine Träne bahnt sich ihren Weg über meine Wange und landet schließlich auf Greys. „ Na warte Arschloch.", brüllt Hunter von weit hinten. „ Du kannst dich auf was gefasst machen! Das nächste Mal wird es nicht so glimpflich für dich laufen!" Ich nehme ihn kaum wahr, denn ein Schmerz, der dem ähnelt, den ich schon einmal verspürt habe als... Ich führe meine Gedanken abermals nicht zu Ende. Ich löse eine meiner Hände von seiner Wange und versuche seine Halsschlagader zu ertasten, was ich dann fühle lässt mein Herz kurz Stocken. Sein Herz schlägt noch, wenn auch sehr schwach. Eine Erleichterung die ich in diesen Ausmaßen noch nie verspürt habe, bricht auf mich ein. Jetzt fange ich wirklich an zu weinen. Nicht dieses stumme runter Rollen der Tränen, sondern das weinen bei dem man immer wieder von heftigen Schluchzern unterbrochen wird. Teils weine ich aus Erleichterung und teils aus Erschöpfung. Ich Vergrabe mein Gesicht in Greys blauem, blutverschmierten Hemd und ignoriere den Schmerz der dabei meine Nase brennen lässt. Ich will jetzt einfach nur bei Grey sein,spüren, dass er da ist. Plötzlich spüre ich eine Hand auf der Schulter. „ Er muss zu einem Arzt. ", flüstert Vince. Ich weiß, dass er zu einem Arzt muss aber es geht nicht, Grey kann nicht zu einem Arzt. Ich schüttele stumm den Kopf. „ Vince man, komm jetzt mit rein.", höre ich jemanden vom Hauseingang schreien, wahrscheinlich ist es Hunter, aber es ist mir egal. Vince rührt sich nicht. Seine warme Hand liegt immernoch auf meiner kalten Schulter und obwohl ich weiß, dass er es nur gut meint, muss er verschwinden. „ Hau ab.", schluchze ich in Greys Hemd. Obwohl ich ziemlich genuschelt habe, versteht Vince mich. Er sagt einfach nur: „Nein." Er soll verschwinden! Er hat keine Ahnung was Grey und ich durch machen mussten, er hat keine Ahnung! Er weiß nicht wie schlecht es uns all die Jahre ging und er weiß auch nicht wie es ist so zu leben wie wir. Unser Leben ist nicht so einfach wie Seins! Er kann das nicht verstehen! „ Man Liv! Wenn er nicht zu einem Arzt geht, könnte er sterben, er hat wer weiß was für innere Verletzungen!" Ich klammere mich noch immer an Greys Hemd fest, doch drehe mich zu Vince um, der mir nun wo ich knie noch viel größer vorkommt. Ich sehe mitten in seine grauen Augen und schreie ihn an: „Er kann nicht ins Krankenhaus! Verstehst du das nicht? Es geht nicht." Sobald ich es ausgesprochen habe, tut es mir schon wieder leid. Vince will ja schließlich nur helfen, doch das geht nicht. Nun hockt Vince sich ebenfalls hin. „ Liv, wir können ihn..." Ich picke ihm einen Finger in die Brust. „Nein! Es geht nicht! Lass uns in Ruhe!", unterbreche ich ihn. Vince nimmt meine Hand, die die auf seinem Brustkorb liegt und nimmt sie in seine.Sofort zucke zurück. „ Lass mich ausreden Liv. Wir waren doch heute bei Peter und Hank... Hank ist Arzt, wir bringen Grey zu ihm, er wird ihm bestimmt helfen können." Vince lächelt mich traurig an und weicht meinem Blick nicht aus. Irgendwie beruhigt er mich, aber wieso nur? Schließlich kenne ich ihn erst seit ein paar Stunden! Ich nicke kurz und schon springt Vince auf. "Ich hole das Auto." Wir brauchen zehn Minuten um Grey in den Kofferraum zu hieven. Er ist schwerer als er aussieht, anscheinend hat das Fitnesstudio, in das er dreimal die Woche geht, doch etwas gebracht. Muskeln sind schließlich schwerer als Fett. Als Grey endlich drin ist steige ich ebenfalls in den Kofferraum und Vince macht die Klappe des Geländewagens zu. Ich fühle mich wie eine Schwerverbrecherin bei einem Leichentransport. Aber Grey lebt noch. Ich steige hinter seinen leblosen Körper und lege seinen Kopf auf meinen Schoß, damit er vor Stößen geschützt ist. Bei jeder Kurve und jeder kleinen Erschütterung, zucke ich zusammen. 20 Minuten später erreichen wir das Haus der Lincolns, gefühlt waren es mindestens zwei Stunden. Die Heckklappen wird wieder geöffnet und ich sitze Vince und Peter gegenüber, die sich über Grey beugen und ihn aus dem Auto ziehen, gemeinsam schaffen sie es ihn ins Haus zu tragen, wo auch schon mehrere knallrote Handtücher auf dem Sofa liegen. Neben dem Sofa sitzt Hank. Und erst jetzt fällt mir auf, dass er sitzt. Immer. Im Rollstuhl. Heute Mittag spielte sich alles um den Essenstisch ab, Hank konnte also sitzen, doch jetzt ist alles anders. Diesmal brauche ich Hilfe von Ihnen. Ich setze mich auf das Sofa und sehe zu wie Hank Grey abtastet. Ich wünschte ich könnte irgendwas tun. „Ich muss mit ihm ins Krankenhaus, um alles durchzuchecken.", sagt Hank urplötzlich. „Nein", schreie ich und meine Augen weiten sich. Hank hebt beschwichtigen die Hände und sieht mich an. „Keine Sorge Liv, Vince hat es mir erzählt. Keine Ärzte. Es wird niemand davon erfahren, versprochen." Ich beruhige mich wieder etwas und nicke „Dann los." „Warte, zunächst möchte ich noch deine Nase untersuchen." „Meine Nase ist unwichtig." „Nein, ich werde sie mir nur kurz..."„Ich kann sie verarzten.", höre ich urplötzlich jemanden aus der anderen Ecke des Zimmers sagen, ich habe gar nicht wahrgenommen, dass Vince sich auch in diesem Raum aufhält. „ Ich bin zwar kein Arzt, aber ich habe schonmal eine Nase eingerenkt. Ich bin zwar nicht der beste aber ich denke, dass wird klappen." Daraufhin fragt mich Hank ob das okay wäre und ich bejahe dies. Natürlich ist das eine Lüge, ich werde niemanden an meine Nase heranlassen! Hank und Grey fahren ins Krankenhaus und ich hoffe wirklich, dass er wirklich niemanden mit einweiht und noch mehr hoffe ich, dass es Grey gut geht. Nachdem die beiden durch die Tür verschwunden ist, kommt Claire die hölzerne Treppe herunter, doch Peter geht wieder mit ihr nach oben und so sind Vince und ich alleine im Raum. „Lass uns in die Küche gehen, dort ist das Licht besser. " Dort ist das Licht besser. Er sagt nicht, dass dort genug Tücher sind um das Blut aufzufangen, wenn er meine Nase wieder eingerenkt hat, nein, er sagt das Licht ist dort besser. „Du wirst mir nicht die Nase einrenken. " Er sieht mich verwundert an, öffnet den Mund und schließt ihn sogleich wieder. Er kommt einen Schritt auf mich zu und ich weiche einen zurück. Plötzlich legt er den Kopf schief und grinst. „ Du willst also für immer mit einer schiefen Nase rumlaufen? Na von mir aus! Es wird schwer so eine Typen abzubekommen, das kann ich dir sagen. Aber es ist ja deine Nase. Und deine Typen." Hat er gerade...? Nein. Ich weiß, dass er mich manipulieren will und das allerschlimmste daran ist, dass es sogar klappt. Ich bin zwar nicht eitel aber wer will denn sein ganzes Leben lang mit einer schiefen Nase herumlaufen? Ich auf jeden Fall nicht. „ Na schön." Vince grinst mich jetzt noch breiter, zufrieden an und ich gehe einfach an ihm vorbei in die Küche. Ich habe mir schon einmal die Nase gebrochen, da war ich gerade mal 8 Jahre alt doch ich kann mich nicht erinnern wodurch ich sie mir gebrochen habe, ich weiß nur noch, dass es unheimlich doll wehtat als ich sie mir brach und genauso als ich sie wieder habe eingerenkt bekommen. Vince folgt mir in die Küche und deutet auf einen weißen Stuhl, auf den ich mich sogar Kompromiss los setze, ich habe Angst umzufallen, wenn meine Nase wieder eingerenkt wird. Vince geht zum Fenster, wo er eine Rolle Zewa herholt. „ Halt das hier bitte unter deine Nase.", flüstert er mir zu als er wieder zu mir kommt und mir 5 lagiges Zewa hinhält. Wieder mache ich es ohne zu protestieren, ich bin einfach zu erschöpft um noch irgendwas zu sagen. Vince sieht mir in die Augen und murmelt: „Das wird jetzt vermutlich ein bisschen weh tun." Ach wirklich? Hätte ich nicht gedacht. Vince legt seine Finger an meine Nase und sieht mich mitleidvoll an. „Bereit?" „Mhhm." Vince deutet das als 'Ja' und dreht und ich brülle „Scheiße!" Tränen schießen in meine Augen. Eigentlich war ich auf den Schmerz vorbereitet, schließlich habe ich ihn schon einmal gespürt, doch erst merke ich wieder seine Intensität. Ein wenig Blut läuft mir aus der Nase, auf das Zewa Tuch. Allerdings wäre das auch nicht so schlimm, wenn es auf meine Kleidung laufen würde, denn die ist durch Greys sowie mein Blut und den Dreck der Straße sowieso schon ruiniert. Erst jetzt bemerke ich, dass meine Kleidung klitschnass ist und mir wird kalt, langsam hört meine Nase auf zu bluten, Vince nimmt mir das Papier ab und schmeißt es in den Müll, dann setzt er sich auf den Stuhl neben mir. Ich verschränke die Arme vor meinem Körper um mich ein wenig zu wärmen, er sieht es. „Ist dir kalt?" Ich nicke nur, zu mehr bin ich momentan nicht im Stande. „Warte kurz." Er springt von seinem Stuhl auf und sprintet in Richtung Ausgang des Hauses. Als er wieder kommt, hat er einen riesigen grauen Pulli mit, auf dem in weinroten Buchstaben "Yale" steht und eine Jogginghose in der selben Farbe. „Zieh das an.", sagt er nur und hält es mir hin. Als wir zwanzig Minuten später auf dem großen, cremefarbenen Sofa der Lincolns liegen, trage ich die mir viel zu großen Sachen und es herrscht eine unangenehme Stille und niemand traut sich die zu brechen. Zwischen uns liegen ein Meter leere, was mir auch ganz recht ist. Ich bin froh über diesen Abstand, ich brauche auch mal Zeit für mich. „Ich habe mir schon einmal die Nase gebrochen.", murmel ich irgendwann. Vince sieht mich an und das Licht fällt direkt auf seine Narbe, die mir auch bekannt vor kommt. „Ich weiß.", flüstert er nur und ich nicke. Wir sitzen weitere fünf Minuten schweigend da, bevor mir seine Worte bewusst werden 'ich weiß'. Er kann es gar nicht wissen! Doch bevor ich diesen Gedanken ausspreche, fällt mir etwas anderes ein. „ Scheisse." Ich lasse meinen Kopf in das Kissen sinken, dass auf meinem Schoß liegt und hole mein Handy aus der Hosentasche, Vince sieht mich fragend an, während ich meinen Kopf wieder erhebe und anfange zu wählen. Ich habe Oliver vergessen. „Hey Tess! ", Schreie ich schon fast als nach dem dritten Klingeln sich jemand meldet. „Liv! Um Gottes Willen, ich dachte schon dir wäre etwas passiert! " ich schnaube erleichtert aus, den beiden ist nichts passiert. „ Nein, ja.. Nein mir ist nichts passiert. " „Grey?" „Ja." Meine Stimme klingt brüchig, was Tess wahrscheinlich dazu veranlagt zu sagen: „Sag mir wo du bist Liv, Oliver und ich kommen hin." „Nein, das musst du nicht ich komme sofort vorbei." „Liv?" Tess' Tonfall klingt streng und ich weiß, dass ich ihr nicht widersprechen kann. Ich nenne ihr die Adresse und sofort legt Tess' auf. Diese Frau ist so stur! Gegen Sie bin ich gar nichts. „Liv?" Es ist Vince, den ich schon fast wieder vergessen habe in meiner Sorge um Tess und Oliver. „Ja?" Er rutscht ein wenig weiter zu mir, was mir ehrlich gesagt ein wenig unbehaglich ist, doch ich rühre mich nicht. „Du weißt es nicht mehr, oder?" Seine Stimme klingt belegt und eindringlich. Ich habe keine Ahnung wovon er spricht. Was weiß er, was ich nicht weiß? „Was weiß ich nicht mehr?" Er sieht mich nach wie vor an, doch nun sieht er mich fast schon mitleidig an. Es kann doch nicht sein! Ich weiß, dass ich Vince, Hunter und die anderen schon einmal gesehen habe, aber woher? Wieso weiß ich es nicht mehr? Wieso? Selbst in Filmen und Büchern ist es so, dass immer wieder Erinnerungsstücke zurück kehren, doch wieso bei mir nicht? Das einzige was ich weiß ist, dass ich sie kenne! Aber mehr.. Ist da nicht. Vince wendet den Blick ab und sieht zum Fenster. „Ist egal." Nein, das ist es ganz sicher nicht, das weiß ich. Doch ich höre an seiner Stimme, dass ich es darauf beruhen lassen sollte. Diese ganze Situation macht mir Angst, ich habe das Gefühl nicht mehr zu wissen wer ich bin... Dieser ganze Tag macht mich einfach nur fertig. Ich will nicht mehr darüber nachdenken was heute alles passiert ist, ich kann es nicht. „Lenk mich ab.", flehe ich Vince schon fast an und er versteht. Er wendet seinen Körper so, dass er mich direkt angucken kann und sieht mit tief in die Augen. „Mein Name stammt von den Iren. 'McCain'. Mein Großvater war Ire, er war ein wenig verrückt, er glaubte felsenfest an Kobolde und schwört auch Nessi gesehen zu haben. Vor einem halben Jahrhundert ist er von Irland mit einem riesigen Schiff der 'Napolonia' in See gestochen, eigentlich wollte er nur Fischen mit seiner Crew, doch alles kam anders, er geriet in einen riesigen Sturm, den nur er und der Matrose Vincent überlebten. Vincent war ein ungläubiger, doch während der 9 Monatigen Reise auf offener See, überzeugte mein Großvater ihn, dass es Kobolde gäbe. Als sie nach dieser Zeit an Land gespült wurden, trauten sie ihren Augen kommen. Sie waren in einer riesigen Stadt angekommen. Viel größer als das Fischerdorf aus dem sie kamen und lauter ungläubige gab es dort. Mein Großvater war empört, als sogar manche in dieser Fremden Stadt nicht einmal wussten was Kobolde waren. Die Leute dort sprachen zwar eine ähnliche Sprache, wie mein Grossvater, doch sie waren ganz anders als die Menschen die er kannte. Alle waren ungeduldig und schienen nie Spaß zu haben. Vincent war genauso empört wie Großvater. Diese Menschen hatten es verlernt das leben zu genießen und Gefühle waren überflüssig. Sie waren in New York gelandet. Sie beschlossen wieder zurück nach Hause zu segeln, doch kein Schiff wollte sie mitnehmen,ihr eigenes Schiff war zu sehr zerstört worden und Geld für Reperaturkosten hatten sie nicht. Nach sechs Monaten hielt es Vincent nicht mehr aus,mein Großvater entwickelte sich auch zu einem Gefühlskalten Amerikaner.Vincent bastelte sich selbst ein Koboldkostüm und kletterte das Empire State Building hoch. Die Amerikaner stoppten und sahen zu ihm hoch und stoppten, sie hielten wirklich an und sahen auf. Auch mein Großvater.Er ließ ein großes Banner vom Empire State Building herunter wo in schlechtem Englisch 'Kobolde ist Wahr und ihr haben kein Gefühle.' Stand.Von dem Tag an glaubte jeder in New York an Kobolde, denn wer außer ein Kobold hätte es schaffen können, das ESB heraufzukletten und auch noch so schlecht Englisch zu sprechen?" Er untermalt alles mit seinen Armen „ Also ich glaube nicht an Kobolde.", sage ich leise. Vince lächelt leicht. „Das ist aber nicht wirklich passiert, oder?" „Nein. Mein Großvater ist zwar nach Amerika gesegelt aber das war sein Plan.Sein bester Freund Vincent starb während der Reise an einer Lungenentzündung." „Hat sich auch ehrlich gesagt nicht wirklich glaubwürdig angehört.", murmel ich muss aber schon ein wenig lächeln. „Natürlich nicht, kein Vincent würde freiwillig ein Kobold Kostüm anziehen.", Vince zuckt entschuldigend mit den Schultern und wir sehen uns eine Minute lang einfach nur an.„Vince?", flüstere ich schließlich. „Ja?"„Du solltest wirklich niemals Geschichten schreiben, du bist grottenschlecht." Vince fängt laut an zu lachen, es ist das erste Mal, dass ich ihn lachen höre. Glaube ich.Trotz seiner schlechten Geschichte, hat er mich von meinen Problemen abgelenkt wofür ich ihm unendlich dankbar bin.Plötzlich klingelt es an der Tür, was mich vor Schreck zusammenfahren lässt und Vince lacht wieder.Es herrscht schon fast ein Freundschaftliches Verhältnis zwischen uns, doch eben nur fast. Er verbirgt immernoch etwas und ich weiß nicht was es ist. Auch wenn er im Moment harmlos scheint, kann er ja nicht ohne Grund in der Gruppe von dem schrecklichen Hunter sein. Trotz allem geht eine starke Bedrohung von ihm aus. Eventuell ist er auch von Hunter darauf angesetzt worden, mich zu beschatten und auszuhorchen. Ich darf ihm nicht vertrauen. Peter kommt die Treppe herunter und öffnet die Tür, ohne ein Wort zu sprechen, versteht sich. Sofort kommt eine gehetzte Tess angelaufen, die an der Hand Oliver hinter sich herzieht, der ziemlich verwirrt aussieht. Tess ist total außer Atem und als sie mich umarmt, erdrückt sie mich fast. Ich bin heilfroh, dass sie meiner Nase nicht zu nahe kommt. „Hey Tess.", murmel ich, während ich drohe unter ihr zu ersticken. Ich lache notgedrungen und auf einmal lässt Tess von mir ab und zeigt mit dem Zeigefinger auf Vince „Sie da!", sagt sie in einem barschen Tonfall. Was kommt jetzt? „Sie gehen jetzt sofort mit Oliver in die Küche und unterhalten ihn während ich mich mit unserer kleinen Liv unterhalte." Und das tut er. Kompromisslos. Tess setzt sich neben mich auf das Sofa „Und jetzt erzähl mal Süße." Und das tue ich. Ich fange dort an, wo Olivers Schulleiterin mit mir gesprochen hat und ende hier auf diesem Sofa. Nur das mir Hunter und Vince und wie sie alle heißen bekannt vorkommen lasse ich weg. Das ist mir selber schon gruselig genug, damit muss ich nicht auch noch Tess belasten, die ich mit diesem Gespräch sowieso schon viel zu sehr mit einbezogen habe. Wortlos nimmt sie mich in den Arm und ich muss mich bemühen, die Tränen zurück zu halten, der heutige Tag war einfach zu viel für mich. „Hast du es schon deinem Vater gesagt?", fragt Tess. „Nein." Und ich werde es ihm auch nicht erzählen. Das verdient er nicht. Tess fragt mich ob sie noch irgendetwas für mich tun kann, doch sie hat heute schon genug gemacht und deswegen verneine ich diese Frage. Ich möchte lediglich, dass Oliver heute bei ihr schläft. Heute ist Freitag und Oliver hat morgen keine Schule. Und so fahren Oliver und Tess weg und ich bin wieder alleine mit Vince, Peter und Claire. Vince betritt wieder das Wohnzimmer und sieht mich einfach nur an. So als würde ich ihm leid tun. Doch ich will nicht, dass ich ihm leid tue, ich bin stark und unabhängig, ich brauche kein Mitleid. Peter kommt abermals die Treppe herunter, er hält einen Zettel in der Hand auf dem steht: 'Ihr dürft beide gerne hier schlafen. Das Sofa ist groß genug für zwei.' Ich lächel ihn an, ich habe schon die ganze Zeit überlegt, wo ich hin kann. Zu meinem Vater will ich nicht, in Greys Wohnung sind nur die blöden Jungs die ihm nicht geholfen haben und Tess möchte ich nicht noch mehr aufbrummen. „Vielen Dank!", flüstere ich und Peter nickt. „Na dann machen wir es uns mal gemütlich.", murmelt Vince, auch er klingt ein wenig erschöpft. Ich sehe ihn ungläubig an. Er will doch nicht wirklich auch hier schlafen? Er bemerkt meinen skeptischen Blick und runzelt die Stirn. „Was? Dachtest du ich lasse dich einfach so alleine?" Ja. Das dachte ich, schließlich kenne ich Vince doch kaum! „Fahr nach Hause Vince, es reicht wenn ich hier schlafe. Fahr in dein schönes Haus mit deiner schönen Familie und schlaf in deinem schönen Bett." Ich sage das, als wäre ich eifersüchtig und vielleicht auch ein wenig ironisch. Im nächsten Moment tut es mir auch schon leid so mit ihm geredet zu haben. Ich weiß schließlich nicht, ob er aus einer intakten Familie kommt oder ob er (so wie ich) eine zerbrochene hat. „Liv. Ich bleibe hier." Sein Tonfall lässt keinen Protest zu und so füge ich mich meinem Schicksal. Vince und ich auf einem Sofa. Na das kann ja heiter werden. „Ich muss noch mal eben telefonieren.", sagt er und schon ist er weg. Ich bin versucht ihm nachzugehen und sein Gespräch zu belauschen, schließlich könnte es sein, dass er gerade mit Hunter telefoniert und ihm von der momentanen Lage berichtet. Doch ich lasse es bleiben. Er hat mir heute mit seiner schlechten Geschichte geholfen und vielleicht könnte so etwas wie Freundschaft entstehen, wenn ich nicht so misstrauisch wäre. Als er Minuten später zurück kommt, liege ich schon mit einer Wolldecke auf dem Sofa und habe die Augen geschlossen, nur an seinen leisen Schritten, höre ich, dass er wieder da ist.Sekunden später liegt er auch auf dem Sofa,ein Glück ist es ein großes Ecksofa,so dass wir nicht nebeneinander liegen müssen.Als ich versuche einzuschlafen, stürzen noch einmal all meine Probleme auf mich ein und alles was heute passiert ist,lässt mein Kopf Revue passieren.Ich traue mich zu weinen. Ich vergrabe meinen Kopf in den Kissen, so dass Vince es nicht hört und fange hemmungslos an zu weinen.Hauptsächlich stummes weinen, doch manchmal schleicht sich auch ein kleiner Schluchzer aus meinem Mund. Ich weiß nicht ob Vince es bemerkt, auf jeden Fall bewegt er sich nicht. Ich weiß nicht wem ich trauen kann und wem nicht und diese Ungewissheit macht mich fertig. Ich will nicht mehr das Leben führen, das ich momentan führe. Ich erinnere mich noch an meinen letzten richtig schönen Tag. Ich war 10 Jahre alt. Wir, also meine Eltern, Grey und der erst wenige Wochen alte Oliver, gingen in den Zoo. Grey war ein schlaksiger Teenager, der alle paar Minuten sagte 'Es ist langweilig hier.' Oliver war ganz begeistert von den Schmetterlingen im Schmetterlingsgarten. Mein Vater und meine Mutter stritten die ganze Zeit liebevoll darüber ob sie noch ein Kind wollen oder ob drei Kinder reichen und mir fiel mein Eis runter, für das ich ganze drei Monate gespaart hatte. Trotzdem war es ein wunderschöner Tag.Wir waren glücklich!Während ich über diese Geschichte nachdenke, werde ich immer müder und schlafe schließlich ein. Trotz der schönen Erinnerungen habe ich Albträume. Gefühlte Minuten später erwache ich von einem komischen Lied, als ich im nächsten Moment realisiere, dass es mein Handy ist, verstummt es plötzlich. Ich sehe auf mein Handy. Es ist 23:59 Uhr. Dann sehe ich nach Vince, der noch immer tief und fest schläft. Sofort drücke ich auf Wahlwiederholung der mir unbekannten Nummer, schließlich könnte das Tess sein, die mir sagen wird, dass Oliver etwas schlimmes passiert ist. „Hallo?", meldet sich jemand am anderen Ende der Leitung, der nicht Tess ist.„Hank?Hast du Neuigkeiten? Wie geht es Grey? Was ist?",sprudelt es aus mir heraus. Ich bin automatisch zum 'du' übergegangen,ich will den potenziellen Lebensretter meines Bruders nicht siezen.

Kapitel 2 - Vince

 

Als ich aufwache, sehe ich zuerst eine wild im Zimmer herumlaufende, telefonierende Liv. Sie hat heute Nacht geweint und hatte Albträume, ich wünschte ich hätte ihr helfen können, doch ich wusste nicht wie. Schließlich weiß sie nicht mehr wer ich bin und ich will es ihr nicht erzählen, es ist besser für sie, wenn sie es nicht weiß. Sie hat schon so genug um die Ohren. Trotz dem ganzen Scheiss, der um sie herum passiert, ist sie relativ ruhig geblieben und es erstaunt mich. Sie hat einen atemberaubend starken Charakter. „Nur eine Gehirnerschütterung?..... Er ist schon wach?.... Du bringst ihn morgen früh nach Hause?..... Oh danke, danke, danke Hank. Ich weiß gar nicht wie ich dir für alles danken kann! Vielen Dank!”, höre ich Liv in diesem Augenblick sagen, sie hört sich von Wort zu Wort euphorischer an. Sie legt ab und als sie sich zu mir umdreht hat sie ein Lächeln im Gesicht. Es ist schön, sie mal wieder lächeln zu sehen. „Es geht ihm besser, morgen kommt er wieder hier her und dann darf er zur Beobachtung noch drei Tage hier wohnen.” Ich nicke und lächel sie an. Ein Glück geht es Grey gut, ich weiß nicht was mit ihr passiert wäre, wenn es nicht so ausgegangen wäre. Ich bin versucht sie in die Arme zu nehmen, doch ich weiß dass sie denkt mich erst seit ein paar Stunden zu kennen, während ich mich fühle als würde ich sie schon seit Jahren kennen. Was ja auch stimmt. „Das freut mich für euch Liv.” Liv lächelt nur noch einmal zaghaft und legt sich dann zurück in ihren Deckenberg. Sie hat heute Nacht auch gefroren, mit ihren Albträumen konnte ich ihr nicht helfen, doch mit der Kälte schön und so liegt sie jetzt unter der rot weiß karierten Decke, die ich immer für Notfälle in meinem Auto aufbewahre. Sie scheint es nicht zu bemerken. Liv schlägt schnell wieder ein. Das weiß ich, weil sie leicht schnarcht, was ehrlich gesagt mein Einschlafen erschwert. 

 

Als ich am nächsten Morgen aufwache ist sie weg. Ich sehe nur Peter der zusammen mit Hank, Tess, Oliver und Claire sitzt und frühstückt. Sie lachen alle ausgelassen. Die erste die mich bemerkt ist Tess, sie klopf mit ihrer faltigen Hand auf den Stuhl neben sich. „Na kommen Sie schon, junger Mann. Leisten sie einer alten Dame Gesellschaft.” Widerwillig muss ich grinsen und stehe ich auf und setze mich auf den weich gepolsterten Stuhl neben sie. „Nennen wir es doch lieber reif, statt alt.”, sage ich und sie schlägt mir spielerisch aufs Knie. Mir gegenüber sitzt Oliver, rechts neben ihm Claire und neben Claire sitzt Hank, daneben wiederum Tess, die neben mir sitzt. Zu Olivers Linken hat Peter Platz genommen. Und sie alle starren mich an. Als wäre ich die Hauptattraktion eines Zirkusses. Hank verschränkt die Hände auf dem Tisch und und Peter hält mir den Korb mit den Brötchen hin, ich nicke ihm dankend zu und nehme mir eins heraus. „Erzählen Sie mal, Vince.”, fängt Hank an zu sprechen. „Wieso kümmern Sie sich denn so sehr um Liv und Grey, wenn sie doch eigentlich in der gegnerischen 'Mannschaft” er malt Anführungszeichen in die Luft. „sind, wenn ich das richtig verstanden habe.” Genau diese Frage werden sich Hunter und die anderen wohl auch gerade stellen. „Das ist eine lange Geschichte.”, rede ich mich heraus und der ganze Tisch sieht mich vorwurfsvoll an. „Na, wir haben doch Zeit!” Oliver grinst mich an und ich bemerke eine Zahnlücke, dort wo sein Schneidezahn hätte sein sollen. Ich lächle, versuche mir Zeit zu verschaffen um irgendeine Lüge zu erfinden. Die Wahrheit wollen die hier sitzenden ganz bestimmt nicht wissen und ich bin auch nicht bereit sie Ihnen zu erzählen. „Hauptsächlich geht es mir um Zivilcourage. Ich bin vielleicht nicht auf der Seite, die ihnen als gut bekannt ist, dennoch bin ich keiner von den bösen. Außerdem muss ich jetzt los, es tut mir leid. Grüßt Liv von mir und gute Besserung an Grey.” Rede ich mich nun heraus, viel zu überhastet stehe ich auf und nicke allen noch einmal zu. Ich würde zwar Liv noch gerne Tschüss sagen, aber ich denke sie möchte momentan lieber mit ihrem Bruder alleine sein. 

 

Natürlich verhalte ich mich unhöflich, was mir auch außerordentlich leid tut, doch ich muss wirklich los. Hunter wird mich umbringen, wenn ich noch länger weg bleibe. Gerade als ich die Tür öffne und hinausgehen möchte, halt mich eine kleine Hand an der Jacke fest. „Vince?”, fragt Oliver schüchtern. „Ja?” „Was meinst du? Wird Grey wieder gesund? Weil wenn nicht, dann müssen Liv und ich wieder zu Dad und dann wird Liv wieder so unglücklich sein. Und da drinnen will mir niemand die Wahrheit sagen. Nicht einmal Tess.” Ich fahre mir durch die Haare, dunkel kann ich mich daran erinnern, dass Liv heute Nacht etwas von 'Nur eine Gehirnerschütterung' und 'Er wird wieder gesund, gefaselt hat. Ich knie mich etwas hin, so dass ich in Olivers grüne Augen sehen kann. „Ja, es wird vielleicht etwas dauern aber Grey wird wieder gesund, ihr müsst nicht zu eurem Vater.” „Danke Vince.” Oliver lächelt mich traurig an und ich erwidere es. „Ciao Kumpel. Du packst das.”, sage ich, öffne die Tür und verlasse das Reihenhaus. Oliver winkt mir zum Abschied hinterher.

 

Als ich die Straße in der ich Teilzeit wohne betrete, ist es so als würde ich den Ärger spüren, den ich gleich bekommen werde. Die Luft wirkt wie elektrisch aufgeladen. Ich betrete das Treppenhaus und die Stille kommt mir bedrohlich, wenn auch friedlich vor. Doch natürlich, sobald ich die Wohnung betrete, ist es mit der Stille vorbei, sofort kommt Hunter angerannt. Das wird ein Spaß. Er kommt geradewegs auf mich zu und schubst mich gegen die Tür, dann stützt er die Hände an meinen Schultern ab, so dass ich gegen die Tür gedrückt werde, ohne Chance zu entkommen. Zumindest keine ohne die ich draufgehen würde. Hunters Hände sind schwitzig und sein Mundgeruch deutlich erkennbar wenn er mich anatmet. Ich bin versucht ihn von mir zu schleudern, doch ich beherrsche mich. „Vince, wo zum Teufel warst du bitte?” Lügen ist zwecklos, Hunter hat seine Augen und Ohren überall. „Ich habe Liv und ihrem Bruder Grey geholfen.” Meine Stimme hört sich stark an, sie zittert nicht beim Reden, denn ich habe keine Angst vor Hunter, er kann vielleicht viele einschüchtern aber nicht mich, 

 

ich bin zu wertvoll für ihn, als dass er mir etwas antun könnte. „Wieso verdammt nochmal hilfst du dieser kleinen, dreckigen...” Ich lasse Hunter seine Beschimpfungen nicht zu Ende führen. „Weil es das richtige war. Aber keine Sorge Hunter, das war eine einmalige Sache.” „Das will ich hoffen. Für dich.” Endlich lässt Hunter von mir ab und ich gehe in mein Zimmer, dass ich mir mit John teile. Dieser liegt auf seinem Bett und hört Musik, als er mich bemerkt, nimmt er die Stöpsel aus den Ohren und kommt auf mich zu. „Jo Vince. Lass das nicht Hunter hören aber das was du gestern getan hast, war das richtige. ” er schlägt bei mir zur Begrüßung ein. „Ja, immerhin habe ich etwas getan.” Jetzt sieht John zu Boden und druckst herum. „Ja... Sorry Bro... Aber wenn ich mich mit Hunter anlege, macht er Hackfleisch aus mir, das weißt du. Ich bin nicht du. ”

Das stimmte. „Ist schon okay.” Ich gehe an ihm vorbei und lasse mich auf mein Bett fallen. Unser Zimmer ist eher Spärlich eingerichtet, es gibt einen großen Schrank in dem ein paar meiner Klamotten liegen, sowie die zwei Betten und einen Schreibtisch mit Stuhl. Der Boden ist mit blauem Teppich ausgelegt, der an manchen Stellen bereits Verfärbungen aufweist. Die Wände sind weiß, kahl. Lediglich über Johns Bett hängen ein paar Poster von Südamerikanischen Fußballern und eins von Usain Boldt. Johns großes Vorbild. Ich weiß, dass er noch mehr sagen und fragen will, über das was gestern passiert ist, doch er spürt wohl, dass ich keine große Lust verspüre es ihm zu erzählen und so hält er die Klappe. Ich lege mich hin, schließe die Augen und versuche an gar nichts zu denken. Diese Ruhe genieße ich etwa eine Stunde lang, bevor Hunter (ohne anzuklopfen) in mein Zimmer stürmt. „Vince ich habe einen Job für dich.” 

 

Der Typ der vor mir steht trägt einen grauen Anzug und in der linken Hand hat er eine graue Aktentasche. Er sieht in sein Handy, sein Kopf ist gesenkt. Er ist so abgelenkt, dass er mich kein bisschen bemerkt und das wird vermutlich der fatalste Fehler seines Lebens sein. 

 

Noch ahnt er nicht, was ihm gleich bevorsteht. Mit jedem Schritt mit dem ich mich ihm näher komme, kommt mir die Situation absurder vor. Mein Vater war Polizist -oder ist es immernoch- und sein Sohn ein Schwerverbrecher. Tja der Apfel fällt eben doch weit vom Stamm. Ich fühle mich unbehaglich, ich hasse diesen Job. Hunter ist zu auffällig, er kann diese Jobs nicht erledigen, John und die anderen sind zu unerfahren und er hat nichts gegen sie in der Hand, er kann nur mich beauftragen. Der Mann, der jetzt nur noch wenige Meter von mir entfernt steht, merkt noch immer nichts von der Lage in der er sich befindet. Wie die Menschen so ferngesteuert mit einem Handy in der Hand sein können ist mir immernoch ein Rätsel. Ich straffe die Schultern, setze eine böse Miene auf und brülle in tiefem, bedrohlichen Tonfall: „Sir?” Dies ist der Moment wo er sich umdreht, einer der wichtigsten Momente, ich schlage ihm mit der Faust mit voller Wucht ins Gesicht. Das ist eine Warnung. Meine Hand schmerzt, ich hasse diesen Job. Der Mann, der natürlich nicht mit meiner Attacke gerechnet hat, fällt hin. Ich sehe mit gespielt wutverzerrtem Gesicht auf ihn herunter. Meine Fäuste habe ich geballt und ich gehe mit kleinen Schritten immer weiter auf ihn zu, während er eine Hand vors Gesicht haltend versucht vor mir wegzurobben. „Ich wollte bezahlen, wirklich, aber...” Ich schlage seine Hand weg. „Aber? Was wird wohl der kleine Tony denken, wenn auf einmal irgendwelche Mörder vor seiner Tür auftauchen weil sein Daddy sein Schutzgeld nicht bezahlt hat?“ Ich ekel mich vor mir selbst. Ich bin ein grausames Monster. Aber wenn ich das hier nicht mache, wird Hunter meiner Familie etwas antun. Er hat es zwar nie explizit gesagt, aber er hat es angedeutet. Und die Angst, die ich verspüre, wenn Hunter droht meiner Familie etwas anzutun, hat der Mann hier jetzt gerade. Ich fühle mit ihm, doch ich muss es tun. Ich trete ihm in den Bauch. „Morgen Abend komme ich genau an diese Stelle, wenn das Geld nicht da ist. Wird wohl Tony bezahlen müssen.” 

 

Mit diesen Worten drehe ich mich um und gehe, lasse den fast Kahlköpfigen, schon etwas in die Jahre gekommenen Mann, einfach dort liegen. Oft Frage ich mich, warum sie mich nicht anzeigen. Ich meine klar, ich trage eine Skimaske und niemand weiß meinen Namen aber ich denke der wirkliche Grund ist, dass sie Angst haben. Und das ist schrecklich. 

 

Als ich wieder 'zuhause' ankomme, kommt mir ein grinsender Hunter entgegen und schlägt mir auf die Schulter. „Da ist ja unser kleiner Unruhestifter! Na, wie wars? Hast du das Geld?” Ich erzähle ihm kurz und knapp was passiert ist, Hunter nickt nur und verschwindet dann. John und Tyler kommen aus ihren Zimmern und holen sich Bier aus dem versifften Kühlschrank. „Willst du auch?”, fragt Ben und ich verneine. Sie setzen sich aufs Sofa und sehen Football, während ich immernoch im Flur stehe und mich selbst bemitleide. Ich fühle mich erbärmlich, gerade als ich wieder gehen möchte, kommt Caren, Hunters Schwester, rein. Als sie mich sieht, fängt sie sofort an zu lächeln und ihre rot lackierten Fingernägel streichen über meinen, zugegebenermaßen ziemlich muskulösen Brustkorb. Ich nehme ihre Hand und nehme sie von mir herunter. „Na Vince, Bock was zu machen?” Obwohl ich Caren manchmal unmöglich finde, kann man manchmal ganz gut mit ihr reden, wenn man zum Beispiel den Rat einer Frau braucht, außerdem ist sie unheimlich gut im Pokern. Fast so gut wie ich. „Später okay? Ich habe noch etwas zu erledigen.” „Du willst aber nicht wieder zu diesem kleinen Mädchen oder?” Ich denke sie meint Liv. „Nein, ich muss zu meiner Familie.” Nicht ihre Antwort abwartend, gehe ich in mein Zimmer und greife unter meine Matratze wo ich mein Geld verstecke, ich nehme mir ein paar Scheine und verlasse das Haus.

 

Die Wohnung in der meine Mom, Timothy und auch teilweise ich wohne ist verhältnismäßig klein. Noch kleiner als die von Hunter. Doch viel sauberer und gemütlicher. Überall hängen Bilder, die an glückliche Tage erinnern und auf allen ist mein Vater abgeschnitten. Von mir höchst persönlich. Timothy kommt auf mich zugelaufen und nimmt mich in die arme, ich schleudere ihn herum. 

 

„Hey grosser.”, sage ich lachend und er stimmt mit ein. Mein Bruder ist ziemlich schüchtern für sein Alter. Ich weiß nicht wieso, schließlich bin ich alles andere als schüchtern und auch meine Eltern sind es nicht. Vielleicht liegt es an dem frühen Verlust seines Vaters, ich habe versucht ihm ein guter Ersatzvater zu sein, aber das ist nicht einfach, ich war schließlich selbst noch ein Teenager als Dad verschwand. „Wo ist Mom?”, frage ich Tim. „Die schläft.” In diesem Moment sehe ich Mom in der Tür auftauchen, total verschlafen lächelt sie mir entgegen. „Vince.”, murmelt sie nur und grinst mich an. Trotz ihrer ständigen Übermüdung und den drei Jobs die sie annehmen musste um und über Wasser zu halten ist sie noch immer die liebevolle Mutter mit dem gleichen gutmütigen Lächeln, die mich großgezogen hat. Ich lasse Timothy herunter, gehe auf sie zu und reiche ihr unauffällig das Geld. Ich überrage sie Mittlerweile um einen Kopf, so dass ich mich runterbeugen muss, damit sie mir einen Kuss auf die Wange geben kann. „Ach Vince, du weißt doch, dass du das nicht machen musst.” „Ich weiß, aber ich möchte es Ma.” Mom denkt ich verdiene mein Geld legal. Und ich lasse sie in dem Glauben. Ich fühle mich mies, dass ich sie immer wieder so belügen muss, aber sonst würde sie das Geld nicht annehmen und wenn sie das Geld nicht annimmt, dann hat sie nicht genug Geld um das Leben von ihr und Timothy zu sichern. Trotz ihren drei Jobs. Ich wünschte ich könnte mehr für Sie tun, ich wünschte ich müsste sie nicht anlügen. Ich verdiene ihren Stolz nicht. Heute ist ein scheiss Tag. Ich verabschiede mich zwanzig Minuten später, nachdem ich mich noch eine Weile mit Mom darüber unterhalten habe wie es weitergeht.

Mom: Aber du musst doch studieren, du hast ein Stipendium.

Ich: Ja aber es geht momentan nicht.

Mom: Aber..

Ich: Lass gut sein Ma, ich werde studieren aber noch nicht jetzt. 

Und mit Timothy Lego gespielt habe. Eigentlich möchte ich nur nach Hause, doch meine Füße tragen mich in eine andere Richtung und plötzlich, ohne es bemerkt zu haben stehe ich vor dem Haus der Lincolns. Tess macht mir auf. 

 

„Ach da ist ja unser kleiner Ausreißer wieder.” Sagt sie und lacht. Ich habe das Gefühl immer wenn ich hier ankomme ist alles in Ordnung, hier herrscht heile Welt, hier fühle ich mich sicher. Als ich nun zum dritten Mal in zwei Tagen den Eingang betrete sitzen alle im Wohnzimmer. Alle. Peter, Hank, Oliver, Claire, Tess, Liv und auch Grey. Und nun auch noch ich. Im ersten Moment habe ich das Gefühl, dass Peter und Hank doch viel zu überlastet sind mit dem Besuch, doch sie scheinen sich einfach nur zu freuen, alle lachen miteinander, doch als sie mich sehen verstummen sie. Grey, der einen Verband um sein Handgelenk und seinen Kopf hat, kommt auf mich zu. Er zieht mich mit in die Küche, alles ist mucksmäuschenstill. In der Küche verschliesst er die Tür. Grey humpelt und ist blass. Will er sich etwa mit mir prügeln, ich kann mich doch nicht mit einem Halbtoten anlegen, oder? „Hör zu, Liv hat mir erzählt, was du gestern für mich getan hast.” Während er spricht, stützt er sich mit einer Hand an einem Stuhl ab. „Und ich bin dir sehr dankbar dafür, aber ich möchte dich bitten, dich ab sofort von Liv fernzuhalten. Wenn Hunter bemerkt, dass dir etwas an ihr liegt -und das tut es, das sehe ich- dann wird er sie gegen dich und wieder gegen mich verwenden und das kann und werde ich nicht zulassen, haben wir uns verstanden? Halt dich von meiner Schwester fern.” Trotz seines nicht so imposanten Erscheinungsbildes strahlt Grey noch immer eine unbändige Macht aus und ich kann mir vorstellen, dass mache wirklich einknicken wenn er mit Ihnen redet. Ich widerspreche ihm nicht, mir liegt etwas an Liv, da hat er recht. Nur weiß er nicht, was uns alles verbindet, das ist vermutlich mehr als er sich vorstellen kann und will. „Ja Grey, ich möchte auch nicht, dass Liv in Gefahr gerät. Wenn du meinst es wird sie schützen, wenn ich mich von ihr fernhalten, dann werde ich das tun.” Ich Lüge nicht, alles was ich sage meine ich ernst. Wenn es Liv beschützt, wenn ich ihre Wege nicht mehr Kreuze, dann ist es mir das wert. „Eine Frage noch.”, Greys Stimme klingt nun ein wenig besänftigt. 

„Habt ihr die Kette? Sie ist uns wichtig.” Ich schüttele den Kopf. „Ich weiß nichts davon, es kann aber sein, dass Hunter alleinige Sache gemacht hat.” Grey nickt und wir verlassen die Küche, die für mich mittlerweile ein etwas eigenartiger Raum geworden ist. Erst habe ich hier Livs Nase zum zweiten Mal gerade gebogen, dann musste ich Oliver hier unterhalten und mir eben Greys Drohungen anhören. Dieser Raum hat bisher so gar nichts mit Essen zu tun. Als wir wieder ins Wohnzimmer kommen, ist immernoch alles still, nur Oliver und Claire flüstern einander zu und glucksen vor sich hin. Ich wende mich zum gehen, doch Grey sagt leise „Bleib hier, ein letztes Mal.” Und so gehe ich ins Wohnzimmer, alle starren mich Neugierig an. Doch von mir werden sie nichts erfahren. Ich sehe zu Liv, die mit einem Pflaster über der Nase am Rand des Sofas hockt, sobald ich sie ansehe, weicht sie meinem Blick aus. „Dürfte ich mal mit Liv in der Küche” wo auch sonst? „alleine reden?” Ich wende mich an Peter und Hank, während ich das sage aber in Wirklichkeit ist meine Frage an Grey gerichtet, als dieser nicht protestiert und sich Peter und Hank nicken machen wir uns in die Küche auf. Liv folgt mir nur widerwillig. 

 

Nachdem ich die Küchentür zugemacht habe, herrscht zunächst peinliche Stille. Ich weiß nicht mal genau, wieso ich Liv gebeten habe mitzukommen. Gestern war die Stimmung zwischen und locker und eigentlich schon freundschaftlich, doch heute hat mich wieder diese Anspannung im Griff, die mich immer umgibt wenn ich Liv sehe. Ich fahre mir durch die Haare und Liv sieht mich Erwartungsvoll an. „Was ist Vince?”, fragt Vince. Sie klingt nicht sauer oder genervt, sondern so wie ich mich fühle. Angespannt. Ich gehe zum Fenster und sehe heraus. „Liv...” fange ich an, kann meinen Satz jedoch nicht zu Ende führen. Langsam bewegt sie sich auch zum Fenster und stellt sich neben mich. Unsere Ellenbogen berühren sich und ich genieße es neben ihr zu stehen, einfach nur neben ihr zu stehen. Nach diesem Tag werde ich sie nicht Wiedersehen. Sie verdient etwas besseres als mich, ich bin ein Sklave der unter den Fesseln seines Meisters grausame Dinge ausübt. 

Ich will sie durch meine Anwesenheit nicht in Gefahr bringen. Ich wende meinen Blick ihr zu. Dann nehme ich ein Stück Zewa und schreibe meine Handynummer darauf. „Meine Handynummer.”, flüstere ich, ich möchte diese kostbare Stille nicht zerstören. „Wenn irgendwas passiert ist, ruf mich an.” Ich drücke ihr das Blatt in die Hand und gehe zur Tür. Plötzlich spüre ich eine Hand auf meiner Schulter, ich drehe mich um. Liv sieht mich an und ihre Grünen Augen blicken traurig in meine, ich denke sie weiß, dass dies ein Abschied ist. Auf einmal umarmt sie mich, sie ist gerade einmal so groß, dass mir ihr Kopf bis zur Schulter reicht und dort legt sie diesen auch ab. „Danke für alles Vince.” Ich bin völlig perplex, damit habe ich nun wirklich nicht gerechnet. Zunächst hängen meine Hände einfach nur nutzlos an mir herunter, doch als ich realisiere, dass dieser warme Körper in meinen Armen Liv ist, Schlinge ich die Arme um Sie und vergrabe mein Gesicht in ihrem Haar. Zumindest für eine kleine Weile, möchte ich diesen besonderen Moment genießen. Als ich mich von ihr löse, gehe ich ohne ein weiteres Wort aus der Tür und verschwinde somit auch für immer aus ihrem Leben. Während des Heimweges kreisen meine Gedanken immer wieder um diese eine Umarmung, für andere mag es vielleicht nichts besonderes sein jemanden zu umarmen, doch für mich hat es sich nach einer Explosion in meinem inneren angefühlt. In der gesamten Zeit in der ich sie kenne, haben wir uns nicht einmal umarmt. Damals waren wir entweder zu klein oder ich habe mich nicht getraut. Ich habe das Gefühl, ich könnte süchtig danach werden, doch das darf ich nicht. Liv ist zu besonders, Liv hat besseres verdient als den Mist den sie im Moment durchmachen muss und wenn ich sie öfter sehe, wird das alles nur schlimmer werden. Nie besser. Sie ist ohne mich besser dran. Auf einmal spüre ich mein Handy in der Hosentasche vibrieren, jemand ruft mich an. Sofort fische ich es heraus und gehe hastig ohne auf den Bildschirm zu gucken ran. „Ja?” 

 

„Verdammt, wo bist du schon wieder?” Hunter klingt sauer und mir ist mal wieder klar, dass es ein großer Fehler war Liv noch einmal sehen zu wollen, Hunter bekommt alles mit, er ist überall. Jetzt ist Liv Dank mir wieder in Gefahr. Toll gemacht Vince, wirklich ganz toll. „Bin gleich da.”, murmel ich und lege dann auf, nicht die Antwort Hunters abwartend. Ich freue mich jetzt schon auf den Ärger der mich in meinem angeblichen Zuhause erwarten wird. 

 

„Was hast du dir dabei gedacht? Huh Vince? Was?” Hunter steht in der Mitte des Raumes und funkelt mich wütend an. „Wahrscheinlich nichts, wie immer.” Ich funkele zurück. Auf dem Sofa sitzen Tyler, John und Andrea und machen große Augen. „Wir sind deine Familie Vincent und was machst du? Du verrätst uns an den Feind?” Ich habe keine Angst vor Hunter, ich bin einfach nur genervt von ihm? „Familie?”, Schreie ich ihn an. „Wer ist hier eine Familie? Das hier? Das hier soll eine Familie, die seine Mitglieder bedroht seine richtige Familie umzubringen? Was ist das für eine Familie, die sich gegenseitig Krankenhausreif prügelt? Was ist das für eine Familie, wo es einen Anführer gibt, der alle tyrannisiert? Das hier ist keine Familie Hunter. Ein Scheiss ist das. ” Hunter fackelt nicht lange, mit der blanken Faust schlägt er mir ins Gesicht und trifft meine Lippe, die sofort anfängt zu Bluten. Ich habe mir durch den Schlag auf die Lippe gebissen und zwar so richtig. 

„Weißt du was Hunter? Du kannst mich mal, such dir einen neuen Geldeintreiber.” Ich lasse mich nicht auf sein Niveau herunter und fange eine Prügelei an, in den letzten beiden Tagen ist bereits genug Blut geflossen, ich habe das Gefühl mein Leben besteht nur noch aus Prügelei und dem Blut, das an meinen Händen klebt und das ich in meinem Mund schmecke. Ich weiß, dass ich nicht einfach aussteigen kann, das geht nicht, schließlich wäre ich ein Verräter, aber ich kann auch nicht mehr in dieser schrecklich versifften Wohnung mit völlig versifften Leuten bleiben. „Kommt, wir gehen.”, sage ich an John und die anderen gewandt, in der Hoffnung, dass sie mir folgen, schließlich kann Hunter mir nichts anhaben ohne sein Fußvolk. Doch alle starren mich nur ungläubig an, ich sehe es in ihren Augen, sie alle fragen sich ob ich sie nicht mehr alle habe. Dann drehe ich mich um, ohne mich noch einmal umzusehen gehe ich aus der Tür und vergrabe meine Hände in den Taschen. Ich kann nicht glauben was heute alles passiert ist. Von einem auf den anderen Tag liegt mein gesamtes Leben in Trümmern. Na gut vorher war es auch nicht so toll, aber immerhin wusste ich wo ich hingehöre und wo ich hinkann wenn ich einfach nur weg will, jetzt habe ich gar nichts und ohne die schmutzige Arbeit hat auch Ma nicht genug Geld für Ihr und Timothys Leben. Obwohl Hunter für mich gestorben ist, wünschte ich, ich könnte wieder zurück, meiner Familie zu liebe. Ich wandere minutenlang durch die nassen Straßen und setze mich dann auf eine alte, halb vermoderte Parkbank, auf der ein kleines Messingschild auf einem der Bretter befestigt ist ' Hier saßen in Liebe Paul und Mary' steht darauf. „Ich frage mich, wann du wieder zurückkommst.” John sitzt auf einmal neben mir, da ich tief in meinen Gedankengängen vergraben war, habe ich ihn noch bemerkt. Er sieht mich an und beunruhigt mich dadurch, Hunter hätte ihn geschickt haben können um mich auszuschalten, schließlich vertraue ich John von den ganzen Vollidioten am meisten. „Nie.”, antworte ich und wir beide wissen, dass das nicht stimmt. Ich bin ohne Hunter nichts. Ich habe kein Geld, keine Unterkunft, vermutlich auch bald kein Leben mehr, so traurig das auch klingt, es ist die Wahrheit. Wir schweigen. Aber es ist keine unangenehme Stille, es ist eher eine Stille, die auf den momentanen Frieden hinweist und dass er jeden Moment gebrochen werden könnte. Hunter ist schließlich nicht umsonst so gefürchtet. Mein ganzer Körper ist angespannt, jederzeit darauf vorbereitet zu parieren, falls John mich angreift, doch er tut es nicht und ich denke auch nicht, dass er es noch machen wird. „Du weißt, dass er dich braucht.” Ich nicke. „Du weißt, dass er dich umbringen wird, falls du nicht zurückkommst.” 

Das alles sind keine Fragen, es sind Aussagen. Tatsachen. Doch noch einmal so ausgesprochen kommen Sie mir unglaublich Real und Angsteinflößend vor. Ich bin kein Mann der Angst, doch ich schätze vor dem Tod darf man sich fürchten. Mut bedeutet schließlich Angst zulassen zu können. John wiegt sich hin und her, ich weiß dass er etwas vor hat, dass er mir etwas sagen muss, was er nicht sagen will oder etwas tun muss, was er nicht tun will. Ich spüre sein Unbehagen und es mischt sich mit meiner Angst vor dem Tod. Der Wind bläst eisig um meine Schultern und ich weiß nicht wie lange wir hier noch sitten werden, gefühlte Stunden verbringen wir bereits auf dieser Bank. Menschen gehen auf und ab, Kindet stolpern und sammeln Kastanien. Alles scheint so friedlich, so normal, doch das kommt mir wie blanker Hohn vor. Normale Männer in meinem Alter sitzen grad irgendwo in ihrer Studentenverbindung und planen die Party für heute Abend und ich sitze hier und frage mich wie lange ich wohl noch leben werde. Theoretisch müsste ich froh sein, dass dieses grässliche Leben das ich führe bald zu Ende sein könnte, doch ich bin es nicht. Wieso sollte ich auch? Es gibt durchaus Dinge für die es sich zu leben lohnt. Meine Ma, Timothy und... „ Er sagt wenn du nicht zurück kommst, wird er ihr was antun.” Ein Stich fährt durch mein Herz. Ist es denn so offensichtlich, dass Liv mir etwas bedeutet? Für alle Welt? Ich schließe die Augen und lasse meinen Kopf nach hinten sinken, dieser Tag ist einfach zu viel für mich. „Es tut mir leid Vince.” Ich antworte nicht, halte meine Augen immer noch geschlossen und wir schweigen wieder, dann stehe ich auf. „Okay, lass uns gehen.” Schweigend gehen wir in die siffige Bude, von der ich dachte ich müsste sie nie wieder betreten, zumindest für eine Minute. Der einzige der im sogenannten Wohnzimmer, welches aber eher den Namen Bierzimmer verdient, sitzt ist Hunter. Er grinst mich mit seinem schmierigen Lächeln an. „Hallo Vince. Haben wir uns beruhigt?” Er klappert mit seinen Fingern auf dem Tisch vor ihm herum. Ich hasse diesen Typen. „Ist okay Hunter. Ich habe es verstanden.”„Guter Junge.” Ich verschwinde in meinem Zimmer, will mir den Müll den er von sich gibt nicht mehr anhören, John folgt mir. „Hey Mann, du hast die richtige Entscheidung getroffen.” Ich lache ironisch auf. „Hätte ich die andere getroffen wären mindestens drei Menschen gestorben.” „Ja eben.” John lächelt mich mitfühlend an, doch ich will sein Mitleid nicht, so unmännlich sich das jetzt auch anhören mag, ich brauche ich jetzt einen Freund, der bei mir ist und mich unterstützt und trotz allem, weiß ich, dass ich den in John habe. Ich schließe die Tür unseres Zimmers. „Ich werde Liv nie wieder sehen.” Ich sehe John direkt in die Augen und er schüttelt nur den Kopf. „Ist besser so Bro, sie weiß das von damals nicht mehr, oder?” Ich schüttele den Kopf „Nein und das ist vermutlich das beste so. Die Erinnerungen an diese Nacht müssen schrechlich sein, wir können froh sein, dass sie mit dem Kopf auf den Stein gefallen ist. Sonst säße vermutlich nicht nur Hunter jetzt im Knast.” John schüttelt den Kopf, er ist genauso angeekelt und schockiert von dem was wir bisher machen mussten, wie ich. Ich setze mich neben ihn aufs Bett und vergrabe mein Gesicht in meinen Händen, so ein scheiss Tag! Ich brauche geschlagene fünf Minuten um mich wieder in den Griff zu bekommen, ich streiche mir mit den Händen durch die Haare, nachdem ich sie von meinem Gesicht gelöst habe. „John? Tust du mir einen Gefallen.” Jetzt regt sich John, der die letzten Minuten schweigend neben mir gesessen hat. „Normalerweise würde ich jetzt sagen: Nein, mach deinen Scheiss alleine, du kennst mich ja. ” John grinst mich verschmitzt an. „ Aber Kumpel, du siehst so beschissen aus, für dich würde ich gerade alles machen.” Ich lache kurz, eher aus Frustration als aus Belustigung aber immerhin. „Kannst du ab und zu nach Liv gucken? Damit ich weiß, dass es ihr gut geht?” Ich sehe keine Emotionen in Johns Gesicht, bis er anfängt zu stöhnen und sich die Augen reibt. „Man Bro, dich hat's echt erwischt, was? Kenne dich gar nicht so, bist ja ein richtiger kleiner Softy geworden.” „Klar weil Softies ja so oft Mitten am Tag Leute verprügeln und bedrohen.” Auf meinen Lippen liegt ein Lächeln, doch meine Stimme klingt bitterernst. John runzelt die Stirn, anscheinend weiß auch er keine Antwort darauf. ,, Ich machs. Aber es gibt eine Bedingung." Ich nicke nur und John sieht es als Zeichen weiterzusprechen. ,,Erstens du erzählst mir irgendwann die Wahrheit darüber, was zwischen dir und Liv wirklich vorgefallen ist. Es muss nicht heute sein, du kannst auch nächste Woche mit mir darüber reden, aber mach es. Und zweitens lässt du dich auich einmal von mir ablenken. Bro, dein Leben besteht nur noch daraus Aufträge von Hunter beantworten und  hier rumgammeln." Ich lasse mir Johns Angebot nicht lange durch den Kopf gehen. Er hat Recht und das wird mir erst in dieser Sekunde bewusst. Das einzige was ich den ganzen Tag mache, ist Arbeiten, mir Gedanken machen, schlafen, essen. Und das jeden Tag. Immer und Immer wieder. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte mal etwas nur gemacht habe, weil es mir Spaß macht, aber das kann es doch auch nicht sein. Ich halte John die Hand hin und John schlägt ein und grinst.

,,Oh Bro, das wird ein Spaß, du weißt nicht auf was du dich da eingelassen hast." Ich lächle ihn an. Nein, da habe ich wirklich keine Ahnung. John hat nur Scheiße im Kopf. Seit ich ihn kenne baut er einen Mist nach dem anderen und ich muss zugeben, ich bin dem nicht abgeneigt. Früher als ich kleiner war und noch nicht Mitglied dieser verkorksten Gruppe, war ich auch für nichts zu schade und habe bei allem mitgemacht. Ich denke die Jahre hier haben mich hart gemacht, ich bin Spaßresistent geworden und das muss sich dringend ändern.

,,Wir fangen klein an.", sagt John. ,,Und zwar heute."

,,Hast du auch vor mir zu sagen, was genau wir machen?"

,,Nein. Sonst wäre es ja nicht mehr spannend."

Ich lache heiser. Die Federn des Bettes, auf dem wir sitzen, quietschen. John springt auf und schmeißt sich seine blaue Jacke über und verlässt das Haus, ich folge ihm und muss sagen: Ich habe so richtig Bock darauf.

 

Zwanzig Minuten später sitzen wir in einem kleinen Café um die Ecke und trinken Kaffee. Das Café ist sehr schön. Es ist wie im Industriestil eingerichtet, an manchen Ecken ragen sogar Rohre aus der Decke und überall stabilisieren Holzbalken die Decke. Es gibt keine Stühle, lediglich Bänke auf denen beige, sehr gemütliche Kissen liegen. Auch die Bedienung hier ist sehr freundlich, es scheinen hauptsächlich junge Studenten zu sein, die hier Aushelfen. Man könnte sagen, es ist ein Mix aus Urig und Industrie, auf jeden Fall ist es sehr gemütlich, dennoch frage ich mich was das hier soll, John sagte schließlich, wir erleben etwas und in einem Café sitzen kann ich -so schön es hier auch ist- auch selber und alleine.

,,Okay John. Jetzt mal ehrlich. Was wollen wir hier? Es ist schön, keine Frage, aber war das schon alles?" John grinst mich abermals verschmitzt an, sein Markenzeichen. Ich frage mich oft was so alles in seinem Kopf los ist. Er ist nicht dumm, dennoch ist er bei Hunter gelandet. Ich habe ihn nie gefragt wie und wieso er nun dort ist, ebenso wenig wie er mich. Doch ich bin auch nicht dumm und auch ich bin jetzt dort. Ich bekomme das Gefühl, dass ich niemanden richtig kenne und auch mich niemand kennt. Nicht einmal ich selbst. Wir alle sind Mysterien, für immer unergründet. Jeder kennt einen Teil von dir, den den du ihn sehen lässt aber niemand das ganze. Ich weiß nicht einmal ob ich John vertrauen kann, geschweige denn Hunter oder sonst einem von diesen Idioten.

,,Chill Bro, das ist doch erst der Anfang. Wir fangen klein an, schon vergessen?"

,,Aber doch nicht so klein! Das ist doch winzig."

,,Okay Vinco, wann warst du denn das letzte Mal in einem Café?"

Er hat Recht. Dies ist der Anfang. Ich war seit Jahren nicht mehr in einem Café , zumindest saß ich nie drinnen. Ich habe mir immer nur einen Coffee 2 go geholt und das immer im selben Geschäft, immer und immer wieder. Wenn man mich fragen würde, wie das Geschäft heißt, könnte ich diese Frage nicht beantworten, weil es mir nicht wichtig war, weil es einfach nur das Café war, in dem ich meinen Café geholt habe. Das ganze war immer nur ein Prozess, den ich machte, weil ich ihn machen musste, weil ich ihn brauchte. Nicht weil es mir Spaß machte. Es hat einfach nur seinen Zweck erfüllt. Dies ist der Moment in dem mir endgültig klar wird, dass ich die letzten Jahre auf Energiesparmodus gelebt habe. Nur das gemacht, was ich machen musste. Nie etwas gemacht, was ich machen wollte.

,,Lange her."

,,Aha, wusste ich's doch. Siehst du, kleine Schritte. Das ist der Anfang Kumpel, keine Sorge es werden noch Sachen kommen, bei denen du verfluchen wirst jemals auf das Angebot eingegangen zu sein."

Das glaube ich ihm, doch jetzt wo ich beschlossen habe mein Leben umzukrempeln, will  ich gefährliche Dinge tun, ich will leben. Nicht mehr überleben.

,,Außerdem kommt noch etwas, nach dem Café, wir warte hier nur auf jemanden."

Das macht schon mehr Sinn, ich hatte nie das Gefühl, dass John einer von denen ist, die einfach so mit einem anderen Typen in ein Café gehen.

,,Wer?", frage ich.

,,Vertrau mir einfach, Vince." Wenn das mal so einfach wäre.

,,John, ich mache bei nichts kriminellem mit, damit habe ich dank Hunter schon genug zu tun." John trinkt einfach nur seinen Café und zuckt mit den Schultern.

,,Glaubst du ich hab da Bock drauf, man? Ich hab die Schnauze gestrichen voll von dem Arschloch. Aber was sollen wir machen? Aussteigen bedeutet für uns aus die Maus, Vorhang fällt, Klappe zu, finito. Du weißt schon, Tod halt." Ich weiß schon. ,, Nee wir machen einfach was was Spaß macht!"

Plötzlich liegt eine Hand auf meiner Schulter, ohne lange darüber nachzudenken wirbel ich herum, nehme den anonymen Angreifer am Arm und schleudere ihn einmal über meine Schulter, ganz Wrestling Manier. Der Typ, liegt auf dem Boden und stöhnt, er hält sich den Rücken. Seine Augen blicken sauer aber dennoch fasziniert in meine. Mittlerweile bin ich nicht mehr der Meinung, dass er mich angreifen will, allerdings kann ich mich auch nicht daran erinnern ihn je gesehen zu haben. Er hat kurze braune Haare und ist klein für sein Alter, welches ich ungefähr auf 20 schätze. Er ist weiß, sieht aber nicht amerikanisch aus. Eher wie ein Russe. Noch immer macht er nicht den Versuch mich anzugreifen, geschweige denn aufzustehen. Ich reiche ihm die Hand, auch wenn das ein Fehler sein könnte, ich versuche einfach mal zu vertrauen. Er nimmt sie und ich ziehe ihn hoch.

 ,,Wow man! Du hast einen ganz schön harten Griff, hat dir das schon mal jemand gesagt? Verflucht John, du hättest mich warnen können. Ganz schön was erlebt heute. Krass.", sagt der junge Mann, der mir tatsächlich nur bis zur Schulter reicht. Ich schweige fürs erste und John lacht sich kaputt. Er bekommt sich gar nicht mehr ein.

,,Oh ja sorry man, ich bin Dimitrij und das da." Dimitrij zeigt auf einen weiteren jungen Mann, den ich bisher noch gar nicht wahrgenommen habe. ,,Das ist Sam." Ich lockere mich, die zwei scheinen harmlos zu sein. Ich reiche ihnen nacheinander die Hand und sie ergreifen sie.

,,Mein Name ist Vince."

Ohne es zu wollen klingt meine Stimme immernoch kühl und Misstrauisch. Tja, das kann ich wohl nicht so einfach abstellen. Dimitrij  grinst mich an, Sam steht einfach nur neben ihm und mustert mich. Mit einer Hand hält er sein anderes Handgelenkt vor dem Bauch fest. Wenn ich ihm in die Augen sehe, blickt er sofort weg, meistens auf seine Schuhe. Er hat rot-braune Haare und eine Brille, ich schätze er ist ziemlich schüchtern. Wieder fasst mir Dimitrij an die Schulter, man müsste meinen er hätte dazugelernt aber nein, das hat er anscheinend nicht. Prompt liegt er wieder auf dem Rücken. Er sieht mich frustriert an.

,,Man Alter, das tut weh!", stöhnt er und lässt sich vollends auf den Boden gefallen. Ich verziehe mein Gesicht zu einem Grinsen und helfe ihm abermals auf.

,,Sorry Man, Reflex.", antworte ich entschuldigend. Plötzlich kommt uns eine rotgelockte Kellnerin in den Mitvierzigern entgegen, sie hat Stressflecken auf dem Hals und ihr Gesicht ist ganz rot, sie sieht verängstigt zu mir hoch.

,,Also Sir… Also Entschuldigung aber so ein Benehmen… ja das dulden wir einfach nicht in diesem Café und bitte also das mit dem Menschen herumwerfen… Es wäre lieb wenn sie, also wenn sie jetzt gehen würden.. Weil also.. Es haben sich auch schon Gäste beschwert."

Sehe ich wirklich so gruselig aus? Ich meine klar, ich habe eine Lederjacke an und die Kapuze meines Sweatshirts habe ich mir aufgesetzt, so dass man mein Gesicht nur im Schatten sieht. Das liegt aber lediglich daran, dass ich den Menschen hier meine aufgeplatzte Lippe nicht zeigen will, um ihnen keine Angst zu machen. Tja es hat das Gegenteil bewirkt, sofort streife ich meine Kapuze vom Kopf und hoffe ihr so ein wenig die Angst zu nehmen. Ich bin kein Mensch vor dem man Panik haben muss, zumindest nicht wenn man nicht zu den Menschen gehört, die Hunter auf dem Kieker hat.

,,Natürlich, wir gehen sofort. Es tut uns leid, dass wir Ärger gemacht haben." Ich lege zehn Dollar auf den Tisch, viel zu viel für das was wir hatten. ,,Stimmt so.", ergänze ich.

Die Kellnerin nickt nur verdutzt über meine Freundlichkeit und macht sich dann mit dem Geld vom Acker. Wir verlassen das Café. Es ist mittlerweile Stockdunkel.

 ,,Was machen wir jetzt?", frage ich.

,,Lass dich überraschen.", antwortet John.

Ich verdrehe die Augen.

 

,,Das ist nicht dein Ernst, John. Ein Bordell?" Ungläubig drehe ich mich um meine eigene Achse, John, Dimitrij und Sam haben mich tatsächlich in ein Bordell geführt. Das macht für sie Spaß aus? Sich nackte Weiber anzusehen und dabei einen zu kippen? Das kann ich auch 'zuhause' wenn ich will, dazu muss ich nicht extra in ein dreckiges Bordell gehen! Überall sind kleine Tische aufgebaut an denen schmachtende, sabbernde Männer -überwiegend ältere- sitzen, deren Frauen momentan denken, sie sind bei der Arbeit. Stattdessen beglotzen sie, nun ja, Halbnackte an Polstangen tanzende Frauen.  An der Bar stehen ebenfalls halb nackte Barbies, die den Nacktheitsfixierten Umliegenden das zweitliebste geben was sie gerade gerne hätten. Alkohol. Ohne Ende Alkohol. Ich drehe mich zu den anderen herum.

,,Sam dachte, das würde dir Gefallen.", antwortet Dimitrij auf meinen skeptischen Blick.

,,Nein, das war Johns Idee! Ich wollte eigentlich Billard spielen.", protestiert dieser entrüstet.

Nun mischt sich auch John ein ,,Aber es geht ja gar nicht um das Bordell, Bruder. Es geht um das Spiel."

,,Welches Spiel?" Ich hebe eine Augenbraue. John legt mir einen Arm um die Schulter und dreht mich wieder um, so dass mein Blick wieder auf die Polstangen gerichtet ist, dann schüttelt er den Kopf.

,,Ach Bro, du hast wirklich noch nichts im Leben erlebt. Gut. Bruder ich erzähl dir das Geheimnis. " Trotz seines Flüstertones verstehe ich ihn. ,,Wir sind heiß, okay? Du, ich, Dimitrij und Sam. Na guuuut Sam vielleicht nicht, aber wir. Wir sind die Spitzenklasse, die die jeder haben will, die Quaterbacks der High school, die sexy Bauarbeiter auf die die Mädchen stehen, die …"

,,Ist ja gut, ich habs verstanden, rede weiter."

,,Und weil wir eben die Könige des Reviers sind, können wir hier jedes Girl haben."

,,Das kann jeder, der genug Geld bezahlt.", werfe ich ein.

,,Nein Bro, wir können es umsonst, sie wollen uns. Aber wir, wir nehmen nur die Allerschärfsten. Wir geben uns nicht mit jedem girl zufrieden." Plötzlich erheitert sich seine Stimme. ,,Ja und deswegen, versuchen wir jedes Mädel hier scharf zu machen und lassen sie dann abblitzen. Wer die meisten Ohrfeigen bekommt, gewinnt und am Ende darf jeder selbstverständlich die schärfste flachlegen." Ich runzel die Stirn.

,,Ist das nicht ein wenig kindisch."

,,Ja Vince, kann sein, dass es kindisch ist.", murmelt John, nun wieder mit ernster Stimme. ,,Aber du und ich wissen, dass das Ernstsein in unserem Leben bereits die überhand genommen hat, wir erleben so viel scheiße jeden Tag, ich denke es ist okay manchmal kindisch zu sein. Es ist okay, weil wir es sonst nicht sein können, es nicht sein dürfen. Unser Leben ist hart genug man, scheiß einfach mal auf die Regeln, Vince, und mach etwas was dir Spaß macht. Achte nicht immer darauf was die anderen machen, sondern lebe." Mittlerweile denke ich, dass John wirklich schlau ist. Nicht auf die Art, dass er in Null Komma nichts alle Mathematischen Formeln lösen könnte, sondern auf die, dass er weiß wie das leben funktioniert. Er scheißt auf die Meinungen anderer und lebt sein Leben. Ich frage mich wie er auf die schiefe Bahn gelangen konnte. Doch obwohl alles was John sagt für mich Sinn ergibt (Außer vielleicht, dass wir die Spitzenklasse, die Quaterbacks der Highschool, und so weiter sind) ist das hier nichts für mich. Ich verarsche keine Frauen, selbst wenn sie einen noch so niederen Beruf ausüben. Ich habe eine andere Definition von Spaß, wenn ich eine Frau will, dann sage ich ihr, dass ich nicht mehr will als das.

,,Danke für das Angebot. Ich setze mich hier her und sehe euch zu." Das könnte schließlich ganz lustig werden, zu sehen wie die Jungs ein paar Backpfeifen bekommen. John zuckt mit den Schultern.

,,Naja, deine Entscheidung, du verpasst was Bro!" Dann entfernt er sich. Ich setze mich auf einen der Bar Hocker und bestelle ein Bier. Prompt höre ich die erste Backpfeife. Es ist eine für Dimitrij, der sie von einer Rothaarigen, böse dreinschauenden Stripperin bekommen hat daraufhin strahlt, während John und Sam ein zerknirschtes Gesicht machen. Ich muss zugeben, dass ich grinse, die Jungs haben sie wirklich nicht mehr alle! Doch meine Laune wird augenblicklich getrübt, als ich sehe, wer da gerade das Bordell betritt.

 

Natürlich 100% selbstsicher und sofort alle männlichen Blicke auf sich ziehend geht sie auf mich zu, sieht mir direkt in die Augen. Natürlich weiß sie wo ich bin, natürlich weiß ich es. Immer wieder bin ich so naiv zu denken, ich könnte mich vor ihnen verstecken aber nein, das kann ich natürlich nicht. Sie trägt ein Schulterfreies, mit Pailletten besetztes, Silber schimmerndes Kleid und schwarze High Heels mit mindestens zehn Zentimetern Absatz. Lächelnd kommt sie auf mich zu, ihre blonden Haare streicht sie sich aus dem Gesicht und setzt sich dann neben mich. Es ist offensichtlich wie sehr sie die Situation genießt. Wie sehr sie sich freut, dass sie noch immer die selbe Wirkung auf die Männer hat.

,,Gin Tonic bitte.", säuselt sie an den Barkeeper gewandt. Dieser setzt sich natürlich sofort in Bewegung. Ganz wie die Lady wünscht. Ich lasse den Blick durch das Bordell wandern, auch Dimitrij und Sam sehen verdutzt zu Karen. John verdreht einfach nur die Augen und macht weiter mit seinem Spielchen. Dimitrij sieht zu mir, zeigt dann auf Caren und hebt dann eine Augenbraue an. Ich zucke nur mit den Schultern und schüttele den Kopf, ich habe jetzt nun wirklich keine Lust ihm zu erzählen was ich mit ihr am Hut habe, was genaugenommen nichts ist. Außer, dass ich mit ihr in eine Wohnung wohne und manchmal was mit ihr mache. Sie nippt an ihrem Getränk, welches der fleißige Barkeeper ihr soeben gebracht hat.

,,Was willst du hier Caren?" Misstrauisch sehe ich ihr zu, wie sie die Beine übereinander schlägt und mich verführerisch anlächelt. Was natürlich keine Wirkung auf mich hat. Caren wollte schon oft etwas mit mir anfangen, doch bei ihr geht Sex vor Liebe und obwohl ihr Angebot mich zugegebener Weise angesprochen hat, bin ich nicht der Typ für eine Nacht. Meine letzte Freundin, Cynthia, war auf so drauf, nur leider habe ich das erst nach fünf Monaten bemerkt. Normalerweise bin ich keiner von denen, die sich leicht verarschen lassen, doch bei Cynthia war es anders. Sie hatte neben mir noch zwei weitere 'Spielgefährten' und immer wenn sie sagte, sie würde länger arbeiten müssen, glaubte ich ihr. So naiv ich auch war, ich habe daraus gelernt. Keine Beziehungen mehr, die lediglich auf Sex basieren.

,,Eine Frau darf auch Geheimnisse haben." Sie zwinkert mir zu und trinkt einen Schluck der durchsichtigen Flüssigkeit. Ich runzle die Stirn. Der heutige Tag verbarg schon genug Geheimnisse.

,,Und?", frage ich leichtfertig. ,,Weiß Hunter, dass du hier bist?"

,,Ich bin in seinem Auftrag hier. Es wird ihn freuen zu hören, dass du auch hier warst." Das überrascht mich jetzt etwas. Entweder Caren lügt, oder sie ist gar nicht hier um mich zu beschatten. Sobald ich sie habe hereinkommen sehen, dachte ich, sie wäre hier, weil Hunter sie darauf angesetzt hat, auf mich 'aufzupassen' und darauf zu achten, dass ich mich nicht wieder mit Liv treffe.

,,Und der Auftrag ist das Geheimnis.", stelle ich fest. Caren stupst mir mit ihrem Zeigefinger auf die Nase und grinst.

,,Du bist so ein kluger Junge, Vince." Ich lächle sie leicht ironisch an und schüttle den Kopf. Auf einmal höre ich wieder eine Ohrfeige, als ich mich umdrehe um zu sehen, wer sie kassiert hat (John oder Dimitrij), realisiere ich, dass es Sam ist der triumphierend seine Faust in die Höhe streckt. John klopft ihm anerkennend auf die Schulter und Sam strahlt trotz seiner geröteten Wange. Ich grinse ein wenig, ich hätte ehrlich gesagt nicht erwartet, dass er überhaupt eine Ohrfeige bekommt.

,,Wer ist dieser Kleine da?", reißt mich Caren aus meinen Gedanken.

,,Das ist Sam, ein Freund von John. Kennst du ihn?"

,,Nie gesehen." Sie legt ihre Hand auf meine und sieht mir tief in die Augen, dann lächelt sie vermeintlich sexy. ,,Ich muss mich dann jetzt auch um mein Geheimnis kümmern. Treib es nicht zu bunt." Sie zwinkert mir zu und trinkt den letzten Schluck ihres Drinks. Dann steht sie auf und bewegt sich in Richtung kleiner, dicker Mann mit Halbglatze und glänzenden, begaffenden, bebrillten Augen, die sie sofort fixieren. Ich beobachte, wie sie sich zu ihm herüberbeugt, so dass er gut in ihren Ausschnitt blicken kann. Augenscheinlich gefällt ihm was er sieht. Widerlich sowas, er ist mindestens dreißig Jahre älter als sie. Ich weiß was ihr Geheimnis ist, sie bietet reichen, alten Säcken Sex an und raubt sie dann aus, das Geld gibt sie an Hunter. Das alles macht sie nur für Hunter, freiwillig würde sie sich niemals mit so einem abgeben, ich kenne sie. Fünf Minuten später verschwinden die beiden Händchen haltend in der Tür. Ich schüttele mich und beschließe, dass es reicht für heute. Mein Tag war lang genug. Ich bezahle den Barkeeper und mache mich ohne mich von den anderen zu verabschieden auf den weg. Sie würde sowieso nur versuchen mich umzustimmen und darauf habe ich keine Lust. Es ist bereits 23 Uhr, was zugegebener Maßen nicht besonders spät für mich ist und obwohl ich sonst einer Party nicht abgeneigt bin, verneine ich als Hunter mich fragt, ob ich mit zu einer möchte und falle ins Bett. Schon nach wenigen Minuten falle ich in einen traumlosen Schlaf.

Kapitel 3 - Liv

 

Als ich aufwache ist es um mich herum noch stockfinster. Die Rollläden sind zugezogen und es riecht nach Pfannkuchen, dieser Geruch ist auch der Grund für mein frühzeitiges erwachen. Ich spüre wie mein Magen knurrt und halte mir eine Hand vor den Bauch. Das Abendessen, dass ich gestern ausgelassen habe macht sich durchaus bemerkt. Ich schlage meine Decke weg und bekomme prompt einen Kälteschub. Es ist eisig hier drin. Ich Schlinge die Arme um mich selbst und als meine nackten Füße den eiskalten Beton berühren, zucke ich zusammen.

„Scheisse ist das kalt.”, fluche ich leise. Ich laufe zu der kleinen Buchenfarbenen Kommode und ziehe eine rot-weiß gestreifte Decke heraus und werfe sie mir über die Schultern. Dann verlasse ich diesen kleinen Raum durch die hölzerne Tür. 

Als ich den Flur betrete, bemerke ich sofort, dass etwas anders ist. Es ist schön warm, der Pfannkuchen Geruch ist stärker und Musik tönt aus dem kleinen Raum neben mir. Erleichtert den kalten Fesseln meines Schlafzimmers entkommen zu sein, atme ich aus. Leise gehe ich zur kleine Tür der Küche und will anklopfen (ich habe nämlich schon vieles erlebt in dieser Küche, was ich lieber vermieden hätte), doch als meine Fingerknöchel das Holz berühren, wird die Tür plötzlich aufgerissen und ein pfeifender Grey kommt heraus stolziert. Prompt läuft er gegen mich und ich falle rücklings auf den harten Holzboden. Meinem Beispiel folgt eine kleine Schüssel Honig, die direkt auf meinem Kopf landet. Im ersten Moment bin ich völlig perplex und auch Grey sieht mich scheinbar völlig schockiert an, doch im nächsten fangen wir beide an schallend zu lachen. Grey hält sich den Bauch vor Lachen und lässt sich neben mich auf den Boden fallen. Trotz der Kälte, die mein Rücken durch den Boden erfährt und dem Honig in meinem Haar, fühle ich mich so glücklich wie lange nicht mehr. 

Selbst als die Tür aufgeht, Ben seinen Kopf durch die Tür steckt, diesen schüttelt und „Warum sind hier nur alle so gestört?” murmelt, trübt das meine Laune nicht im geringsten. Es ist schön auch Grey wieder einmal so glücklich zu sehen. 

Minuten später sitzen wir am Tisch und essen die Pfannkuchen, nur eben ohne Honig. Grey's Kopfverband lässt seine Haare hochstehen, was leider so lustig aussieht, dass ich wieder anfange zu grinsen. Mein Bauch tut schon weh vom ganzen lachen. Hilfe! 

„Wieso bist du eigentlich nicht bei den Lincolns? Sie wollten doch, dass du noch ein paar Tage bei Ihnen bleibst.”, frage ich nach einiger Zeit, während ich mir ein Stück Pfannkuchen mit Nutella in den Mund schiebe und dadurch ungewollt nuschel. Grey lächelt mich nur liebevoll an und zeigt auf den Pfannkuchen. 

„Weil du Pfannkuchen Essen wolltest?” Ungläubig schüttel ich den Kopf. Ja klar, Grey ist ziemlich impulsiv und vielleicht auch ein wenig naiv, aber Pfannkuchen hätte er doch auch da bekommen können. 

„Nein, du Dummi.”, sagt er und lacht. „Vorgestern ist so viel scheisse passiert und statt dass ich für dich da war, war ich Idiot ohnmächtig. Ich will einfach, dass es dir gut geht und ich weiß, dass man dich immer mit einer guten Portion aufheitern kann, kleines.” Ich lächle ihn an. Grey ist zu aufbrausend, zu kühl, zu schnell genervt und sauer, aber er ist auch immer für mich da wenn ich ihn brauche. Schon als wir kleiner waren, haben wir uns immer gegenseitig verteidigt, ob es nun vor unseren Eltern oder vor älteren Kindern war. Und kann und konnte nichts auseinander bringen und so ist es auch heute noch. Es gibt viele Menschen, die mir sagen, dass mein Bruder ein Arschloch ist, dass ich mich von ihm anwenden sollte und dass er nicht gut für mich ist. Doch sie kennen ihn nicht. Er ist der Mensch, der mir beigebracht hat auch einmal 'nein' zu sagen und mich selbst zu verteidigen. Und er ist der Mensch, der immer für mich da ist und der mich vor allem beschützen möchte. Doch das verstehen Sie nicht. Sie sehen in ihm nur den skrupellosen Schläger, der das Oberhaupt einer Gang ist. 

Das ist eins der Dinge die ich an Menschen hasse. Wieso glauben sie, dass ein Mensch nur eine Seite haben kann, oder, dass wenn jemand eine schlechte Seite hat, alle guten Seiten egal sind? Grey ist ein Verbrecher, ja. Aber er spendet auch viel Geld an Waisenhäuser, weil Waisen ihn an sich selbst erinnern. Es gibt einen Grund warum Grey so ist wie er ist, doch den will niemand wissen. Er ist ihnen egal. 

„Danke Grey.” Er lächelt nur und widmet sich dann seinem Frühstück. Da ich immer noch tief in meinen Gedanken versunken bin, schrecke ich auf, als der Ton meines Handys zu erkennen gibt, dass ich eine SMS bekommen habe. Grey schüttelt nur den Kopf und grinst in sich hinein. Idiot. Es ist Annabelle. Meine beste Freundin. 

"Ich wette du vergisst wieder, dass wir um 11 im Café verabredet sind. Also Hop: raus mit dir xx" erschrocken starre ich auf die Uhr, das einzige 'Accesoire' in diesem Raum: 10:47 Uhr.

„Oh Shit.” Ich springe auf und schmeiße so meinen Stuhl um, der scheppernd auf den Beton kracht. Grey unterbricht seine Malzeit, sieht mich an und hebt eine Augenbraue. Ich zucke nur mit den Schultern. 

„Annabelle.”, sage ich nur, drehe mich um, schnappe meine Tasche und laufe aus der Tür. Sekunden später drehe ich wieder um, laufe auf Grey zu, gebe ihm einen Kuss auf den Verband. 

Dann laufe ich wieder zur Tür, drehe mich um und werfe ihm ein entschuldigendes „Habe dich lieb.” an den Kopf.

Grey rollt nur mit den Augen, grinst und erwidert meine Worte und schon bin ich weg. Ich hole mir mein weiß-Türkises uraltes Fahrrad und fahre so schnell ich kann zu unserem Stammcafé. Ich liebe diesen Ort. Überall gibt es herausstehende Rohre und statt Stühlen nur Bänke. Es ist ein wenig wie im Industrie Stil eingerichtet. Auf jeden Fall ist es unglaublich schön und gemütlich. Als ich es betrete steigt mir sofort der betörende Geruch von Schokolade und Holz in die Nase und ich genieße den Geruch. Als ich in Richtung unseres Stammplatzes sehe, sehe ich sofort Annie, die angestrengt auf ihre nagelneue silberne Uhr starrt. Ich setze mich gegenüber von ihr, auf das schwarze Leder und sie sieht mich überrascht an. 

 

„Wow! Liv du bist nur vier Minuten und 26 Sekunden zu spät.” Sie runzelt die Stirn. „Das ist ein neuer Rekord! Herzlichen Glückwunsch!” Ich lache sie an und sie sieht gespielt verärgert zurück. 

„Ich habe Mariah extra gesagt, dass sie unser zeug erst in 10 Minuten servieren soll. Man Liv, du bist Immer zu spät, das wissen wir beide, aber kannst du dann nicht zumindest konstant zur gleichen Zeit zu spät kommen?” Ich zucke mit den Schultern. 

„Freut mich auch sehr dich zu sehen!” Mariah ist eine Kellnerin hier, auch wenn sie bereits über 30 ist, ist sie noch unglaublich schüchtern, das liegt daran, dass sie aufgrund ihrer roten Haare früher immer als Hexe bezeichnet wurde, was ihr bis heute schwer zu schaffen macht, aber da sie strikt gegen alles unnatürliche ist (deswegen arbeitet sie auch in diesem Café) ließ sie sie nie färben.

Als Mariah an unserem Tisch vorbei geht, winke ich sie zu uns. Sofort bewegt sie sich in unsere Richtung und lächelt mich schüchtern an. Ihre schwarze Schürze mit dem weißen Ausdruck weist bereits einige Flecken auf, was wahrscheinlich wieder daran liegt, dass sie irgendetwas verschüttet hat. 

„Hey Liv, freut mich das ihr hier seid. Essen kommt gleich.” Mariah redet hektisch, sie scheint sehr im Stress zu sein, in unserem kleinen Café in den sonst nicht viel los ist, scheint heute die Hölle los zu sein. Ich halte sie am Ärmel ihres schwarzen Hemdes fest. 

„Jetzt warte doch mal.” Ich lache kurz auf. „Ich möchte heute mal etwas anderes, kannst du mir statt des Käsekuchens einen Schokokuchen bringen?” Mariah und Anni sehen mich erstaunt an. 

„Aber die heiße Schokolade bleibt?”, fragt Mariah ungläubig. Ich nicke und sie verschwindet. 

Seit Anni und ich in dieses Café gehen, habe ich immer nur eins gegessen. Käsekuchen. Mit heißen Himbeeren und Himbeersoße. Alles selbst gemacht. Anni isst jedes Mal Russischen Zupfkuchen mit Blaubeeren, natürlich auch selbst gemacht. Dies ist unsere Routine, die einzige Konstante in unseren Leben. Sie nimmt immer das eine, ich immer das andere. Doch wieso sollte man immer beim Alten bleiben? Vielleicht ist das neue viel besser als das alte, doch man weiß es nicht, weil man sich immer an das alte geklammert hat. Man sollte abschließen können. Oder nicht? Ich merke wie meine Gedanken immer mehr vom Kuchen wegwandern und meiner eigenen, ganz persönlichen Vergangenheit Platz machen. Die Vergangenheit, die ich nicht loslassen kann, da sie ein Teil von mir ist. 

„Okay mal ehrlich: was ist passiert?” Anni, die sonst stets fröhlich und immer für einen schlechten Witz gut ist, scheint besorgt. Besorgt! Ich gebe die Augenbrauen, als wüsste ich nicht was sie meint. 

„Na der Kuchen! Das ist... Also...”, drückst sie herum und ich beginne zu lachen. 

„Man sollte immer offen für Neues sein!”

„Jaaa.... Aber nee! Das ist Tradition! Du brichst sie!”

„Willst du mit mir darüber diskutieren, dass ich den Kuchen gewechselt habe oder lieber darüber reden, aus welchem Grund ich das getan habe?” 

Sofort hält Anni den Mund. Sie stützt die Ellenbogen auf dem Tisch ab und bettet ihren Kopf auf ihnen, hört aufmerksam zu. 

Ungeduldig murmelt sie: „Schieß los.”

Und das tue ich, ich versuche so wenig wie möglich vor ihr zu verheimlichen. Ich erzähle ihr alles, von Anfang an. Mein Gespräch mit der Schulleiterin. Unser Gespräch mit den Lincolns und unseren Plan. Wie ich dann Zuhause angekommen bin und alles verwüstet war, wie Grey mir von der verschwundenen Kette erzählt hat und seinen anschließenden Kampf mit Hunter. Und natürlich von Vince. Dem geheimnisvollen, unnahbaren Vince, der trotz seiner schlechten Geschichte, der einzige war, der mir geholfen hat. Vince, den ich glaube zu kennen und der trotz allem ein Fremder ist. 

Als ich ende steht Annis Mund offen und sie sieht mich mit riesigen braunen Augen an. Anni ist eine Naturschönheit. Hellblonde Locken, Haselnussbraune Augen, ein Gesicht das einer Elfe gleicht... Sie ist der Klischee schöne Mensch schlecht hin. Mit ihrem Elfengleichen Gesicht, der Geraden Nase, den vollen Lippen und den schön geschwungen Augenbrauen steht sie allerdings im kompletten Gegensatz zu ihrem Charakter. Anni ist der ironischste Mensch den ich kenne. Ihr zweiter Vorname ist "Zweideutig" und ihr Humor ist Tiefschwarz. Die größte Ironie ist der ihres Aussehens mit ihrem Charakter. Anni ist kein schlechter Mensch, sie ist unglaublich liebenswert bei Menschen die sie mag, aber wenn sie jemanden nicht mag... hat derjenige nichts mehr zu lachen, das steht fest. 

Anni schließt ihren Mund und öffnet ihn wieder um etwas zu sagen, doch in dem Moment kommt Mariah mit unseren Kuchen und unseren heißen Schokoladen. 

„ Lasst es euch schmecken.”, sagt sie mit ihrem typischen Mariah-Lächeln. (so gutmütig wie diese Frau zu sein scheint schier unmöglich). Ich halte sie am Handgelenk fest.

„Setz dich doch etwas zu uns, wir haben so lange nicht mehr geredet.” Und außerdem möchte ich nicht Annis tausend Fragen beantworten, die gleich auf mich einströmen werden. 

„Später, Liv.”, sie sieht sich in dem zugegebenermaßen ziemlich vollen Café um. „Im Moment ist einfach zu viel los.” Sie grinst entschuldigend und macht sich dann wieder auf den Weg zu einem anderen Tisch um deren Getränke und Teller abzuräumen. Ich sehe ihr noch eine Weile nach und wende mich dann wieder an Anni. 

Ich seufze, gespielt genervt. „Jetzt fang schon an mich mit Fragen zu Löchern.” 

Sobald ich das gesagt habe fängt Anni an zu reden und zu reden (in der Beziehung ist sie meinem Bruder Oliver nicht ganz unähnlich).

,,Oh fuck, das war ja ziemlich viel scheiß an einem Tag. Dein Kopf muss richtig gefickt sein." Anni atmet einmal kurz ein und redet dann sofort weiter, ohne auf meine Antwort zu warten. ,, Also wie geht es Grey denn jetzt? Ja ich weiß, wir sind nicht so die besten Freunde aber fuck off, er ist dein Bro und dein Bro ist auch mein Bro und wo ist Olli jetzt eigentlich? Wie hat der den ganzen scheiß denn ertragen, muss doch auch schwer sein, für einen Knirps, nicht? Ich kenne mich da ja nicht so aus.. Kinder sind eher nicht so meins… Und dieser Vince? Sieht der gut aus? Hast du ne Idee woher du ihn kennen könntest? Kann ja nicht sein, dass du dich nicht mehr erinnern kannst, so schlecht ist dein kleiner Stromverbraucher nun auch wieder nicht.. Zumindest nicht immer. Glaubst du Hunter hat die Kette und wenn ja, wieso rückt er sie nicht raus? Ist ja alles ziemlich verkorkst… Naja, shit happens, ist ja nichts neues in deinem Leben. Weißt du ich bin echt froh, dass du der Pechmagnet von uns beiden bist… Aber wer weiß, vielleicht bist du ja jetzt durch Vince zum Glückspilz geworden. Ich wette mit dir, spätestens in einer Woche sind du und er ein Paar oder Freundschaft plus, Freunde mit gewissen Vorzügen, ich meine wer weiß das schon so genau? Zutrauen würde ich es dir schon, du tust immer nur so lieb, in Wahrheit bist du hundertprozentig ein richtiges Luder." Ich lache auf.

,,Wenn du das sagst, kann es ja nur stimmen." Wie kann man so viel reden ohne auch nur einmal Luft zu holen? Sie hat ganz sicher einen inneren Sprachmotor! Wenn jeder Menschen im Laufe seines Lebens nur eine gewisse Anzahl an Worten zur Verfügung hätte und danach für immer stumm wäre, könnte Anni seit ihrem 13ten Lebensjahr nicht mehr Sprechen. Ich schwöre es.

Ich denke außerdem, dass Anni ist der einzige Mensch, der es schafft einen aufzuheitern, in dem sie einen beleidigt. Zumindest ist das bei mir so.

,,Vince und Liv, Liv und Vince. Hört sich doch gut an nicht wahr?" Anni grinst mich an und ich werfe ihr lachend meine unbenutzte Serviette ins Gesicht.

,,Hat der vielleicht einen älteren Bruder, der etwas für die alte Anni wäre?"

,,Gott Anni, ich kenne diesen Kerl gerade mal seit zwei Tagen, glaube ich zumindest… Ich weiß überhaupt nichts über ihn." Anni verzieht die Mundwinkel zu einem bitteren lächeln und schiebt sich eine Gabel mit ihrem Lieblingskuchen in den Mund.

,,Na gut dann erzähl mal: sieht dieser Vince denn zumindest gut aus?"

,,Ich finde schon."

Anni rollt mit den Augen. ,,Jetzt lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen!", sagt sie genervt. ,,Größe, Augenfarbe, Haarfarbe, Statur, besondere Kennzeichen?"

Ich seufze, gegen die absolut neugierige Anni hat man absolut keine Chance.

,,Er ist ungefähr so groß wie Grey, ich schätze so ungefähr 1,87 m. Er ist gut gebaut, ist muskulös aber nicht so, dass es schon wieder zu viel ist. Er hat grau-blaue Augen eher grau als blau aber absolut anziehend. Er hat braune Haare und eine Narbe über der Augenbraue. Reicht das fürs erste?" Anni sieht mich abschätzend an und nickt dann.

,,Vielleicht schnappe ich ihn mir doch, hört sich ziemlich sexy an der Kerl." Ich lache.

,,Klar, du kannst ihn haben." Obwohl ich es ernst meine als ich es sage, hört es sich eher wie Ironie an. Ich weiß nicht was es ist, aber irgendwas verbindet mich mit diesem Typen. Ich weiß, dass da etwas ist auch wenn ich mich nicht daran erinnern kann. Ich weiß, dass ich ihm vertrauen kann, zumindest denkt das mein Herz… Mein Kopf ist da anderer Meinung. Auch wenn sie sich einig sind, dass ich ihn auf jeden Fall kenne. Dass unsere Begegnung am Freitag nicht unsere erste war. Da ist etwas und das kann ich weder beschreiben, noch erklären.

Je mehr ich in den letzten Tagen über dieses seltsame Gefühl, dass mich in seiner nähe überkommt nachgedacht habe, desto mehr bin ich überzeugt, dass es etwas mit dieser einen Nacht zu tun hat. Die Nacht vor sieben Jahren. Die Nacht an die ich mich nicht erinnern kann. Das letzte das ich weiß, war, dass meine Eltern sich gestritten haben und ich aus dem Haus gelaufen bin. Es war schon dunkel und ich war erst elf Jahre alt. Ich habe mich verlaufen und vor lauter Verzweiflung und Angst und Trauer bin ich durch die Straßen gezogen und habe jeden ignoriert der mir helfen wollte und wenn mir jemand zu nahe gekommen ist, habe ich ihn verscheucht. Ich hatte Angst und ich war einsam. Ich wollte nur alleine sein. Das allerletzte an das ich mich erinnern kann, ist eine Stimme die sagte: ,,Hey kleine, bleib doch mal stehen." und das in so einem gehässigen Tonfall, dass es mir noch heute eiskalt den Rücken hinunter läuft. Dann verschwimmen meine Erinnerungen mit der Dunkelheit. Ich weiß nur, dass ich irgendwann davon aufwachte, dass mein Dad mich an den Schultern packte und schüttelte. Ich lag auf dem eiskalten Asphalt und mein Vater flehte mich an aufzuwachen. Als ich langsam meine Augen aufschlug, bemerkte ich zuerst, wie sehr mein Kopf dröhnte. Als mein Dad merkte, dass ich wieder bei Bewusstsein war, fing er an hemmungslos zu weinen und drückte mich so sehr an sich, dass ich keine Luft mehr bekam. Als ich später zu hause vor dem Spiegel stand, bemerkte ich erst das Ausmaß meiner Verletzungen. Meine Lippe war aufgeplatzt, meine sonst so sorgfältig gepflegten Haare völlig zerzaust und an meinem Hals fand ich Würgemale. Außerdem hatte ich ein blaues Auge und auch meine Handgelenke wiesen Blutergüsse auf. Mein ganzer Körper war mit blauen Flecken überseht. Meine Eltern brachten mich zu einer Psychologin aber sie kam nach ein paar Stunden zu dem gleichen Schluss wie ich, dass es besser so ist, dass ich mich an nichts erinnern kann und dass das hoffentlich so bleibt. Die Anzeige die meine Eltern machten versprach auch keinen Erfolg und so geriet der ganze Vorfall irgendwann in Vergessenheit. Wir verdrängten ihn. Bis heute erinnert nur eine kleine Narbe unter meiner Unterlippe an den Vorfall. Ich weiß, dass meine Eltern sich bis heute Schuld an diesem Vorfall geben und ich konnte sie nie vom Gegenteil überzeugen.

Bis heute ist es so, dass ich mich an nichts erinnern kann. Nur ein paar Gefühle sind da. Furchtbare, schier überwältigende Angst habe ich verspürt. Ich war der festen Überzeugung, dass ich in dieser Nacht sterben müsste. Doch da ist auch noch ein anderes Gefühl, es ist nur schwach. Kaum bemerkbar aber dennoch da. Es ist das Gefühl der Geborgenheit. Es ist der Grund, dass mich diese Nacht nicht zerstört hat. Dasselbe Gefühl, dass mich überkommt, wenn ich Vince sehe. Und dieses Gefühl, sagt mir, dass ich ihm vertrauen kann.

Anni nimmt meine Hand in ihre, als spüre sie, dass etwas nicht stimmt. Ich sehe von der Tischplatte auf uns sehe ihr in die Augen. Sie lächelt mich mitfühlend an.

,,Danke Anni.", flüstere ich.

,,Wofür?", fragt sie verwundert.

,,Dass du du bist."

,,Für dich doch immer."

Ich lächel sie traurig an. Obwohl ich schon seit über zehn Jahren mit Anni befreundet bin, schafft sie es immer wieder mich zu überraschen. Manchmal mit ihrem überaus schrecklichen Humor und manchmal mit ihrer Güte und ihrer Fürsorglichkeit.

Anni seufzt, sieht mich an und murmelt dann: ,,Liv? Versprich mir bitte etwas, okay?"

Ich nicke, bin gespannt was jetzt kommt und sehe sie dann fragend an.

,,Wenn das nächste Mal so etwas ist, musst du mir bescheid sagen, ja? Ich bin für dich da." Ich lächle ihr dankend zu und drücke ihre Hand. Auch wenn mein Leben manchmal einfach nur scheiße zu sein scheint, habe ich immernoch Menschen, die mich lieben und die für mich da sind. Und das ist doch mehr, als so manch anderer hat, nicht wahr?

Anni und ich reden noch einige Minuten über verschiedene Dinge. Anni versucht mich mit den allerschrecklichsten und aller unlustigsten Witzen und ihrer Art aufzuheitern und was soll ich sagen? Es klappt! Wir essen unsere Kuchen (ich habe all die Jahre etwas verpasst! Der Schokokuchen mit den Erdbeeren und der flüssigen Schokolade im Kern ist absolut köstlich!) und ich fühle mich wieder mal wie von all meinen Pflichten und Lasten befreit. Dafür liebe ich Anni, für ihre unbeschwerte Art und ihre schlechten Aufheiterungsversuche. Nach zwanzig Minuten und zwei weiteren heißen Schokoladen, gesellt sich auch Mariah zu uns. Mittlerweile ist es im Café nicht mehr ganz so voll und sie beschließt ihre Mittagspause mit uns zu verbringen. Anni macht ihr Platz und so setzt sie sich gegenüber von mir hin.

,,Na Mädels wie geht es euch?" Sobald Mariah sitzt, fällt alle Last von ihr ab uns sie sieht einfach nur entspannt aus, glücklich nichts mehr machen zu müssen.

Bevor ich antworten kann, tut Anni es bereits. Wahrscheinlich um mich von der Lüge, die ich aussprechen müsste, zu bewahren.

,,Uns geht es super." Ich lächle ihr dankbar zu. ,,Und wie geht es dir?"

Mariah geht es auch gut, sie erzählt mir von ihrem anstrengenden Tag und dass wir unbedingt öfter herkommen müssen, da wir ja ihre liebsten Gäste sind.

,,Ja, weil wir immer besonders viel Essen und besonders viel Trinkgeld geben.", sage ich lachend und Mariah sieht mich grinsend an und zwinkert mir zu. 

Manchmal frage ich mich, wie es sein kann, dass eine Person wie ich, die immer irgendeinen Scheiß am Hals hat, trotzdem so gute Freunde haben kann. Ich meine Anni führt das perfekte Leben, sie ist wunderschön, ihre Eltern und ihre zwei älteren Brüder sorgen sich rührend um sie, sie hat viel Geld und die perfekten Voraussetzungen um auf ein brillantes College zu gehen.

Mariah ist zwar ein schüchterner Mensch aber sie hat ihren einzigen Wunsch (dieses Café) wahr gemacht und lebt für ihn, hat einen Mann den sie liebt und der sie liebt. Sie scheint wunschlos glücklich zu sein.

Und dann bin da noch ich. Mehr oder weniger Obdachlos, total kaputte Familie, scheiß Umfeld, so gut wie keine Zukunftsperspektiven. Wenn das keine rosigen Aussichten sind, dann weiß ich auch nicht.

,,Also nochmal.", beginne ich. ,,Wie war deine Woche Mariah?" Die angesprochene seufzt und sieht mich entnervt an.

,,Vor allem war es voll! Ich weiß wirklich nicht was diese Woche los ist."

,,Vermutlich hat unsere Werbung dir geholfen.", wirft Anni ein und grinst.

,,Ja… Es ist ja nicht so, dass ich mich nicht freue. Neue Kundschaft ist toll natürlich. Aber auch so stressig." Mariah lächelt erschöpft. ,,Ich bin echt die schlechteste Betriebswirtschaftlerin die umherläuft. Mir gefällt es besser, wenn weniger Kundschaft da ist, da es dann gemütlicher und viel weniger stressig ist."

Wir alle lachen. Ja, normal ist das nicht für die Besitzerin eines kleines Eckcafés, für Mariah dagegen schon. Ihr geht es nicht um das Geld oder den Ruhm, den sie erlangen könnte. Sie möchte einfach nur ihr Ding durchziehen. Mich freut und überrascht es immer wieder, dass es solche Menschen noch gibt.

Mariah schnippst mit den Fingern als wäre ihr gerade etwas eingefallen und als sie anschließlich spricht hört ihre Stimme sich angespannt und dennoch aufgeregt an.

,,Wo ich das gerade sehe, ich muss euch unbedingt etwas erzählen." Ich frage mich nicht sonderlich, was sie mit 'das' meint, aber es wäre besser gewesen, wenn ich es hätte.

,,Dreh dich jetzt nicht um Liv, aber der eine Typ hinter dir, drei Tische weiter… Er war gestern auch da und du wirst nie erraten was er getan hat."

,,Herausforderung angenommen.", sagt Anni enthusiastisch. ,,Er hatte Sex im Laden!"

Mariah sieht sie schockiert an. ,,Nein! Natürlich nicht."

,,Schade. Er hat dich geküsst?"

,,Auch nicht."

,,Er hat so viel gegessen, dass er sich übergeben musste."

,,Nope."

,,Er hat sich mit jemandem geprügelt?"

,,Nein, aber das kommt der Sache schon näher."

Anni runzelt die Stirn und kaut auf ihrer Unterlippe, wie immer, wenn sie nachdenkt.

,,Okay, ich komme nicht drauf.", gibt sie schließlich seufzend zu. ,,Aber der Typ ist echt heiß, kannst du ihn mir vorstellen?"

Fasziniert starrt Anni auf eine Stelle rechts neben meinem Hinterkopf, wo ich den mysteriösen jungen Mann vermute.

,,Vielleicht möchtest du das gar nicht mehr, wenn du weißt was er gestern gemacht hat."

Mariah hört auf zu sprechen und Anni und ich sehen sie auffordernd und neugierig an.

,,Also er war gestern mit drei anderen Männern hier", fängt sie endlich an. ,, und der eine hat ihn an der Schulter angefasst…"

Auf einmal unterbricht Anni sie: ,,Also ist er schwul, das ist ja echt scheiße, der hat so einen Knackarsch.", murmelt sie sauer und enttäuscht zugleich und stützt ihr Gesicht in eine Hand ab.

,,Nein, das eher nicht. Als er ihn an der Schulter berührt hat, hat er ihn einfach über seine Schulter gewirbelt und der ist auf dem Boden gelandet. Gleich zweimal ist das Ganze passiert. Dann habe ich ihn raus geschmissen."

Annis Augen beginnen zu leuchten. ,,Geil! So richtig Wrestling-like?"

,,Könnte man meinen, ja."

Meine beste Freundin ist wirklich unglaublich, dass sie sich für so etwas begeistern kann. Prügeln und alles was auch nur in irgendeiner Weise damit zu tun hat ist meiner Meinung nach einfach nur abstoßend. Man sieht ja was dabei raus kommen kann (Grey). Ich bin strikt gegen alles, was mit Gewalt zu tun hat. Schließlich, kann man doch alles klären oder nicht? Vielleicht bin ich auch nur dieser Meinung, weil ich bisher viel zu schlechte Erfahrungen gemacht habe… Ich weiß es nicht. Andererseits ist es auch ein wenig Lustig. Anscheinend wurde niemand verletzt und die Vorstellung das ein Erwachsener Mann gleich zweimal umher geschleudert wurde, ist ein ziemlich lustiger Gedanke.

,,Wow. Hätte nicht gedacht, dass sowas mal in deinem kleinen Café passiert.", lache ich. ,,Willst du ihn nicht raus schmeißen?"

,,Nein, er macht ja im Moment keinen Ärger." Mariah lächelt mich noch einmal kurz an, steht dann auf uns sagt, dass sie unsere Rechnung holen würde.

,,Was meinst du? Soll ich mir ihn krallen?" Anni sieht mich nicht einmal an während sie das sagt. Sie ist viel zu fixiert auf den jungen Herumschleuderer.

Ich frage sie, wie gut er auf einer Skala von eins bis zehn aussieht und ohne zu zögern antwortet sie: ,,Acht. Er hat eine komische Narbe über der Augenbraue. Aber irgendwie ist die auch sexy, vielleicht ist er doch eine…" Als mir langsam dämmert, was sie gerade gesagt hat, lasse ich sie nicht ausreden. ,,Narbe?" Ich drehe mich Blitzartig um und als ich sehe wer da sitzt durchfährt es mich wie ein Schlag und ich wende mich so schnell es geht wieder Anni zu. Meine Augen sind weit aufgerissen und mein Mund steht offen. Noch jetzt ist mir das Bild ins Gehirn eingebrannt.

Sein braunes Haar ist zerzaust, so als wäre er heute morgen nicht dazu gekommen sie fertig zu machen. Er trägt einen blauen Strickpulli, dessen Ärmel er hochgeschoben hat, so dass man eine silberne Armbanduhr auf dem einen und ein kleines Tattoo auf dem anderen Arm aufblitzen sehen kann. Er sieht angestrengt auf ein Buch, dass er auf dem Tisch gleich neben seinen angebissenen Schokoladenkuchen und die Tasse gelegt hat. Ich hätte nie gedacht, dass er der Typ Junge ist, der Bücher liest. Aus diesem Winkel sieht man gut die kleine Narbe, die eine Markierung über seiner Augenbraue ziert. Seine braun gebrannte Haut glänzt im Schein der Lampe, die direkt über seinem Kopf angebracht ist. Doch das wichtigste ist: sein Blick, war an eine Seite seines Buches geheftet, er hat mich nicht gesehen.

Wie kann ein einziger Blick einen so aus der Bahn werfen? Ich verstehe mich selbst nicht mehr. Noch nie in meinem Leben, habe ich so auf eine andere Person reagiert. Nicht einmal auf meinen Ex-Freund Steven.

Ich atme angespannt ein. Nicht in der Lage einen einzigen klaren Gedanken zu fassen.

,,…neun.", beendet Anni ihren Satz und starrt mich dann aus aufgerissenen braunen Augen an.

,,Nein." Ihre Stimme ist leise und klingt ungläubig.

,,Doch.", antworte ich unsicher.

,,Das ist Vince? Du hast nicht gesagt, dass er SO gut aussieht."

Wir schweigen beide. Ich sehe auf meine Hände und weiß weder was ich sagen, noch was ich tun soll. Ich verstehe es nicht. Ich gehöre einhundert Prozentig nicht zu den Menschen, die an irgendetwas übermächtiges glauben, sei es auch nur so etwas banales wie Liebe auf den ersten Blick. Ich liebe Vince nicht, immerhin das weiß ich, aber auf jeden Fall ist etwas zwischen uns und ich habe keine Ahnung was es ist. Je mehr ich mir darüber den Kopf zerbreche, desto mehr komme ich zu der Antwort, dass ich absolut nicht weiß, was da zwischen uns ist. Aber er weiß es.

,,Ich schätze, du willst nicht mit ihm sprechen?"

Stumm schüttle ich den Kopf. Nein, das will ich nicht. Als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, da war es als würden wir uns schon Ewigkeiten kennen und doch… hat er sich da von mir Verabschiedet. Ich denke nicht, dass er das getan hat um mich dann schon am Tag danach wiederzusehen. Andererseits… was ist wenn es kein Zufall ist, dass wir uns dauernd über den Weg laufen? Vielleicht will er mich auch wiedersehen und läuft mir hinterher. Aber dann könnte er mich auch einfach ansprechen oder?

Als er mich gestern umarmt hat, da habe ich mich sicher gefühlt. Sicher und Geborgen. Ich habe mein Gesicht in seiner Schulter vergraben und man… er riecht so gut! In Büchern wird immer beschrieben, wie der andere riecht. Nach einem verregneten Frühlingsmorgen oder Moschus oder was es da auch alles gibt. Ich weiß nicht wonach Vince riecht. Er riecht einfach nach sich selbst und ist das nicht besser als irgendein Abklatsch eines Waldes zu sein? Vince riecht einfach nach Vince. Und das ist gut. Richtig gut.

,,Soll ich ihn ansprechen?"

Anni sieht mich fragend und aufgeregt an. Sofort packe ich ihr Handgelenk und hindere sie somit am Aufstehen.

,,Nein! Bist du verrückt?"

,,Oh Gott entschuldige, Fräulein." Anni rollt mit den Augen, lässt sich aber zurück auf ihren Platz fallen. Das Leder gibt ein leises knatschen von sich und ich atme erleichtert aus.

,,Ich hätte nicht gedacht, dass es dich so schlimm erwischt hat.", murmelt Anni in meine Richtung und ich seufze, leicht genervt.

,,Es hat mich nicht 'erwischt'" Ich male Anführungszeichen in die Luft. ,,Es ist ganz anders."

Sie lacht. ,,Ahja, und wie?"

,,Ich kenne ihn. Ich fühle mich sicher in seiner Gegenwart, aber da ist trotzdem etwas. Er weiß was es ist, aber er sagt es mir nicht. Ich habe Angst, dass er nicht der ist, der er zu sein scheint."

,,Wer scheint er zu sein?"

,,Na wie ein Junge, der eigentlich echt anständig ist, aber auf die schiefe Bahn gelangt ist."

,,Und wovor hast du Angst?"

,,Dass er ein skrupelloser Anhänger von Hunters Gruppe ist."

Anni nimmt meine Hand in ihre und sieht mir tief in die Augen.

,,Hör zu Liv. Wenn du ihm ständig aus dem Weg gehst, wirst du nie Erfahren was da zwischen euch ist. Stell dir vor, du verpasst jetzt alles und siehst ihn nie wieder. Ich wette mit dir, eines Tages wirst du aufwachen und dich fragen, wieso du es nicht zumindest versucht hast. Also, Liv, jetzt oder nie. Du hast die Wahl."

Ich schließe die Augen und reibe mir mit der freien Hand übers Gesicht, dann stehe ich ruckartig auf und entreiße so Anni meine Hand.

,,Du hast recht, wünsch mir Glück." Ich warte nicht einmal ihre Antwort ab, sondern drehe mich sofort um und blicke zu Vince' Tisch. Der nicht mehr da sitzt. Er ist weg. Ich habe ihn verpasst.

,,Er ist draußen." Annis Stimme klingt leicht gehetzt.

Ich sehe durch eines der großen Fenster und tatsächlich. Da ist Vince, der gerade die Straße überquert und im Begriff ist in eine Seitenstraße einzubiegen. Ich sehe ihn nur von hinten, doch ich erkenne seinen blauen Strickpullover und sein braunes Haar. Kaum zu glauben, dass er bei diesem Wetter keine Jacke trägt.

Meine Augen suchen Annis und als sie sie finden, nickt sie und ich gehe los.

Sobald ich die Tür den Cafés geschlossen habe, fixieren meine Augen Vince Rücken. Er ist gerade dabei über die Straße zu laufen, die von unzähligen Autos befahren wird. Irgendwie schafft er es,  nicht bei dem Versuch hinüber zu gehen umzukommen. Sofort setze ich mich in Bewegung, immer noch mit Blick auf Vince blaue Kapuze.

Ich versuche mich durch die Massen von Autos zu kämpfen und die Abgase schnüren mir die Luft ab. Viele Autofahrer hupen und brüllen mir Schimpfwörter entgegen, ein Mann in einem blauen SUV versucht sogar mich umzufahren, doch ich kämpfe. Ich darf Vince jetzt nicht verlieren, was ist, wenn ich ihn nie wieder sehe?

Als ich endlich auf der anderen Straßenseite angekommen bin, sehe ich gerade noch, wie der blaue Pullover in eine kleine Seitenstraße einbiegt und ich hetze los.

Das Kopfsteinpflaster unter meinen Füßen scheint mit jedem meiner Schritte brüchiger zu werden. Die kleine Seitengasse, durch die ich gehe, ist von Efeu gesäumt und überall sind kleine, halb verkommene Läden, in denen es so dunkel aussieht, dass ich nicht genau wissen will, was einen drinnen erwartet. Mich erinnert das alles stark an die Winkelgasse aus Harry Potter, fast erwarte ich, dass Mr. Olivander gleich aus einem der Läden spaziert. Doch hier ist weit und breit niemand, lediglich Vince und ich.

Mittlerweile verdunkelt sich der Himmel. Es ist November und die Tage werden kürzer, allerdings hätte ich nicht gedacht, dass Annie und ich solange in dem Café saßen, dass es jetzt schon dunkel wird.

 Vince biegt wieder in eine Seitenstraße ab. Unser Abstand ist noch groß, weswegen ich Angst habe, ihn gleich zu verlieren. Ich laufe ihm also hinterher.

Ich weiß nicht, wo er hin möchte. Langsam macht mir das alles hier etwas Angst. Ich meine, ich kenne ihn doch überhaupt nicht! Was ist wenn er sich jetzt mit einem Drogendealer trifft oder noch schlimmeres? Oh Gott und wenn er mich dann sieht… Er will doch sicherlich nicht damit in Verbindung gebracht werden. Vielleicht bringt er mich dann um. Normalerweise, würde ich nicht so über andere Menschen denken, aber Vince ist ja… nun ja kein unbeschriebenes Blatt und diese Gegend lässt auch nichts gutes hoffen. Meine Schritte verlangsamen sich, sobald ich der Ecke näher komme, bei der Vince abgebogen ist. Ich drücke mich an die rote Backsteinwand und schiele vorsichtig um die Ecke.

,,Alles klar bei dir?"

Vor Schreck knalle ich mit dem Kopf nach hinten, direkt gegen die Wand.

Vor mir steht ein älterer Herr mit Hut und Stock und Hund. Nicht Vince. Kein Drogendealer. Kein Mörder. Erleichtert lasse ich mich nach unten sacken, so dass ich auf dem kalten Boden sitze. Für einen Moment hatte ich Todesangst.

Der Mann sieht mich besorgt an und langsam dämmert mir, dass er mich ja etwas gefragt hat.

,,Ja… Ja, alles gut. Danke."

Der Mann nickt einmal widerwillig und geht dann weiter.

Langsam und mit unglaublich schnell schlagendem Herz, sehe ich um die Ecke, doch die Gasse dahinter ist leer.

Ich rappel mich auf. Es kann doch nicht sein, dass er auf einmal verschwunden ist? Langsam und dann immer schneller gehe ich die Gasse entlang. Ich versuche meine Atmung flach zu halten, so dass niemand mich näher kommen hören kann und plötzlich sehe ich ihn wieder. Er steht in einer kleinen Nische. Als ich näher komme, sieht er gerade in die entgegengesetzte Richtung und ich presse mich so schnell es geht an die Wand, so dass er mich nicht sehen kann. So leise wie möglich atme ich ein und aus. Mir geht sprichwörtlich der "Arsch auf Grundeis". Irgendetwas ist hier absolut faul. Als ich anfing Vince zu suchen, war ich noch gewillt mit ihm zu reden und heraus zu finden, was genau da zwischen und ist. Jetzt will ich am liebsten nur weglaufen. Was geht hier vor sich?

Vince dreht sich so weg, dass ich ihn für ein paar Sekunden nicht sehen kann, als er los geht bin ich mir sicher, dass ihm zu Folgen vielleicht der größte Fehler meines Lebens war. Er hat eine Skimaske auf.

Scheiße, scheiße, scheiße.

Vor lauter Angst kann ich mich nicht rühren. Mein Körper ist wie erstarrt. Kalter Schweiß steht mir auf der Stirn. Noch vor wenigen Minuten hätte ich gesagt, dass Vince keiner Fliege etwas zu leide tun würde aber jetzt… was ist wenn er jemanden umbringen will? Langsam löse ich mich von der Wand hinter mir. Ich darf nicht zulassen, dass er jemandem etwas antut. Leisen Schrittes folge ich ihm. Er geht wie einer dieser Möchtegern-Macker vor mir her. Breitbeinig, die Arme wie ein Bodybuilder. Ich darf nicht zulassen, dass er jemandem etwas antut. Ja, ich weiß, dass das was ich machen möchte dumm ist und dass ich dabei drauf gehen könnte, aber ich kann doch nicht einfach abhauen und irgendwen seinem Schicksal überlassen, oder? Das kann ich nicht mit meinem Gewissen vereinbaren.

Plötzlich bleibt Vince stehen und ich tue es ihm gleich.

Dreh dich nicht um, dreh dich bitte bitte nicht um.

Allein wegen meinem Herzschlag müsste er hören, dass ich hinter ihm bin. Es schlägt uglaublich laut und schnell. Ein Wunder, dass er es nicht hört.

Das Gefühl, der Geborgenheit, dass ich in seiner Gegenwart verspüre ist der nackten Angst gewichen. Mein Verstand sagt mir ich soll um mein Leben laufen, vor allem als er hinter einer Mülltonne einen Baseballschläger heraus holt aber mein Herz und ich können das nicht. Vielleicht sollte ich die Polizei rufen, aber das geht nicht, wegen der ganzen Sache mit meinem Vater und Grey und Tess. So ein Mist. Mein Leben ist sowas von im Arsch.

Leise und leicht hysterisch lache ich auf.

,,Ich… Nein nicht schlagen… Ich habe das Geld.", höre ich auf einmal die Stimme eines Mannes sagen. Er klingt verängstigt. Sehr verängstigt.

Ich gehe ein paar Schritte weiter und sehe nun den Mann. Er hockt auf den Knien und sieht voller Angst zu Vince auf, der den Baseballschläger immer und immer wieder von der einen in die andere Hand fallen lässt.

,,Gib es mir." Vince Stimme klingt dunkler als sonst. Ihm scheint es wichtig zu sein, dass der Mann ihn nicht erkennt.

Dieser rappelt sich schnell auf und reicht Vince einen Aktenkoffer.

,,Das ist alles. Eintausendsechshundertunddrei Dollar." Der Anzug des Mannes scheint nicht besonders Edel zu sein. Vince gibt ihm auch keine Spritzen oder ähnliches. Wofür ist dieses Geld?

Vince lacht bitter auf und reißt den Koffer an sich. Ohne zu zählen.

,,Na also. Geht doch. Nächstes Mal pünktlicher, verstanden?"

Ich kann nicht glauben, dass dieser eiskalte, gewissenlose Mann, Vince sein soll.

Gestern… wie kann jemand so unterschiedlich und dennoch die selbe Person sein? Gestern dachte ich noch Vince wäre nur auf die schiefe Bahn geraten, in irgendetwas hereingerutscht, wo er nicht mehr raus kommt. Aber wenn ich ihn jetzt sehe und das was er hier offensichtlich tut, scheint er genau der Richtige für Hunters gewalttätigen Rowdies zu sein.

Mehr und mehr kommt mir der Verdacht, dass dies hier der wahre Vince ist.

Was ist wenn dies der echte ist und er mich nur aushorchen wollte. Mich reinlegen, um an Grey heranzukommen?

Oh Gott ich bin so ein Idiot. Ich habe Vince vertraut und der will eigentlich nur meinem Bruder etwas antun. Ich habe durch meine Dummheit Grey in Gefahr gebracht und somit auch Oliver.

Plötzlich holt Grey aus. Ich springe auf, bereit dem Mann zu helfen. Das Adrenalin fließt in strömen durch meinen Körper. So fühlt es sich zumindest an. Doch kurz bevor das Holz auf den Schädel des Mannes trifft, bleibt der Schläger in der Luft stehen. Vince lässt ihn wieder nach unten sinken.

,,Wag es ja nicht, noch einmal deinen Teil der Abmachung nicht zu erfüllen. Du weißt was dann passiert."

Ohne die Antwort des Anzugmannes abzuwarten, dreht er sich um.

Er dreht sich um und sieht mir direkt in die Augen und auch wenn sein Gesicht sonst vollständig von der Skimaske bedeckt ist, sehe ich wie seine Augen sich weiten und er mich voller Panik und Unglauben ansieht. Für einen Moment scheint die Zeit still zu stehen und wir sehen uns einfach nur an.

,,Liv…" Seine Stimme klingt aufgekratzt und erstaunt. Er streckt eine Hand aus, versucht mich an der Schulter zu berühren und das ist der Moment in dem ich schalte. Wie ein Blitz durchfährt die Panik meinen Körper und ich muss nichts tun. Meine Beine tragen sich selber. Ich laufe die Gassen entlang. So schnell ich kann. Die Angst schnürrt mir die Kehle zu und ich renne. Ich laufe so schnell mich meine Füße tragen. Nie im Leben bin ich schneller gelaufen.

Ich traue mich nicht mich umzusehen. Will nicht sehen, ob das Monster dem ich vertraute mich immernoch verfolgt.

 

Einige Minuten später, sitze auf den Treppen am Eingang eines Hauses. Vielleicht sind es auch schon Stunden, ich weiß es nicht. Die Angst, die meinen Körper beherrschte verflüchtigt sich langsam und auch mein Herzschlag wird wieder regelmäßiger. Jetzt habe ich wohl die Antwort auf meine zuvor gestellte Frage und es ist genau die, die ich nicht wollte. Vince ist ein skrupelloses Mitglied von Hunters Schlägerbande. Wieso auch sonst bleibt er, obwohl er anständig schien, bei Hunters Leuten und steigt nicht einfach aus? Ich frage mich was passiert wäre, wenn ich ihn heute nicht verfolgt hätte, doch die Vorstellung, dass ich durch mein unüberlegtes Handeln und mein Vertrauen Vince gegenüber meine gesamte Familie, ja meine ganze Existenz in Gefahr gebracht habe, will mir einfach nicht in den Kopf gehen.

Ich hätte gedacht, dass ich durch alles was passiert ist in meinem Leben etwas erwachsener und verantwortungsvoller geworden bin, doch dieser Vorfall zeigt mir noch einmal wie naiv und dumm ich doch bin.

Ich sehe mich um. Die Häuser um mich herum sehen verlassen aus. Überall sind Fenster eingeschlagen und Türen mit Brettern vernagelt. Im blassen Licht der Straßenlaterne erkenne ich eine schwarze Katze, die sich sträubt und schnell verschwindet. An den Wänden der Backsteingebäude häufen sich die Graffitis und die Dunkelheit lässt die Bäume wie gruselige Schemen, die sich im Wind wiegen, aussehen. Ich blicke auf ein Straßenschild und erst als ich dieses betrachte, bemerke ich, dass ich keine Ahnung wo ich bin.

Normalerweise würde mich jetzt leichte Panik befallen, schließlich ist es dunkel, ich bin in einer üblen Gegend und das alleine. Doch ich bin zu müde. Zu fertig. Zu kaputt.

Ich kenne jetzt Vince wahres Gesicht und obwohl ich ihn erst seit zwei Tagen kenne, kommt es mir vor, als hätte ich einen guten Freund verloren.

Für eine Sekunde schließe ich die Augen. Denke an die Zeiten zurück in der meine einzige Sorge war, ob Matthew Michaels aus der Parallelklasse mich wohl auch liebt (was er übrigens tat. Nur ich leider nicht. Unsere "Beziehung" hielt ganze zwei Wochen).

Ich denke daran zurück, wie Dad mir die Knie verbunden hat, wenn ich hingefallen bin und wie Mom uns Abends immer eine Geschichte erzählt hat, um uns von den bösen Monstern unter unseren Betten abzulenken.

Heute sind die Monster in meinem Kopf. Sie befallen mich in jeder Sekunde in der ich nicht abgelenkt bin.

Jetzt sind sie allerdings keine grünen, schleimigen, einäugigen Kinderfresser mehr. Heute heißen sie Sorgen, Ängste,  Trauer. Und es gibt niemanden mehr, der mich von ihnen ablenkt.

Plötzlich beginnt es zu regnen. Eiskalt und Schmerzhaft.  Wie kleine Dolche fallen die Tropfen auf meinen Körper nieder. Doch ich rühre mich nicht. Ich vergrabe den Kopf in meinen Händen, aber weine nicht.

Meine Gedanken kreisen immer wieder um den Abend an dem es ebenfalls regnete.

Ich weiß nicht wie lange ich dort rührungslos und völlig durchnässt auf den Treppen des Hauseinganges sitze, die Straße um mich herum ist dunkel, trist und einsam. Genau wie ich.

Von mir aus könnte ich definitiv weiterhin hier sitzen bleiben. Die Kälte, die meinen gesamten Körper in Besitz genommen hat, scheint so etwas wie mein bester Freund geworden zu sein. Ich spüre nichts anderes mehr, als das taube Gefühl der Kälte.

Liv seine Stimme klang so aufgekratzt, so überrascht, so traurig. Als hätte er nie erwartet mich zu sehen.

Vor allem nicht so.

Es kam so ehrlich rüber. Aber wahrscheinlich werde ich einfach zu melodramatisch. Interpretiere zu viel in ein einziges Wort, vermutlich war er einfach nur genervt, dass sein Plan nicht aufzugehen scheint. Also das mit dem Vertrauen gewinnen um an Grey ranzukommen.

Mit jeder Minute die verstreicht bekomme ich dann doch nach und nach mehr Angst. Was ist wenn gleich irgendein Drogensüchtiger hier auftaucht?

Langsam und mit zitternder Hand hole ich mein Handy aus der durchnässten Hosentasche meiner dunkelblauen Jeans. Als ich das zugegebener Maßen leicht durchnässte Handy einschalte, bin ich heilfroh, als schließlich tatsächlich das nerv tötende Nokia Geräusch ertönt. In dem Moment, wo ich jedoch die Anrufliste öffne, stockt meine Atmung und mein Herz bleibt für den Bruchteil einer Sekunde stehen.

Sie ist leer. Alle meine Kontakte verschwunden.

Das Wasser muss irgendwas beschädigt haben. Ich sacke in mich zusammen, meine nassen Haare kleben an meinem Gesicht. Ich verfluche immer und immer wieder mein Gehirn, dass es so unfähig ist, Nummern auswendig zu lernen. Daraufhin gibt dieses protzig wider: Sieh doch mal in deine Hosentasche, du Dussel. Natürlich nur symbolisch gesehen, mein Gehirn kann nicht sprechen. Nein, aber in diesem Moment, erinnere ich mich an den kleinen Zettel in meiner Hosentasche.

Vorsichtig, so dass er nicht zerreißt, ziehe ich den nassen Fetzen aus meiner Hosentasche und bin heilfroh.

Erstens, dass er mit Bleistift geschrieben hat und das geschriebene somit nicht verwischt ist und zweitens, dass ich heute die selbe Jeans anhabe wie gestern.

Ich weiß, dass es dumm ist, ich weiß, dass ich ein totaler Vollidiot und vielleicht sogar lebensmüde bin. Aber ich weiß auch, dass ich völlig durchnässt in einer düsteren Straße sitze. Nachts. Das Display zeigt 23:59 Uhr an und ich wähle Vince Nummer.

Kapitel 4 - Vince

 Livs Anruf kam überraschend.

Nie im Leben hätte ich damit gerechnet jemals nochmal etwas von ihr zu hören und daran bin ich selber schuld. Ich hätte besser aufpassen müssen, dass mir niemand folgt. Dass ich alleine bin. Ich habe das Gefühl wesentlich unaufmerksamer geworden zu sein. Wo sind mein scharfes Gehör, meine perfekte Sehstärke und meine einmalige Reaktionsfertigkeit geblieben?

Als ich mich zum gehen wandte und dann in ihre grünen Augen blickte... Ihre vor Schreck und Unglauben weit aufgerissenen Augen, da konnte ich mich nicht rühren. Wie aus dem Nichts wusste ich weder was ich sagen, machen oder denken sollte. Es war als hätte mir jemand mein Gehirn durch Wackelpudding ersetzt.

Es traf mich wie der Blitz. Unvorbereitet und schmerzhaft. Einerseits die Ungewissheit was sie nun von mir denken würde und andererseits der Baseballschläger, den ich in meiner Unachtsamkeit fallen gelassen hatte. Er traf mich am Kopf und ich sah nur noch Sternchen, Ohnmächtig wurde ich allerdings nicht.

Ich rannte mit dem Koffer in der Hand Liv hinterher, als wolle ich vor dem Mann fliehen. Somit habe ich also auch meine Autorität verloren und meine Schwäche verraten.

Ich versuchte sie einzuholen aber sie rannte wie von der Tarantel gestochen und durch meinen dröhnenden Kopf verlor ich sie langsam aber sicher aus den Augen.

Diese eine Person, von der ich mir geschworen habe immer auf sie aufzupassen, denkt nun ich wäre das skrupelloseste Arschloch, das es gibt. Wegen mir war sie in einer Gegend, in die sich nicht einmal Hunter traut, wenn er nicht muss. Wegen mir sitzt sie seit Stunden im Regen.

Niehätte ich gedacht, dass sie mir folgen würde, als ich sie im Café sah. Ich hätte sofort gehen sollen, als ich sie sah... aber ich konnte es nicht. Ich wollte nur für einige Minuten in ihrer Nähe sein. Wenn ich nur ein einziges Mal auf mein Gehirn statt auf mein Herz hören würde, wäre das heute nicht passiert. Ich bin, wenn es um sie geht, zu verweichlicht. Sie weckt in mir eine Seite, die wenn überhaupt mein Bruder schafft zu wecken.

Ich habe Angst um sie, rund um die Uhr. Ich denke darüber nach was sie macht, wenn sie nicht bei mir ist. Ich beobachte sie aus der Ferne, wie ein kranker Stalker und passe auf, dass ihr nichts passiert. Seit Jahren. Und im Endeffekt passiert ihr immer genau dann etwas wenn ich darin verwickelt bin. Ich bin schuld.

,,John, wenn er fragt, ich bin bei meiner Familie"

Ich warte nicht einmal seine Antwort ab, ich weiß, dass er mich nicht verpfeifen wird. So schnell ich kann, werfe ich mir meine Jacke über und verlasse unser Zimmer. Sobald ich in meinem Pick-Up sitze, jage ich durch die Straßen. Liv sitzt ganz alleine im Regen in einer der übelsten Gegenden der Stadt. Und es ist meine Schuld. Meine Schuld.

Aus dem Radio dröhnt irgendein Lied von James Blunt und der Regen klatscht auf das Dach meines Autos und obwohl mich beides tierisch nervt, unternehme ich nichts dagegen. Ich bin nicht in der Lage irgendetwas zu machen, außer zu fahren. Meine Gedanken kreisen immer wieder um Liv. Wenn ihr etwas passiert, ist es meine Schuld. Meine Atmung ist flach, mein Herz schlägt mit doppelter Geschwindigkeit und mit einer riesigen Menge Adrenalin im Blut rase ich durch die Straßen. Die Räder meines Wagens lassen das Wasser aufwirbeln. Alles ist leer und grau. Kein weiteres Auto ist auf den Straßen. Ich habe das Gefühl, dass es ewig dauert. Jede Sekunde wirkt wie eine Minute, doch schließlich sehe ich sie.

Sie sitzt zusammengesackt auf den Treppen eines Hauses. Ihr Gesicht ist in ihre Hände gestützt und ihre Kleidung klebt durch die Nässe an ihrem Körper. Mir fällt ein Stein vom Herzen, denn obwohl sie vermutlich die Grippe des Jahrhunderts bekommen wird, scheint sie unversehrt zu sein.

Ich verringere mein Tempo und bleibe schließlich direkt neben ihr stehen. Sie sieht nicht einmal auf. Vermutlich hat sie panische Angst vor mir. Kein Wunder, sie hat vorhin mit ansehen müssen, wie ich jemanden bedrohe. Bestimmt denkt sie, ich werde sie jetzt zum Schweigen bringen. Was würde ich darum geben wenn sie jetzt in meinen Kopf sehen könnte...  Dann würde sie sehen, dass ich ihr niemals etwas antun könnte. Niemals. Ich steige aus und lasse leise meine Tür zufallen. Ich nähere mich ihr nur langsam und bleibe schließlich zwei Meter entfernt von ihr stehen, ich will ihr keine Angst machen. Ich vergrabe meine Hände in meinen Hosentaschen und lasse den Regen auf mich niederfallen. So stehe ich etwa fünf Minuten, so dass sie weiß, dass ich ihr nichts tun möchte, die ganze Zeit über regt sie sich kein Stück. ,,Darf ich mich neben dich setzen?", frage ich schließlich. Gerade so laut, dass sie mich hören kann. Als sie mir antwortet klingt ihre Stimme unerwartet stark und fest.

,,Ja." Ich hätte erwartet, dass sie mich abweist, mir sagt ich solle wieder gehen oder mich anschreit, mir Vorwürfe macht, aber nichts der gleichen passiert sobald ich mich neben sie setze. Wir schweigen einfach nur beide. Am liebsten würde ich sie so schnell es geht aus dem Regen heraus bringen, aber ich will sie nicht in Panik versetzen, also sitzen wir einfach nur da. Mehrere Minuten. Absolute Stille. Wir berühren uns nicht, unsere Körper sind wenige Millimeter voneinander entfernt und trotzdem spüre ich ihre Abneigung mir gegenüber am ganzen Körper. Nach weiteren Minuten halte ich es nicht mehr aus. Ich kann nicht mit ansehen, wie sie da sitzt, ihr muss Eiskalt sein.

Ohne weiter darüber nachzudenken, hebe ich sie hoch. Als ihre nassen Kleider auf meine treffen und ihre kalte Hand meine Wange berührt, bin ich mir sicher das richtige zu tun.

Obwohl sie sich nicht dagegen wehrt scheint sie sich unwohl in meiner Gegenwart zu fühlen, aber darauf kann ich momentan keine Rücksicht nehmen. Sie ist leichter als ich erwartet hätte, nicht dass sie dick aussieht, nein. Sie ist einfach nicht schwer. Vielleicht liegt diese Wahrnehmung auch an dem Adrenalin, das noch immer meinen Puls höher schlagen lässt. Wenn es überhaupt dieses ist, welches für den Galopp meines Herzens verantwortlich ist und nicht der Körper in meinen Armen. Der Moment, in dem Livs kalte Finger mein Gesicht berührten, war es als würde ein Schlag durch meinen Körper fahren, einerseits wegen der Kälte, andererseits weil es sie war, die es tat. Gleichzeitig wird die Stelle meines Körpers heiß, was in völligem Gegensatz zur Temperatur ihrer Hand steht.

Dieses Mädchen macht mich verrückt.

Mit Liv in den Armen überquere ich die kleine Veranda, die das Haus umgibt und stoße -zugegebener Maßen- mit Gewalt die Holztür, welche uns von einem trockenen inneren trennt mit dem Fuß auf. Sie gibt ein kleines Quietschen von sich und wir treten ein. Sobald wir das Haus betreten, sind wir auch schon im Wohnzimmer. Einen Flur gibt es nicht. Ich sehe mich so gut es in der Dunkelheit geht im Haus um. Wir haben Glück, es sind keine Fenster des Hauses beschädigt. Der morsche Holzboden ist trocken und es ist sogar einigermaßen warm hier drinnen. Zumindest im Gegensatz zu draußen. Möbel sind keine vorhanden. Die Wände sind kahl, dennoch kann ich mir vorstellen, dass dieses Haus mit ein wenig Hingabe wirklich schön und gemütlich werden könnte. Potenzial hat es auf jeden Fall. Die Decken sind hoch und lassen den Raum so majestätisch wirken, genauso wie die riesigen Fenster. Eine kleine, hölzerne Treppe führt in einen zweiten Stock, allerdings sieht diese aus, als könnte sie mein Körpergewicht nicht mehr tragen. Der Boden ist aus einem dunklen Parkett und sogar ein Kamin ist vorhanden.

Vorsichtig und langsam trage ich Liv zum Kamin, das alte Holz knarrt unter meinen Füßen bedrohlich, macht jedoch keine Anstalten zu brechen und so setze ich sie wohlbehalten ab. Ihre Augen sind geschlossen, aber ich weiß, dass sie nicht schläft. Ich hocke mich neben sie und sehe sie besorgt an.

,,Alles in Ordnung?", frage ich noch einmal und sie schlägt die Augen auf, starrt mit leerem Blick auf den kalten Kamin und nickt.

,,Ich bin gleich wieder da." Mit diesen Worten verschwinde ich aus dem Haus und laufe direkt wieder in die kalte Nässe zu meinem matt-grünen Pick-up. Heraus hole ich so viel ich tragen kann. Drei Decken, einen Pullover, eine Jogginghose, ein Feuerzeug und eine Tafel Schokolade. Als ich das Haus wieder betrete, stoße ich mit einem Fuß die Tür zu und gehe dann zurück zu Liv, die sich die ganze Zeit über nicht gerührt hat. Ich lege die graue Jogginghose und den weinroten Pullover vor ihr ab. Die selben, die sie schon im Haus der Lincolns getragen hat. Als ich dort aufwachte lagen sie zusammengefaltet am Ende des Sofas. Ich habe sie zwar seitdem nicht gewaschen, aber da nur sie sie anhatte, wird das wohl kein Problem sein.

Noch immer starrt sie auf den leeren Kamin, das Wasser tropft von ihrer nassen Kleidung.

,,Liv?"

,,Ja?" Nun sieht sich mich an und in ihren grünen Augen kann ich eine solch große Trauer sehen, wie ich sie nur ein einziges Mal im Leben sah. Bei der selben Person wie heute. Trotzdem strahlen ihre Augen, ja ihre ganze Präsenz eine so unglaubliche Stärke aus. Liv ist nicht schwach, ganz im Gegenteil. Sie ist eine der stärksten Menschen, denen ich je begegnet bin.

Ich zeige auf die Sachen die zwischen mir und ihr liegen. ,,Zieh das an... Du bist klitschnass."

Ich versuche meine Stimme so ruhig wie möglich klingen zu lassen, ich möchte auf keinen Fall, dass sie mir gegenüber noch misstrauischer wird.

,, Bitte.", füge ich noch hinzu als sie mich einfach nur mit stechendem Blick mustert. Ich darf das klein wenig Vertrauen, dass sie mir mit ihrem Anruf entgegengebracht hat nicht zerstören. Schließlich steht sie auf und macht Anstalten sich den Pullover über den Kopf zu streifen, stockt jedoch in der Bewegung und räuspert sich. Sofort drehe ich mich weg, ich habe gar nicht bemerkt, wie sehr ich sie angestarrt habe. Ich sehe auf den Kamin und überlege wo ich Holz herbekommen könnte. Wenn wir hier drinnen nicht erfrieren wollen, ist es unumgehbar sich eine warme Energiequelle zu suchen und ich habe nicht vor Liv erfrieren zu lassen. Dafür habe ich einfach schon zu viel auf mich genommen um sie zu schützen. Dafür ist sie mir zu wichtig. Noch immer.

Liv setzt sich wieder neben mich, nun in meinen Sachen und mit nackten Füßen. Ein kleiner Kleidungsberg liegt in der Ecke des Raumes.

,,Was ist mit dir?", fragt sie mich plötzlich. Ich sehe ihr in die Augen, die bereits meine fixieren und streiche mir mit einer Hand das Haar aus dem Gesicht.

,,Was soll mit mir sein?"

Sie sieht an mir herunter und deutet dann ein leichtes lächeln an, welches ich definitiv als Triumph verbuche, obwohl in ihm so viel Schmerz liegt wie zuvor in ihren Augen.

,,Du bist auch nass. Sehr sogar." Kurz bin ich gewillt zu sagen ich sei unwichtig aber ich denke nicht, dass das die sture Liv zufrieden gestellt hätte, also halte ich den Mund und sage lediglich: ,,Wir wäre es, wenn ich uns den Kamin anmachen würde?"

Ihre Augen wandern von meinen zu allen Ecken des Wohnzimmers. ,,Womit? Das Holz draußen wird zu feucht sein und hier drinnen ist keines." Plötzlich geht mir ein Licht auf und ich grinse sie an. Sie hat mich auf eine Idee gebracht.

,,Hier drinnen ist sogar jede Menge Holz!" Ihr Gesichtsausdruck zeigt, dass sie die geringste Ahnung hat wovon ich spreche und so springe ich auf und gehe in die andere Ecke des riesigen Raumes. Ein Glück ist das Holz so alt, dass es mir keine größeren Probleme bereitet, als ich es aus der Diele raus breche. Unter dem Brett ist nur harter, kalter Beton.

,,Was machst du denn da?" Liv ist aufgesprungen, läuft mit ihren nackten Füßen zu mir und sieht mich entgeistert und mit riesigen Augen an. Ich werfe das zuvor herausgebrochene Brett neben mich. Es scheint kein besonders großer Kraftaufwand nötig zu sein um uns ein Kaminfeuer herzurichten. Zum Glück.

,,Na ich besorge uns trockenes Holz.", sage ich, während ich das nächste Brett herausreiße und es auf das andere neben mir lege. Ich blicke zu Liv, deren Gesichtsausdruck so verdattert ist, dass ich mir ein kleines Grinsen nicht verkneifen kann.

,,Liv.", beginne ich. ,,Denkst du wirklich diese Diele wird jemand vermissen? Geschweige denn dieses Haus?"

,,Nein... Aber..." Sie bricht mitten im Satz ab und kommt zu mir. ,,Ja gut, du hast recht."

Auf den Schock scheint sie ihren Hass mir gegenüber vergessen zu haben, denn sie nimmt das Holz und trägt es zum Kamin. So arbeiten wir. Einvernehmlich in einsamer Stille. Es fühlt sich so normal an, mit Liv in einem Raum zu sein. So natürlich. Als kannten wir uns schon unser Leben lang. Was wir zwar auch tun aber nur einer von uns weiß davon.

Hier mit Liv zu sein, in diesem verlassenen Haus, Zeit mit ihr zu verbringen das alles fühlt sich gut an. Nicht wie das schlechte, dass es eigentlich ist. Liv ist zu gut für jemanden wie mich. Aber trotzdem fühlt sich das hier so richtig an. Es tut mir gut Zeit mit ihr zu verbringen. Nur ihr leider nicht. Ich bin das Monster, vor dem ich sie beschützen muss. Vielleicht nicht unbedingt direkt ich, aber meine Vergangenheit, meine Freunde, mein Umfeld. All das ist schlecht für sie, würde ihr Leben noch schlimmer machen, als es sowieso schon ist und das kann ich nicht zu lassen. Dieses eine Mal, muss ich auf meinen Kopf hören, nicht auf mein Herz. Liv darf mir nicht zu nahe kommen. Sie darf nicht Teil meines perfiden Lebens werden. Sie darf mich nicht mögen.

Aber mich ihr gegenüber wie ein Arsch benehmen, nur um dafür zu sorgen, dass sie mich hasst kommt auch nicht in Frage, denn dann hätte sie kein Vertrauen mehr zu mir. Und das ist dringend erforderlich, wenn es vielleicht einmal zu einer Situation kommt, in der sie mir vertrauen muss. Ich habe so ein Gefühl, dass es bis dahin nicht mehr lange dauern wird.

Langsam, ohne Liv aus den Augen zu lassen, gehe ich zum Kamin und hole das Feuerzeug, welches ich zusammen mit den Decken neben diesen gelegt habe. Ich drehe mich noch einmal um. Liv sitzt mit umschlungenen Beinen da. Ihr Kinn liegt auf ihren Knien und ihre Augen haben mich fixiert. Sie gibt keinen Ton von sich und trotzdem sagt ihr Blick so vieles. Sie hat keine Angst vor mir, ist sich aber dennoch nicht sicher ob man mir vertrauen kann. Das bin ich mir allerdings auch nicht.

Ich gehe in die Hocke und zünde das Holz an. Von nun an übernimmt das Feuer, sofort lecken helle Flammen über den dunklen ehemaligen Boden und lassen diesem keine Chance. Ich lasse mich zurückfallen, schnappe mir eine Decke und setze mich neben Liv. Ich beobachte sie und da sie nicht protestiert lege ich ihr eine der flauschigen cremefarbenen Hüllen um die Schultern.

Sobald ich das gemacht habe, starren wir beide für einige Minuten auf das Feuer. Ich fühle wie ihre Anspannung von Sekunde zu Sekunde mehr weicht und sie beginnt, die Mauer die sie um sich herum aufgebaut hat, abzubauen. Als ich beginne meinen nassen Pullover, sowie mein Tank-Top darunter auszuziehen dreht sie sich zu mir um und mustert mich mit nachdenklichem Blick. Auch als ich Oberkörperfrei vor ihr sitze, wendet sie sich nicht ab, sondern studiert anscheinend meinen Körper.

Ich lache leicht. ,,Alles okay?" Erschrocken und leicht peinlich berührt sieht sie mich an. Ihre Wangen werden rot und sie lächelt leicht.

,,Es tut mir leid, ich war gerade total in Gedanken, ich wollte nicht starren."

Ich grinse sie an und lege meine nasse Kleidung zum trocknen vor den Kamin. Meine Hose lasse ich vorsichtshalber an, nicht dass sie noch auf falsche Gedanken kommt.

,,Ist dir immer noch kalt?", frage ich sie. Immer noch in Sorge, ihr gehe es nicht gut.

,,Nur noch ein bisschen."

Die Hände im Nacken verschränkt,  lege ich mich hin. Mehr im Spaß als im Ernst sage ich: ,,Weißt du, durch kuscheln wird einem viel schneller warm." und bin daher absolut überrascht, als sie tatsächlich näher an mich heranrückt und schließlich ihren Kopf auf meine nackte Brust. Für einen Moment bin ich wie erstarrt, weiß nicht was ich tun soll. Ihr Geruch, durch den Regen verstärkt, strömt in meine Nase und lässt mein Herz höher schlagen. Ich spüre ihres an der Seite meines Bauches, welches ebenfalls nicht mehr seinem normalen Rhythmus folgt. Ihre Augen sind geschlossen,  ihr feuchtes Haar klebt an meinem Körper. Ich spüre ihren regelmäßigen Atem auf meiner Haut und lege einen meiner Arme um sie, sodass wir aneinandergeschmiegt daliegen.

Vor einer Sekunde war mir noch eiskalt, doch nun spüre ich wie sich eine wunderbare wärme in meinem gesamten Körper ausbreitet. Ich erwische mich wie ich daran denke sie zu küssen und weiß, dass das gerade mein größter Wunsch ist.

Unsere Leben sind nicht perfekt, nein. Aber dieser Moment kommt diesem Zustand schon sehr nahe. Es fühlt sich an als würde die Zeit stehen bleiben. Keiner von uns bewegt sich und ich spüre, dass das hier etwas ganz besonderes werden könnte. Dass wir etwas besonderes werden könnten.

,,Der Tag an dem es regnete", fängt sie wie aus dem nichts an zu reden und ich unterbreche sie nicht. An dem Zittern in ihrer Stimme höre ich, dass das hier wichtig für sie ist.

,,Es war der Tag an dem  meine Mutter starb. Ich rannte aus unserem Haus als mein Vater es uns erzählte. Ich war nicht einmal bei ihr als sie einschlief."

Eine heiße Träne fließt über ihr Gesicht auf meinen Körper und ich streiche ihr gedankenverloren durch die Haare und hoffe sie dadurch zumindest ein wenig zu unterstützen.

,,Ein solcher Schmerz erfasste mich... Ich habe nie etwas vergleichbares verspürt, nie. Bis heute nicht. Es war so als würde jemand ein Stück meines Herzens raus reißen und mir nie wieder geben. Ich konnte damals nicht einmal weinen, ich war so geschockt. Ich war erst acht und ich konnte es nicht glauben. Ich lief also. Ich lief einfach. Und es regnete. Es regnete in Strömen und jeder einzelne Tropfen der mich traf, fühlte sich an als würde man kleine Nadeln auf mich rieseln lassen. Es war schrecklich." Ein Schluchzer schüttelt sie und ich fühle mich so machtlos. So hilflos. Ich kann es nicht mit ansehen, wenn sie weint.

,,Ich verlief mich, aber ich rannte immer weiter. Hörte auf niemanden. Ließ niemanden an mich heran. Verlor mich in meinem Schmerz. Und dann war da jemand und dann weiß ich nichts mehr. Am nächsten Tag fand mich mein Vater. Ich war völlig zerschunden und verletzt worden von irgendjemanden und das einzige was sich in mein Gehirn gebrannt hat war der Regen der unweigerlich auf mich einprügelte und mir bis heute das Gefühl der Verletzlichkeit und des Verlustes bringt. Meine Psychologin war letztendlich der Meinung, dass es gut sei, dass ich nicht mehr weiß, was passiert ist."

 Da trifft mich auf einmal die Erkenntnis. Ich wünschte, ich könnte ihr die Wahrheit sagen, denn ich weiß genau von welcher Nacht sie redet. Ich war dabei. Doch ich kann es nicht.

Ich kann es ihr nicht erzählen, es würde alle die ich liebe in Gefahr bringen. Liv mit eingeschlossen. Außerdem würde es sie noch mehr herunterziehen und sie würde sich noch schlechter fühlen, als sie es sowieso schon tut. Die Psychologin hat recht, sie kann sich absolut glücklich schätzen, dass sie nicht mehr weiß, was in dieser Nacht passierte. Ich wünschte ich könnte es auch. Vergessen. Ich unterdrücke nicht länger den Impuls und drücke ihr einen Kuss aufs Haar, in den ich alle Liebe und alle Stärke und Verletzlichkeit lege, die ich habe. Ich würde ihr am liebsten all die schrecklichen Gedanken abnehmen, die sie momentan plagen und ihr sagen, dass alles gut wird. Doch das kann ich nicht. Momentan ist nichts gut. Ich drücke, sie fester an mich, während ihr immer mehr und mehr Tränen über die Wangen laufen und ein Schluchzer nach dem anderen ihren Körper zum Beben bringt.

Dieses Mädchen überrascht mich immer wieder. Mit ihrer Stärke. Ihrer Verletzlichkeit. Ihrem Vertrauen. Ich spüre wie alle Kraft aus ihrem Körper weicht und sie sich einfach nur noch mit sich selbst und ihrem Verlust beschäftigt. Und das ist absolut okay. Selbst in ihrer Schwäche ist sie noch unglaublich Tapfer.

Ich bewundere sie dafür. Sie ist so viel mehr als sie selbst von sich hält, sie ist so viel wunderbarer als sie denkt.

Ich möchte derjenige sein, zu dem sich kommt wenn es ihr nicht gut geht.

Ich möchte derjenige sein, dem sie zu hundert Prozent vertraut.

Ich möchte derjenige sein, mit dem sie Abends einschläft.

Ich möchte derjenige sein, der sie zum Lachen bringt.

Und zum Weinen.

Und zum Leben.

Ich möchte derjenige sein, den sie liebt.

Doch all das ist unmöglich. Unsere Welten sind völlig verschiedene, unsere Freunde Todfeinde und mein Leben zu gefährlich für sie. All die Jahre über, habe ich mich gegen alles gewehrt, was mich an sie erinnerte. Habe mich gegen meine Gefühle ihr gegenüber gewehrt und das alles ohne Erfolg. Und ich habe es so vermisst. Ich habe es so vermisst, sie in meinen Armen zu spüren und ihren Geruch einzuatmen und zu wissen dass sie da ist, dass sie wirklich bei mir ist.

Langsam beruhigt sie sich wieder und schmiegt sich noch näher an mich. Das Feuer knistert, sonst herrscht völlige Stille. Die aber keineswegs unangenehm ist. Im Gegenteil. Nach einiger Zeit ist es wieder Liv, die diese durchbricht: ,,Erzählst du mir eine Geschichte?"

Sie flüstert nur, aber ich verstehe sie klar und deutlich. Ohne zu zögern beginne ich zu erzählen und streichle dabei in kleinen Kreisen ihren Arm. ,

,Es waren einmal ein kleiner Junge und ein kleines Mädchen. Die beiden kannten sich ihr Leben lang und waren die besten Freunde. Die beiden konnten nicht ohne einander... aber auch nicht miteinander, denn es gab so viele Hürden, die sie überwinden mussten. Eine der größten Hürden war die Freundschaft der beiden. Auch wenn sie sich bis zum Alter von vier Jahren ständig sahen wurden sie irgendwann getrennt. Durch das Leben. Das Mädchen war noch zu klein, es vergaß ihren Freund nach einiger Zeit, doch der Junge erinnerte sich immer daran. So wurde die unglaubliche Freundschaft der beiden zu einer einseitigen. Der Junge konnte seine beste Freundin nie vergessen und sah sie. Immer und immer wieder, doch sie sah nie ihn. Er beobachtete sie aus der Ferne und wünschte sich, nur noch einmal mit ihr 'Verstecken' oder 'Mensch ärgere dich nicht' zu spielen. Ihre ganz eigene Version, in der sie ihn immer schlug. Doch es ging nicht, das Leben hatte sie getrennt. Trotzdem wanderten die Gedanken des Jungen immer wieder zu seiner besten Freundin. Immer wieder wurde er an die wunderbaren Stunden erinnert, die sie zusammen verbracht hatten. Mal durch einen bellenden Hund, mal durch das klingeln einer Glocke, die durch den Raum hallte. Auch Jahre später hatte der Junge sie nicht vergessen. Sie war immer noch seine beste Freundin, die sich nicht an ihn erinnerte und ihn nie sah. Der Junge passte immer auf, dass es ihr gut ging. Beschützte sie aus dem Hintergrund, so gut es auch immer ging. Eines Tages trafen die beiden wieder aufeinander. Der Junge war unglaublich froh sie zu sehen, andererseits hatte er Angst. Das Leben hatte sie getrennt, was würde es tun wenn sie wieder zusammentreffen würden? Trotzdem versuchte er alles und gab sein bestes und die beiden wurden wieder Freunde, bis an ihr Lebensende. Das Leben hatte nichts mehr zu sagen." Nach dem ich meine Geschichte beendet habe, herrscht zunächst Stille. Lediglich unser Atem und das Feuer durchbrechen diese. Liv hebt eine Hand und berührt kurz mein Kinn. ,,Danke." Ich lächle, greife nach einer weiteren Decke, die neben mir liegt und breite sie behutsam über uns aus.

,,Gute Nacht Liv."

,,Gute Nacht Vince."

 

Stöhnend schlage ich mir eine Hand über die Augen. Wie lange ist es her, dass ich von dem schrillen, absolut nervtötenden Geräusch eines klingelnden Weckers geweckt wurde? Zwei Jahre? Drei? Ich spüre wie der Druck auf meiner Brust nachlässt, als hätte jemand etwas heruntergenommen und in der nächsten Sekunde wird der schreckliche Ton abgeschaltet. Stattdessen höre ich jetzt etwas anderes.

„Scheiße! Scheiße, Scheiße, Scheiße!” und das mit allergrößter Verzweiflung.  Blinzelnd öffne ich die Augen und blicke verwirrt der ungewohnten Umgebung und dem grellen Licht entgegen. Langsam richte ich mich ein wenig auf. Im ersten Moment realisiere ich weder wo ich mich befinde, noch wer da gerade neben mir hastig aufspringt und wild im Raum herumläuft. Dann stürzt wieder alles auf mich ein und ich lasse mich stöhnend wieder zurück sinkend. 

„Was genau ist Scheisse?”, frage ich wieder mit geschlossenen Augen.

Schlaf ist wichtig und davon hatte ich letzte Nacht definitiv zu wenig. Ich höre wie Liv ihren Kleidungshaufen aufhebt und sich dann einige Schritte von mir entfernt. 

„Schule! Ich habe die Schule vergessen!” Ihre Stimme klingt aufgekratzt und gestresst.

Obwohl ich meine Augen nicht öffne, spüre ich die Nervosität die von ihr ausgeht, aber da ist noch etwas. In ihrer Stimme war noch etwas anderes. 

„Kannst du dich vielleicht mal bewegen?” Ah, jetzt weiß ich was es ist. Sie ist definitiv sauer auf mich und ich weiß genau wieso. Ich habe mich schon gestern gefragt, wieso sie nicht verärgert war. Oder zumindest ängstlich. Schließlich hat sie mich gestern erwischt. Bei meinem niederen und schrecklichen Job. Schutzgeld erpressen.

Ich denke ich an ihrer Stelle würde mich hassen. Schließlich habe ich in gewissem Sinne ihr Vertrauen missbraucht. 

„Wieso? Ich muss nicht zur Schule.” Ich mache keine Anstalten mich auch nur ein wenig zu bewegen. Ich bin morgens einfach zu nichts fähig. Auch nicht zum Aufstehen. Eine Schande, dass Livs Handy nicht kaputt genug ist, sonst hätte mit Glück auch ihr Wecker einen Aussetzer gehabt.

Als Liv auf mich zu stampft (Ja, stampft) merke ich natürlich sofort ihre Wut. 

Sie packt mich an der Schulter und versucht mich hochzustemmen. Was ihr natürlich nicht ansatzweise gelingt, wenn ich es nicht will. Schließlich gebe ich nach und stehe auf, sodass ich ihr gegenüber stehe. Ich sehe zu ihr herunter. Die Arme verschränkt und mit einem wütenden Funkeln fixiert sie meine Augen. Bevor ich mich Versehen kann geht es los. 

„Du machst alles so viel schlimmer, weißt du das überhaupt?”, knurrt sie. „Am Freitag bevor du in dieses beschissene Büro dieser beschissenen Lehrerin gekommen bist, war alles noch... Naja.... Nicht soooooo schlimm. Aber jetzt...”

Sie pikt mir in die Brust. „Seit diesem Moment geht alles den Bach runter! Erst verprügelt dein beschissener Kumpel meinen Bruder und hetzt deine ganze blöde Bande auf mich auf und gestern? Ich habe dir vertraut verdammt! Ich wollte uns... erer Freundschaft eine Chance geben und was sehe ich dann? Du beschissener Typ bedrohst diesen beschissenen Typen und schleppst mich danach in dieses beschissene Haus? Und jetzt verpasse ich wegen dir die beschissene Schule! Was kommt als nächstes? Vergewaltigst du mich?”

Ihre letzte Frage äußert sie in einem ironischen Tonfall, allerdings ist ihre Wut in jedem Wort ihrer Rede deutlich zu hören.

Das was ich Trottel als erstes herausbringe ist: „Du stehst auf das Wort beschissen, oder?” woraufhin sie sich eine Hand auf die Stirn schlägt und sich genervt schnaubend von mir abwendet. 

„Okay, nein, es tut mir leid.” Ich vergrabe meine Hände in den Hosentaschen. Kommt es mit nur so vor oder erlebe ich Liv immer nur in den extremsten Gefühlszuständen? Bisher waren es nur Trauer und Verzweiflung aber jetzt kommt auch noch Wut dazu. 

„Es tut dir leid?” Liv pikst mich abermals in die Brust und mit jedem weiteren Wort folgt ein neuer Piks. „Ich. Habe. Dir. Vertraut. Du. Beschiss...” Ich lasse sie nicht ihr Lieblingswort aussprechen, sondern umschließe ihre Hand mit meiner und lege einen Arm um sie, um sie zum schweigen zu bringen. Was eigenartiger Weise sogar funktioniert. Nach einigen Sekunden windet sie sich aus meinen Armen und betrachtet mich argwöhnisch. 

„Weißt du es ist wirklich unglaublich, dass ich dir trotz allem noch vertraue. Selbst wenn ich es nicht will.” Sie runzelt die Stirn. „Ich weiß ja eigentlich überhaupt nichts über dich und ich denke du wirst mir auch nichts sagen.”

Ich greife nach meinem Pulli und ziehe ihn mir über den Kopf, sodass ich bekleidet vor ihr stehe. Ich bin noch immer der Meinung, dass meine Gesellschaft für Liv nicht gut ist, aber anscheinend gerät sie immer in Schwierigkeiten. Egal ob ich da bin oder nicht. Wenn ich da bin, kann ich zumindest versuchen schlimmeres zu vermeiden. 

„Ich kann die vermutlich nicht die Antworten geben, die du haben möchtest, das stimmt. Zumindest kann ich es noch nicht.” Ich fahre mir nervös durch die Haare. „Aber was hältst du davon mich besser kennenzulernen? Ich möchte unserer Freundschaft auch eine Chance geben.”

„Und woher soll ich wissen, dass du mich nicht irgendwie verarschst oder... so?”

„Ich denke da musst du einfach auf mein Wort vertrauen.” Ich grinse sie verschmitzt an. „Was hältst du davon mit mir den Tag zu verbringen?” 

Bevor sie antworten kann klingelt ihr Handy und genau zwanzig Minuten später steht auf einmal Tess im Raum. Die etwas rundlichere, dunkelhäutige, sehr herrische aber unglaublich liebenswerte Tess. Und nicht nur sie! Nein, sie hat auch allerhand mitgebracht! Alle möglichen Lebensmittel, Ersatzkleidung, Handtücher und sogar zwei Klappstühle! Sobald sie hereinkommt zieht sie mit ihrer herzlichen Art und ihrem breiten Grinsen sofort alle Aufmerksamkeit auf sich. 

„Mensch Kinder, nicht mal etwas zu essen habt ihr hier! Wenn ihr mich nicht hättet... man man man und ihr meint natürlich alle schon so extrem erwachsen zu sein.” Ohne auf eine Antwort zu warten breitet sie eine der Decken auf dem Boden aus und verteilt dort allerhand Lebensmittel. Frische Brötchen, Baguette, Butter, Marmelade, Honig, Erdnussbutter, Käse, Salami und das allerwichtigste: Nutella.

Außerdem noch drei Teller, Messer und Gläser. Dann noch Milch, Kakaopulver, Wasser und Apfelsaft.  Während mir noch der Mund offen steht gesellt sich Liv schon zu ihr und umarmt sie. 

„Tess, du bist die beste und verrückteste Tess der Welt! Danke!”, sagt sie lachend.

Ich geselle mich zu den beiden und es ist unglaublich wie schnell die angespannte, wütende Stimmung von eben sich in das hier verwandelt hat. Ein wirklich gemütliches, spaßiges Frühstückspicnic.  Lachend und ohne großartig darüber nachzudenken entferne ich mit einem meiner Finger ein wenig Marmelade, die sich in Livs Mundwinkel angesammelt hat. Ich lasse meine Hand ein wenig an ihrer Wange verweilen. Von einer Sekunde auf die nächste ist die Luft wie elektrisiert.

Mein Lachen verstummt und Liv starrt mich mit großen Augen an. Lediglich Tess plappert weiterhin munter vor sich her und scheint nicht einmal zu bemerken, was sich direkt vor ihren Augen abspielt. Aber was ist das überhaupt? Wie kann einen eine solch kleine Berührung so aus der Bahn werfen? Ich weiß, dass Liv und ich keine Freunde sind. Keine Freunde sein können. Denn das was ich fühle wenn sie auch nur den Raum betritt, ist alles andere als Freundschaft.

Es ist mehr. Und ich denke das weiß sie auch.

„...und dann hat er ihr doch glatt eine reingehauen!”, ruft Tess vergnügt und klatscht in die Hände. „Hört ihr mir überhaupt noch zu?” Und schon ist der schöne, intime Moment vorbei.

„Wenn ich mich beeile komme ich noch rechtzeitig zur zweiten Stunde.”, redet Liv sich heraus, während sie ein Brot mit Marmelade und Käse vertilgt. Eine, meiner Meinung nach, sehr komische Mischung. Tess zieht eine Augenbraue hoch und sieht missbilligend zu ihr. 

„Liv. Scheiss doch einfach mal auf die Schule!” 

„Aber, aber...” Liv scheint genauso perplex zu sein wie ich, doch als ich ihren verdatterten Gesichtsausdruck sehe fange ich schallend an zu lachen. Woraufhin ich mit einem wütenden Blick bestraft werde. Als ich dennoch nicht aufhöre boxt sie mir so fest sie kann gegen die Schulter. Was mir aber kein bisschen weh tut. Trotzdem greife ich nach meinem Arm und heule theatralisch auf. Liv verdreht kurz die Augen, stimmt dann aber in mein Lachen mit ein. Was mich nur noch fröhlicher macht! 

Ich bin absolut erleichtert, dass die Stimmung so ausgelassen ist und denke, dass ist nicht allein mein Verdienst. Ich weiß nicht wieso aber wenn Tess kommt geht die Sonne auf. Mit ihrer eigenen Art und ihrem Charme holt sie einfach aus jeder noch so schlimmen Lage das beste heraus. Ich kann verstehen, wieso Liv sich so zu ihr hingezogen fühlt. 

 

 

Als wir uns von unserem Lachanfall erholt haben, will Liv immernoch zur Schule. Tess ist allerdings klipp und klar dagegen und so muss Liv schließlich schwören heute nicht einmal an die Schule zu denken. Was sie widerwillig tut. Tess ist einfach ein Engel. Die letzten Tage waren nicht einfach für Liv und das weiß Tess. Liv braucht einfach mal für einen Tag Ruhe und Spaß.  Als Tess letztendlich aus der Tür geht ist das letzte was sie zu uns sagt: „Und behaltet das Geschirr und den ganzen Kram hier. Ich habe das Gefühl, dass dieses Haus etwas ganz besonderes werden kann.” Dann ist sie weg.

Ich sehe mich noch einmal im Haus um. Obwohl alles sehr heruntergekommen wirkt hat Tess recht. Dieses Haus ist besonders. Nicht nur weil die großen Fenster das Licht nur so ins Zimmer fluten lassen und der Kamin allem eine gemütliche, wohlige Atmosphäre geben, nein.

Auch weil wir hier glücklich sind. Ich weiß nicht wieso aber ich war lange nicht mehr so glücklich wie ich es in diesem Haus war und ich denke Liv geht es genauso.

,,Hey, alles okay?" Ich betrachte Liv, die an die Wand gelehnt sitzt und mich verträumt ansieht. Sie erinnert mich an niemanden dem ich zuvor begegnet bin. Sie ist so anders und gleichzeitig so... vertraut.

,,Ich würde sehr gerne mit dir den Tag verbringen, Vince." Ein Grinsen breitet sich auf meinem Gesicht aus. Ruckartig springe ich auf und reiche ihr die Hand, um ihr hoch zu helfen. Als sie sie umfasst breitet sich wieder das Gefühl der Wärme in mir aus und ich ziehe sie vorsichtig hoch.

Mein Grinsen beherrscht noch immer meine Gesichtszüge und auch sie beginnt zu lächeln.

Ich würde sie jetzt so gerne Küssen.

Stattdessen drehe ich mich allerdings um und gehe mit ihr zu Tür. Sie ist noch nicht so weit und ich weiß nicht, ob ich es bin.

,,Wohin gehen wir?" Schon eine gefühlte Ewigkeit laufen wir Hand in Hand durch die Gegend. Ja, Hand in Hand. Es ist ein wundervolles Gefühl die Wärme ihrer Hand zu spüren.

Ich lache leise auf, es ist schon mindestens das zwanzigste Mal, dass sie mich das heute fragt. Sie ist hartnäckig, das muss man ihr lassen... ABER ich bin hartnäckiger. Aus mir wird sie kein Sterbenswörtchen herausbekommen. Schließlich wäre es doch sonst keine Überraschung mehr.

,,Wenn dir kalt wird, sagst wird sagst du Bescheid, ja?"

,,Man Vince, jetzt lenk nicht ab, wo wollen wir hin?" Als sie ein kleines wütendes Schnauben ausstößt muss ich lachen und als Reaktion darauf drückt sie meine Hand, so fest sie kann. Ich denke ich muss nicht extra erwähnen, dass es in keinster Weise wehtut. Ich bleibe stehen und sie tut es mir gleich.

,,Sind wir da?", fragt Liv und sieht sich neugierig um. Wir stehen in einer kleinen Gasse aber sehr belebten Gasse. Überall um uns herum sind Läden. Von Kleidung über Eis bis zu Souvenirs. Ich sehe sie an während sie die verschiedenen Geschäfte mit den Augen inspiziert und sage leise: ,,Nein, noch nicht." Verwundert blickt sie zu mir auf. ,,Wieso stehen wir dann hier?" ,,Ich... äh... wollte ein bisschen Eis holen." Ich streiche mir nervös durch die Haare. Ich kann ihr schließlich schlecht sagen, dass ich nur stehen geblieben bin um sie ansehen zu können. Ich höre mich schon an wie ein Süchtiger... und ehrlich gesagt fühle ich mich auch ein wenig so. Was fasziniert mich nur so an diesem hübschen, intelligenten, sturen, süßen Mädchen?

,,Eis? Wir haben November, oder sehe ich das falsch?" Liv lächelt mich vorsichtig an. ,,Andererseits... Eis geht immer!"

,,Eben!" Ich setze mich in Bewegung und lasse Liv einfach dort stehen. Fünf Minuten später komme ich mit zwei Waffeln mit je drei Kugeln Eis wieder. Eine davon reiche ich ihr und sehe wie ihre Augen groß werden.

,, Erdnussbutter, Joghurt-Kirsch und Stracciatella? Woher weißt du das? "

Ich zucke nur mit den Achseln. ,, War geraten." Manche Dinge ändern sich einfach nie. Ich spüre wie Livs Blick auf mir ruht während ich von meiner Erdbeerkugel abbeiße.

,,Also erstens... Sowas kann man nicht erraten und zweitens", Liv schnaubt einmal ungläubig. ,,Wieso zum Teufel beißt du ab? Wie isst du denn bitte dein Eis?" Ich grinse. Niemand zuvor hat mich je auf meine Eis-Essgewohnheiten angesprochen.

Ich beiße abermals ab und Liv lacht leise. ,,Du bist schon etwas besonderes Vince McCain."

,,Vincent Uilliam Colm McCain, wenn ich bitten darf und mit wem habe ich das Vergnügen?" Ich umschließe eine ihrer Hände und hauche einen Kuss auf ihre Knöchel.

,,Olivia Elaine Caulder, freut mich ihre Bekanntschaft zu machen." Sie knickst einmal.

Wir lachen beide und ignorieren all die Menschen um uns herum, die uns ansehen, als wären wir dem Irrenhaus entflohen. Es macht einfach so viel Spaß Liv so unbeschwert zu erleben und es ist unglaublich befreiend Zeit mit ihr zu verbringen, es ist als würden alle Sorgen und alle Ängste von mir abfallen solange ich mit ihr zusammen bin. 

„Komm einfach, du wirst schon sehen, was es ist.” Und dann endlich, kommt sie tatsächlich mit. 

 

Wir überqueren den Spielplatz ohne auf irgendein Spielzeug, eine Sandburg oder gar ein Kind zu treten, trotzdem spüre ich die stechenden Blicke der Spielplatz-Mütter. Sie sind überall und sie geben acht, dass ja kein Jugendlicher Rowdie sich ihren Kindern auf mehr als 10 Metern nähert.

Ich sehe jetzt schon den Eintrag vor mir, der wohl demnächst eine der "Super-Mommys-Internet-Austausch-und-Quatsch-seite" schmücken wird.

 

 

!ACHTUNG! Alarmstufe BabyBlau! 

Auf dem Spielplatz XX trieben sich am Montag, den 27.10.2014 zwei zwielichtige Jugendliche herum, die sich unseren Kindern gefährlich näherten!

Es kam einem so vor, als würden sie (Junge ca. 17 und Mädchen ca. 16) sich schon ein paar aussuchen um sie später zu entführen!

Passt auf eure Kinder auf!

Es ist nie sicher genug! 

LG  SuperMommy2203

 

Aber eigentlich ist mir das im Moment wirklich egal.

Es ist mir sogar Scheissegal!

Es ist mir scheiss egal, ob es so einen Eintrag geben wird und es ist mir Scheiss egal was diese Über-Muttis von mir denken. Das einzig wichtige ist Liv. Und ihre Hand, die in meiner liegt und ein unglaubliches Gefühl in mir hervorruft.

Ich stelle mich vor sie und lächle sie leicht an. Auch wenn ich versuche es mir nicht anmerken zu lassen, bin ich furchtbar nervös. Ich möchte ihr einen Ort zeigen, der uns beiden einmal viel bedeutet hat... Und ich habe keine Ahnung wie sie reagieren wird. 

„Schließ die Augen” Meine Stimme klingt sanft aber dennoch eindringlich. Trotzdem wundert es mich nicht, dass Liv nicht das tut was ich verlange. Dafür ist sie einfach viel zu sehr... Sie selbst. 

„Was? Wieso?”

„Na, weil es eine Überraschung ist!” Fast schon trotzig verschränkt Liv die Arme vor der Brust und sieht mich herausfordernd an. Diese Augen. So grün. Schon als ich sie das erste Mal sah, wusste ich, dass diese Augen und der Mensch dazu mir einmal viel bedeuten würden. Dass sie mir allerdings SO extrem viel an ihr liegen würde, das konnte mein kleines vierjähriges Gehirn nicht einmal erahnen. Heute, wie damals sehe ich eine Stärke in ihren Augen, die mich umhaut, gleichzeitig aber auch so viel... Zuneigung und Liebe. Für Ihre Familie und ihre Freunde... Und vielleicht auch eines Tages, wenn sie so weit ist, für mich. Zumindest wäre ich nicht abgeneigt wenn es so wäre. 

„Ich mag keine Überraschungen.” Sie sieht mich argwöhnisch an, so als ob sie keine Ahnung hätte ob sie mir trauen soll oder nicht. Kein Wunder eigentlich, sie hat schließlich vor nicht einmal 24 Stunden mitbekommen wie ich... Nun ja, meinen "Job" ausgeübt habe. Ich fühle mich schrecklich, dass ich ihr so vieles vorenthalten muss, trotzdem glaube ich, dass sie mir vertraut und vielleicht auch ein klein wenig versteht, wieso ich es ihr verheimlichen muss. 

Ich lache leise als ich eine kleine Falte bemerke, die sich zwischen ihren Augenbrauen auftut, worauf sich diese nur noch intensiviert. 

„Na komm schon, ich werde dir schon nichts tun.” Ich muss leider zugeben, dass ich kein sehr geduldiger Mensch bin und aus diesem Grund halte ich ihr im nächsten Moment eine Hand vor die Augen und führe sie in die Richtung, in die ich sie haben will.  Ich spüre wie sie unter meiner Hand blinzelt aber noch mehr spüre ich ihre Hand, die sie wieder in meine geschoben hat, um auf dem Weg nicht hinzufallen. Es ist ein wenig umständlich so zu gehen und abermals bemerke ich einige Blicke von den Spielplatz-Müttern. Aber das liegt wohl lediglich daran, dass sie den ganzen Tag nichts anderes machen als Bügeln, Essen machen und auf Spielplätzen rumgammeln... Über irgendetwas muss man sich dann schließlich unterhalten... Und jeden Tag über Bügeln und ein schlechtes Liebesleben zu reden wird ja auch irgendwann langweilig. 

So langsam und vorsichtig wie möglich führe ich Liv durch die Bäume die an den Spielplatz angrenzen. Und obwohl ich mir wirklich größte Mühe gebe, dass sie nirgendwo gegenläuft oder stolpert oder irgendwas in der Art liegen wir irgendwann auf dem Boden.

,,Tja ich schätze dein Misstrauen mir gegenüber ist berechtigt. Ich schaffe es ja nicht einmal dich heil irgendwo hinzubringen." Liv windet sich in meinen Armen und ist versucht die Augen aufzuschlagen, doch ich hindere sie daran.

,,Weißt du Vince. Ich habe ehrlich gesagt auch keine Ahnung, wieso ich dir überhaupt so weit vertraue, dass ich meine Augen geschlossen habe. Ich hoffe dir ist klar, dass ich einen großen Bruder habe. Wenn ich nachher irgendwie in einem alten Kellergewölbe aufwache und eine Beule am Kopf habe, kannst du was erleben." Liv lacht ausgelassen während sie das sagt.

,,Aye Ma'am, kein Kellergewölbe. Habe verstanden." Ich helfe Liv aufzustehen und wir gehen weiter. Als wir schließlich an dem Ort stehen an dem alles angefangen hat, muss ich mich erst einmal wieder beruhigen um zumindest ein wenig die Beherrschung über mich selbst wieder zu bekommen.

Ich fühle mich wie ein Blitzableiter. 1000 Gefühle und Emotionen und Ängste schlagen in mich ein.

,,Okay", sage ich während zittrig ausatme und nehme die Hände von Livs Augen. Die Sonne steht hoch am Himmel und Liv blinzelt als sie endlich wieder das Tageslicht erblickt. Sie hebt einen Arm an ihre Stirn um sich ein wenig vor dem Licht zu schützen. Wir stehen auf einer Art Vorsprung, man kann es sich so ähnlich wie den großen Felsen bei "der König der Löwen" vorstellen nur, dass es kein riesiger Stein ist, sondern eine Art Lichtung. Hinter uns liegt ein kleiner Wald, doch dort wie wir sind wimmelt es nur so vor verschiedenen Blumen und saftigem grünen Gras. Vor uns erstreckt sich eine Art Abhang. Doch das was an diesem Ort so besonders ist, liegt vor uns.

Man kann von hier aus unglaublich weit sehen. Der Fluss ungefähr 20 Meter unter uns und 30 Meter weit weg, spiegelt das Licht der Sonne wider und in der Stadt dahinter, aus der die Wolkenkratzer hervorragen, kann man den regen Verkehr und das hektische Leben beobachten. Dennoch ist sie so weit weg, dass man nichts von dem Lärm oder den Abgasen abbekommt. Während dort alles in Bewegung ist, steht hier die Zeit still. Schon als ich diesen Ort entdeckt habe, wusste ich, dass er magisch ist.

Nicht weil hier irgendwelche Elfen rumspucken oder die Blumen sprechen können, nein. Er ist magisch, weil hier alles in den Hintergrund gerückt wird und nichts mehr von Bedeutung scheint außer das Jetzt.

Liv beobachtet die Umgebung... Und mein Blick ist die ganze Zeit über auf sie gerichtet. ,,Wow.", ihre Stimme ist nur ein Flüstern.

,,Ja.", sage ich. ,,Wow."

Ich wusste, dass dieser Ort ihr gefallen würde. Als wir ihn damals, vor 14 Jahren, entdeckten war sie auch schon hin und weg. Trotz ihrer erst zarten drei Jahre. Hier, an dieser Lichtung, haben wir uns kennengelernt.

 

,,Vinnie? Vinnie, wo bist du denn?" Ich höre die Stimme meiner Mommy und laufe nur noch schneller durch den Wald. Sie hat mir immer verboten hier herein zu gehen, aber ich will unbedingt wissen, was hier ist. Außerdem muss sie sich ja keine Sorgen machen. Ich bin groß genug und an Monster glaube ich auch schon lange nicht mehr.

Zumindest meistens nicht.

,,Vincent, komm jetzt hier her." Das ist die Stimme meines Daddys, er ist heute ausnahmsweise mitgekommen, weil er heute nicht arbeiten muss. Ich weiß nicht wieso und es ist mir auch egal.

,,Vincent bitte." Ich drehe mich kurz in die Richtung aus der die Stimme kommt... Mein Daddy klingt als hätte er Angst. Ich will nicht, dass Daddy Angst hat. Wahrscheinlich ist hier doch ein Monster und Daddy will mich retten, hat aber Angst vor dem Monster.

Komisch, ich dachte immer er hat vor niemandem Angst. Langsam gehe ich in die Richtung aus der die Stimme meines Daddys kam. Aber dann höre ich noch ein anderes Geräusch. Ich glaube es ist ein Lachen. Unwillkürlich muss ich auch anfangen zu lachen. Ich habe noch nie gehört, das ein Monster eine schöne Stimme haben kann, also gehe ich zu der lachenden Stimme.

Bestimmt sind Mommy und Daddy böse, weil ich nicht zurück gekommen bin und ich will ehrlich gesagt nicht, dass sie mich anbrüllen oder so was. Ich gehe ein paar Schritte weiter und plötzlich sehe ich wer da lacht. Es ist ein kleines Mädchen, viel kleiner als ich. Sie hat dunkelbraune Locken und ein rosa Kleid an. Sie sitzt auf dem Boden und hat eine Blume in der Hand. Ich muss auch lachen, als ich sehe, wie sehr sie sich über den tollen Ausblick freut, den man von hier aus hat. Dann stockt sie auf einmal, dreht sich um und starrt mich mit großen grünen Augen an.

,,Wer bist du?", fragt sie. Ich gehe zu ihr und setze mich neben sie. Sie weicht nicht von mir weg, sie hat keine Angst vor mir. Obwohl ich ja viel älter bin als sie.

,,Ich bin Vinnie, und wer bist du?" Eigentlich mag ich keine Mädchen, die sind immer so komisch, aber irgendwie ist dieses Mädchen anders. Ich finde sie nett.

,,Ich heiße Olivia." Ich lächle sie an.

,,Wo sind denn deine Eltern?", frage ich sie. Ich finde es komisch, dass sie alleine sein darf, dass darf ja nicht einmal ich und ich bin schon viel älter. ,,Mein großer Bruder ist auf das Dach vom Klettergerüst gegangen und dann runter gefallen... Und dann hat er geweint und ich mag das nicht. Also bin ich weggelaufen." Das kann ich verstehen, ich bin auch immer gleich traurig, wenn sich jemand verletzt hat und weinen muss. Sie legt den Kopf schief.

,,Hast du auch einen Bruder?" Ich schüttele den Kopf. Ich habe keinen Bruder und keine Schwester, aber ich hoffe, dass Mommy und Daddy mir bald einen Bruder kaufen werden, damit ich mit ihm spielen kann. Vielleicht darf ich mir ja sogar einen aussuchen.

Plötzlich höre ich wie Daddys Stimme lauter wird... Und auch die Stimme von einer anderen Frau wird lauter. ,,Olivia? Liv, Süße, wo bist du?"

Die Stimme hört sich ein bisschen verzweifelt an.  Ich sehe zu ihr hoch und lächle ihr aufmunternd zu als ich ihr ängstliches Gesicht sehe.

,,Komm Olivia, wir gehen zu denen, sonst bekommen wir noch Ärger."

Olivia nickt stürmisch und Hand in Hand laufen wir zu unseren Eltern.

 

Unsere Eltern waren nicht sauer, ganz im Gegenteil, sie waren unglaublich erleichtert. Von da an, trafen Liv und ich uns öfter auf dem Spielplatz und immer wenn es uns zu bunt wurde, verschwanden wir an unseren geheimen Ort.

Ganze zwei Jahre lang war das so.

Selbst unsere Eltern verstanden sich gut. Auch Grey und ich wurden gute Freunde. Bis zu dem Tag als Liv nicht mehr kam. Nie wieder.

Doch jetzt ist sie wieder da... oder ich bin wieder da, ich weiß es nicht... ich genieße es einfach nur, dass wir wieder da sind. Wir sitzen nun schon eine geraume Zeit hier und dieser Ort ist wieder voller Magie. Vor zwei Jahren bin ich das letzte Mal hier gewesen, aber da war es anders. Die weit entfernte Stadt und die Autos haben mich nur daran erinnert, wie wenig Zeit ich nur habe und dass ich eigentlich schnell wieder los muss. Das Gras unter meinen Händen fühlte sich stachelig an und der Himmel war von dunkelgrauen Wolken versteckt. Ich war eher traurig als sorglos und unbefangen. Eher in Aufruhr als entspannt und glücklich.

Vielleicht... ist es nicht dieser Ort, der magisch ist, sondern Liv. Vielleicht ist sie der Grund warum es sich hier früher immer angefühlt hat, als wäre ich zuhause. Und frei. Und lebendig. Auf einmal schmiegt sich Liv mit dem Rücken an meine Brust und legt den Kopf auf meine Schulter.

Unwillkürlich muss ich lächeln. Ich kann es nicht einmal unterdrücken, dieses Glücksgefühl. Sanft lege ich meinen Arm um sie und halte sie. Die Zeit vergeht wie im Fluge und gleichzeitig ist es so als würde sie stehen bleiben. Keiner von uns redet und das ist genau richtig, denn Gespräche wären hier absolut fehl am Platz, sie würden die Atmosphäre zerstören... Außerdem ist es kein peinliches Schweigen. Es ist ein einvernehmliches Genießen des Augenblicks. Und, verdammt, ich genieße ihn! Von mir aus könnten wir bis zum Ende unserer Tage zusammen schweigen.

Ich drücke ihr einen Kuss aufs Haar und muss leise auflachen als ich merke wie sie sich näher an mich schmiegt. Für die paar Minuten die wir hier sind, scheint alles perfekt zu sein. Und reicht das nicht? Ein paar Minuten absolute Glückseligkeit?

 

,,Hey Bruder.", begrüßt mich John, grinst als er Livs und meine ineinander verschränkte Hände sieht. Hinter ihm erscheinen Dimitrij und der rothaarige... wie war noch gleich sein Name? Dan?

Nach zwei Stunden, die sich wie zwei Minuten angefühlt haben, sind Liv und ich von der Lichtung verschwunden und wollten gerade überlegen was wir als nächstes machen könnte, da rief mich John an und meinte es wäre Zeit für "die nächste Lektion" ich wollte ihm erklären, dass ich heute nicht könne aber das ließ er nicht gelten... und da heute irgendwie so etwas wie mein erstes Date mit Liv ist, nahm ich sie einfach mit.

Als ich ihr Johns Mission erklärte war sie sofort Feuer und Flamme und begeisterte sich dafür anscheinend sogar mehr als John.

John lässt sich neben mich auf die Bank fallen, legt demonstrativ seinen Arm um meine Schulter und kaut sein Kaugummi. Breitbeinig wie eh und je, mit einer schwarzen, in den Nacken und Falsch herum aufgesetzten Cap, kaputten Jeans, einem schwarzen T-Shirt und einer goldenen Kette um den Hals sitzt er neben mir.

,,Liv, das ist mein bester Kumpel John", ich zeige auf den Proleten neben mir und lache leise. ,,und das sind Dimitrij und... Dan?"

,,Sam.", verbessert mich dieser freundlich.

,,Achja, Sam, sorry Kumpel."

,,Okay Bro, wir haben ein Problem.", fängt John an und steht auf.

Seine Stirn bildet kleine wütende Fältchen. Ich hebe eine Augenbraue an.

,,Der heutige Plan war, dass du ein Mädchen aufreißt. Aber das hast du ja irgendwie schon geregelt." Er kratzt sich nervös am Hinterkopf, als hätte er damit nie im Leben gerechnet. Ich lache leise und verlegen auf.

,,Naja... Aufgerissen nun nicht gerade..." John winkt ab, kein Wunder, dass er mir nicht glaubt. Sein Mädchenverschleiß ist zwar wesentlich höher als meiner, dennoch bin auch ich kein Unschuldslamm.

Es ist still und anders als mit Liv ist diese Stille dieses Mal nichts anderes als unangenehm. Nervös und genervt rutsche ich auf der Bank herum.

Ich schwöre es, normalerweise ist es mir total egal was andere über mich oder meine Freunde denken. Aber bei Liv ist es mir nicht egal. Ich blicke meine mal mehr mal weniger Freunde an. John sitzt einfach nur da, kaut sein Kaugummi und spielt an seiner Kette herum, Sam starrt auf seine Schuhe und Dimitrij erheitert Liv mit Grimassen.

,,Ja... äh... Hat jemand eine Idee was wir sonst machen können?", durchbricht John die Stille. Ein Glück. Niemand rührt sich.

,,Man, Vince, ich habe Moooooonaaaaaaateeeeeeelang diesen Plan für dich ausgeheckt und was passiert, du zerstörst es wieder... Oh Bro, nie kann man sich darauf verlassen, dass du mal keine anschlepp..."

,,Äh, ja, sorry John.", unterbreche ich meinen besten Kumpel bevor er etwas aussprechen kann, dass Liv nicht hören soll. Sensibilität ist für John ein Fremdwort.

Liv steht auf einmal auf und ich habe schon Angst, dass sie gehen will, doch dann: ,,Ich hätte eine Idee!", sagt sie und grinst.

,,Achja?" John klingt skeptisch aber dennoch neugierig. ,,Es geht doch darum das Leben wieder äh... Lebenswert für Vince zu machen, richtig?" Allgemeines nicken.

,,Und es gibt eigentlich keine Regeln, ja?" Wieder nicken. Mir schwant böses.

Liv grinst mich schon fast dämonisch an und reibt sich demonstrativ die Hände.

Früher als wir noch klein waren, hat sie mir mit ihren zierlichen vier Jahren dauernd Streiche gespielt, dauernd! Sie sagte mir immer, dass es Greys Idee gewesen wäre, aber ich weiß genau, dass alles auf ihrem Mist gewachsen war und Grey ausschließlich bei der Ausführung geholfen hatte.

Einmal beispielsweise, hat sie mich absichtlich solange provoziert, dass ich sie irgendwann -schande über mich- geschubst habe und siehe da, sie fiel hin.

Es war nur in den Sand und eigentlich auch nicht sonderlich Doll aber als sie wieder aufstand liefen ihr Tränen aus den Augen und sie hielt sich die Stirn, als sie ihre Hand weg nahm, sah ich es.

Blut, sehr viel davon sogar.

Ich erschrak tierisch und entschuldigte mich mindestens tausend Mal, ich nahm sie in den Arm und fing selber an zu weinen. Irgendwann hörte ich wie Liv anfing zu lachen, sie nahm meine Hand und zog sie, zu ihrer "Wunde", so dass ein wenig ihres Blutes an meinen Fingern klebte.

Entgeistert sah ich sie an und das gab Liv den Rest, sie fing an zu lachen und zu lachen und zu lachen, bekam schon fast keine Luft mehr und fiel sogar auf den Boden. Ich dagegen konnte mich kaum rühren und starrte sie voller Angst an, ich dachte wirklich sie stirbt. Woher sollte ich auch wissen, dass man nicht lacht wenn man stirbt? Hätte ja sein können.

Als Liv sich wieder beruhigt hatte, sagte sie bloß: ,,Probier mal!" und probierte selber ein wenig. ,,Mmmmh Lecker."

Ich war damals nicht in der Lage zu protestieren und tat es. Es schmeckte nach ziemlich normalem Ketchup.

Liv öffnete die Hand und zeigte mir eine von diesen McDonalds Ketchup Tüten, ausgequetscht und leer. Der Inhalt klebte an ihrem Kopf. Ich redete drei Tage lang nicht mehr mit ihr.

,,Also.", beginnt das Mädchen meiner Albträume ,,wie wäre es denn, wenn wir aus dem ganzen Vince baggert ein Mädchen an eine Art Aufgabenlauf machen?"

John und die anderen sehen sie fragend an.

,,Das macht das Ganze dann auch noch ein wenig  witziger... für uns." Sie grinst teuflisch. ,,Der Plan ist so. Wir machen es Vince einfach nicht so leicht, schließlich sieht er nicht schlecht aus, irgendein Mädchen wird er bestimmt sehr schnell um den Finger wickeln können, aber was ist wenn... wir es ihm so schwer wie unmöglich machen..."

Wild gestikulierend erzählt sie meinen Freunden von ihrem Plan. Ich soll zuerst durch einen Teich schwimmen, in voller Montur, im November. Weil das ja gesund ist und meine Mentalität steigern würde...

Danach müsste ich mich erst einmal zum kompletten Vollidioten machen, indem ich mit den geschrienen Worten ,I believe I can fly' von einem rotlackierten Klettergerüst in den Sand springen soll. Das soll erstens dazu führen, dass der ganze Sand dank meiner Nässe an mir klebt und zweitens dazu, dass mich sämtliche weiblichen Geschöpfe im Umkreis von 100 Metern für Geisteskrank halten. Aber damit noch nicht genug, nein. Danach kommt der Höhepunkt in Livs Plan.

Ich werde so wie ich bin das erstbeste Mädchen anquatschen und behaupten ich sei Batman. Was das zu meiner Freude am Leben beitragen soll, weiß ich ehrlich gesagt nicht und ich bezweifle auch, dass das irgendwas bringen kann.

Gewinnen kann ich nur wenn mir genau dieses Mädchen ihre Nummer gibt, wenn ich verliere... ich will gar nicht so genau wissen was dann passiert. Vielleicht würde ich das ganze sogar lustig finden, wenn es nicht so idiotisch wäre und wenn nicht ich das Opfer des Planes wäre.

John grinst Liv anerkennend an. ,,Nicht schlecht Kollegin." Er berührt kurz ihre Schulter, was ich ehrlich gesagt nur schwer ertragen kann und stößt Dimitrij in die Seite, der mich schadenfroh angrinst. Am liebsten würde ich das ganze abblasen, ich fühle mich alles andere als bereit und ehrlich gesagt habe ich auch keine Motivation das zu machen, doch diese kommt zumindest zum Teil zurück als Liv mich aufmunternd anlächelt. ,,Auf die Plätze, fertig, los!", brüllt Liv und ich hetze tatsächlich voll bekleidet in einen Teich.

 

Das Mädchen das ich ansteuere hat lange blonde Haare und blaue Augen. Sie lacht so laut, dass man sie bestimmt bis nach China hört. Worüber sie lacht ist verständlich. Über mich und den Sand in meinem Ohr.

,,Hey, ich bin...", will ich mich vorstellen, doch dann...

,,Jaaaa, du bist doch der sexy-Café-Typ." Ich stutze. Wer bin ich?

Ich überlege ob ich das Mädchen vor mir schon einmal gesehen habe, aber sie kommt mir nicht bekannt vor. Vielleicht verwechselt sie mich einfach, schließlich laufen viele Sandige Nasse Kerle in der Gegend rum.

,,Ich wollte eigentlich sagen: Batman, aber sexy-Café-Typ ist auch gut." Ich grinse sie an. Irgendwie muss ich an ihre Nummer herankommen. Demonstrativ lege ich ihr meine Hand auf den Arm und bin wirklich verwundert als sie nicht zurückzuckt. Wenn mein Herz nicht so vollgestopft mit Liv wäre, könnte ich mein Gegenüber tatsächlich sehr anziehend finden, denn sie sieht wirklich super aus und auch ihr Körper ist so gut wie perfekt. Humor scheint sie außerdem auch zu besitzen.

,,Das ist vielleicht eine komische Frage aber würdest du mir vielleicht deine Nummer geben? Ich muss dir aber gleich sagen, dass ich dich niemals anrufen werde, da mein Herz einer anderen gehört."

Tatsächlich habe ich das noch nie so wirklich ausgesprochen, aber jetzt wo ich es tue, weiß ich, dass es wahr ist. Ich habe mich in Liv verliebt.

Das blonde Mädchen lacht abermals. ,,Ohh, sei froh, dass ich so verschwiegen bin, sondern würde ich Liv sofort erzählen, dass du ihr aber sowas von verfallen bist. Und glaub mir, Liv sieht vielleicht aus wie ein kleiner braunhaariger Engel aber sie kann ein kleiner Teufel sein. Aber Vincy du kannst mir vertrauen, im Ernst."

Mir klappt die Kinnlade herunter und dann fange ich doch tatsächlich an zu lachen. Ich kriege mich gar nicht mehr ein. Ich lache über mich und das was ich anscheinend gerade vor Livs bester Freundin zugegeben habe und ich lache über diesen Tag und ich lache über mein Leben. Ja, der Tag heute ist wirklich sensationell.

Ich höre wie eine helle Stimme hinter mir in mein Lachen mit einstimmt und drehe mich ohne groß zu überlegen zu Liv um, nehme sie in die Arme und lache all mein Glück in die Welt. Liv stockt kurz, schmiegt sich dann aber an mich. Wie habe ich es nur geschafft, dass sie mich nicht hasst? Es ist unglaublich aber diese eigentlich so eigenartige und peinliche Aufgabe hat mich tatsächlich glücklich gemacht.

Ich spüre meine Kleidung an meinem Körper kleben und ich spüre den Sand zwischen meinen Zähnen. Aber vor allem spüre ich Liv in meinen Armen und das Glück, dass ich momentan empfinde. Ich denke es sind die kleinen Momente, die das Leben lebenswert machen. Vielleicht ist das der Sinn der heutigen Aufgabe. Diese Erkenntnis.

,,Hey Liv, Vince hat mir grad verraten, dass er...", beginnt das blonde Mädchen nachdem Liv und ich uns wieder voneinander gelöst haben.

So viel dazu, dass sie so verschwiegen ist. Allerdings unterbricht sie John gütigerweise bevor sie ihren Satz beenden kann, indem er ihr seine Hand entgegenstreckt.

,,Oh Hey, Schönheit.", beginnt er sofort zu flirten. ,,Wer bist du denn?"

Liv und ich sehen uns an und grinsen. Die beiden die vor uns stehen könnten unterschiedlicher wirklich nicht sein. ,,Die, bei der solche flachen Anmachversuche nicht ziehen und wer bist du?"

Sie grinst frech und macht nicht einmal Andeutungen Johns Hand zu ergreifen.

,,Ich bin der, dem du ganz und gar verfallen wirst.", Johns Lächeln ist selbstbewusst, obwohl ihm doch eigentlich klar sein müsste, dass er bei diesem Mädchen keine Chance hat. Sie ist groß, schlank, unglaublich hübsch und anscheinend auch noch auch noch aus gutem Hause. Achja... und weiß ist sie auch. Ihr pinkfarbendes Kleid, welches die gleiche Farbe wie ihr Lippenstift hat, ist gebügelt und ihre Tasche von Prada. John sieht gut aus, aber ich denke nicht, dass er genug Klasse für sie hat. Definitiv nicht. Andererseits kann man nicht kontrollieren in wen man sich verliebt, richtig? Sonst wäre meine Wahl hundertprozentig auf eine Feindin Hunters gefallen. So etwas macht nur Probleme. An die ich heute nicht denken will.

,,Achja? Was hast du denn was ich will?" Annabelle hebt eine Augenbraue an und bei Johns Antwort muss ich wieder grinsen.

,,Einen Penis."

 

Stunden später gehen Liv und ich Seite an Seite den Weg zu ihr nach Hause.

Naja, zumindest wenn man die schäbige kleine Wohnung in der sie mit Grey, Oliver und den anderen wohnt ein Zuhause nennen kann.

Minutenlang herrscht Stille zwischen uns. Wir gehen einfach nur nebeneinander her, so nah aneinander, dass sich manchmal ausversehen unsere Hände kurz berühren.

Ich bin froh, dass der Tag, der so schön angefangen hat sich nicht irgendwann noch ins Negative entwickelt hat, wie es sonst immer der Fall ist. Dieser Tag war gut, er war normal, er war schön und die Erinnerung an ihn gehört nur mir und Liv. Niemandem sonst.

,,Wir sind da." Livs Stimme klingt heiser und sie sieht mich aus unergründlichen Augen an.

,,Ich fand den Tag heute sehr schön, Liv.", sage ich leise.

Liv lächelt leicht. ,,Ja, ich auch."

,,Meinst du wir können so etwas noch einmal machen?"

Vorsichtig strecke ich meine Hand aus und ergreife ihre, fahre mit meinem Daumen über ihre Haut.

,,Ich weiß es nicht Vince, wirklich nicht."

Sie wendet den Blick ab und sieht auf den asphaltierten Boden unter uns.

Wir stehen uns jetzt genau gegenüber und ich fasse ihr leicht unters Kinn und zwinge sie, mir wieder in die Augen zu blicken.

Die Grüne Iris, welches ihre Pupille umrahmt, wirkt noch grüner als sonst und in ihrem Blick schwingt eine unglaubliche Verletzlichkeit mit.

,,Ja, ich verstehe das."

Sie windet sich aus meinem Griff und sieht mir aber weiterhin ins Gesicht.

,,Es ist nicht so, dass ich dich nicht wieder sehen wollen würde! Das will ich unbedingt, aber..."

Sie beendet ihren Satz nicht, deswegen tue ich es für sie.

,,Aber wir sind zu verschieden."

,,Ja."

Ich muss nicht erklären, was ich damit meine. Sie weiß es, genauso wie ich. Wir sind nicht verschieden. Wir sind gleich. Wir sind eins und doch getrennt. Wie zwei gleiche Seiten eines Magneten. Wir haben keine Wahl, wir müssen uns abstoßen, auch wenn wir das eigentlich gar nicht wollen. Wenn wir zusammen bleiben, wird das schwer und es wird nur Probleme anrichten. Das wissen wir.

,,Heute konnten wir so tun als wären wir nur ganz normale Menschen. Aber irgendwann fängt das echte Leben wieder an.", beginne ich. ,,Und da gehören wir nicht zusammen." ,

,Nein..."

Mein Kopf und mein Herz führen einen inneren Krieg. Ich weiß, dass ich ohne Liv leben kann. Das habe ich die letzten Jahre schließlich auch geschafft und es ging mir gut. Naja zumindest einigermaßen. Das Problem ist nur, dass ich nicht ohne sie leben will.

Sie ist wie eine süchtigmachende Droge. Ich weiß, dass ich ohne sie besser dran wäre, aber ich bin abhängig. Denn mit ihr geht es mir besser.

Mit ihr kann ich alles besser ertragen.

Mit ihr hat das grau der Welt wieder ein wenig Farbe.

Und darauf will und kann ich nicht verzichten.

Es war nicht dieser Wettlauf, der mich glücklich gemacht hat. Es war einzig und alleine der Grund, dass ich mit jemand anderem zusammen glücklich sein konnte. Wirkliches Glück kann man nur empfinden wenn man es teilt und Liv ist die Person, mit der ich es teilen will. Ich will nur Liv. Nur Liv.

,,Ich will dich wiedersehen. Egal was ist, egal was mit unserer Familie ist und egal wie schwierig das mit uns ist. Ich will nicht ohne dich sein. Ich will dich nicht verlieren. Niemals. Ich weiß, dass wir nicht zusammen sein dürfen. Aber ich kann nicht ohne dich sein und ich will es auch nicht. Ich weiß nicht, was du empfindest oder ob du überhaupt etwas ähnliches fühlst wie ich aber du bist der Grund, weshalb ich mich glücklich fühle. Du rufst etwas in mir hervor, von dem ich dachte ich hätte es schon längst verloren und ich will nicht, dass es wieder verschwindet. Aber am allermeisten von allem will ich dich. Ich will dich.", meine Stimme klingt eindringlich und echt. Genau wie das was ich gesagt habe.

Eine Straßenlaterne strahlt goldenes Licht auf Livs Gesicht, während sie das sagt, was alles wieder zunichtemacht:

,,Es tut mir leid."

Mit diesen Worten lässt sie mich und die absolute Leere, die ich empfinde stehen und geht ins Haus.

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 03.01.2015

Alle Rechte vorbehalten

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