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1.

Keiner wusste so genau, welches Gebäude das Château de la Fortune einst gewesen war oder wie es dazu kam, dass ausgerechnet dieses Fleckchen der neuen Welt, in welcher seit Jahrzehnten alles Leben verschwunden war, ein aufgeblühtes Paradies sonderbarer Flora und Fauna geworden war. Durch diese führte ein kleiner Pfad direkt zum Château. Es wäre nicht die erste Gegend der neuen Welt, welche in den letzten Jahrzehnten die skurrilsten Wesen hervorgebracht hatte.

Aber zu Etiennes Missmut war er auch noch nicht so gut dokumentiert, als dass ihre Recherche ihr dabei geholfen hatte, die Gefahren einzuschätzen, die hier auf sie warten würden. Und dass es welche geben würde, stand genauso fest, wie das Vorhaben ihrer Wanderung.

Noch war ihr nichts anderes in diesem Wald begegnet, als sonderbare Pflanzen und Insekten, von denen sie jedoch nicht wusste, welche giftig waren und welche nicht.

Dennoch hatte sich nach und nach ein Gefühl in ihrem Nacken eingeschlichen, als würden viele Augen auf ihren Rücken gerichtet werden und deren Besitzer sich noch unschlüssig darüber sein, ob sie Etienne weiter nur neugierig betrachten oder ob sie näher herantreten wollten. Sie hatte sich sorgsam nach diesen umgeschaut, aber nichts gefunden, außer dem Schatten, welcher ihr seit Monaten folgte und ihr, aus einer ihr bereits bekannten Entfernung, hinterher sah. In der Wüste außerhalb des kleinen, dichten Waldes, hatte sie seine Silhouette manchmal am Horizont erblicken können. Er stand immer still da und hatte sie mit seinen großen weißen Augen angeschaut. Nun lehnte er sich manchmal hinter den Bäumen hervor und sah sie weiter an, immer aus derselben Entfernung, welche sich weder verringerte noch erhöhte. Etienne hatte noch nicht herausgefunden, was es war, aber Catjill hatte ihr versichert, dass er nur eine Gefahr darstellen würde, wenn sie es zuließ.

Sie war über einen ganzen Tag diesen steinigen Weg hier hoch gewandert. Die dichten Bäume mit den hellgrünen Blättern hatten sie vor der Sonne geschützt, welche sie an den Vortagen geplagt hatte. Die Luft war dennoch gesättigt mit einer warmen Feuchtigkeit und das trotz des kalten, späten Herbstes. Ihre Ausdauer hatte daran gelitten und ihre Kleidung klebte an ihr. Die ganze Zeit über war sie dabei diesem Pfad gefolgt, bei welchem ihre Familie sie gewarnt hatte, dass sie ihn unter solch sonderbaren Umständen niemals verlassen durfte. Der Djinn hingegen meinte, dass es kein Problem darstellen sollte. Sie hatte ihm geglaubt, aber nicht vertraut, denn er war ein Djinn und nur darauf aus, sie reinzulegen.

„Kann ich das überleben?", fragte sie ihren Djinn zum zweiten Mal, als sie erneut zu dem düsteren Schloss blickte.

„Was genau? Das Universum? Das Leben? Mich? Nichts davon."

Sie seufzte, „So weit brauchst du nicht auszuholen. Ich meine dieses kleine Abenteuer hier."

„Mach dir nichts ins Hemd, Etienne", meinte der Djinn lachend. Seine Gestalt war die eines Katers. Die sonderbare Magie, die ihn umgab, gab ihn jedoch als etwas Anderes preis. Die schwarzen Augen mit den weißen, kreuzförmigen Pupillen richteten sich auf sie, „Aber keine Sorge. Selbst wenn du stirbst, werde ich glücklich und zufrieden weiterleben."

Etiennes Lächeln verrutschte, „Ich verstehe schon, für dich bin ich nur eine flüchtige Existenz."

Sie trat um die Pfütze herum, in welchem eine sonderbare Libelle saß und sich nicht um sie scherte. Sie hatte nur zwei Flügel, welche unter den grünlichen Sonnenstrahlen in bunten Farben leuchteten. Der Wald um sie herum war in solch einem ungewöhnlich gesättigten Grün getaucht, dass es eine Weile gedauert hatte, bis sie sich an ihn gewöhnt hatte. Etienne sorgte sich, ob ihre Augen sich an normale Farben wieder gewöhnen würden. Oder an die Wüste, welche außerhalb dieses belebten Ortes auf sie wartete. Im Gegensatz zu dieser sah der Wald weich und einladend aus. Das helle Moos war bestückt mit bunten Blumen und schien sie einzuladen, sich auszuruhen. Ein Grund mehr, weshalb sie sich nie getraut hatte, den Pfad zu verlassen. Immer wieder hatte sie fließendes Wasser gehört, als würde irgendwo hinter den ganzen Pflanzen ein Bach verlaufen. Sie hat ihn aber nie ausmachen können.

Der wuschelige Schwanz des dunkelblauen Katers zuckte und er schwebte auf ihre Schulter, „Du hast dich vor drei Wochen zu einer lausigen Exorzistin ernannt, also benimm dich gefälligst wie diese furchtlosen, mächtigen, planlos umherirrenden Idioten."

Etiennes Augen wanderten wieder zu dem Schloss, welches vor ihr emporragte. Innerhalb dieses Flecks aus dem hellsten Grün, schien es bedrohlich emporzuragen. Im unteren Teil schienen noch die Pflanzen hinauf gewachsen zu sein, als würden sie versuchen ein weiteres Stück der alten Zivilisation sich zu eigen zu machen. Sie hatten jedoch nie das Tor erreicht, genauso wenig die Fenster. Und die Türme, welche emporragten, waren frei von jeglicher Natur. Das Gestein war dunkel, verfärbt von der Zeit, in welcher die Natur es ausgehalten hatte. Die Spitzen waren verziert mit alter Kunst, welche nach und nach von den Menschen der heutigen Zeit wiederbelebt wurde. Dort oben müssten die Wächter herrschen, welche ihr Eigentum beschützten, sei es von der Natur oder von den Menschen oder von den anderen Geschöpfen, von denen sicherlich noch einige nicht dokumentiert waren. Und wie viele von diesen wohl in dem Château herumlungerten und ihr den Weg zu den Schätzen verwehrten, nach denen sie suchte?

Sie seufzte schwer. Es sah groß aus und Etienne hatte kaum Wissen über diesen Ort. Sie hatte sich in einer Bibliothek in einer anderen Stadt heimlich alte Pläne von dem Schloss angeschaut. Es gab auch neue Aufzeichnung, da bereits Menschen diesen Ort aufgesucht hatten. Aber nichts davon hatte ihr viele Informationen gegeben. Sie wusste nur aus weit entfernten Erzählungen, wieso dies ein besonderer Ort war und was dort wahrscheinlich auf sie warten würde. Das Gute war, dass sie ihren Djinn hatte. Mit ihm allein sollte das machbar sein. Aber dies wäre das wirklich große erste Abenteuer mit ihm und sie wusste noch nicht, wie gut sie sich auf ihn verlassen konnte.

„Ich bin nur am Überlegen, ob ich nicht zuerst die anderen Steine holen soll. Du meintest, hier sei nur einer? Dieses Unterfangen würde sich deutlich mehr lohnen, wenn es mehrere wären."

Die Krallen des Katers bohrten sich in ihre Jacke, welche sie trotz der warmen, feuchten Luft des Waldes nicht ausziehen wollte, und Etienne sah warnend zu ihm. Sofort hörte er auf, nahm es sich aber nicht, weiter in seiner schroffen Stimme zu sprechen, „Jedes Artefakt hat seinen Preis. Arbeite, wenn du es haben willst."

„Arbeite...", wiederholte sie leise und genervt, als wäre sie nicht gerade mehrere Stunden hier hoch gewandert, an diesen Fleck der alten Welt, umgeben von nichts, als sonderbarer Natur, welche sie langsam auslaugte. Alles, für diese verfluchten Steine von Expulsio. Komme was wolle, Etienne musste sie erlangen. Ihr Bruder brauchte sie.

Und das war der Grund, wieso sie tief durchatmete und sich innerlich in ihren gut eingeübten Handelszustand versetzte.

Sie sah sich ihre Waffen an. Kein Mensch würde hier sein. Trotz dessen, dass hier sicherlich Reichtümer versteckt waren, war dieses Schloss so weit außerhalb, dass nicht viele bereit waren, sich auf den Weg zu machen. Das hatte verschiedene Gründe. Einer davon war, dass es sich inoffiziell im neutralen Gebiet der kleinen Stadt Calisteo befand und auch wenn diese Stadt keine Gefahr für die anderen Städte darstellen würde, in den heutigen Zeiten war sie auch nicht wichtig genug, um sich den Ärger anzutun.

Es fing zu nieseln an. Ein kleiner Regen, der immer wieder spontan auftauchte und wieder verschwand. Die Nässe stresste sie mittlerweile mehr, als ihr bevorstehendes Abenteuer im Schloss. Ihre Socken waren feucht, genauso wie ihr Shirt, ihre Unterwäsche.

„Wunderbar", meinte sie trocken, „Nass und gegen Monster antreten."

Sie liefen gemeinsam zum Eingang. Etienne wechselte den Blick in die zweite Ebene. Mittlerweile waren ihre Augen an den Wechsel zu den dunklen Farben der zweiten Welt gewöhnt. Goldene Schleier der Magie umgaben den Eingangsbereich. Etienne kannte diese Schutzzauber. Sie würden weder sie, noch ihren Djinn, davon abhalten können, einzutreten.

Wahrscheinlich brauchten die andersseienden Bewohner des Châteaus auch keine Schutzmaßnahmen. Was wohl daran lag, dass Etienne und ihr Djinn eine schöne Begrüßung zu erwarten hatten, sobald sie drin waren. Es hieß, dass es nur so von Monstern wimmeln sollte. Gut, dass sie neuerdings eine Exorzistin war.

 

 

 

Vor drei Tagen...

 

Tatinne, auch genannt die Spinne, saß noch immer an ihrem Küchentisch und fragte sich, ob sie aufstehen und zur Treppe gehen sollte, die in das untere Empfangszimmer ihres kleinen Hauses führte. Die dunkle Marmoroberfläche der Platte spiegelte ihr gelangweiltes Gesicht wieder, ein Ausdruck, der in den letzten Jahren kaum von ihrem Gesicht wich. Sie trank an ihrem Kaffee, ein Luxus, den sich nahezu niemand leisten konnte und den sie nicht mehr würdigte.

Das laute Gelächter von Raffael Beltran drang von unten zu ihr durch. Ein Schauer lief der jung aussehenden Frau den Rücken hinunter. Sie mochte ihn nicht. Dennoch war sie leicht beeindruckt von ihm. Es war sonderbar gewesen, eines Morgens aufzuwachsen und festzustellen, dass die zweite Provinz in die Hände eines siebzehnjährigen Kindes gefallen war, welcher nun seit einem Jahr einer der drei Herrscher von Calisteo war.

Raffael hatte schnell und gnadenlos den über dreißig jährigen Nexim getötet. Nexim war erfahren und mächtig gewesen. Und dennoch war er unerwartet schnell gefallen.

Nichtsdestotrotz hätte Tatinne lieber Nexim vor sich gehabt. Raffael war eine Nervensäge. Und weil er eine Nervensäge war, überlegte sie sich, ob sie sich beeilen oder doch langsam machen sollte.

Sie wusste, dass die drei Herrscher es niemals wagen würden auf ihrem neuralem Gebiet einen Kampf anzufangen. Dennoch konnte es passieren, dass Gilgian McClaine, der Herrscher der dritten Provinz, sich zu einem Kampf verleiten lassen würde. Im Gegensatz zu Raffael, war er still und erträglich, aber leicht reizbar und keiner wollte das Ziel seiner Faust werden. Seine Stärke war unermesslich und sie fragte sich immer wieder, was genau in seiner Kindheit passiert war, dass er sich so entwickelt hat.

Und sie entschloss sich, sich zu beeilen. Je schneller sie mit den Bengeln fertig war, desto eher konnte sie sich wieder der Ordnung ihrer alten Sachen widmen.

Tatinne stellte ihre Tasse ab, sah noch einmal auf das Foto von ihr und ihrer Nichte und stand dann auf. Sie trat die Treppen hinunter und öffnete die Tür zu ihrem dramatisch dekoriertem Empfangszimmer. Der Raum war eine Mischung aus roten Möbeln mit dunklem Ebenholz und vergoldeten Verzierungen. Es war kein echtes Gold, das war zu wertvoll, selbst für sie. Aber es war eindrucksvoll.

Die Wände waren schwarz und doch sorgten die im Raum, verteilten kleinen Lampen für angenehmes Licht. Es war wie eine Theaterbühne, ausgestattet mit allem, was nötig war, um die Besucher zu beeindrucken. Oder um sie einzuschüchtern, wie jedes einzelne dieser es Kinder war, als sie das erste Mal in Tatinnes Haus eingetreten sind. Einschüchterung war eine ihrer besten Waffen.

„Guten Abend, Tatinne", sagte Elias, höflich wie eh und je.

Früher wäre sie sich sicher gewesen, dass Elias die anderen zwei jungen Herrscher ruhig halten können würde. Er selbst war kein Gebieter der ersten Provinz, er war ein Stellvertreter. Der Vernünftigste von ihnen. Er hatte für jeden ein Lächeln übrig, selbst wenn sie es von ihm nicht sehen wollten. Wie lange dieses unter seiner Familie jedoch noch halten würde, war Tatinne sich nie zu müde zu fragen.

Gilgian sagte nichts. Er sah am Rande seiner Nerven aus. Das Gesicht unzufrieden verzogen zu einer unglücklichen Grimasse.

Raffael pustete sich die braunen, schulterlangen Haare aus dem Gesicht und grinste sie an, „Na endlich. Wieso müssen wir immer ewig auf dich warten? Sag mir nicht, dass das am Alter liegt."

Tatinne setzte sich auf den Sessel und zündete eine Pfeife an. Der rauchig-herbe Geruch des Tabaks und die leicht fruchtige Note der Zitrone, welche nur langjährige Genießer schmecken konnten, überlagerten den Geruch eines weiteren Stoffes, welchen Tatinne sich hinzumischte. In dem Tabak war eine leichte Droge, die ihre Kopfschmerzen lindern sollte. Diese hatte sie vor Jahren hergestellt und sie begleitete sie nun beinahe jeden Abend. Früher hatte sie diese nicht so häufig gebraucht. Aber sie hatte das Gefühl, dass desto mehr sie mit diesen Kindern zu tun hatte, desto notwendiger wurde es.

„Gut zuhören und nicht unterbrechen", sagte sie und fragte sich, wie lange sie das schaffen würden, „Ich habe euch bei eurer jeweiligen Einführung in eure Rolle in dieser Stadt gesagt, dass die Herrschaft unter Umständen sehr begrenzt sein wird. Dies wird in den nächsten Tagen langsam in den Gang kommen. Wir fangen bei der Vorhersehung zum neuen Herrscher an."

Raffael verdrehte die Augen, „Bitte wiederhole das nicht schon wieder alles. Wie wäre es mit ein paar neuen Informationen, mit denen ich etwas anfangen kann."

Tatinne spürte, wie eine Ader aus ihrer Stirn heraustrat. Verzogener Bengel, „Unterbrich mich nicht. Wir machen das Schritt für Schritt, damit keiner von euch mir vorwerfen kann, dass ich nachlässig war."

Gilgian sprach, ohne auf sie zu achten, „Ich hoffe der Kerl tötet dich zuerst."

„Ihr seid unhöflich", sagte Elias.

„Halt die Klappe, Schleimer", erwiderte Gilgian. Raffael lachte.

Tatinne seufzte und rieb sich die Stirn. Nie wagten sie es, so frech zu sein, außer, wenn Tatinne sie einbestellen musste.

Sie knallte ihre Pfeife auf den Tisch, „Genug!"

Sie bleiben alle still und dennoch nahmen diese Bengel sie nicht ernst. Das bemerkte sie an dem Grinsen von Raffael, dem gelangweilten Blick von Gilgian und der Art, wie Elias sich im Zimmer umsah. Doch unter dieser Fassade musste es brodeln. Ein Machtwechsel war nie mit Frieden verbunden. Das haben sie bereits alle erfahren dürfen, auch wenn sie bisher diejenigen waren, welche die Macht an sich gerissen hatten. Und Tatinne fragte sich, wer von ihnen überleben würde, wenn der neue Herrscher die Zügel der Stadt an sich nahm.

„Der Mann wird ab heute in drei Tagen im Château de la Fortune auftauchen. Das ist neu für euch, merkt euch das. Danach wird er hierher kommen."

„Aus welchem Grund kommt er her?", fragte Raffael und Tatinne zuckte mit den Schultern. Eigentlich hatte sie vorgehabt, das ordentlich zu machen, um so viel Chaos wie nur möglich zu vermeiden. Die Bewohner Calisteos hatten schon zu viel Unglück in den letzten Jahren erfahren dürfen. Aber da ihre Herrscher nicht zuhören wollten, würde sie ihnen nur das Mindeste geben.

„Das werdet ihr selbst herausfinden müssen. Mit Ausnahme der Vorwarnung werdet ihr nichts mehr von mir bekommen. Vielleicht beantworte ich euch die eine oder andere Frage. Aber da werdet ihr wann anders kommen müssen. Am besten, nachdem ihr etwas mehr Respekt zu zeigen gelernt habt. Für heute will ich euch nicht mehr sehen."

Elias stand auf und verschwand auf Anhieb. Immer dasselbe mit ihm. Tatinne hatte eine Vermutung, woran das lag. Die Zustände, unter denen er in seine Position gerutscht war, machten ihm mehr zu schaffen, als den anderen beiden.

Tatinne stand ebenfalls auf und ging zurück in die obere Etage. Aufgrund einer Abmachung mit den früheren Herrschern, stand ihr Haus immer offen für diese. Ob sie also drin blieben oder gingen, war ihr gleich. Das bedeutete aber nicht, dass Tatinne sie nicht raus werfen konnte, wenn sie es wollte. Und sie tat es häufig, vor allem bei Raffael, welcher es sich auch diesmal nicht nehmen ließ, ihr in einem Versuch zu schnüffeln hinauf zu folgen, „Ich bin der Meinung, dass du etwas mehr erzählen könntest, als uns immer wieder nur mit derselben alten Leier zu langweilen."

„Lerne mit dem zurechtzukommen, was dir gegeben wird", erwiderte sie ihm.

„Ist das deine Verwandte?", fragte er und sie blickte missbilligend zu dem Bild, welches er hochhob. Sie schloss die Augen. Vielleicht würde sie dem kommenden Herrscher einen Gefallen tun und diese Plage sofort beseitigen. Sie hatte das Bild erst vor wenigen Tagen beim Aufräumen ihrer Kisten entdeckt. Es war ganz schön alt. Sie hätte wissen müssen, dass er es bemerken würde.

„Halt dich aus meinen Familienangelegenheiten raus", sagte sie und nahm es ihm weg. Er wehrte sich nicht und seine Augen wanderten weiter durch das Zimmer, auf der Suche nach neuen Dingen, die er in Erfahrung bringen konnte. Das tat er immer. Deswegen warf sie ihn auch immer raus.

„Wie wird er sein?", fragte Raffael und sie bemerkte, wie diese nervige kleine Plage sich an ihren Küchentresen zurücklehnte und mit dem Finger gegen die Einrichtung tippte. Er konnte noch so sehr auf unbeschwert tun, aber in diesem jungen kleinen Bengel steckte einiges an Nervosität. Er nahm seine Arbeit als Provinzherrscher sehr ernst und war gar nicht so verantwortungslos, wie er sich gerne gab. Es musste ihn wahnsinnig machen zu wissen, dass seine geliebte Provinz, an welcher er seit fast einem Jahr arbeitet, bald jemand anderem unterstehen würde. Er hatte sehr viel für die Menschen dort getan. Nicht alle haben es ihm jedoch gedankt.

„Finde es selbst heraus", sagte sie, „Du könntest das Château besuchen gehen."

Er sah sie abschätzend an und Tatinne wusste, dass das nicht das war, was er hören wollte.

„Solltest du nicht etwas entgegenkommender sein? Die Vorhersehung trifft auch dich oder habe ich da was falsch verstanden?"

Tatinne zuckte mit den Schultern, „Wer auch immer die Provinzen regiert, mir kann das herzlichst egal sein. Im Gegenteil, wenn eine nervige kleine Plage wie du nicht mehr in meinem Hab und Gut herumschnüffeln würde, dann wäre ich sehr froh darüber."

Er verschränkte die Arme vor der Brust und grinste sie an, „Ganz schön nachlässig von jemandem, der so besitzergreifend von seinem Zuhause ist, welches sich auch schon bald nicht mehr in deinem Besitz befinden könnte. Vielleicht hast du ja mehr Angst, als du zugeben magst?"

Tatinne verdrehte beinahe die Augen bei diesem schwachen Versuch, sie aus der Reserve zu locken. Und dann bemerkte sie, dass sein Finger noch immer am Tippen war.

„Da ist jemand ganz schön nervös", sagte sie und lehnte sich lächelnd über den Tisch zu dem Kind vor, welches bei ihrem Blick wachsam wurde. Er war viel zu jung, um sich mit ihr anzulegen. Sie sah zwar nicht so aus, aber sie war schon über fünfzig. Und sie hatte sich mit deutlich Schlimmerem in ihrem Leben abgeben müssen, als mit einem zu neugierigen Kind, welches die Situation bei Weitem nicht so sehr im Griff hatte, wie es das vorgab.

„Also", meinte Tatinne, „Deine Frage war, wie er so sein sollte. Lass mich überlegen. Chaos wird ihm folgen, wo auch immer er hingeht. Die Menschen werden ihm egal sein, denn er kennt keinen von ihnen. Er hat nicht dieselbe Bindung zu der Stadt wie du, wieso sollte er sich also um sie kümmern, wie du es tust? Es wird egal sein, wie viele Menschen hinter dir stehen. Im Gegenteil, das könnte zum Problem werden. Denn er wird regieren. Und alle, die sich dagegen stellen, werden verlieren. Und du wirst viel Arbeit leisten müssen, wenn du die Kontrolle behalten willst. Nein, eher noch schlimmer. Du wirst gar keine Kontrolle haben. Aber viel Glück beim Versuch. Hoffentlich wird er nicht wie Nexim."

„Meinst du das ernst?", fragte er und zweifelte ihre Worte an, wie sie es von ihm erwartet hatte. Er ließ sich nicht so leicht übers Ohr hauen, aber sie wusste, dass sie ihn dennoch verunsichern würde. Und allein dass sie Nexim angesprochen hatte, würde ausreichen, um ihn aus der Bahn zu werfen. Der ehemalige Herrscher der zweiten Provinz würde für immer in seinem Schatten sitzen und darauf lauern, ihn anzuspringen.

„Wer weiß. Ich hab das nicht in der Vorhersehung gesehen. Aber ich habe da so ein Gefühl. Und du weißt, wie das mit meinen Gefühlen ist. Sie könnten etwas bedeuten. Oder auch nicht."

Zufrieden beobachtete sie, wie sein so zuversichtlicher Blick dem ärger wich. Er würde ihr nicht glauben, aber der Zweifel würde ihn in den Wahnsinn treiben.

 

„Und das, meine lieben Freunde, ist der Grund, weshalb ich heute hier stehe", sagte Raffael mit einem breiten Grinsen im Gesicht, nachdem er seinen Freunden über die Konfrontation mit Tatinne erzählt hatte, welche vor drei Tagen in ihrem Anwesen stattgefunden hatte. Er wusste, dass diese alte Frau ihm unter die Haut fahren wollte. Und sie hatte es geschafft. Er war hier, vor den Toren des Châteaus, welches weit außerhalb der Stadt Calisteo und erst recht nicht in seiner Zuständigkeit lag. Und das nur um denjenigen zu sehen, welcher die Vorhersehung erfüllen sollte.

Seine Cousine Scarlett sah sich das Château de la Fortune genaustens an. Dann zuckte sie ihren Degen, „Ich fasse es nicht, dass ich dich hierher begleitet habe."

Sein Freund Crom zog ebenfalls seine Waffe, „Wenn ich sterbe, such ich dich heim."

Raffael lachte über die Nervosität der beiden. Er selbst zog noch keine Waffe. Wenn, dann würden sie erst im Château konfrontiert werden. Doch dort lebten niedere Wesen, kleine Gestalten, welche kaum stark genug waren, um ihm oder seinen Begleitern etwas auszumachen. Nur die Wächter könnten zum Problem werden.

„Hör auf zu lachen und lass es uns hinter uns bringen. Anjelika wird sich freuen, wenn wir es heute noch schaffen sollten vorbeizukommen, anstatt unsere Zeit hier zu verschwenden", sagte seine Cousine. Sie war die ganze Zeit über nicht zufrieden mit dem Ausflug gewesen. Ein ganz bestimmter Lehrer an ihrer Schule würde sie das nächste Mal für das heutige Fehlen ausschimpfen und Scarlett würde diejenige sein, welche das Meiste abbekommen wird.

Raffael konnte sich immer auf seine Cousine verlassen. Sie war immer für ihn da, egal ob es war, um ihn zu nerven oder für ihn ins Fadenkreuz zu rennen. Also entschloss er sich, das Ganze schnell über die Bühne zu bringen. Doch seine Cousine hielt ihn plötzlich zurück, „Warte. Hier."

Raffael nahm die Visitenkarte entgegen, „Was soll ich damit?"

„Keine Ahnung", antwortete Scarlett, „Eine liebenswerte Frau hat es mir in Calisteo in die Hand gedrückt, nachdem sie ihre Kleider abgeholt hat. Da dachte ich mir, ich schenke dir ein schönes Erlebnis."

Raffael schnaubte, „Die ist für ein Frauensalon, Scarlett. Die werden mich rauswerfen, wenn ich versuche da reinzukommen."

„Wirklich?", sie sah über seine Schulter, „Tatsächlich."

„Wieso schiebst du deinen Müll immer zu mir?", fragte Raffael sie.

„Weil du ihn immer annimmst", antwortete sie kühl. Und das stimmte.

Raffael seufzte und steckte die Karte ein. Er würde sie an einem anderen Ort wegwerfen. Und nicht dort, wo womöglich irgendeine Bestie auf sie aufmerksam wird und diesen armen Frauenladen dann aufsucht. Nicht, dass die Biester schlau genug dazu wären. Aber er wollte es trotzdem nicht riskieren.

„Genug ihr zwei. Können wir endlich los", jammerte Crom, „Euer Gezanke könnt ihr auf später verschieben. Zu eurer Information. Wir laufen schon seit einer halben Stunde im Regen und ich bin bis auf die Knochen nass."

Raffael ignorierte ihn und sie setzten sich in Bewegung. Voller Vorfreude betrat er das Château. Und als er über die Schwelle ging, fühlte er sich sofort anders. Er war bereit für einen Kampf. Raffael hatte alles ganz genau geplant. Sie würden nur so weit gehen, bis sie den Mann gefunden hatten, der angeblich irgendwann alle Provinzen an sich reißen würde. Er würde ihn kennenlernen, sich einen ersten Eindruck verschaffen. Einfach sicher gehen, dass es sich nicht um einen Wahnsinnigen handelte.

Es war nicht so, dass Raffael unbedingt gegen ihn kämpfen wollte. Wenn das Schicksal diesen Ablauf der Geschichte wollte, dann sollte es so sein. Aber es war erst ein Jahr her, seit sie einen Tyrannen losgeworden waren und seiner Provinz ging es mittlerweile um so vieles besser. Ein Ergebnis der Arbeit all der Menschen, die sich so bemüht hatten, ihr Zuhause zu einem besseren Ort zu machen. Er konnte das nicht in unwürdige Hände abgeben.

Also ist er mit Crom und Scarlett als kämpferischen Beistand aufgetaucht. Scarlett war dabei ihr Fluchtplan. Sie hatte angeborene Fähigkeiten des Raumsprunges. Dank ihrer Fähigkeit konnten sie die Wanderung hier hoch vermeiden und in einem sicheren Abstand zum Schloss auftauchen. Das hatte einiges leichter gemacht.

„Zieht die Ringe an", sagte er zu ihnen und sie gehorchten ihm.

„Bekomme ich noch einen Antrag?", fragte Crom und Raffael schnaubte belustigt. Auch er zog einen Ring an. Einer der Gründe, weshalb die niederen Wesen ihnen nichts anhaben können würden.

Als sie den dunklen großen Saal betraten, war es bedrückend und still. Nichteinmal die Geräusche des Regens drangen zu ihnen durch. Raffael wusste, dass dieser Raum zum ersten Turm gehörte. Er hatte die letzten drei Tage damit verbracht, sich ausgiebig mit dem Château zu beschäftigen. Er wusste über alle dokumentierten Gänge Bescheid, über alle Geheimgänge und über alle Zimmer, welche je gebaut wurden. Die Gänge der oberen Stockwerke waren so verwirrend, dass er darauf achten muste, keinen seiner Begleiter zu verlieren. Nur ungern würde er sie in diesem Schloss suchen müssen. Scarlett würde allein zurecht kommen. Sie könnte sich einfach raus bewegen. Anders als bei Crom. Er hatte keine Fähigkeiten, die ihm helfen würden. Raffael musste besonders auf ihn achten.

Gespannt warteten sie kurz, ob sich etwas regen würde. Doch es tat sich nichts. Raffael sah hinüber zu seinen Begleitern, welche mit großen Augen und vollkommen angespannt die Umgebung beobachteten. Sie waren konzentriert, das war gut.

Er drehte sich wieder weg und ging langsam und wachsam zu der Treppe, wunderte sich mit jedem Schritt, was dieser Mann hier wollte. Und dann kam ihm ein Gedanke.

„Also", meinte er zu seinen Begleitern, „Was würdet ihr an solch einem Ort verstecken?"

Crom verstand es nicht auf Anhieb, aber Scarlett schon. Kein Wunder, schließlich waren sie beide miteinander aufgewachsen. Sie verstanden sich ohne Worte.

„Du meinst also, dass die Person, auf die du es abgesehen hast, auf der Suche nach etwas ist, was die Wächter bewachen?"

„Das denke ich."

„Wahrscheinlich ganz oben. Und etwas sehr Wertvolles. Ich würde auf magisch tippen", führte Scarlett weiter aus.

„Und natürlich etwas Gefährliches, denn es wird ja nicht umsonst an solch einem Ort versteckt", sagte Raffael.

„Ihr Beltrans seid eine Plage", sagte Crom.

Scarlett lachte, „War das zu schnell für dein kleines Hirn."

„Ich bin nicht dumm", erwiderte Crom beinahe schon energetisch. Sie zog ihn zu oft damit auf. Aber er genoss ihre Aufmerksamkeit. Zu oft hatte Raffael ihn dabei beobachtet, wie er sich freiwillig in genau diese Position begab, nur damit sie ihn ärgerte. Aber für den Moment war das kein guter Zeitpunkt.

„Hört auf euch zu necken. Ihr könnt eure Liebesschwüre auf später verschieben."

„Wie bitte?", rief Scarlett aus und automatisch duckten sich alle drei. Kurz warteten sie, ob sich etwas zeigen würde, doch die Sekunden verflogen und kein Monster kam in Sicht, was ihm sehr sonderbar vorkam. Scarlett steckte ihren spitzen Fingernagel in Croms Wange, „Als ob ich mit diesem Idioten was anfangen würde."

„Reg dich ab", sagte Raffael warnend.

„Nimm deine Nägel aus meinem Gesicht", sagte Crom und schob sie weg.

Sie rafften sich  wachsam wieder zusammen und gingen die Treppe hinauf. Raffael musste die Stirn runzeln, als am Treppenende noch immer nichts zu sehen war. Es war seltsam. Nicht, dass er unbedingt einen Kampf wollte. Aber diese Geschöpfe waren nicht dafür bekannt, sich schweigend zurück zu halten. Sie waren territorial, beschützen ihren Grund und Boden und einander in einer unnachgiebigen, brutalen Weise. Raffael wünschte sich, die Menschen wären auch so loyal zu einander.

Als sie weiter empor stiegen, machte er eine Beobachtung, welche ihm etwas mehr Einblick in ein mögliches Geschehen gab. Anscheinend gab es hier einen Kampf. Es gab aber keine Leichen. Das erinnerte ihn an das Abenteuer von vor fünf Jahren, als er und Scarlett und einige ihrer Freunde eine Höhle neben dem Meer aufgesucht hatten. Gott, war das ein Desaster gewesen.

Es war feucht. Die einst roten Tapeten wiesen Schimmel auf. Ebenso wie die umgeworfenen Möbel. Hier und da lag Glas. Mit Bedacht stieg er drüber, versuchte nicht drauf zu treten. Sie gingen leise weiter, diesmal mit mehr Erfahrung, als damals, vor fünf Jahren.

Weiterhin passierte nichts. Sie wurde nicht angegriffen. Es kam ihnen nichts in den Weg. Doch sie bemerkten etwas Interessantes. Crom trat an den violett leuchtenden Riss, der sich mitten in der Luft auftat und langsam verschwand.

„Das bedeutet, jemand hat den Raum gewechselt. Oder?"

„Ja", sagte Scarlett. Auch sie war mittlerweile viel konzentrierter.

Raffael verstand den Sinn dieser Beobachtung nicht. Die Welt der Geister war nicht immer leicht zu erreichen und es barg immer ein Risiko, in diese zu tauchen. Sie lag genau über der Welt der Menschen. Manche behaupteten, es wäre eine Kopie der echten Welt, welche entstanden ist, nachdem die Realität der alten Welt zusammengebrochen war. Keiner wusste aber so genau, wie die zweite Ebene entstanden war.

„Wahrscheinlich hat er gedacht, dass er die Monster so abhängen würde", sagte Raffael.

„Ist doch eigentlich eine gute Idee?", erwiderte Crom fragend.

Scarlett schüttelte den Kopf, „Nein. Die Monster im Château sind sowohl Lebewesen als auch Geister. Sie werden der Person überall hin folgen können."

Immerhin erklärte diese Entdeckung, wo sie alle hin waren. Der Besucher vor ihnen, wahrscheinlich der Mann, von dem Tatinne gesprochen hatte, hatte all die Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Umso besser für Raffael. Vielleicht konnte er das Ganze für ein paar Momente aus der Ferne beobachten und dabei vielleicht eine erste Einschätzung über ihn fällen.

Sie traten gemeinsam durch die Tür zur weiteren Treppe, welche in einem weiten, spiralförmigen Bogen nach oben führte. Die Dunkelheit fühlte sich bedrohlich an und die Kurven des Ganges ließen seine Anspannung steigen. Man wusste nie, ob etwas in den Ecken oder hinter den Abbiegungen lauern würde. Die Eingänge zu den Gängen zwischen den Türmen fingen an, sich zu häufen. Sie blieben jedoch alle an der Wand und folgten der Treppe hinauf, stetig weiter.

Plötzlich hörte Raffael etwas. Er konnte dieses Geräusch nicht genau identifizieren. Er sah zurück, zu einem der Gänge. Sie waren circa elf Schritte davon entfernt. Die anderen wurden wachsamer, als das Geräusch näher kam. Es dauerte einen Moment, aber dann dämmerte es ihm, dass es sich um einen Schrei handelte. Sein Finger wanderte zum Ring, bereit sich und die anderen zu schützen.

Plötzlich schoss aus dem Gang eine Person hervor. Sie lief in einem Moment Sekunden an ihnen vorbei und glatt durch Scarlett hindurch, welche sich erschrocken versteifte.

Raffael sah ihr hinterher, entdeckte eine seltsame Gestalt mit Krallen an ihrer Jacke hängen und lange, schwarze Haare. Doch als plötzlich die Umgebung leicht bebte, sah er wieder zurück und entdeckte eine Menge sonderbarer Kreaturen aus dem Gang herschießen. Er sah etwas, dass eine Mischung aus Affe und Stachelschwein war. Eine Schlange mit Flügeln. Alles andersseiende Kreaturen von niederer Kraft. Aber die Menge stellte ein Problem dar.

Er fluchte, „Wir rennen auch."

Den Spuren nach, war sie lange vor ihnen im Château gewesen. Wie war diese Person hinter sie gekommen? So hatte er sich das nicht vorgestellt.

 

Etienne machte eine Pause vom Schreien und füllte sie sogleich mit Flüchen, „Catjill! Du hast es nur schlimmer gemacht! Korrigiere das wieder!"

Die Luft schmeckte seltsam. Eine Mischung aus trockenem Staub und prickelnder Magie. Sie hätte niemals in die zweite Ebene wechseln sollen. Catjill hatte ihr versichert, dass das die bessere Option wäre und sie hätte bei ihm nachfragen sollen, inwiefern und für wen. Offensichtlich nicht für sie. Verfluchte Djinns.

Der Kater sprang auf ihre Schulter und Etienne spürte seine Krallen, „Was soll ich denn bitte machen? Es sind keine Menschen. Außerdem bist du in der Lage, dich selbst zu verteidigen."

Etienne packte den Kater am Fell, blieb kurz stehen, drehte sich um und warf ihn den Monstern entgegen. Catjill gab ein lautes Fauchen von sich. Kurz explodierte es in heller, blauer Magie, welche die sonderbaren Farben der zweiten Ebene aufwirbelte. Ihr würde schwindlig werden, wenn sie das nicht schon öfters beobachtet hätte.

Dann schellte Catjill aus der Magiewolke hervor. Die Biester kam nicht direkt hinterher, aber sie brauchten auch nicht lange.

„Das hilft mir nicht gerade", meinte Etienne, drehte sich wieder um und lief weiter.

„Undankbares Gör! Das wirst du bereuen!", rief ihr der Kater zu, als er aufholte.

„Spiel dich nicht so auf", sagte sie zu ihm. Er war unsterblich. Sie hätten ihm nichts tun können.

Etienne schrie erschrocken auf, als plötzlich etwas schlabbriges und durchsichtiges neben ihr landete und sich durch den Stein fraß. Sie ekelte sich mehr vor den Wesen, als dass sie Angst vor ihnen hatte.

„Nur weil ich unsterblich bin, heißt es nicht, dass ich keine Schmerzen empfinden kann. Sie hätten mich zerfetzt!"

„Ah, hör doch auf", meinte Etienne und verdrehte die Augen.

Catjill beende kurz den Streit und sagte, „Du bist gleich an der Tür zum vierten Stockwerk."

Etienne wechselte den Raum. Die Welt wurde auf einen Schlag weniger bunt. Sie konnte wieder die vermoderten Tapeten riechen und der sonderbare Geschmack verschwand. Catjill beschwerte sich sofort, doch sie ignorierte ihn. Das war eine bescheuerte Idee gewesen, egal was er sagte.

Sie nutzte ihre Geschwindigkeit, um die Tür aufzutreten. Zu ihrer Überraschung ließ sich das leicht durchführen. Sie drehte sich um und wollte sie schnell mit einem Zauber verriegeln, als sie plötzlich drei weitere Personen entdeckte, die dies bereits für sie erledigten. Alarmiert wich Etienne mehrere Schritte zurück und versicherte sich, dass ihr Messer in Reichweite war. Hier sollte es keine Menschen geben.

Die Tür fiel ins Schloss. Es gab ein lautes Krachen und kurz hatte Etienne Sorge, dass die Tür aus den Angeln gerissen werden würde. Drei Menschen, scheinbar in ihrem Alter. Eine Frau mit braunen und der Junge mit dem grünen Haar, welches am Ansatz blond war, atmeten schwer und beachteten sie nicht. Stattdessen blickten sie achtsam zur geschlossenen Tür, welche gefährlich laut ächzte.

Ihr dritter Begleiter schien auch außer Atem, doch anstatt besorgt die Tür anzustarren, musterte er Etienne von oben bis unten. Auch sie schaute sich die drei genau an. Sie wären in der Überzahl und bewaffnet. Die Situation war auf ein mal deutlich schlimmer, als zuvor.

„Gehören sie zu denen?", fragte Etienne Catjill. Wenn ja, dann wäre dies gut.

Der Kater seufzte schwer, „Es sind Menschen, Etienne."

„Sicher? Die sehen mir aus, als würden sie sich gleich verwandeln."

Der braunhaarige brach in Gelächter aus, „Nein, ich versichere dir, wir sind Menschen. Wobei ich bei meiner Cousine manchmal Bedenken habe."

Dann grinste er sie an und es machte sie nervös. Etienne musterte sie nach ihren Waffen. Die Frau hatte einen Degen dabei. Der Grünhaarige hatte eine Pistole in seiner Hand und unter seiner Jacke sah Etienne den Griff einer weiteren Waffe, wahrscheinlich ein Messer. Seine Jacke war groß, Etienne würde vorerst nichts weiter ausmachen können. Schwerer fiel es ihr, den Braunhaargen einzuschätzen. Im Gegensatz zu den anderen sah er aus, als würde er Urlaub machen. Er hatte eine einfache Jeans und ein Pullover in Beige an. Einfache Turnschuhe. Überhaupt nicht so gekleidet, wie es eine Expedition an diesen Ort verlangen würde.

„Das überzeugt mich nicht", meinte sie zu Catjill nach ihrer Musterung.

Die braunen Augen der Frau wanderten zu ihr, „Bist du ein Idiot?"

Etienne legte den Kopf schief, „Ich glaube nicht."

„Das ist Antwort genug", murmelte sie und sah wieder zur Tür.

„Was macht ein so hübsches Mädchen wie du, an solch einem Ort?", fragte sie plötzlich der Braunhaarige.

„Ich suche etwas", antwortete Etienne und zwang sich, nicht noch weiter zurückzutreten.

„Sicher, dass du dich nicht übernommen hast?", meinte der Grünhaarige.

„Ich glaube nicht", erwiderte Etienne.

Er schnaubte und lachte dann, „Ah komm. Es ist doch offensichtlich."

„Ich bin allein genauso weit gekommen wie ihr zu dritt."

„Da hat sie recht", sagte der Braunhaarige zu seinem Kameraden und dann an sie gewandt, "Ich bin Raffael. Das ist meine Cousine Scarlett und unser Freund Crom. Und du bist?"

Etienne schwieg. Dann sagte sie, „Ich weiß nicht, ob ich mich möglichen Monstern vorstellen möchte."

Catjill seufzte, „Beharrst du immer noch darauf?"

Etienne spürte seine Aufregung. Sie haben nicht viele Menschen bisher gesehen. Und er war viel zu neugierig. Sie mochte es nicht.

„Selbstverständlich."

„Da du auch mit einem Monster unterwegs bist, sollten dich drei weitere eigentlich nicht stören", meinte Scarlett.

Etienne setzte zu einer Antwort an, doch Catjill kam ihr zuvor, „Ich bin kein Monster. Ich bin ein Djinn."

Etienne schloss kurz die Augen. Das hat er gerade nicht gemacht. Wieso plapperte er immer alles aus? Wieso musste er die Aufmerksamkeit auf sich ziehen?

Als sie die Augen wieder öffnete, begegnete sie einem wachsamen Blick und ihr Herz fing von dem neuen Stress zu pochen an. Wenn diese Menschen wüssten, was ein Djinn wert war, dann würden sie vielleicht Versuchen, ihn ihr wegzunehmen. Sie musste die Aufmerksamkeit von ihm lenken.

„Du kommst mir bekannt vor. Sicher, dass wir uns nicht schon einmal begegnet sind?"

Überrascht blinzelte sie. Haben sie ihn vielleicht nicht verstanden? Oder sie wussten nicht, was ein Djinn sein soll? Oder seine Magie war stark genug, dass sie dieser Aussage über ihn nicht genug Aufmerksamkeit schenkten. Was auch immer es war, sie musste dafür sorgen, dass diese Menschen kein Interesse an ihm entwickelten.

Doch bevor sie erneut zum Sprechen kam, spürte sie, wie Catjills Gewicht von ihrer Schulter verschwand.

„Viel Erfolg", sagte er, „Ich kümmere mich um den Rest."

Sie blinzelte ihm kurz hinterher. Dann spürte sie Gänsehaut ihren linken Arm hinauf wandern und sah in die Richtung. Etwas Graues schoss auf sie zu und sie wich ruckartig zurück, schnell genug, dass es nur knapp an ihr vorbeizog. Zu knapp für ihr Wohlempfinden. Dann verschwand es, was sie als eine Klinge identifizierte und tauchte über ihr auf. Etienne sprang zurück und es krachte auf den Boden, zerstörte die glatte, schwarze Marmoroberfläche, welche die Kronleuchter über ihnen widerspiegelte.

Das Wesen verschwand wieder. Etienne hatte dennoch kurz seine Gestalt erblicken können. Es hatte eine schwarze Maske auf und war gehüllt in einem zerrissenen schwarzen Umhang, welcher nicht die dürren, grauen Beine verborgen hatte.

Ihr ging ein Schauder den Rücken hinauf und sie spürte, dass etwas hinter ihr war. Sie wich wieder zur Seite aus und spürte den Luftzug, als die Kling erneut auf den Boden krachte. Die Angriffe fühlten sich ganz anders an, als das, was die zahlreichen Wesen zuvor zustande gebracht hatten. Dies musste ein Wächter sein.

Mit einem kurzen Blick zu den anderen Dreien, musste Etienne die Möglichkeit, dass sie Monster waren, nun endgültig begaben, denn auch diese hatten gerade eine schwere Zeit mit einem von ihnen. Und wo war der Dritte? Etienne blickte hinauf und sah eine hübsche Frau auf die Lage hinunterschauen. Sie war durchsichtig, ihr Körper war schwer zu erahnen. Immer wieder verschwand ein Teil, nur um kurz darauf wieder aufzutauchen. Manchmal intensiver auszumachen, manchmal kaum zu erblicken. Wie schillerndes Organza, welches vom Wind sanft hin und her geweht wurde.

Etienne hob die Hände, „Ich komme in Frieden."

Der Wächter lachte und hob den Finger. Dann verschwand sie. Das Wesen mit der Maske bewegte sich langsam auf sie zu. Sein Mantel war befleckt und dreckig und Etienne verspürte keine Lust genauer herauszufinden, womit. Er ging auf sie los und aufgrund der Anwesenheit der anderen Menschen, blieb Etienne nichts übrig, als zurückzuweichen. Sie brachten alles durcheinander und Etienne war noch unentschlossen, wie sie damit umgehen sollte.

Sie bemerkte, wie etwas gegen die andere Seite des Raumes krachte. Möbel, welche vorher schon nicht so gut aussahen, brachen nun vollkommen in sich zusammen. Grüne Haare tauchten aus dem Schutt auf und die Person richtete sich schnell wieder auf. Dann wurde ihr Blick auf ihn blockiert und Etienne schlug die Arme schützend vor sich, als ein gezielter Schlag sie erwischte. Es nahm ihr das Gleichgewicht und Etienne stolperte gegen die Wand, von welcher sie sich anschließend wieder abstieß, bevor der nächste Schlag sie erwischen konnte. Sie landete auf dem Boden und spürte den Putz der Wand auf sie fallen.

Wenn nur die anderen Menschen nicht hier wären, dachte sie sich. Wenn nur das der Fall wäre, dann würde sie jetzt nicht so eine schwere Zeit haben.

Sie kroch zurück, als sich das Wesen langsam wieder aufrichtete und seine milchigen Augen zu ihr sahen. Dann griff sie in ihre Tasche, bereit eine ihrer verzauberten Waffen einzusetzen. Dies vor Fremden zu tun stört sie ungemein. Das Wesen trat näher zu ihr und stolperte dann zurück, als ein Schuss es traf und Magie um ihn herumwirbelte und es zu verwirren schien. Der Zauber nahm seine Aufmerksamkeit in Anspruch, schwirrte um ihn herum, wie Fliegen um einen toten Körper. Sie blickte zu dem Braunhaarigen, Raffael, welcher wachsam zu dem Wesen blickte und dann zu seinen Freunden, welche gegen das andere Wesen kämpften.

„Hilf lieber ihnen, ich komme klar", sagte Etienne und wünschte sich, er würde sich mit anderen Sachen beschäftigen.

Er sah kurz mit gehobenen Brauen zu ihr und dann wieder zu dem Monster, „Ich wage das aktuell zu bezweifeln. Aber gib dein Bestes."

Er drehte sich wieder halb zu seinen Freunden. Und Etienne merkte, wie er erneut einen Schuss abgab und das Monster dabei störte, einen erfolgreichen Angriff auf seine Begleiter auszuüben. Er beschützte sie, ohne sich richtig einzumischen. Wenn sie nur dieselbe Hilfe von Catjill bekommen würde.

Etienne rappelte sich wieder auf und sah zu dem Wesen vor sich, welches wahrscheinlich langsam wieder zur Besinnung kam. Sie vermutete, sie wusste, um welchen Zauber es sich bei Raffaels Waffe handelte.

Sie holte ihre kleine Tasche hervor und so lange keiner schaute, nahm sie schnell die vierte der zehn Ampullen und trank die wenigen Tropfen der roten Flüssigkeit, die sich da drin befand. Die Wächter waren alt und fühlten sich an, wie zur Form materialisierter Staub im Wind. Ihrer Vermutung nach sollte Windmagie am ehesten helfen. Sie spürte wie die Magie in ihr erwachte, spürte sie bis in die Fingerspitzen durch ihre Adern fließen. Auf eine andere Weise, als die letzte, die sie genutzt hatte. Sie fühlte sich leicht, als könnte sie selbst zu schweben anfangen.

Als der Wächter auf sie zuging, hob Etienne die Hand und erinnerte sich an das, was ihr erzählt wurde. Sie sollte sich vorstellen, was sie erreichen wollte. Dann es in ihrer Hand sammeln und loslassen. Sie stellte sich Wind vor, so stark, dass es einen Baum entwurzeln könnte. Und dann ließ sie es auf den Wächter los. Er flog auf die andere Seite des Raumes und schlug gegen die Wand auf. Staub wirbelte auf und Wandstücke sprangen in alle Richtungen davon. Etienne stolperte zurück und fiel wieder hin, überrascht von dem Rückstoß, von welchem ihr nun die Schulter wehtat. Doch dann wurde ihre Überraschung von Triumph abgelöst. Sie hatte diesen Zauber bisher noch nie genutzt. Er funktionierte besser, als sie gedacht hatte.

„Das war beeindruckend", hörte sie und blickte sich nach der Stimme um, welche zu Raffael gehörte, „Was hast du da getrunken?"

Etienne verzog das Gesicht und entschloss sich, ihn zu ignorieren. Sie verstaute ihre kleine Tasche wieder sicher an ihrem Gürtel. Sie war was Besonderes, darauf ausgelegt, den Inhalt zu schützen. Dieser war so wertvoll, dass Etienne sich wunderte, wie sie den Verlust einer Ampulle in den nächsten Monaten ausgleichen sollte. Doch dieses Problem würde sie auf einen späteren Zeitpunkt verschieben.

Das Wesen würde sich irgendwann im Laufe der Zeit wieder zusammensetzen. Etienne musste zusehen, dass sie bis dahin auf und davon war.

Die Sonnenstrahlen ließen den aufgewirbelten Staubpartikel aufleuchten. Etienne spürte sie unangenehm in ihrem Mund, als sie durchatmete. Ihr Blick fiel auf Catjill, der sich auf die andere Seite gestohlen hatte. Er konnte durch seine einzigartige Magie unentdeckt durch die Reihen der Wesen laufen. Eine besondere Eigenschaft, welche den besonders jungen Djinns zukam, um sie vor Feinden zu schützen. Er suchte den Stein, wie sie erfreut feststellte. Wenn einer das Relikt der Austreibung finden würde, dann war es er. Und sobald er es hatte, konnten sie verschwinden.

Sie hörte, wie erneut etwas an der Seite krachte und hörte Schüsse, gefolgt von einem markanten Gefühl der Magie, welche sich so heftig im Raum ausbreitete, dass es ihr Übelkeit verursachte. Und als sie sich umblickte, sah sie einen Wächter zu Staub zerfallen, wahrscheinlich für immer. Die junge Frau stand über ihm und atmete schwer. Sie blutete aus ihrem rechten Arm. Der Junge mit den grünen Haaren sah nun deutlich mitgenommener aus. Er eilte zu ihr, mit seiner Waffe in der Hand. Er war derjenige, der geschossen hatte.

„Gut gemacht“, sagte Raffael, der besorgt zu ihnen herüber blickte. Er hätte auch geschossen haben können. Etienne war sich nicht so ganz sicher. Über seine Rolle in dieser Gruppe war sie sich auch nicht sicher. Er schien sich passiv zu halten, mischte sich dennoch in den Kampf ein. Etienne stellte fest, dass er sich so im Raum positioniert hatte, dass er alles im Blick hatte. Das gefiel ihr nicht.

„Ich bin der Meinung, wir sollten langsam nach Hause gehen“, meinte Crom, welcher, ohne sich um seine eigenen Wunden zu kümmern, besorgt den Arm der Frau anschaute.

„Das ist eine fantastische Idee“, meinte Etienne strahlend. Desto schneller sie weg waren, desto eher könnte sie ihren Job ohne Publikum und ohne Probleme erledigen.

„Du scheinst uns wirklich loswerden zu wollen“, meinte Raffael lächelnd, „Sollte man sich nicht über die Menschen freuen, welche einem Beistand entgegen solch schrecklicher Kreaturen bieten?“

„Ich bin sehr schüchtern“, erwiderte sie nach einem Moment trocken und er lachte. Sie beobachtete aus dem Augenwinkel, wie er fragend zu seinen Kameraden schaute und Crom ihm ermunternd zunickte. Etienne kannte sie nicht gut genug, um diese Interaktion interpretieren zu können.

Ihre Augen suchten nach Catjill und sie sah ihn weiterhin durch die Schätze der Menschen laufen, welche vor Ewigkeiten diese hier versteckt hatten, geschützt von den Wesen, die sie wahrscheinlich selbst gerufen haben. Oder vielleicht wurden sie selbst zu den Wächtern, deren Seelen getrieben waren von dem Bedürfnis auf dieser Welt zu verweilen und den Besitz zu schützen, der ihnen in ihren Lebenszeiten zu eigen war.

Es gab noch einen weiteren Wächter, welcher sich bisher verborgen gehalten hatte und die Frau. Etienne behielt die Gestalt der Frau die ganze Zeit im Auge, welche in ihrem durchsichtigen Körper über ihnen auftauchte. Sie schwebte über ihren Köpfen, wachsam und wissend, wie ein Raubtier auf Lauer. Sie verursachte Etienne Gänsehaut, denn obwohl sie sich sicher war, sich gegen sie bewähren zu können, war sie sich genauso sicher, dass dieses Wesen sie in einem unachtsamen Moment zerreißen würde. Sie sah zu ihr hinauf, „Mein Kater und ich wollen wirklich nichts Böses.“

„Kater!“, hörte sie Catjill beleidigt fluchen. Er hörte mit seiner Suche jedoch nicht auf. Das Wesen betrachtete ihn nicht, genauso wenig, wie die Menschen. Etienne wünschte sich dennoch, er würde trotz seiner Zauber nicht so leichtsinnig die Aufmerksamkeit auf sich ziehen.

Das Wesen sah zu Etienne, verschwand kurz und tauchte etwas näher bei ihr auf.

„Das behaupten Menschen immer“, sagte sie lächelnd, mit einer verzerrten aber sanften Stimme, „Und nun schau dir an, was mit meinem Geliebten passiert ist."

Diese Verzerrung passierte manchmal, wenn ein Wesen aus dem anderen Raum sprach. Etienne war sich sicher, dass vor allem dieses Wesen hauptsächlich im zweiten Raum residierte. Sie verfluchte Catjill, welcher ihr empfohlen hatte, in den zweiten Raum zu wechseln. Sie wäre dieser Kreatur ungern dort begegnet. Dieses Wesen anzuschauen fühlte sich an, als würde man auf die ruhige Oberfläche von einem See blicken, von dem man wusste, dass er sehr, sehr tief und dunkel war.

„Ich wars nicht“, sagte Etienne und zeigte mit dem Finger auf die Menschen, „Und mit denen da habe ich nichts zu tun.“

Sie spürte Blicke auf sich, aber sie ignorierte diese und sprach weiter, „Ich bin nur hier wegen dem Stein. Ich werde ihn auch zurückbringen, wenn ich mit ihm fertig bin.“

„Das ist eine Lüge“, erwiderte das Wesen ohne jeglichen Vorwurf in ihrer Stimme.

Etienne zögerte lächelnd. Vielleicht würde sie anders mit dem Wesen sprechen, ihr die Situation erklären, wenn nicht die anderen Menschen dort wären. Ihr Misstrauen war ihnen gegenüber größer, als den Monstern. Die Monster könnten diesen Ort nicht verlassen. Die Menschen hingegen schon. Und sie könnten anderen Menschen von ihrer Konfrontation erzählen. Dieses Wesen hingegen würde sie wahrscheinlich schon bald wieder vergessen haben.

Etienne verwarf ihre Pläne. Ursprünglich war sie bereit, sich gegen die Wesen zu bewähren und sich auf einen Kampf einzulassen. Sie wollte sie nicht auslöschen, ihr Bruder hatte sie gebeten, dies nicht zu tun. Doch nun hatte sie beschlossen, die Flucht ergreifen, sobald sie den Stein hatte. Alternativ könnte sie auch jetzt die Flucht ergreifen und später wiederkommen, wenn sie alleine wäre, aber diese Idee verwarf sie wieder. Wenn die Wächter sie erwarten würden, würde sie es schwerer haben.

Sie blickte einschätzend zu Catjill und sah, wie er sein Ziel erreicht hatte. Er wühlte kurz unter den alten Münzen und zog dann eine kleine Schatulle hervor. Er blickte zu ihr und nickte ihr zu.

Etienne sah wieder zu dem Wesen über ihr, „Du hast mich überzeugt, ich werde gehen.“

Sie hörte einen von den Menschen schnauben, „Alles, was es dazu brauchte, war es einer Lüge bezichtigt zu werden.“

Etienne verspannte sich und blickte genervt zum Sprecher, „Halt dich raus.“

Er hatte Catjill wahrscheinlich nicht gesehen. Das konnte sie ihm nicht verübeln. Der Djinn war so geschaffen.

Das Wesen schwebte wieder etwas weiter nach oben, lächelte sie weiterhin wachsam an. Etienne verstand nicht, wieso sie nichts tat. Sie schien zu warten und Etienne wollte nicht herausfinden worauf. Sie trat langsam einige Schritte zurück und beobachtete, ohne allzu offensichtlich hinzuschauen, wie Catjill sich zu einem Fenster auf der anderen Seite schlich. Sie würden sich wieder unten treffen.

„Wohin genau willst du gehen? Durch die Tür?“, fragte die geisterhafte Frau, „Was wirst du mit den Wesen auf der anderen Seite tun?“

Etienne blieb wieder stehen. Sie hatte diese ausgeblendet gehabt. Im Gegensatz zu den Menschen und den Wächtern, waren diese nicht so gefährlich. Dennoch wollte sie nicht durch die Menge durchrennen müssen.

„Ich denke, ich nehme das Fenster“, sagte sie dann.

„Was sollen wir machen?“, fragte Crom, mehr an Raffael gerichtet, als an sie. Etienne sah schnell zu ihnen und bemerkte einen wartenden Blick von der Frau zu Raffael, welcher noch immer etwas weiter von ihnen entfernt stand und ein Signal zum Abwarten gab. Nicht zu wissen, was sie vorhatten, machte Etienne noch nervöser. Schnell sah sie wieder zu dem Wesen über ihnen, „Ihr könnt auch das Fenster nehmen. Oder ihr kümmert euch um das, weswegen ihr hier seid. Ich bin auf alle Fälle raus.“

Raffael lächelte sie an, „Das, weswegen wir hier sind, plant zum Fenster rauszugehen.“

Etienne runzelte die Stirn und blickte zu ihm, „Ich bin mir nicht sicher, ob ich diese Aussage mag.“

Das war gelogen. Sie war sich sehr sicher, dass sie diese furchtbar fand. Entweder wollten sie was von ihr oder von ihrem Djinn. Nichts davon war eine gute Option. Sie hatte keine Zeit sich mit anderen Menschen abzugeben.

Catjill war angekommen und sah sie erwartungsvoll an. Etienne lief langsam mit erhobenen Händen zu einem Fenster in ihrer Nähe, „Wie auch immer ich aber dazu stehe. Ich will mit niemandem hier noch was zu tun haben.“

Sie sah, wie Raffael misstrauisch zwischen dem Wächter und ihr blickte. Sie verstand sein Misstrauen, denn ihr ging es genauso. Die Anspannung tat ihr in den Muskeln weh und sie wusste, dass das Wesen etwas plante. Umso besser, schnell hier raus zu sein.

„Bist du sicher, dass es eine gute Idee ist, den Fluchtweg zu nehmen, von welchem es dich nicht abhält?“, fragte er sie.

Der Wächter lachte und Etienne schauderte es. Der Gedanke war ihr auch gekommen, aber sie musste es nur zu ihrem Djinn schaffen. Was auch immer da auf sie zukommen sollte, sie würde die kurze Zeit, in der es sie brauchte zu ihm zu kommen, aushalten.

„So wie ich das sehe, habe ich die Wahl zwischen dem Fenster, von dem ich nicht weiß, was mich dort erwartet“, meinte zu ihm, „und euch, von denen ich nicht weiß, was sie von mir wollen. Ich nehme das Fenster.“

„Ich kann dir versichern, dass wir nicht vorhaben dich zu verletzen“, sagte Raffael, sein Blick noch immer auf den Wächter gerichtet.

Sie trat an die Wand neben dem Fenster und blickte kurz hinaus, eher sie ihren Blick wieder in den Raum zu dem Wächter und Menschen wand. Sie hatte noch ihre Windmagie in sich. Diese würde ihr bei einem Fall behilflich sein. Vielleicht könnte sie diese auch nutzen, um zum Djinn zu kommen.

Das Wesen kicherte und Etienne verharrte kurz, diesmal wirklich unsicher, ob das der richtige Weg wäre. Weiterhin mit dem Rücken zur Wand öffnete sie vorsichtig das Fenster mit ihrer Hand, ohne den Blick von den weiteren Anwesenden im Raum zu wenden. Sie achtete darauf, noch nicht vor das Fenster zu treten, als sie es mit der Hand aufstieß. Es passierte nichts. Sie sah kurz wieder besorgt zum Wächter, welcher sie anlächelte.

„Ich glaube wirklich nicht, dass das eine gute Idee ist“, meinte Raffael. Etienne stimmte ihm zu. Dann blickte sie zum Fenster auf der anderen Seite des Raumes, „Ich könnte auch dort raus.“

Sie sah wieder zu dem Wesen, welches langsam zu lächeln aufhörte. Sie schnippte mit den Fingern und verschwand. Dann hörte Etienne ihren Djinn schreien, „Etienne, runter!“

Sie warf sich auf den Boden und die Wand über ihr sprang auf, als etwas Schnelles hindurch schoss.

Ein Schrei erklang von der anderen Seite des Raumes, als etwas Mächtiges auf dem Boden aufschlug und Staub aufgewirbelt wurde. Keine Zeit, sich um die Menschen zu kümmern, sprang Etienne zur Seite und betrachtete das Loch in der Wand. Sie sah durch diesen den vierten Turm empor ragen und dort, an der Spitze, sah sie ein offenes Fenster, von welchem ein weiterer Wächter auf sie schoss. Wenn sie da raus gegangen wäre, hätte er freies Sichtfeld auf sie gehabt. Sie sprang weiter zur Seite, bevor er erneut mit seiner Waffe auf die Wand schießen konnte, hinter der sie sich versteckt hatte.

„Catjill, komm zu mir!“, rief sie ihm zu und hoffte, dass er ihren Befehl durch den Krach hören konnte. Die Wächter würden sie nicht gehen lassen. Es könnte Rache sein, für die andren zwei oder einfach nur der Zwang, ihre Aufgabe zu erfüllen. Einer von diesen war aber an den anderen Turm gebunden. Der andere war hier mit ihnen und griff sie an, ohne dass sie es kommen sahen. Normalerweise könnten das gute Aussichten für sie sein, wenn nicht eine dritte, für sie kaum möglich einzuschätzende Gruppe, gegenwärtig wäre.

Etwas Unsichtbares schlug gegen ihre Füße und sie fiel auf den Boden. Sie hörte einen Schuss und anschließend ein Brüllen. Bevor sie sich aufrappeln konnte, spürte sie, wie ihr Fuß gepackt und sie weggeschleudert wurde. Sie prallte an einem der Menschen und gemeinsam flogen sie gegen eine weitere Wand. Zu ihrer Überraschung war der Aufprall aber nicht so stark, wie die Wucht, mit der sie gegen einen von ihnen geschmettert wurde. Als Wandbrocken auf sie fielen, zersprangen sie, bevor sie sie erreichten.

Sie sah hoch und entdeckt ein erschrockenes Gesicht, ein Ausdruck, der genau das zeigte, was sie fühlte. Nur dass Raffael nach einem weiteren Moment breit zu lächeln anfing. Panik stieg in ihr auf, als ihr klar wurde, dass sie sich nicht richtig wehren könnte, erst recht nicht gegen seine Waffe, welche er noch immer in der Hand hielt. Sie machte Anstalt aufzuspringen, aber er hielt sie zurück.

„Nein, warte. Warte“, sagte er eindringlich. Er hob seine Hand mit der Waffe und drehte sie weg von ihr, „Sieht du, ich will dir nichts tun. Ich will nur mit dir reden.“

Die Waffe machte sie auf die Entfernung dennoch nervös, vor allem wenn sie den Zauber bedachte, mit welchem sie wahrscheinlich versehen war.

„Nein danke“, sagte sie und versuchte erneut aufzustehen.

Er hielt sie wieder zurück und deutete auf seinen Ring am Finger, „Langsam. Der Radius davon ist nicht so groß. Und so lange das Ding da wütet, werde ich es nicht einfach aufheben.“

Der blaue Stein war auf die Innenseite seiner Hand gedreht und sie verstand, dass er eine Schutzreliquie aktiviert hatte. Dies erklärte ihre vergleichsweise weiche Landung und dem Abprallen der Gegenstände an einer unsichtbaren Barriere. Schutzreliquien waren viel wert und sehr selten.

„Das ist ein-“, setzte er an, doch sie unterbrach ihn.

„Woher hast du das?“

Er schwieg einen Moment, dann setzte sich wieder ein triumphierendes Lächeln auf sein Gesicht, „Wenn wir miteinander reden, beantworte ich dir das. Antwort gegen Antwort.“

Sie verzog das Gesicht, „Das ist ein furchtbarer Zeitpunkt für Verhandlungen. Und ich passe.“

Etienne weigerte sich, ihm auch nur eine Frage zu beantworten. Er lachte und half ihr vorsichtig in die Hocke, legte seine Hand auf ihren Kopf und hielt sie davon ab, gegen die Barriere zu stoßen, die sie nicht sehen konnte. Es war so ungewohnte, nach all den Jahren einem Menschen wieder so nahe zu sein.

„Du hast recht, lass uns zunächst dieses Ding vornehmen“, sagte er, „Ich kann die Reliquie so aktivieren, dass sie hier drin gefangen wäre. Schaffst du es, sie an einem Ort zu halten?“

„Wie willst du das anstellen?“, fragte sie misstrauisch, während erneut etwas Starkes gegen die Barriere schlug und sie beide überrascht zusammenzuckten.

„Antwort gegen Antwort“, wiederholte er nur.

Doch diesmal akzeptierte Etienne dies nicht, „Ich werde mich nicht auf einen Plan einlassen, von dem ich nicht weiß, wie der funktionieren soll.“

„Wenn du einen besseren hast, schieß los“, erwiderte er. Etienne hatte einen. Den würde sie aber nicht vor Fremden durchführen. Sie seufzte, „Gut. Aber sobald es nicht so läuft, wie du es vorgeschlagen hast, bin ich hier raus.“

Er lächelte breiter und meinte im Hinblick auf den Schutz, „Soll ich es wieder aufheben.“

„Gib mir einen Moment", sagte sie. Etienne rief sich ins Gedächtnis, wie die Anweisungen für die Windmagie waren.

Ihr Bruder hatte ihr immer gesagt, dass nichts die Macht der Vorstellungen übersteigen würde. Er hatte alles machen können, sei es ein Tornado beschwören oder sein Anwesen fliegen lassen. Er vermochte Dinge zu machen, die Etienne nie für möglich gehalten hatte. Ihr Bruder, wenn es ihm gut ging, war eine Naturgewalt. Und er hatte ihr erklärt, wie sie den Wind kontrollieren konnte. Er vergaß jedoch, dass ihre Kreativität nicht so groß war, wie seine.

Etienne nickte Raffael zu und beobachtete, wie er den Stein des Ringes mit seinem Daumen berührte und sogleich spürte sie wieder Staub auf sie hinab rieseln. Sie sprang weg von ihm und blickte sich kurz nach Catjill um. Dieser versteckte sich unter einem eingestürztem Tisch. Sie hatte sein Alter nicht bedacht, als sie ihm die Anweisung gegeben hatte. Wahrscheinlich hat er versucht durch den Raum, in welchem das Wesen wütete, zu ihr zu kommen. Dann atmete sie tief durch und hob beide Hände. Sie hatte ihren Bruder das schon mal machen sehen. Sie wusste, was sie sich vorstellen sollte. Die Luft im Raum fing an sich zu bewegen. Etienne fing ganz außen an und ließ die Kugel aus sich bewegender Luft enger und enger werden. Schon bald erkannte sie die Gestalt, welche auszubrechen versuchte, aber immer wieder vom Luftstrom mitgerissen wurde. Etienne hatte Mitleid mit ihr, denn das hatte ihr Bruder mit ihr auch mal gemacht.

Irgendwann war die Kugel aus bewegender Luft nicht mehr so groß.

„Bitte sehr", sagte sie unzufrieden zu Raffael und bedachte ihn misstrauisch aus dem Augenwinkel. Er zog seinen Ring aus und warf ihn zu der Gestalt rein. Der Ring wurde mitgerissen und rotierte mit der Luft um das Wesen herum, welches versuchte nicht vom Luftstrom mitgerissen zu werden.

Etienne schielte wieder zu Raffael und sah, wie er eine Kette unter seinem Pullover hervorzog und den Stein berührte. Als er Etiennes Blick sah, zwinkerte er ihr zu, als er die Magie nutzte und Etienne blickte wieder zu der gefangenen Gestalt. Der Ring leuchtete im blauen Licht auf und kurze Zeit später erblickte Etienne ein Glitzern um ihre Luftkugel. Sie ließ ihre Magie los und der Wind verschwand. Zurück blieb der Geist, an Ort und Stelle.

„Raffael, bist du verrückt?", hörte sie die junge Frau ausrufen. Seine Begleiter liefen zu ihm und Etienne bemerkte, wie die Frau einen Ring auszog und ihm zudrückte. Der Grünhaarige hielt sie jedoch davon ab und gab ihm stattdessen seinen. Etienne lief zu ihrem Djinn, der mit seinen Pfoten unten den Brocken versuchte einen Weg hinaus und zu ihr zu finden. Es war Zeit, von hier zu verschwinden.

„Wo ist der Stein?", fragte sie die Katergestalt, während sie einige umgestürzte Bruchstücke der Möbel zur Seite schob. Der kalte Stein war nass und sie spürte Moos an ihren Fingern.

„Danke der Nachfrage. Mir geht's gut. Wie nett, dass du dir Sorgen machst", meinte er sarkastisch und hustete dann. Etienne bemerkte, wie er sanft zitterte. Das Abenteuer war vielleicht etwas zu viel für ihn gewesen.

„Mach dir keine Sorgen, es wird schon wieder", erwiderte Etienne zuversichtlich und streichelte beruhigend seinen Rücken. Er streckte sich ihrer Berührung entgegen und ließ sich trösten.

„Meinst du das hier?", hörte sie Raffael plötzlich fragen. Sie blickte zu ihm und sah, wie Crom ihm die Schatulle übergab. Er öffnete diese und blickte hinein.

„Das solltest du nicht machen", sagte Etienne warnend und vermerkte sich, dass diese Menschen scheinbar keine Ahnung von Reliquien aus der ersten Stunde der neuen Welt hatten. Dann versuchte sie ihr bestes Lächeln, „Und ich wäre dir wirklich dankbar, wenn du mir das übergeben würdest."

Er blickte wieder zu ihr und lächelte, „Wie dankbar wärst du denn?"

Etienne versuchte ihr Lächeln aufrechtzuerhalten. Ein Schauder stieg ihr den Nacken hinauf, während sich in ihrem Hinterkopf eine unangenehme Ahnung regte. Deswegen mochte sie keine Menschen. Sie tauchten einfach auf und wollten etwas. Und wenn Etienne nicht nachgab, dann suchten sie nach einem Weg, sie zu zwingen.

„Was willst du haben?"

Sie hatte genug Kämpfe für einen Tag. Und da draußen gab es immer noch einen Wächter, welcher nur darauf wartete, einen Blick auf sie zu erhaschen. Sie würde ungern einen weiteren Kampf provozieren.

Er sah nachdenklich zu ihr und dann wieder zu dem Stein. Er schloss die Schatulle und sagte, „Nach Kämpfen liegt es mir gerade nicht. Aber ich werde das dennoch an mich nehmen."

Er übergab die Schatulle an Crom und nickte Scarlett zu, die daraufhin die Augen schloss.

„Ich mache dir ein faires Angebot. Du kommst in meine Stadt und dann unterhalten wir uns unter zivilisierten Umständen über den Stein und darüber, wie viel wir künftig miteinander zu tun haben werden", sagte er und fügte dann hinzu, „Wenn du jedoch versuchst ihn zu stehlen, dann werde ich ihn vernichten lassen."

Er warf ein Stück Papier auf den Boden und sein Blick hatte etwas Triumphierendes. Etienne strahlte ihn an und überlegte sich, ob sie nicht doch noch einen Kampf wagen sollte, nur um ihn schlagen zu dürfen, „Da war kein Angebot für den Stein in deiner Aussage drin."

Die Luft um sie herum fing zu flimmern an. Etienne wusste, worum es sich handelte. Sie hatte schon öfters Menschen mit dieser Fähigkeit gesehen und wenn die Wut über die Situation nicht von ihr Besitz ergriffen hätte, dann würde sie sich wundern, wieso sie diesen Springer nicht kannte. Und Etienne kannte viele von ihnen. Wie die meisten anderen Menschen auch, denn Personen mit diesen Fähigkeiten waren selten und meistens unterstanden sie den Mächtigen.

Er lachte, „Das bekommst du, wenn du da bist."

Und dann verschwanden sie und es war still. Der Wind wehte durch die Lücken im Dach, welche nach dem Kampf noch größer waren, als zuvor. Etienne hörte die Monster auf der anderen Seite der Tür wieder ganz deutlich gegen diese einschlagen. Sie hielt aber, bestärkt durch die uralte Magie, welche hier irgendwann, lange vor ihrer Zeit gewirkt wurde.

Etienne starrte vor sich hin. Ihr Kopf war leer.

„Soll ich ihn einfach umbringen?", fragte sie dann Catjill.

Der Kater richtete sich auf und nach einem Strecken fing er an seine Pfote zu lecken, „Übertreibe nicht. Das sind die ersten Menschen, denen wir seit Monaten begegnen. Aber für einen guten Preis, kann ich das sicherlich für dich einrichten."

„Das ist furchtbar!", rief sie dann aus und zwang sich kurz darauf, wieder ruhig zu werden. Nach so vielen Strapatzen war sie zum ersten Mal kurz davor gewesen, den ersten Stein zu erlangen. Sie hatte sogar eine wertvolle Ampulle dafür hergegeben. Der Verlust dieser wog besonders schwer dafür, dass sie ihr Ziel nicht erreicht hatte.

Der Kater seufzte nur und fing an sich mit der Pfote über den Kopf zu wischen. Etienne warf die Hände in die Luft, „Verdammt seist du, wer auch immer da oben in den Wolken sitzt!"

Sie trat zu der am Boden liegenden Karte und hob sie hoch.

„Aufschlussreich. Wie soll ich den finden? Ein Frauensalon? Oh, das ist ja in Calisteo!"

Catjill sprang auf ihre Schulter und beäugte die Karte neugierig, „Diese kleine, neutrale Stadt?"

Etienne nickte und lächelte dann strahlend, „Was für eine wundervolle Gelegenheit meiner Tante einen Besucht abzustatten. Sie wird sich bestimmt freuen."

Der Kater sah sie verwirrt an, „Du hast eine Tante?"

Etienne nickte. Dann steckte sie die Karte ein. Sie blickte zu dem Wächter, welcher noch immer in der Schutzbarriere gefangen war. Etienne wusste einiges über diese, wäre selbst aber nie auf die Idee gekommen, sie so zu verwenden. Der Wächter funkelte sie wütend an.

Etienne lächelte zu ihr, „Ich mache dir ein Angebot."

2.

Es war ein sonniger Tag, als Raffael sich aus seinem Bett wälzte und die Kopfschmerzen zu ignorieren versuchte. Er hat zu wenig geschlafen, mal wieder. Und Eldan, sein engster Berater und Mentor, war am Abend zuvor so unzufrieden mit Raffaels unangekündigtem Ausflug, dass er ihn zusätzliche Arbeit hat machen lassen. Er hatte es sich später dennoch nicht nehmen lassen, mit seinen Freunden etwas zu feiern. Sie waren selten außerhalb der Stadt gewesen.

Müde und seltsamerweise gut gelaunt stand er auf und ging unter die Dusche. Er verbrachte zehn Minuten nur mit Stehen und spürte, wie die Kopfschmerzen verflogen. Dann wusch er sich und stieg nach weiteren fünfzehn Minuten wieder raus. Raffael liebte es, morgens zu duschen. Als er zurück in sein Zimmer trat, stellte er fest, dass Scarlett und Crom es sich bei ihm auf dem Bett gemütlich gemacht hatten.

Raffael lächelte, als er sah, wie die beiden sich im Schlaf bewegten und sich näher aneinander kuschelten. Er wusste schon seit über einem halben Jahr, dass sein Freund und seine Cousine Gefühle füreinander hatten. Er unterdrückte ein Lachen über die damit verbundene Sturheit der beiden. Zeitgleich unterdrückte er Neid. An einem bestimmten Tag, weit in der Zukunft, würde auch er eine Frau finden, mit der er den Rest seines Lebens verbringen würde. Es nervte ihn nur, dass Scarlett ihm scheinbar zuvorgekommen ist. Er trat an seinen Kleiderschrank und zog sich an. Scarletts Sweatshirt, dass sie ihm irgendwann mal geschenkt hatte, grinste ihm unangenehm entgegen und seufzend entschloss er sich, dieses anzuziehen. Es war nicht sein Stil, aber ihr zuliebe zog er es immer wieder mal an und das letzte Mal war schon eine Weile her.

Er trat hinaus aus dem Zimmer und ging den schönen Gang entlang in das Esszimmer. Als Herrscher der zweiten Provinz lebte Raffael reich. Er hatte ein schönes großes Haus, welches der Stolz der zweiten Provinz war: Die Sonnenvilla. Hier bekam er alles von seinen Bediensteten erledigt. Es war jedoch nicht seins und er hasste es.

Die Obermagd grüßte ihn mit einem Kuss auf die Wange. Sie war alt, arbeitete aber schon ihr Leben lang für die Herrscher der zweiten Provinz. Nexim war ein grausamer Mann gewesen. Deswegen liebten all seine Bediensteten Raffael. Und sie waren ihm dankbar, dass sie weiterhin im selben Haus arbeiten durften. Raffael hatte nach seiner Machtübernahme vorgehabt, es demolieren und umbauen zu lassen, doch sie hatten ihn angebettelt, es nicht zu tun und er hat es nicht übers Herz gebracht, als all diese Menschen vor ihm gestanden hatten. Nun setzten sie ihre Hoffnung in ihn, dass er irgendwann, wenn er alles Notwendige zum Herrschen gemeistert hatte, ihnen eine sichere Zukunft geben würde. Und das hatte er vorgehabt, bis Tatinne mit ihrer Vorhersehung ankam.

Er aß schnell sein Frühstück und las die Zeitung durch. Nichts Spannendes. Und das machte ihm Sorgen. Immer wieder fühlte sich die Ruhe an, als würde sie einem Sturm vorausgehen.

Die Frau von gestern kam ihm wieder in den Sinn. Raffael konnte sich nicht vorstellen, dass sie diejenige sein sollte, die über alle Provinzen herrschen sollte. Aber wenigstens war schon mal das Rätsel mit dem Geschlecht gelöst. Das verstorbene Orakel vor der Spinne Tatinne hatte von einem 'Ihm' gesprochen, der die Provinzen unter sich vereinen würde, so wurde es ihm zumindest erzählt. Diese Frau hatte einen männlichen Vornamen. Vielleicht war es ja das? Aber er würde Tatinne heute noch einmal genauer danach ausfragen. Nicht nur nach den Fragen über den weiteren Verlauf dieser Geschichte, sondern auch ganz konkret über diese Frau. Raffael war sich ganz sicher, dass er sie schon einmal irgendwo gesehen hatte. Wahrscheinlich ganz flüchtig, denn es war nicht möglich, dass sie in näheren Kontakt zueinander getreten waren. Nein, das konnte es nicht sein, denn er hätte sich erinnert. Er muss sie von Weitem gesehen haben und nur ganz kurz, denn ansonsten hätte er sie angesprochen. Sie war eine hübsche junge Frau mit sonderbaren Fähigkeiten. Sehr misstrauisch, aber das machte nichts. Er war gut darin, sich mit Menschen anzufreunden.

Dann stockte er, als er feststellte, dass er Schwierigkeiten hatte, sich konkret an ihr Gesicht zu erinnern. Das war sonderbar für ihn, denn er konnte sich an nahezu alle Gesichter erinnern, die er je gesehen hatte. Und dieses hier hatte er erst gestern kennengelernt. Desto mehr er nachdachte, desto mehr schien es zurückzukommen. Dennoch war er verwirrt davon, dass er nicht benennen konnte, ob ihre Augen blau oder grün waren. Frustriert beließ er es zunächst dabei. Er würde wahrscheinlich sowieso bald auf sie treffen.

Raffael betrachtete die Berichte, welche seine Untergebenen ihm jeden Tag bereitstellten. Sobald er an die Macht gekommen war, hatte er sich darum gekümmert, eine vernünftige Verwaltung in die zweite Provinz zu bringen. Nexim hat sich nur von Kriminellen umgeben lassen. Raffael hatte als Erstes dafür gesorgt, dass diese Menschen niemanden mehr terrorisieren konnten. Keine hohen Steuerabgaben mehr, keine Schutzgelder, keine Ausbeutung, keine Drohungen und Schikanen oder das Vorenthalten von Essen und Wasser. Raffael war die meisten von ihnen losgeworden, wenn auch noch nicht alle. Und Eldan war derjenige, der ihm dabei half, sich zu einem guten Herrscher zu entwickeln. Raffael hatte ihm aber noch nicht erzählt, dass sich das wahrscheinlich bald ändern würde. Er wollte ihn nicht enttäuschen.

Dann stand Raffael auf und schnappte sich seine warme, braune Jacke. Dazu versteckte er schnell eine Browning mm 9 Halbautomatik in der Innentasche und dazu Munition zum Nachladen, welche er mit einem Zauber versehen speziell hat anfertigen lassen. Er packte noch ein Taschenmesser ein und ging dann hinaus.

Raffael nahm einen Ring hervor und drehte ihn. Als der Stein kurz aufleuchtete, ging er los. Die Luft war frisch und kalt. Der späte Herbst setzte ein. Ein sonderbares Empfinden entfaltete sich in ihm, denn er war erst gestern in einem Gebiet, welches sich so unerträglich warm und nass angefühlt hatte, dass er das Gefühl hatte, es wäre Sommer gewesen.

Es herrschte relativer Waffenstillstand zwischen den Provinzen, aber das bedeutete nicht, dass er nicht bei Gelegenheit doch angegriffen werden könnte. Vor allem, wenn er allein unterwegs war. Innerhalb der Provinzen gab es vereinzelnde Banden, welche sich nicht an die neuen Regeln halten wollten. Teilweise waren es noch Anhänger der alten Herrscher, welche sich als rechtmäßige Erben der Macht sahen. Es gab immer wieder Situationen, welche am schwachen Waffenstillstand zerrten. Bisher haben Raffael und Gilgian es jedoch geschafft, nicht in einen offenen Kampf zu schlittern.

Das war teilweise Tatinne und ihrer Macht zu verdanken. Und den ganzen Menschen, die sich so sehr darum bemühten, die Ordnung und die Sicherheit wiederherzustellen.

Er schlug den alten, verhassten Weg zum neutralen Stadtteil ein. Er ging ihn beinahe jeden Morgen, wenn er seine Schule aufsuchte oder wenn Tatinne meinte, sie mal wieder einbestellen zu müssen. Als wären die Provinzherrscher ihre Untergebenen und nicht gleichberechtigte Parteien auf Augenhöhe. Raffael hatte schon immer unterschwellig das Gefühl gehabt, dass sie auf eine subtile und vorsichtige Art und Weise ihnen zu verstehen gab, dass sie weit über ihnen stand. Sie hat aber nie etwas verlauten lassen, um sie darauf festnageln zu können.

Nachdem er vor einem Jahr die Macht übernommen hatte, hatte er diesen protzigen Weg gehasst. Zunächst, weil es sich immer noch anfühlte, wie Nexims Straße, die er vor der Machtübernahme immer leidig eingeschlagen hatte. Jede Kurve und jeder Stein des Pflasterweges erinnerte ihn nur zu gut an das Gefühl der Machtlosigkeit. Er hasste es auch, dass Scarlett jeden Tag diesen Weg gehen musste. Für sie müsste es noch schlimmer sein, als für ihn.

Zum anderen, weil er es hasste, dass Eldan ihn dazu gedrängt hatte, die letzten Schuljahre fertig zu machen. Lieber hätte Raffael die Zeit damit verbracht, sich von Eldan das Notwendige beibringen zu lassen, um schnell die Rolle ausfüllen zu können, in die er sich ungewollt eingekleidet hatte. Doch dieser alte Mann hat einfach darauf beharrt. Und weil Raffael seine Meinung schätzte, hat er sich dem gefügt. Und obwohl er es noch immer als nicht notwendig ansah, freute er sich dennoch über die kleinen Momente seiner alten Realität.

Es war eine große, schöne, wohlhabende und anspruchsvolle Schule. Sie war der Stolz Calisteos. Er war in diese eingetreten, bevor er zum Herrscher wurde und genauso war es bei Elias und Gilgian gewesen. Und noch immer suchten sie alle diesen Ort auf, wenn auch jeder mit einem anderen Ziel.

Auf seinem Weg zum neutralem Gebiet grüßte er einige Menschen und erkundigte sich nach deren Wohlbefinden. Dank des Ringes merkten sie ihn erst, wenn er das Wort erhob und freuten sich immer, ihn zu sehen. Teilweise waren dies Menschen, die er seit seiner Kindheit kannte. Ein Mann, der ihm immer auf die Schulter schlug und jedes Mal erstaunt von sich gab, wie groß er geworden war. Weiter vorne gab es eine ältere Dame, die ihm und Scarlett früher immer Süßigkeiten gegeben hat und ihm nun immer mütterlich die Wange tätschelte. Ihre Kinder waren inzwischen größer geworden, aber früher hatte Raffael auf sie aufgepasst und war mit ihnen auf seinen Schultern durch die Stadt gelaufen.

Im neutralen Stadtteil dauerte es kaum eine halbe Stunde, bis er bei Tatinnes kleinem, aber beeindruckendem Haus ankam. Diese kleine, viktorianische Villa in Weiß, umgeben von dem wenigen Grün in der dicht besiedelten Stadt, wurde das Herz Calisteos genannt. Raffael ließ sich von dem mächtigen Aussehen nicht beeindrucken. Trotz der Tatsache, dass sie klein war, war sie unglaublich schön. Die Farben zogen sich durch alle Stockwerke und bildeten eine ungewöhnliche Symmetrie aus Braun, Weiß und Schwarz. Insgesamt gab es drei Stockwerke, mit wenigen Zimmern. Rund um das Erdgeschoss ragten mehrere Säulen empor und zeichneten somit die Veranda. Sie waren mit verschiedenen Wesen verziert, die Raffael nicht alle kannte. Es hatte Jahre gedauert, diese zu meißeln. Es nervte ihn, denn das Geld, dass damals dort eingeflossen ist, würden sie heute gebrauchen können.
Aber das war noch vor Tatinnes Zeit. Und lange vor seiner.
Calisteos jährlichen Stürme hatten dem Haus nichts anhaben können. Es sah aus, als wäre es gerade erst gefertigt worden und nicht schon vor fast siebzig Jahren, als Tribut an die Stadtgründer. Jedes Bisschen alter Kunst diente dazu, sie zu würdigen. Sicherlich hatten sich diese nicht vorgestellt, dass Calisteo nun aus drei zerstrittenen Provinzen bestehen würde.

Raffael betrat die Veranda und ging sogleich durch die Tür.
Die Decke war nicht sonderlich hoch. Wenn er mit ausgestreckter Hand springen würde, könnte er sie berühren. Dieses einzelne Zimmer war das größte im ganzen Haus. Es war das Empfangszimmer für alle Gäste. Es gab zwei Türen. Die eine führte in einen weiteren Raum, der wesentlich kleiner war und die andere Tür zu einer Marmortreppe, die in die privaten Gemächer von Tatinne führte. Was im dritten Stockwerk war, konnte Raffael nicht sagen, denn er ist leider noch nie so weit gekommen. Tatinne hatte ihn immer herausgeworfen, als er es versucht hatte.

Und als Raffael das erste Mal diesen Ort betreten hatte, war er stark beeindruckt gewesen. Heute ist er es noch immer, nur hatte er nicht das starke Bedürfnis wie ein Vollidiot stehenzubleiben und alles zu begaffen. Er musste lächeln, als er sich daran erinnerte, wie eingeschüchtert er damals von Tatinne und ihrem Schauspiel war.

Er steuerte die Tür zu der Treppe an und folgte dieser hinauf. Oben kam er in der Küche heraus. Eine hochmoderne Küche, mit allen benötigten Elektrogeräten, ein Luxus, den sich bei weitem nicht jeder leisten konnte.

Das Weiß der Schränke harmonierte mit einem Holzstreifen, der sich durch Hänge- und Unterschränke zog. Ein schwarzer, langer Tisch stand in der Mitte des Raumes. Alles war sauber, wie von Tatinne erwartet. Und diesmal gab es keine im Raum verteilten Bilder, die er sich anschauen konnte.

Raffael legte den Kopf schief. Eigentlich hätte sie ihn erwarten müssen, schließlich hatte sie die Gabe der Vorhersehung. Er seufzte und blickte in das Wohnzimmer. Ein weiterer, geschmackvoll eingerichteter Raum ohne jegliche persönlichen Gegenstände, welche Einblick in ihr Leben geben könnten.

Trotz der Tatsache, dass sein Haus zwei Stockwerke mehr hatte und mindestens dreimal so groß war wie ihres, beneidete er Tatinne um ihr Zuhause. Es gehörte ihr. Seines gehört Nexim. Das würde es immer tun. Raffael mochte es dort nicht sonderlich, aber es weiterhin als Mittelpunkt der zweiten Provinz zu behalten hatte viele Vorteile gehabt, also hatte er sich dem gefügt.

Er seufzte erneut und ging zurück in die Küche, wo er sich auf einen Tisch setzte. Anscheinend war sie nicht da. Entweder sie hatte ihn nicht erwartet oder sie wollte ihn schmoren lassen. Die zweite Möglichkeit war am wahrscheinlichsten. Er hatte sich beim letzten Treffen wahrscheinlich zu neugierig gezeigt.

Raffael sah sich in der Küche um. Vielleicht sollte er sich einen Kräutertee machen, solange sie weg war. Aber er wusste nicht, wo er die Sachen dazu finden sollte. Dieser Raum hatte verdammt viele Schränke und Schubladen. Hunger hatte er keinen, weswegen er den fünf mal drei Meter großen Kühlschrank gar nicht erst beachtete. Wozu brauchte eine einzelne Frau überhaupt so einen? Er seufzte und blickte zu der Tür, die ins dritte Stockwerk führte. Grinsend überlegte er sich, ob er etwas schnüffeln sollte und somit nochmal eine Grenze übertreten sollte. Es war zwar unhöflich, aber die alte Frau hätte es besser wissen sollen, als ihn allein in ihrer kleinen Villa zu lassen.

Er war gerade dabei aufzustehen, als er feststellte, dass ihn etwas aus dem Fenstersims beobachtete. Er drehte den Kopf und blickte in schwarze Augen mit kreuzförmigen weißen Pupillen.

Der blaue Kater rührte sich nicht, als er zurückblickte. Mitten in der Bewegung hatte er innegehalten, eine Pfote erhoben. Raffael erkannte ihn sofort als den Djinn von gestern und sein Körper versteifte sich in Schock. Wahrscheinlich war dieser gerade durch das Fenster in den Raum gekommen und hatte ihn nicht erwartete. Er zumindest hatte ihn auf keinen Fall erwartete, nicht jetzt. Es war viel zu früh. Sie blickten sich einige Sekunden lang an, bis Raffael eine Braue hob, „So schnell seit ihr also hergekommen? Oder bist du nur die Vorhut?“

Der blaue Schwanz des Katers zuckte. Doch dann setzte er sich hin und fing an sich die Pfote zu lecken, „Genau genommen hat es uns nur wenige Stunden gekostet. Etienne ist gerast wie eine Verrückte.“

„Gerast?“

Die Kater schien mit den Schultern zu zucken, die Bewegung irritierte Raffael, „Sie hat ein Motorrad. Meiner Meinung nach ist sie keine gute Fahrerin.“

Ein Motorrad? Er fand, dass es nicht zu ihr passte, aber nun ja, sie hatte es auch schon mit Dämonen und Wächtern aufgenommen, wieso also auch kein Motorrad? Nicht, dass es andere Fortbewegungsmöglichkeiten außerhalb der Stadt gab. Dennoch, die Nachricht, dass sie jetzt schon da waren, traf ihn unvorbereitet. Er hatte erwartete, dass es ein, zwei Tage dauern würde. Vor dem Château hatten er und seine Begleiter keine Maschinen ausmachen können. Er hatte daraufhin vermutet, dass sie zu Fuß unterwegs war.

Er lächelte, „Wo ist sie denn?“

Der Schwanz des Katers zuckte, „Wahrscheinlich schläft sie noch. Sie ist ein Langschläfer.“

„Ist das so“, meinte Raffael, „Wo genau schläft sie denn? Vielleicht sollte ich ihr ein Besuch abstatten.“

Es gab nicht sehr viele Hotels oder Motels in Calisteo. Die Stadt wurde selten besucht. Raffael vermutete nicht, dass sie besonders wohlhabend war, also konnte er schon mal die Teuren streichen. Ihre Kleidung hat das einfach nicht hergegeben. Und er hatte keine Lust die anderen zu durchsuchen.

Hinzu kam, dass er Elias und Gilgian zuvorkommen musste. Eigentlich wollte er die Zeit nutzen, um mit Eldan das Thema zu besprechen und sich einen Plan zurechtzulegen, wie sie mit Etienne umgehen sollten. Gilgian war dabei weniger das Problem. Elias hingegen schon. Er hat sicherlich alles schon seiner Familie erzählt. Und wie Raffael sie kannte, war Etienne schon längst eine Zielscheibe.

Der Kater sprang von dem Sims auf die Küchenzeile und plötzlich fragte sich Raffael, was dieser bei Tatinne der Spinne verloren hatte.

„Sie ist nicht sonderlich weit weg. Aber sie wird gerne zum Monster, wenn man sie weckt. Zu deiner eigenen Sicherheit solltest du warten, bis sie aufwacht.“

Raffael lachte, als er sie sich wütend vorstellte. Sie war nicht sehr groß, kleiner als Scarlett. Kurz spielte er in seinem Kopf die Situation durch. Würde sie ihn anschreien? Er wusste schon wie es war, von wütenden Frauen angeschrien zu werden, das würde er aushalten. Aber er wollte sich ihr nicht direkt schon aufdrängen. Sie würde sich überrumpelt, wahrscheinlich sogar schon bedroht fühlen. Das war nicht sein Ziel.

„Was machst du eigentlich hier?“, fragte er den Djinn.

Der Schwanz des Katers zuckte und als er den Kopf zu ihm drehte, hatte Raffael das Gefühl er würde ihn angrinsen, „Wer weiß?“

Mit einem unangenehmen Gefühl im Magen runzelte er die Stirn. Plötzlich erinnerte er sich wieder daran, dass es sich hier um einen Djinn handelte, der ihm absolut keine Rechenschaft schuldig war. Selbst die Bewohner der anderen Provinzen wagten es nicht ihm eine Antwort zu verweigern und wenn, dann waren es die, die besonderen Kontakt zu Gilgian und Elias hatten. Aber dem Djinn konnte er nicht viel anhaben. Dieser war unsterblich und solange er einen Vertrag hatte, beinahe unmöglich zu kontrollieren. So weit zumindest, wie sein Wissen darüber ging.

Sein Herz fing schneller zu schlagen an, als ihm dämmerte, dass an dieser Situation irgendetwas gar nicht stimmte. Und sein Instinkt sagte ihm, dass es mit diesem Kater zusammenhing. Er sollte ihn etwas fragen. Ihm kam aber nicht in den Sinn, was.

Plötzlich ging eine Tür auf und Raffael blickte in der Erwartung Tatinne zu entdecken zur Seite. Doch es war nicht Tatinne, die da verschlafen in einem Pyjama an der verbotenen Tür stand. Es war Etienne und das brachte ihn tatsächlich dazu, überrascht zu blinzeln. Er vergaß den Djinn.

Sie schloss die Tür, die eigentlich für ihn zu betreten verboten war und Raffael wurde umso vorsichtiger und aufmerksamer. Welchen Kontakt hatte sie zu Tatinne? Ihre schwarzen Haare standen in alle Richtungen ab. Ihre stechenden grünen Augen waren verschlafen, als sie ihn erblickten. Sie war barfuß. Bei diesem Anblick musste er lächeln. Es war sehr ähnlich dem Bild, welches er sich vorhin erst vorgestellt hatte. Und diesmal vermerkte er in seinem Kopf, dass die Augen grün waren.

Dennoch war das bei weitem keine gute Situation für ihn. Er hatte sich noch nicht entschieden, wie er vorgehen sollte.

Ihre Augen betrachten ihn von oben bis unten. Raffael grinste ihr entgegen. Dann seufzte sie genervt und setzte sich in Bewegung. Ohne weiter auf ihn zu achten, öffnete sie ein paar Schubladen, machte den schwarzen Wasserkocher an und hatte nach wenigen Sekunden eine dampfende Tasse Tee vor sich.

Er nutzte den zunächst ruhigen Moment und ließ seinen Gedanken freien Lauf. Nach wenigen Momenten hatte er sich einen groben Plan zurechtgelegt. Als Erstes würde er herausfinden, welchen Kontakt sie zu Tatinne pflegte. Dann ging es darum zu klären, wie genau sie mit der Vorhersehung zusammenhing. Und anschließend würde er sich überlegen, wie er am besten dafür sorgen konnte, dass die Stadt nicht in Chaos endete, sollte sie wirklich die Macht an sich reißen. Vor allem die letzte Frage machte ihm zu schaffen. Niemals würde sie von allen Bewohnern Calisteos einfach so akzeptiert werden.

Sie setzte sich ihm gegenüber und rieb sich mit dem Handrücken den Schlaf aus den Augen, „Gib mir den Stein wieder.“

 

Etienne musste mit aller Macht ein Gähnen unterdrücken. Sie war noch so müde. Zu müde, um sich richtig mit ihrem neuen Kontrahenten auseinanderzusetzen. Als seine kupferfarbenen Augen sie von oben bis unten musterten, fühlte sie sich auf Anhieb etwas wacher. Es störte sie, wie aufmerksam er sie anschaute. Noch dazu schien er den Blick nicht abzuwenden, wenn er ihr in die Augen blickte. Das war ungewohnt. Es trieb sie dazu, vorsichtig zu werden.

„Ich glaube nicht“, antwortete er sachte ihr auf die Forderung.

Sie nippt an ihrem Tee, „Was willst du mit dem Stein überhaupt anfangen?“

„Wer weiß“, erwiderte er.

Etienne schnaubte, „Diese Antwort trägt nicht zur Lösung des Problems bei.“

„Welches Problem?“

Sie seufzte enttäuscht über seine mangelnde Kooperationsbereitschaft, „Das Problem, dass ich den Stein haben will und du ihn mir nicht gibst.“

„Der Stein ist sehr wertvoll. Ich kann ihn dir nicht einfach so geben.“

Etienne hob den Finger, „Aber ich war diejenige, die ihn erlangt hat.“

Catjill räusperte sich und Etienne korrigierte sich, „Mein Djinn war derjenige, der ihn erlangt hat und weil ich diejenige bin, die den Vertrag mit ihm geschlossen hat, gehört der Stein mir.“

„Ein interessanter Standpunkt, doch du musst bedenken, dass der Djinn den Stein verloren hat und mein Freund ihn wieder gefunden hat. Somit gehört er mir.“

Etienne seufzte erneut, „Wo ist der Edelmut und der Zusammenhalt der Menschen geblieben? Du würdest mir ungeheuerlich aushelfen, wenn du ihn mir übergeben würdest. Meinetwegen werde ich ihn dir auch irgendwann wieder zurückgeben.“

Er lehnte sich lächelnd zurück, „Also haben wir gerade festgestellt, dass der Stein mir gehört? Ich will es nur festhalten.“

Etienne unterdrückte das Bedürfnis sich betrübt auf die Unterlippe zu beißen. Es widerstrebte ihr das zu sagen, aber sie tat es, um das Gespräch voranzutreiben, „Ja. Meinetwegen.“

Er lächelte, „Gut, dann lass uns doch den Preis aushandeln.“

„Preis?“, wiederholte sie und fragte sich erneut, ob sie ihn nicht einfach bewusstlos schlagen sollte. Aber ihr Bruder wäre sehr enttäuscht von ihr. Mal abgesehen davon, hatte sie schon geahnt, dass es so enden würde. So waren nun mal die Zustände in den heutigen Zeiten. Nichts gab es umsonst.

Etienne stand auf und warf den Teebeutel weg. Dann öffnete sie die Balkontür aus Glas und ließ frische Luft herein. Auf den Balkon schien die Sonne, die Luft war angenehm kühl. Sie ging auf die gegenüberliegende Seite, wo die Spüle war und spülte die Tasse ab.

„Was genau stellst du dir unter Preis vor?“

„Was wärst du bereit zu geben?“

Lächelnd und gefasst drehte sie sich wieder zu ihm um, „Wenn es keinen Ausweg gibt, bin ich bereit über meine Grenzen hinauszugehen.“

Was sie nur wirklich sehr ungern tun würde. Sehr ungern.

Er lächelte breiter und stützte mit der Hand sein Gesicht ab. Ein ungutes Gefühl schlich ihren Rücken hinab, als er sie betrachtete und sie merkte, wie er nachdachte. Dann sagte er langsam, „Wie soll ich mir das vorstellen? Würdest du mir etwas besorgen, was ich mir wünsche?“

Etienne zuckte mit den Schultern, „Das hängt davon ab, was es sein soll.“

„Und wenn ich dich darum bitte, mir Informationen zu beschaffen?“

„Auch das hängt davon ab, um welche es sich handelt“, sagte sie ausweichend, „Dir ist bewusst, dass es Grenzen gibt, an was ich herankommen kann?“

Er zuckte mit den Schulter, „Nun, du wirst arbeiten müssen, wenn du den Stein haben willst.“

„Deswegen wäre es auch so schön, wenn du mir endlich ein vernünftiges Angebot nennen würdest“, sagte sie weiterhin lächelnd.

„Was ist, wenn ich dich darum bitte, jemanden zu töten?“

Etienne seufzte, „Offensichtlich trifft das auf dasselbe Dilemma, wie bei den anderen zwei Vorschlägen. Sicherlich gibt es etwas, was nur ich machen kann, womit du auch zufrieden wärst.“

„Was hast du zu bieten?“, fragte er sie.

Etienne schwieg kurz und entschloss sich, ihm von ihrem neuen Job zu erzählen, „Ich bin eine sehr gute Exorzistin.“

Er gab ein nachdenkliches Geräusch von sich. Etienne fühlt sich langsam unwohl. Es schien nicht so zu sein, als würde er mit ihr über den Stein verhandeln. Es erschloss sich ihr jedoch nicht, was genau er von ihr wollte. Er war am Tag vorher einfach so aufgetaucht und hatte Einblicken lassen, dass das Ziel seines Besuches im Château de la Fortune sie oder ihr Djinn war. Da er jedoch bisher noch nichts zum Djinn gesagt hatte, was sie andernfalls verwundert hätte, ging sie davon aus, dass es um sie ging. Aber sie hatte ihn noch nie zuvor gesehen. Sie hatte nichts mit ihm zu tun, kannte nur seinen Vornamen, welchen sie erst am Vortag zum ersten Mal gehört hatte. Sie kannte auch niemanden, der ihm ähnlich sah. Dass er bei ihrer Tante ein- und ausging, deutete darauf hin, dass er ein Kunde war und Etienne hatte vorgehabt, ihre Tante zu befragen, bevor sie sich mithilfe ihres Djinns wieder zu seinem Anwesen machen wollte. Aber stattdessen hatte sie früh am Morgen seine Stimme unten vernommen und gemerkt, dass er sich mit ihrem Djinn unterhielt, welcher noch so jung und leicht zu beeinflussen war. Sie war noch nie schneller freiwillig aus dem Bett gesprungen.

„Was wäre, wenn ich dich fragen würde, mit mir auszugehen?“, fragte er.

Sie blinzelte verwirrt, „Für den Stein? Nur ein mal? Das wäre kein Problem.“

„Wirklich?“, fragte er lächelnd, „Und was ist, wenn ich nach einem Kuss frage?“

Etienne unterdrückte es, ihr Gesicht zu verziehen und behielt ihr Lächeln aufrecht, „So lange es nur einer ist.“

Er lachte, „Das wäre mir doch etwas zu wenig, für solch ein wertvolles Artefakt.“

„Du weißt doch noch nicht einmal, wofür das ist“, erwiderte sie.

„Oh doch. Es ist eine Austreibungsreliquie, nicht wahr?“

„War das eine Frage oder eine Feststellung?“, fragte sie zurück. Sie erinnerte sich, dass der Wächter es am Vortag erwähnt hatte. Es war nicht unwahrscheinlich, dass er es einfach nur aufgeschnappt hatte.

„Wie auch immer“, sagte er, „Meine Freunde wurden verletzt beim Versuch es zu erlangen. Das wird deutlich mehr wert sein, als das.“

„Du hast den Vorschlag gemacht. Mal abgesehen davon, wurde ich auch verletzt und habe nichts bekommen“, meinte Etienne und hoffte auf etwas Sympathie. Es war halb so wild, nur ein paar Schürfwunden.

„Was mich daran erinnert dir zu empfehlen, solche Aktionen nicht unbedingt allein zu machen“, sagte er belehrend und es störte sie. Sie war nicht der Mensch, der bei anderen das Bedürfnis weckte, beschützt zu werden. Sie brauchte aber auch keine Belehrungen.

„Oh, danke für den Ratschlag. An den werde ich mich nicht erinnern“, erwiderte sie.

Er lachte, „Das wird ein Problem sein, denn so lange ich den Stein habe, wäre es mir lieber, du würdest das lassen.“

Etienne blinzelte verwirrt, „Was genau soll das eine mit dem anderen zu tun haben? Mal abgesehen davon ist es meine Arbeit.“

Er lehnte sich zurück und schwieg wieder. Etienne merkte, wie er nachdachte. Es schien, als wäre er selbst noch unschlüssig, was er vorhatte zu tun. Und es erschloss sich ihr noch immer nicht, was er von ihr wollte. Sie überlegte sich, ob es nicht vielleicht an der Zeit wäre, dass sie die Führung des Gespräches an sich reißen sollte. Doch dafür wusste sie noch nicht genug über ihn und sie musste sich noch genauer entscheiden, wo sie anfangen sollte. Lieber wäre es ihr jedoch, vorher Tatinne zu fragen. Dann würde er nicht direkt wissen, was sie über ihn wusste und sie könnte ihre Informationen gezielter einsetzen. Und Tatinne könnte ihr ein paar Ratschläge geben. Etienne war nicht der Verhandlungstyp.

„Was ist“, meinte er dann langsam, „Wenn ich nach etwas mehr verlange, als nur einen Kuss.“

Sie beobachtete, wie sein Gesichtsausdruck sich änderte. Er schien sich für etwas entschieden zu haben. Sie spürte, wie sich ihre Muskeln anspannten, „Was? Zwei?“

Er lachte und verschränkte die Arme. Sah sie weiterhin wachsam an und Etienne hatte das Gefühl, dass ihm keine Veränderung an ihr entging. Es war selten, dass sie sich vor anderen Menschen so fühlte und sie spürte, wie alte Gewohnheiten in ihr emporstiegen. Es war auch lange her, seit sie das letzte Mal sich so gründlich beobachtet gefühlt hatte.

„Nein. Aber du könntest für eine Weile bei mir einziehen“, meinte er, „Wir könnten etwas Zeit gemeinsam verbringen. Es auf eine intimere Ebene bringen. Was würdest du dazu sagen?“

Etienne starrt ihn an, das Lächeln weiterhin auf ihrem Gesicht, mehr Gewohnheit, als Absicht. Sie war schon mal in der Position. Auch damals hatte sie etwas gebraucht und die Einladung war sehr eindeutig gewesen, unmissverständlich. Deswegen irritierte sie dieser Vorschlag von ihm, denn er blickte sie nicht so an, wie der Mann damals.

Sie entschloss sich zu einer Antwort, „Ich höre immer noch nicht raus, was genau ich machen muss, um den Stein zu bekommen.“

Sein Grinsen wurde breiter, „Die genauen Bedingungen könnten wir in einem Vertrag festhalten. Das war bisher nur grob als Vorschlag gemeint.“

Etienne spürte, wie ihr Auge zuckten wollte und zwang sich, ihr Gesicht zu entspannen. Vielleicht könnte sie ja ein Messer mitnehmen und es ihm in sein grinsendes Gesicht stechen.

„Gut“, sagte sie lächelnd. Auf keinen Fall brauchte sie solch eine Beziehung, weder seriös noch gespielt. Aber bis es so weit war, würde ihr sicherlich was einfallen. Sie müsste zuerst nur herausfinden, wo er den Stein versteckt hatte und dazu hatte sie ihren Djinn.

Raffael brach in Gelächter aus, „Ah wirklich? Würdest du das wirklich machen?“

Etienne blinzelte verwirrt, „Habe ich das nicht gerade gesagt?“

Er lehnte sich wieder nach vorne zu ihr, „Ich glaube dir das nicht. Ich sehe es in deinem Gesicht.“

Sie sah ihn ausdruckslos an und fragte sich, ob es sich lohnen würde, die Scharade aufrechtzuerhalten. Sie entschied sich dagegen und presste zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, „Gut. Ich würde das wahrscheinlich nicht machen.“

Nun sah sie Genugtuung in seinem Gesicht und sie verstand immer noch nicht, was er wollte, „Was genau war der Sinn von diesem Vorschlag?“

Er gab erneut ein nachdenkliches Geräusch von sich und sie war sich sicher, dass er über diese Frage nicht nachdenken musste.

„Ich wolle nur einschätzen, wo deine Grenzen liegen“, sagte er schließlich.

„Nun, nachdem du das herausgefunden hast, wie wäre es mit einem richtigen Vorschlag“, sagte sie. Es fiel ihr schwer weiterhin so zu tun, als wäre sie nicht wütend. Das Gespräch war bisher die reinste Zeitverschwendung und wenn es weiterhin zu nichts führen sollte, müsste sie sich einen Plan B überlegen.

„Ich will genau das, was ich genannt habe“, sagte er dann. Sie blinzelte ihn verwirrt an. Und er lächelte ihrer Verwirrtheit entgegen. Die Wut nahm die Überhand und Etienne sah ihn düster an, „Verstehe ich das richtig, dass du gar nicht erst vor hast mir den Stein zu übergeben?“

Sie sah es in seinem Gesichtsausdruck, in seinem überlegenen Lächeln. Sie war die ganze Sache vollkommen falsch angegangen. Zunächst hätte sie sich Informationen von ihrer Tante besorgen sollen, dann erst mit ihm sprechen. So stand sie nun da, mit einem Vorschlag, von dem sie zugegeben hatte, dass sie ihn nicht annehmen würde und er wusste und nutzte es.

„Ich stehe zu meinem Wort. Wir können gerne jederzeit einen Vertrag auflegen.“

Sie trat an den Tisch und schlug die Handflächen darauf, „Vielleicht sollte ich dich einfach zusammenschlagen, dass du ohne Hilfe nicht mal mehr aufstehen kannst. Ich bin mir sicher, so bekommen wir die gemeinsam verbrachte Zeit auch rum“, sagte sie wütend.

Sein Grinsen wurde breiter und er zuckte mit den Schultern, „Du kannst es gerne probieren. Nach deiner gestrigen Darbietung wage ich es aber zu bezweifeln, dass du das schaffst.“

„Was geht hier vor sich?“, hörte sie Tatinne fragen, welche in das Zimmer kam. Beide zuckten zusammen. Sie hatten sie nicht hören kommen. Das verwunderte Etienne nicht, Tatinne war sehr leise, wenn sie es wollte.

„Diese junge Dame bedroht mich auf deinem neutralen Gebiet“, sagte Raffael beschwerend und Etienne sah ihn aus zusammengekniffenen Augen an. Er zwinkerte ihr daraufhin zu.

Tatinne antwortete, „So, wie ich meine Nichte kenne, wird sie einen sehr guten Grund gehabt haben. Und so wie ich dich kenne, bist du wahrscheinlich selbst schuld.“

Etienne spürte, wie der Djinn auf ihre Schulter kletterte. Seine Krallen bohrten sich in ihre Haut. Er schmiegte sich vorsichtig an ihre Wange und sie streichelte beruhigend seinen Kopf. Er müsste ihre Wut gespürt und die Situation als bedrohlich aufgefasst haben. Etienne erinnerte sich nicht, ob sie in seiner Anwesenheit schon mal wütend gewesen war. Sie waren noch nicht lange zusammen. Erst ein paar Monate.

„Dennoch sollte ich hier nicht bedroht werden?“, sagte Raffael belustigt.

Tatinne seufzte, „Du kannst ihm hier nicht drohen, Etienne. Und du lässt meine Nichte in Ruhe oder ich verbiete dir in mein Haus zu kommen.“

Sie ging in die Küche und beachtete die beiden nicht. Der Djinn flog neugierig zu ihr und betrachtete die Tüten, welche sie mitgebracht hatte. Sie machte sich daran, die Einkäufe auszupacken und schob den Kater immer wieder mit der Hand weg. Etienne vermerkte sich im Hinterkopf, dass sie den Djinn nicht allzu oft allein lassen sollte. Er war zu neugierig. Es war aber wahrscheinlich auch das erste Mal, dass er an einem zivilisierten und modernen Ort war. Etienne hatte auf ihrer Reise die Städte gemieden und sie bezweifelte es, dass er vor seinem Treffen mit ihr, je den Wald verlassen hat, in dem er von seinen Eltern versteckt wurde.

„Willst du uns vorstellen?“, fragte Raffael. Etienne wollte erwidern, dass das nicht nötig wäre, aber Tatinne fing, ohne sich umzudrehen, mit einer gelangweilten Stimme zu sprechen an, „Das ist Etienne. Etienne, das ist Raffael.“

Raffael verdrehte hinter ihrem Rücken die Augen, „So weit waren wir gestern schon.“

„Wenn du mehr wissen willst, finde es selbst heraus. Meine privaten Angelegenheiten gehen dich nichts an. Und Etienne ist meine private Angelegenheit“, sagte Tatinne.

„Das wage ich anzuzweifeln“, erwiderte Raffael. Tatinne öffnete den Kühlschrank und fing an, die Sachen darin zu verstauen, „Du weißt, wie es läuft. Setze eine begründete Beschwerde an und ich überlege es mir.“

Etienne lächelte zu ihm herüber, „Wie schade.“

Seine Augen wanderten wieder zu ihr, nun nicht mehr lächelnd. Doch es kehrte schnell wieder zurück und sie wusste, dass es daran lag, dass sie, nicht wie Tatinne, bei ihrem Gespräch mit ihm komplett versagt hatte. Immerhin steckte er es ihr nicht, denn sonst würde sie ihn aus dem Fenster werfen. Zu wissen, dass er ihr in einem echten Kampf komplett unterlegen wäre, ließ ihr etwas Ruhe und sie erwiderte sein Grinsen herausfordernd.

„Gib mir den Stein“, verlangte sie noch einmal.

„Nein“, erwiderte er.

„Dann kannst du ja wieder gehen“, Etienne hatte kein Interesse das Gespräch weiter aufrechtzuerhalten, nicht so lange sie vorher nicht mit Tatinne gesprochen hatte.

Er blickte wieder zu Tatinne, die mit dem Rücken zu ihnen stand und sagte dann, „Ich bin hier, weil ich mit der Spinne sprechen will. So viel steht mir zu.“

Tatinne lachte, „Oh, ich hab schon eine gute Vorstellung, worüber du reden willst. Nur zu schade, dass ich heute keine Zeit habe. Komm morgen wieder“, sagte sie.

Er verzog das Gesicht und Etienne verspürte Genugtuung. Tatinne ließ sich von niemandem herumschubsen.

„Wie lange hast du vor zu bleiben, Etienne?“, fragte Tatinne sie.

Nicht lange, dachte sie.

„Ich habe die Hoffnung, bald wieder gehen zu können.“

Als Raffael zu lachen anfing, funkelte sie ihn wütend an und er hob beschwichtigen die Hände, „Du kannst natürlich auf den Stein verzichten. Oder wir setzen den Vertrag auf.“

Sie kniff die Augen zusammen. Er hatte wirklich nicht vor, ihr den Stein zu übergeben. Blieb herauszufinden, was er dann wollte. Für den Moment schien es Zeit zu sein, anders konnte sie sich dieses Gespräch nicht erklären.

„Du wirst keinen Vertrag mit ihm aufsetzen“, sagte Tatinne und sah nun wachsam zwischen ihnen.

„Das hatte ich nicht vor“, sagte Etienne verteidigend. Jetzt hatte er sogar dafür gesorgt, dass sie inkompetent vor Tatinne dastand.

Etienne hatte sowieso die Vermutung, dass, selbst wenn sie darauf eingehen würde, er versuchen würde, sie an einen nicht limitierten Zeitraum zu binden. Ihr fielen auch weitere Sachen ein, die er machen konnte, um es für sie so sehr zum Nachteil auszulegen, wie nur möglich. Und sie traute sich nicht zu, all die kleinen Fallen zu entdecken. Etienne war einfach nicht für Verhandlungen geschaffen. Was auch immer er von ihr wollte, er hatte zunächst dafür gesorgt, dass sie in der Stadt blieb.

Tatinne blickte weiter zwischen ihnen, „Wie kam es überhaupt zu dem Gespräch über dieses Thema?“

Etienne wollte es ihr nicht sagen. Doch sie seufzte und fügte, „Er hat mir den Stein der Austreibung weggenommen.“

Tatinne sah sie kurz verwirrt an und dann sah Etienne Verständnis in ihrem Gesicht aufleuchten, „Ah.“

Sie blickte wieder zu Raffael, welcher ihren Blick erwiderte, „Hätte ich gewusst, dass du so eine Plage bist, hätte ich es dir anders erzählt.“

Er zuckte mit den Schultern, „Ich sehe das Problem nicht. Bisher läuft alles, was du vorhergesagt hast, genau so ab.“

Tatinne lächelte und diesmal beobachtete Etienne, wie er sich anspannte, während er versuchte einen unbeschwerten Blick beizubehalten. Nun war es an ihr, ihn genau zu betrachten und sie entdeckte eine nervöse Geste. Er rieb sich mit dem Zeigefinger die Nagelhaut am Daumen.

Dann blickte Tatinne lächelnd zu Etienne, „Ein Aufenthalt auf unbestimmte Zeit also. Wie wäre es, wenn ich dich auf die Schule anmelde, auf welche diese kleine Plage geht.“

Etienne verzog das Gesicht, „Was soll ich denn da?“

„Das ist eine fabelhafte Idee“, sagte Raffael auf einmal strahlend. Etienne blickte wachsam zu Tatinne. Das hörte sich nicht danach an, als könnte sie bald wieder verschwinden. Eher nach dem Gegenteil und das wollte sie vermeiden.

Tatinne lächelte ihn lauernd an, „Das wirst du nicht lange denken.“

Dann blickte sie wieder zu Etienne, „Ich biete dir nur eine Möglichkeit. Ob du sie nutzt, liegt an dir. Mal abgesehen davon, wenn das ein längerer Aufenthalt werden sollte, will ich dich nicht die ganze Zeit in meinem Haus haben.“

Etienne schnaubte lächelnd, „Oh, das tut mir aber leid. Mir war nicht bewusst, dass wenn ich dich mal besuche, ich dir so zur Last falle.“

Ganz flüchtig gefror Tatinnes Lächeln und Etienne bereute ihre Worte. Doch der Moment verflog so schnell, wie er gekommen war und Tatinne zuckte mit den Schultern, „Mein Haus, meine Regeln.“

„Das hört sich aber jetzt nicht mehr so an, als hätte ich eine Wahl“, sagte Etienne.

„Wenn du es in meine Klasse schaffst“, sagte Raffael, „könnte ich mich dazu verleiten lassen, die Bedingungen etwas zu ändern.“

Sie sah wieder zu ihm, „Steck dir das sonst wohin.“

Etienne wusste es nun besser. Das würde bei ihm alles Mögliche bedeuten und am Ende hätte sie nichts gewonnen. Auf eine Lockung mit einem leeren Versprechen würde sie nicht eingehen.

„Ich könnte dich den Test heute machen lassen“, sagte Tatinne, „Merlian schuldet mir noch was.“

Etienne seufzte, „Wie soll mir das helfen?“

Tatinne erwiderte lächelnd ihren Blick, „Vertrau mir Etienne Schatz, es ist genau die Klasse und der Ort, an welchem du jetzt sein willst.“

„Hört sich nach einer Vorhersage an“, sagte Raffael.

„Nein“, erwiderte Tatinne lächelnd, „das ist keine. Nur ein Ratschlag.“

„Was für ein Test?“, fragte Etienne seufzend, „Muss ich jemanden umbringen?“

Raffael hob mit einem überraschten Lachen die Augenbrauen, „Wofür hältst du diese Schule?“

Tatinne widmete sich wieder ihrer Küche zu und erklärte ihr, „Ein Test um dein Können in verschiedenen Fächern einzuschätzen. Die Klassen sind geordnet, um alle Schüler auf ihren Ebenen zu fördern. Je besser du abschneidest, in desto mehr fördernde Klassen kommst du.“

„Beeindruckend“, meinte Etienne trocken.

Raffael stand auf und Etienne entdeckte verschiedene Waffen unter seiner Jacke, „Ich gehe davon aus, dass ich dich morgen wiedersehen werde“, sagte er an sie gewandt und Etienne lächelte genervt. Es schien ihn nicht zu kümmern.

Stattdessen wandte er sich der Tür zu und sagte weiter, „Das Gespräch würde ich noch einmal aufgreifen, Tatinne. Ich werde dir demnächst schreiben.“

„Lass dir Zeit“, sagte Tatinne trocken.

Sein Blick fiel auf den Djinn, welcher in eine Papiertüte gekrabbelt war und sie alle von dort aus beobachtete. Etienne spannte sich an, als Raffael ihn wachsam betrachtete. Doch sein Blick wanderte dann weiter zu ihr, „Bis morgen. Es war mir eine Freude.“

Sie sagte nichts dazu und beobachtete ihn dabei, wie er den Raum verließ. Als sie unten die Tür zufallen hörten, wandte sich Tatinne seufzend an Etienne, „Wie genau verlief das Gespräch?“

Etienne erzählte ihr alle Einzelheiten.

„Deswegen werfe ich ihn immer raus“, sagte Tatinne, noch einmal schwer seufzend, „Damit ich mir genau diesen Schwachsinn nicht von ihm antun muss. Er ist sehr aufmerksam. Und schaut ganz genau hin. Eine Plage durch und durch.“

„Das war mir gar nicht aufgefallen“, meinte Etienne trocken. Sie mochte es nicht, welches Licht die Situation auf sie warf. Etienne gab sich vor ihren Familienmitgliedern ungern die Blöße.

„Mach dir nichts draus“, sagte Tatinne, „Du wirst viele Möglichkeiten bekommen, das wieder hinzubiegen. Mal abgesehen davon denke ich aber, dass du wirklich viel Spaß an der Schule haben könntest. So etwas hast du noch nicht erlebt. Ziehe dich an, wir werden ein paar Besorgungen für dich erledigen. Und auf dem Weg erzähle ich dir alles, was du wissen musst.“

3.

 

Die Stadt war genauso prachtvoll, wie vor zwei Jahren, als Etienne sie zuletzt besucht hatte. Damals hatte sie natürlich von den Herrschern der Provinzen gewusst, sich aber nicht für sie interessiert. Und wenn sie sich recht erinnerte, waren das eh andere gewesen.

Es war damals nur ein kleiner Aufenthalt von drei Tagen, in denen sie Tatinne wegen persönlichen Erledigungen besucht hatte. Nachdem diese erledigt waren, war sie auch wieder verschwunden. Die Stadt hatte sie nicht wirklich interessiert.

Doch heute starrte Etienne die skurrilen bunten Steine der Hauptstraße unter ihren Füßen an. Sie hatten alle eine andere Farbe und Etienne fragte sich, welchen Zweck das hatte. Sie konnte keine kleinen Zauber entdecken, welche sich in der Kreide versteckten. Sie konnte auch keinen Zauber im Gesamtbild sehen.

„Etienne, geh mir nicht verloren!“, rief ihre Tante. Etienne sah sich in der Menge um und entdeckte sie etwas weiter entfernt. Ihre Tante hatte sich in einem blauen Mantel gehüllt und verbarg ihr Aussehen. Sie hasste es, wenn die Öffentlichkeit sie sehen konnte. Etienne hatte vor mehreren Jahren Vermutungen angestellt, wieso dies so war, doch es irgendwann aufgegeben, das herausfinden zu versuchen. Es war nicht wichtig. Geschickt lief sie durch die Menge und war schon bald an Tatinnes Seite.

Es roch nach Wasser. An der Straße entlang verlief ein Kanal, in welchem ein Boot entlang floss und mehrere Fässer mit einem ihr unbekanntem Inhalt transportierte. Der Kanal war sauber und gepflegt, viele bunte Blumen kürten die Wege und die schon geschnitzten Holzzäune. Sie hoben sich von dem intensiven aquamarinblauen Wasser ab, dessen sanften Wellen unter der Sonne glitzerten.

Es gab viele Menschen, welche ihren Angelegenheiten nachgingen. Zum Glück schien sich keiner für sie zu interessieren. Es war so lange her, seit sie unter Menschen gewesen war. Es gab viele Menschen, welche ihren Angelegenheiten nachgingen. Zum Glück schien sich keiner für sie zu interessieren. Es war so lange her, seit sie unter Menschen gewesen war. Die Menge machte sie nervöser, als der Schatten, welcher nun deutlich weiter weg war, als am Vortag.

Zum Geruch des frischen Wassers mischte sich der vom frischen Gebäck. Die Menschen mussten eine gute Ernte gehabt haben, wenn sie so viel noch machen konnten. Das verwunderte Etienne aber nicht. Wenn sie sich recht erinnerte, wurde Calisteo auf sehr fruchtbaren Boden errichtet. Außerhalb der ersten Mauer, hauptsächlich in der zweiten Provinz, hatten die Menschen viel Acker angelegt. Die dritte Provinz hingegen hatte viele verschiedene Tiere, um die sich die Menschen kümmerten. Die Stadt konnte sich hauptsächlich selbst versorgen. Wenn es um Verpflegung ging, dann sollte es den Menschen an kaum etwas mangeln. Außer, aus Meinungsverschiedenheiten wurden Kämpfe, weil die Mächtigen anfingen, wichtige Ressourcen den anderen Provinzen vorzuenthalten.

„Also wirklich, Kind, ich hab kein Bedürfnis dich suchen zu müssen“, schimpfte Tatinne mit ihr.

Etienne lachte, „Ich werde den Weg nach Hause zu Not schon alleine finden.“

Der Djinn lag über ihren Schultern, rührte sich leicht im Schlaf.

„Daran zweifle ich nicht, aber ich kann dir keine Kleidung besorgen, solange ich deine Größe nicht kenne.“

Etienne seufzte, „Muss ich sie unbedingt anprobieren?“

Sie hatte ihrer Tante die Größe nicht nennen können, weil sie diese selbst nicht wusste. Und die Zahlen, die Tatinne ihr genannt hatte, sagten ihr nichts.

„Ja.“

Etienne verdrehte die Augen. Ihr Kleiderschrank war nie sonderlich voll gewesen. Meistens musste sie sich keine Gedanken darum machen. Sie zog das an, was da war. Außerdem mochte sie es nicht, beim Schneider zu stehen. Es war ihr unangenehm, wie sie an ihr herumfummelten, während sie möglichst still dastand. Sie könnten Etienne jederzeit mit einer Nadel piksen und sie würde nichts dagegen tun können, da es ja nur ein Versehen war.

„Hier rein“, sagte Tatinne und Etienne folgte ihr durch eine schwer aussehende Holztür, über welcher ein Metallmuster hing. Es stellte eine Nähmaschine dar.

Es roch nach Stoff und Blumen, dessen Duft sich auf die Blumensträuße zurückverfolgen ließ, welche mehrere Vasen füllten, welche überall im Eingangsbereich verteilt waren. In der Nähe des Eingangs gab es einen hölzernen Schalter, hinter welchem ein älterer Mann mit runder Brille stand. Er hatte ein Maßband um seine Schultern hängen und Etienne erblickte den Griff einer Schere in der oberen Tasche seiner grau karierten Weste.

Der Mann trat zu ihnen vor, verbeugte sich vor Tatinne und küsste ihren Handrücken, „Ehrenwerte.“

Das Lächeln erreichte sein einziges blaues Auge nicht.

„Alberto“, grüßte sie zurück und ging anschließend schnell zur Sache, „Ich will eine passende Uniform für meine Nichte. Für die obere Klasse. Du hast schon hunderte Uniformen für die kleine graue Maus machen müssen. Etienne hat eine ähnliche Größe, das sollte also in einem Tag machbar sein. Nicht?“

Der Mann hatte sich wieder aufgerichtet und schaute Etienne von oben bis unten an. Sie trat unangenehm von einem Fuß auf den Anderen. Schon wieder ein zu intensiver Blick, diesmal von einem Fachmann, der nur seine Arbeit machen wollte.

Der Mann hatte sich wieder aufgerichtet und schaute Etienne von oben bis unten an. Sie trat unangenehm von einem Fuß auf den Anderen. Schon wieder ein zu intensiver Blick, diesmal von einem Fachmann, der nur seine Arbeit machen wollte.

„Das stimmt. Vier Stunden, wenn es dieselbe Größe sein sollte. Ich hab genug vorgeschnittenen Stoff, weil diese kleine, graue Maus sowieso alle zwei Wochen auftaucht“, sagte er mit Missbilligung in seiner Stimme, „Ich werde vorher aber die Maße kontrollieren müssen.“

Tatinne holte ihr Portmonee heraus und legte ihm mehrere Scheine auf den Tresen, „Das sollte reichen. Ich komme bald wieder und wir werden es heute Abend abholen. Du wirst uns doch sicher heute in deinen Terminkalender einschieben können? Natürlich wirst du das. Benimm dich, Etienne.“

Er nickte ihr zu und sah dann abschätzend zu Etienne, „Folgen Sie mir.“

Etienne blickte kurz zu ihrer Tante, welche ohne sich umzudrehen den Laden verließ. Dann legte sie den Djinn auf einen der Sitztische und folgte dem Mann in den kleinen Raum. Dort gab es ein kleines Podest, bei dessen Anblick sich ihr der Magen zusammenzog. Sie atmete kurz durch und stellte sich ihrem Schicksal. Er deutete ihr, darauf zu steigen und Etienne befolgte mürrisch seinen Anweisungen. Sie versuchte wirklich stillzuhalten, während er seine Arbeit verrichtete. Als es vorbei war, unterdrückte sie ein erleichtertes Seufzen.

„Das wird nicht lange dauern“, informierte er sie, „Sie können gerne im Vorzimmer warten. Kann ich Ihnen was zu trinken anbieten?“

Etienne verneinte. Er drehte sich dann um und ging an einen Tisch im Arbeitsraum. Sie sah ihm dabei zu, wie er gezielt verschiedene Schränke öffnete und Stoff herauszog, welches ordentlich an Bügeln hing. Er legte einige auseinander und legte sie auf seinen Tisch. Es raschelte, als er etwas anderes hervorholte. Etienne vermutete, dass es sich um Papier handelte, konnte es aber nicht klar benennen. Dann ließ er die Sachen liegen und ging zu einem anderen Schrank, holte erneut irgendwelche Sachen hervor.

Etienne stand kurz an der Türschwelle, entschied sich anschließend dagegen, sich zu setzen und zu warten. Das würde sie nur langweilen.

„Ich bin Etienne“, sagte sie anschließend zu ihm, im Versuch ein Gespräch anzufangen.

„Nett sie kennenzulernen, Etienne“, sagte er trocken. Er zeigte keinerlei Interesse.

Gelangweilt sah sich Etienne im Raum um. Es gab sehr viel Stoff in verschiedenen Farben. Und dann noch Geräte, von denen sie keine Ahnung hatte oder schlicht und einfach vergessen hatte, was sie taten. Sie lief langsam durch das Zimmer, schaute sich ein paar Bilder an der Wand an, versuchte aus den Skizzen etwas herauszulesen. Sie fand einen weiteren Arbeitsplatz, welcher jedoch nicht besetzt, aber unordentlich war. Wahrscheinlich ein Mitarbeiter, welcher gerade außer Haus war.

Dann trat sie zu Alberto. Sie schaute über seine Schulter und musste unzufrieden staunen. Seine Hände bewegten sich schnell, schienen zu messen und anschließend zu schneiden. Seine Bewegungen zeigten kein Zögern, die Hände schienen über den Stoff zu fliegen. Sie sahen surreal aus, gaben ihr das Gefühl, als würde er den Stoff kaum berühren, obwohl er es sehr wohl tat.

„Sie machen das sehr oft?“, fragte sie, in einem weiteren Versuch, ein Gespräch zu starten.

Er zuckte zusammen, die Schere schnitt laut durch den Stoff und blieb dann liegen, eher er den Blick zu ihr emporhob, „Mon Dieu! Erschrecken Sie mich nicht!“

Etienne richtete sich lächelnd wieder auf, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, „Tut mir leid.“

Mit gerunzelter Stirn sah er wieder zu dem Stoff, betrachtete unzufrieden den Schnitt, den er gesetzt hatte, „Junge Dame, das war nicht in Ordnung. Ich hätte mich verletzen können. Mir fehlt schon ein Auge, es gibt kein Grund, einen Finger zu verlieren.“

„Das kommt nicht wieder vor“, sagte sie ernst und bevor er sich wieder abwenden konnte, fügte sie schnell hinzu, „Ich möchte Ihnen bei der Arbeit zuschauen. Darf ich?“

Er beäugte sie misstrauisch. Etienne registrierte eine Distanz in seinen Augen, gemischt mit Missmut, Ärger und Misstrauen.

„Ich bin wirklich neugierig“, fügte sie hinzu.

„Holen Sie sich einen Stuhl. Und kein Herumschleichen mehr.“

Ein rauer abweisender Ton, aber kein abweisender Ausdruck in den Augen. Missmut wich langsam der Vorsicht und der Neugierde. Dieser ältere Mann erinnerte sie an einen alten, grauen Hund, gegen welchen zu oft die Hand erhoben wurde. Ein Mensch, der beschützt werden musste.

Etienne gehorchte ihm und sah ihm schweigend bei der Arbeit zu. Nach knapp einer Stunde war er fertig und sie hatte unweigerlich große Augen. Er hatte innerhalb kurzer Zeit eine Uniform geschaffen. Hauptsächlich war sie schwarz, hatte hier und da ein paar weiße Striche, goldene Knöpfe und ein goldenes Emblem über der linken Brust. Die schwarze Farbe gefiel Etienne. Aber es gab keine Hose.

Er hatte keine magischen Reliquien genutzt. Oder handwerkliche Symbole, welche seit einigen Jahrzehnten populäre Werkzeuge in nahezu allen handwerklichen Berufen waren.

„Das haben Sie aber schnell hinbekommen. Ist sie schon fertig?“

Er zuckte mit den Schultern und Etienne bemerkte die Röte an seinen Ohren, „Ich habe vorgefertigten Stoffschnitt, da häufiger Schüler bei mir bestellen. Ich musste so einige Uniformen dieser Art machen. Probiere sie an. Und nein, ich habe noch einiges zu tun. Deswegen auch erst heute Abend wieder abholen.“

Alberto ging zu einem anderen Schrank und holte eine Bluse hervor. Betrachtete sie einige Moment und holte dann eine andere heraus, welche er ihr gab.

Etienne tat es ungern, aber er gab ihr den Freiraum, sich schnell umzuziehen. Die Luft im Raum fühlte sich kalt an ihren Zehen an. Aber der Stoff lag dafür angenehm auf ihrer Haut. Etienne konnte ihre Arme strecken, ohne dass es unangenehme Einschnitte in ihren Achseln gab oder dass es um ihren Rücken spannte.

„Es passt sehr gut“, sagte sie anerkennend. Sie mochte immer noch keine Schneider. Aber er war der Erste, dem sie begegnet ist, der keinerlei magischen Utensilien für seine Arbeit nutzte. Sie bewunderte es, fragte sich aber zeitgleich, inwiefern das produktiv war.

„Lassen Sie mich mal schauen“, sagte er und trat zu ihr. Sie hasste es, als er anfing ihr Befehle zu erteilen und an verschiedenen Stellen am Stoff zupfte und es kontrollierend betrachtete.

„Sie müssen lange gelernt haben, um das so gut zu können“, sagte sie, in einem weiteren Versuch, ein Gespräch zu starten.

Er brummte zustimmend und ein stolzes Lächeln schlich sich auf sein Gesicht. Aber er sagte immer noch nicht viel.

Nach einigen Momenten nickte er zufrieden und sie sah den Stolz in seinen Augen, „Ziehen Sie sie wieder aus. Ich muss noch den Namen dran sticken. Und hier und da noch etwas nähen. Und Bügeln.“

Etienne zog sich wieder um und gab ihm lächelnd die Uniform wieder, „Mein Vorname reicht.“

Er blinzelte einige Male und sah sie stirnrunzelnd an, schien protestieren zu wollen, ließ es aber. Sein Auge starte kurz in die Leere. Dann nickte er langsam und sagte nach einigen Sekunden Stille, „Nun gut.“

Alberto drehte sich zu seinem Arbeitsplatz zurück und holte eine Nadel und Fäden hervor. Er holte ein Stift und Papier hervor und forderte sie auf, ihren Namen zu buchstabieren. Sie tat es und er nickte zufrieden, bevor er sie wieder aus dem Raum führte.

Sie beide verließen den Raum und Etienne sah zu ihrer Tante, welche gerade durch die Tür trat. Tatinnes innere Uhr war immer auf die Sekunde perfekt eingestellt.

„Vielen Dank für ihre Arbeit“, sagte sie zu Alberto.

Dieser nickte ihr still zu. Sein Blick war etwas weicher. Anscheinend mochte er es, wenn seine Arbeit Anerkennung erhielt. Und Etienne freute sich, ihm diese geben zu können. Sie mochte immer noch keine Schneider. Aber bei Alberto würde sie eine kleine Ausnahme machen.

Der Djinn kam zu ihr und setzte sich auf ihre Schulter. Erneut suchte er sich eine gemütliche Postion und schien anschließend schnell wieder eingeschlafen zu sein.

Alberto trat hinter den Tresen und fing an, etwas in seine Unterlagen zu schreiben.

„Hat alles funktioniert?“, erkundigte sich Tatinne, „Wann sollen wir wiederkommen?“

„In zwei Stunden“, sagte er.

Tatinne schnalzte mit der Zunge, „Mache daraus sieben. Wir kommen vor Ladenschluss kurz vorbei. Lege es einfach in die Tasche.“

Alberto nickte und Tatinne deutete Etienne, wieder hinauszugehen. Sie bedankte sich noch mal bei dem alten Schneider und folgte ihrer Tante hinaus.

Sie wich zwei Menschen aus, welche darauf warteten, dass sie hinausgingen. Hinter einem jungen Mann war ein junges Mädchen mit bleichen Haaren und blutroten Lippen. Ihre stahlgrauen Augen, versteckt hinter einer Brille und auf den Boden gerichtet, stachen von ihrer hellen Haut hervor. Etienne war überrascht von ihrem ungewöhnlichen Aussehen. Es war sehr markant und zog die Blicke auf sich. Sie erinnerte Etienne beinahe an einen Geist, welcher einem tief in die Seele blicken konnte.

„Um Himmels willen, nicht schon wieder“, meinte Alberto, sobald er sie erblickte. Sie schien zusammen zu zucken.

Etienne folgte schweigsam ihrer Tante, bis sie merkte, wie Catjill sich aufrichtete und zurückblickte.

„Was ist los?“, fragte sie ihn.

„Was würdest du ohne mich nur machen?“, fragte er in einem herablassenden Ton, „Du würdest immer noch verloren durch die Wüste wandern. Wahrscheinlich immer im Kreis, bis die Aasgeier genug von dir haben und sich dich vornehmen.“

„Lass den Schwachsinn und sag mir, was los ist.“

„Sie hat eine Verbindung zum nächsten Stein“, sagte er mürrisch und suchte eine gemütliche Position auf ihrer Schulter.

Etienne sah noch mal ihr. Sie holte eine Uniform aus der Tasche hervor, die Wangen waren stark gerötet, während Alberto zu schimpfen anfing. Dann fiel die Tür ins Schloss.

„Sah aus wie die meine, oder?“, fragte sie Catjill leise. Dieser legte sich wieder hin und antwortete, „Ich bin mir sehr sicher, wir werden ihr morgen über den Weg laufen. Vergraule sie nicht.“

Etienne streichelte ihn hinter dem Ohr und merkte, wie er ihrer Berührung entgegenkam. Er sehnte sich häufig nach Zuneigung, auch wenn er das nicht zeigte. Das verwunderte sie nicht, wenn sie bedachte, wo sie ihn gefunden hatte.

„Normalerweise vergraule ich niemanden“, erwiderte sie nachdenklich.

„Du vergraulst jeden. Nimm dir an Raffaels Ausstrahlung ein Beispiel. Dann würdest du vielleicht auch von mehr Menschen umgeben sein, als von einem Geist und... ah ja, noch mehr Geistern. Herzlichen Glückwunsch, was für eine bunte Mischung.“

Etienne verzog das Gesicht und hörte auf, ihn zu streicheln. Verfluchter Djinn. Dass er sie ausgerechnet mit dieser Nervensäge vergleichen musste.

„Wohin gehen wir jetzt?“, fragte sie unzufrieden ihre Tante.

„Wir besorgen dir die Bücher. Und ich hab dir ein Termin für einen Test organisiert. Der Direktor wird dich beaufsichtigen, sobald wir da sind.“

Etienne seufzte, „Du steckst viel Mühe rein, mich in diese Schule zu bekommen. Was wenn ich komplett versage?“

Sie sah wie Tatinne unter ihrer Kapuze grinste, „Raffael ist in der obersten Klasse. Ich bin sicher, desto näher du ihm bist, desto näher bist du deinem Ziel. Dementsprechend, solltest du sehr gut abschneiden, damit du auch dorthin kommst, nicht?“

Sie entgegne ihr Grinsen, „Das wäre nicht notwendig, ich könnte auch einbrechen und herausfinden, wo er den Stein versteckt. Aber meine Pläne haben sich sowieso soeben etwas geändert. Und keine Sorge, ich weiß wie viel dir Prestige bedeutet, für dich werde ich die beste Punktzahl herausholen.“

Tatinnes Lächeln verpuffte und sie erwiderte, „Es geht mir hier nicht um Prestige.“

Etienne bedachte sie vorsichtig. Worum ging es ihr dann? Sie zweifelte es an, dass Tatinne solch ein Unterfangen anstellen würde, nur um ihr mit dem Stein zu helfen. Da gab es andere Möglichkeiten ran zu kommen.

Sie betraten nach mehreren Straßen ein sehr hohes Gebäude. Es war ein Bücherladen. Er war vom Umfang her klein, jedoch ragte er so weit nach oben, dass Etienne sich sicher war, es müsste mal ein Aussichtsturm gewesen sein. Es war erst einige Jahrzehnte her, seit die Papierindustrie neu erbaut wurde und der Buchdruck in Gang kam. Damals gab es noch keinen Grund, Büchereien zu bauen. Also wurden alte, ungenutzte Gebäude umgestaltet.

Etienne konnte die Menge an Stockwerken nicht abschätzen, bewunderte aber die Menge an Regalen, welche voll gefüllt waren. Calisteo schien hier aufgestockt zu haben. Zu ihrer Rechten verlief direkt eine Treppe zur nächsten Ebene, welche um die Ecke in einer nächsten Treppe mündete, welche in die nächste Ebene führte und so verlief es bis nach ganz oben.

„Das ist dein Regal“, sagte Tatinne. Etienne Blickte zu ihrer Tante und entdeckte sie neben einem Regal voller Schulbücher. Als sie genauer hinblickte stellte sie fest, dass der ganze erste Stockwerk allein Schulbüchern gewidmet war. Sie verzog das Gesicht, „Ist das nicht eine ziemliche Papierverschwendung?“

„Erik!“, rief Tatinne in den Laden hinein. Ein jünger Mann mit Brille und viel zu großer Kleidung stolperte zu ihnen herüber. Die Brille rutschte ihm die Nase herunter, „Tatinne! Wie schön Sie wiederzusehen! Was kann ich für Sie tun?“

„Bücher. Für die Eliteschule. Alle, die das Kind braucht.“

„Selbstverständlich! Soll ich sie Ihnen zuschicken?“

„Nicht nötig, wir nehmen sie direkt mit.“

Erik sah mit erhobenen Augenbrauen zu den zwei Frauen, „Das wird schwer.“

Dann fing er an die Bücher zusammenzutragen und Etienne blinzelte verwirrt über die Menge. „Du machst Witze“, meinte sie zu Tatinne, „Erwartest du von mir wirklich, dass ich all das trage?“

Tatinne sah zu den Büchern und hob die Braue, „Ich wüsste nicht, wo das Problem liegt. Wenn du das alles in deinem Kopf hättest, wäre es sicherlich leichter zu tragen.“

Etienne verdrehte die Augen, „Ich dachte es ginge dir darum, mir ein gutes Schulerlebnis zu bescheren.“

„Das wirst du haben, wenn du dich anstrengst.“

Etienne widmete sich wieder ihrem Djinn zu, welcher neugierig um sich herum blickte. Sein Blick fokussierte sich auf den Eingang der Tür. Etienne hörte Menschen draußen reden, einige Stimmen stachen besonders heraus, wahrscheinlich weil sie sich genau vor der Tür befanden. Catjills Ohren zuckten, während er sich zu konzentrieren schien und Etienne merkte, wie er eine Spur aufnahm. Sein Schwanz zuckte und dann sagte er anschließend, „Die haben auch eine Verbindung zu einem Stein. Aber… nicht so eindeutig wie der Geist von vorhin.“

Die Menschen betraten den Raum und Etienne beäugte sie kurz. Sie trat zur Seite, um sie nach vorne durchzulassen, wo Tatinne am Tresen noch die Bücher durchschaute. Es handelte sich um zwei junge Männer und eine junge Frau. Sie waren alle vornehm gekleidet, hatten Blazer, schicke Hosen und Schuhe an. Die junge Frau war gekleidet in einer langen schwarzen Stoffhose, welche in einer schwarzen Bluse endete. Ihre kurzen Haare waren ebenfalls schwarz und verliehen ihr in ihrem Schnitt eine sanfte Eleganz, welche nicht zu aufdringlich aber unterschwellig zu spüren war. Sie unterhielten sich weiterhin leise und einer von ihnen sah sich Etienne kurz von oben bis unten an. Sie lächelte seinem wachsamen Blick entgegen und er drehte sich dann um. Wahrscheinlich hat er sie als ungefährlich eingestuft. Sie sahen sich auch Tatinne an, jedoch schienen sie da kurz innezuhalten. Etienne beobachtete sie, wie sie ein paar Worte austauschten und kam zur Schlussfolgerung, dass sie Tatinne als die Person erkannten, die sie war. Tatinne blickte kurz zu ihnen, grüßte sie mit einem Nicken und sah dann zu Etienne, „Nimm sie alle mit und folge mir.“

Sie nahm Etienne die Uniform ab und ging hinaus. Etienne beeilte sich unter den erneut wachsamen Blicken der drei Menschen die Bücher zu nehmen und ging hinaus. Sie würde später herausfinden, wer sie waren. Unabhängig Tatinnes Mühen sie heute in die Schule zu bringen, hatte sie zumindest zwei sehr gute Hinweise auf die restlichen zwei Steine bekommen. Raffael würde sie sich als letztes vornehmen. Sie war hocherfreut über den Djinn. Es hatte etwas gedauert, bis er ihr den Hinweis auf den ersten Stein gegeben hatte. Doch nun schien das Glück auf ihrer Seite zu sein. Durch ihren Vertrag war er dazu verpflichtet sie zu den Steinen zu führen. Er musste nur eine Spur finden und seine Magie erlaubte ihm genau das. Es lag an ihr, die Indizien zusammen zu tragen. Sein Versprechen, schnell an die Austreibungsreliquien heranzukommen schien er zu halten.

„So, wir haben alles besorgt, bis auf die Schuhe. Um diese kann ich mich später kümmern“, sagte Tatinne. Sie schien mehr zu sich selbst zu sprechen, als zu Etienne, als würde sie gedanklich eine Liste abhaken.

Etienne hob den Kopf und versuchte über den Rand der Bücher zu blicken. Sie war nicht sonderlich erfolgreich, „Wohin gehen wir?“

Sie stolperte und wurde angerempelt, wofür sich der nette Mann gleich wieder entschuldigte. Etienne nickte ihm freundlich zu und sah sich nach ihrer Tante um.

„Tatinne?“

Sie hielt inne und bemerkte entsetzt, dass sie diese nicht mehr sah. Stattdessen kreuzte eine Menge Menschen ihren Weg.

„Oh, so ein Mist“, murmelte sie. Sie ging zu einem der Häuser und legte die Bücher auf eine kleine Treppe. Dann streckte sie sich und blickte sich noch einmal um, in der Hoffnung Tatinne noch zu erblicken.

Der Djinn seufzte, „Genauso verloren, wie im Château.“

„Du hast mich in den Gang hineingeschickt“, erinnerte sie ihn.

„Du bist falsch abgebogen“, sagte er und machte ihr dann ein Angebot, „Soll ich dir dabei helfen, sie wiederzufinden? Es wird nur ein kleiner Preis sein.“

Sie streichelte ihn hinter dem Ohr. Er war müde, erst recht nach dem letzten Tag. Er war noch jung. Es bereitete ihm keine Probleme, seine Magie einzusetzen, aber er übertrieb es und war meistens danach wieder erschöpft.

„Leg dich wieder schlafen“, sagte sie zu ihm, „Ich brauche dich morgen mit voller Energie.“

Er brummte unzufrieden. Tat dann, wie sie ihm gesagt hatte. Etienne sah sich die Menschen an, die vorbeiliefen. Sicherlich würde ihr jemand erklären, wie sie zur Schule kommen würde. Sie müsste nur jemanden finden, der nicht hastig an ihr vorbeiging. Doch es schien, als würde sie für die Meisten nicht existieren. Sie sahen alle nur vor sich hin, keiner erwiderte ihren fragenden Blick. Und als sie versuchte jemanden anzusprechen, wurde sie mit einer abweisenden Handgeste zum Schweigen gebracht, bevor sie die Chance hatte sich nach dem Weg zu erkundigen. Vielleicht sollte sie jemanden anrempelt? Aus Versehen natürlich. Sicherlich würden sie dadurch kurz inne halten und Etienne würde sie schnell fragen können.

Bevor sie dazu kam, entdeckte sie einen jungen Mann aus dem Geschäft ihr gegenüber treten. Er hatte eine bunte Schürze an und seine schwarzen Haare waren zu einem kleinen Zopf gebunden. Er fuhr sich müde über das Gesicht und nippte an einem Becher, welcher wahrscheinlich aus dem Laden hinter ihm kam, bei welchem es sich um ein Teehaus handelte. Er erblickte sie und hob fragend die Augenbrauen, als sich ihre Blicke kreuzten.

Glücklich, dass jemand sie anerkannte, ging sie schnell zu ihm herüber, „Könnten Sie mir vielleicht weiterhelfen?“

„Sie?“, fragte er amüsiert über ihre Anrede an ihn. Er musterte sie von oben bis unten, dann blickte er zu den Büchern, welche sie auf der Treppe gelassen hatte. Sie bemerkte wie sein Blick länger an diesen verweilte und dann langsam zu ihr wanderte und er vorsichtig fragend feststellte, „Neu in der Stadt?“

„Woher weißt du das?“, fragte sie überrascht.

„Ich hab dein Gesicht noch nie zuvor gesehen“, antwortete er ihr.

Etienne lächelte, „Du willst mir sagen, du hast dir jedes Gesicht in dieser Stadt gemerkt?“

„Nein, aber ich habe dieselben Bücher, wie die hier“, sagte er lachend und deutete auf ihren Stapel, „und die Menge an Menschen, die sie hat, ist nicht sonderlich groß.“

„Der Schlussfolgerung kann ich nichts entgegenstellen“, sagte sie lächelnd, „Ich bin Etienne. Und ich bin neu in der Stadt, auf bestimmte und unbestimmte Zeit. Wobei sich die Zeit verkürzen könnte, wenn ich nicht meine Tante wiederfinde. Du gehst hier auf die Schule?“

Er nickte und nippte an seinem Becher, „Hat deine Tante wiederzufinden mit deinem Hilfegesuch zu tun?“

„Ja,“ meinte Etienne, „Genau genommen würde ich mich freuen, wenn mir jemand den Weg zur Schule beschreiben würde. Du bist die erste Person, die mich überhaupt gesehen hat.“

Er blickte auf die Straße und lächelte verständnisvoll, „Die meisten Geschäfte haben um diese Uhrzeit Mittagspause oder Schichtwechsel. Die meisten Leute beeilen sich die kurze Zeit zu nutzen“, er blickte wieder zu ihr, „oder zur Arbeit zu kommen.“

„Dann lass mich dich nicht zu lange aufhalten. Es reicht, wenn du mir kurz beschreibst, wie ich hinkomme.“

Er blickte wieder zu den Büchern und dann zu ihr, „Gib mir ein Moment.“

Er ging wieder hinein. Sie sah, wie er drinnen mit einem Mann sprach und anschließend ohne seine Schürze wieder herauskam. Als sie ihn ohne Schürze erblickte stellte sie schnell fest, dass im Vergleich zu den Menschen, die sie bisher gesehen hatte, seine Kleidung ziemlich abgetragen aussah. Auch seine Schuhe schienen alt zu sein, an einer Stelle sah es so aus, als wäre ein Riss geflickt worden. Er trat hinaus und sagte, „Es ist nicht allzu weit weg von hier. Ich kann dich hinbegleiten.“

„Ich will dir nicht deine Mittagspause nehmen“, erwiderte Etienne.

„Das ist kein Problem“, sagte er und nahm die Hälfte des Stapels, „Mal abgesehen davon habe ich so die Chance, mit einem künftigen Klassenkameraden Bekanntschaft zu machen.“

Etienne nahm die restlichen Bücher und sah ihn dankend an, „Das ist sehr nett von dir.“

Es war so ungewohnt. Die meisten Interaktionen mit fremden Menschen waren mit Problemen verknüpft. Raffaels nerviges Gesicht tauchte vor ihrem Auge auf. Und auch wenn er nicht der Schlimmste war, mit dem sie sich auseinandersetzen musste, machte die Konfrontation am Morgen sie dennoch furchtbar wütend. Er war eindeutig der nervigste.

Dieser hier hingegen schien absolut harmlos. Etienne spürte von ihm keine Bedrohung ausgehen, keine Feindseligkeit oder Hinterlistigkeit.

„Ich bin Anaki“, sagte er zu ihr, „Ich gehe in die A-3. Wenn du zu uns wechselst, dann wirst du wohl auch in dieser Klasse sein. Wir haben noch ein paar Plätze frei.“

„Ist es eine gute Schule?“, fragte Etienne im Versuch etwas mehr über diese herauszufinden.

Er grinste sie an, „Unserer Stadt wird manchmal die Produktion von kompetenten Köpfen vorgeworfen. Wer auch immer hier seinen Abschluss macht, der kann in nahezu jeder anderen Stadt arbeiten.“

„Wirklich?“, Etienne lachte, „Da schickt mich meine Tante aber wohin.“

„Keine Sorge, so geht es den meisten Schülern hier. Die Eltern entscheiden, wo es hingeht. Oder die Vormünder“, sagte er trocken. Etienne merkte die Missbilligung in seiner Stimme, doch dieser Ton verschwand, als er weiter redete, „Nicht aber, dass es nur an diesen liegt. Den meisten in der Stadt ist bewusst, welche Zukunftsaussichten ein Titel hier hat.“

„Ist wahrscheinlich mit viel Arbeit verbunden?“, fragte Etienne.

Er schnaubte, „Die Erwartungen sind sehr hoch. Vor allem was das selbstständige Lernen angeht. Aber wir haben auch mal unsere Freizeit. Was mich zur Frage führt, was du heute in der Schule vorhast? Heute ist kein Unterricht.“

„Meine Tante hat einen Test für mich organisiert. Den muss ich noch machen.“

Anaki blickte leicht erschrocken zu ihr und dann zu den Büchern. Ihre Aussage schien ihn vorm Kopf zu stoßen, „Du musst ihn noch machen? Etienne, du weißt also nicht gar nicht, wie du eingestuft wirst?“

„Nein, ich habe keine Ahnung“, sagte sie lachend, „Aber wenn meine Tante das so sieht, dann wird das schon so kommen.“

Anaki sagte für ein paar Momente nichts und seufzte dann, „Lass es dir nicht zu nahe gehen, wenn es nicht klappt. Es gibt so viele Schüler, dessen Eltern dasselbe gemacht haben. Manche sind komplett zusammengebrochen, weil sie nicht in die Klasse kamen, welche von ihnen erwartet wurde.“

„Das tut mir leid für sie“, meinte Etienne, „Aber ich werde sowieso nicht allzu lange hier bleiben. Ehrlich gesagt, wenn es nicht für meine Tante wäre, dann würde ich mir nicht sonderlich viel Mühe damit geben.“

Oder wenn es nicht für ihre neu gefundenen Spuren wäre.

Anaki lächelte, „Was man nicht alles für Familie tut. Wir haben ein paar solcher Leute bei uns in der Klasse.“

„Bist du auch wegen deinen Eltern dort?“, fragte Etienne.

„Nein“, sagte Anaki, „Mir könnten meine Eltern herzlichst egal sein. Aber dafür, dass ich in der A-Klasse bin und vernünftige Noten hervorbringe, bekomme ich Förderung von der Schule. Das ist aktuell die beste Weise für mich, um über die Runden zu kommen. Außerdem ist meine Klasse besonders witzig.“

Etienne blickte neugierig zu ihm. Sie waren mittlerweile eine Weile gelaufen und Etienne konnte Dachspitzen eines großen Gebäudes ausmachen, welches über alle anderen emporzuragen schien. Sie steuerten durch die Straßen darauf zu und Etienne war sich langsam sicher, dass das ihr Ziel war.

„Wieso ist sie besonders witzig“, fragte sie bei ihm nach.

„Wir haben alle Provinzherrscher in einem Raum. Es ist zwar neutrales Gebiet und sie werden keinen Kampf anfangen, aber sie sind meistens sehr nahe dran“, sagte er lächelnd.

„Wie sind sie alle in eine Klasse gekommen?“, fragte sie. Nun hatte sie weniger Interesse, in diese Klasse zu kommen. Raffael war schon anstrengend genug. Tatinne schien auch nicht positiv über ihn zu sprechen, als sie ihr ein paar grundlegende Sachen über ihn erzählt hatte. Sie hatte ihren Weg in das Herz der neutralen Provinz gut damit genutzt, Etienne über das Nötigste zu informieren. Sie hatte ihr jedoch noch nichts über die anderen zwei Herrscher erzählt. Wenn diese auch dort sitzen, dann würde dies es ihr nicht leicht machen, an die Steine zu kommen. Dann erinnerte sie sich an Catjills Aussage, dass sie womöglich schon morgen zumindest an eine Person stoßen könnte, welche sie näher an den Stein bringen würde. In eine höher gestufte Klasse zu kommen, könnt ihr auch die Möglichkeiten geben, zu den Personen zu stoßen, welche sie für ihre Ziele benötigte. Wenn sie stattdessen in eine tiefere Stufe kommen sollte und ihre Ziele in einer höheren wären, würde sie Etienne dann anhören oder abweisen?

„Sie waren zuvor schon alle in derselben Klasse“, meinte Anaki, „Gilgian war der erste Herrscher damals. Er ist aber eigentlich viel später an die Schule gekommen, als Raffael und Elias. Und die letzten beiden haben erst in den letzten Jahren ihre Position bekommen. Wobei es bei Elias noch so eine undefinierte Sache ist.“

„Sollten sie sich nicht besser um ihre Provinzen kümmern?“, fragte sie.

Anaki antwortete ihr nicht direkt auf die Frage. Sie traten langsam durch das Schultor und Anaki wurde von jemanden, der aussah wie ein Wachmann, gegrüßt. Er betrachtete Etienne mit einem kurzen Blick, hielt sie aber weder auf, noch sprach er sie an.

„Ich weiß was Raffael macht. Bei Elias ist das ganze komplizierter. Und Gilgian scheint es nicht so ganz zu interessieren. Ich glaube er lässt die Untergebenen des alten Vorgesetzten ihre Arbeit machen. Diese waren es sowieso schon gewohnt, ohne den Provinzherrscher zu arbeiten. Gilgian belässt es scheinbar dabei.“

„Und die anderen beiden?“, fragte Etienne nach.

Anaki beäugte sie wachsam und meinte dann lächelnd, „Über Elias kann ich dir nicht viel sagen. Bei ihm ist das so eine Familiensache. Raffael hat hingegen viele Menschen eingestellt. Er hat eine ganz gute Menschenkenntnis, die hat er bisher gut ausgenutzt.“

Sie betraten das Gebäude und Anaki wechselte das Thema, „Ich schätze, du musst zum Direktor?“

Etienne nickte, „Wahrscheinlich wird meine Tante schon da sein. Ich denke, das würde sie am ehesten tun, als nach mir zu suchen. Sie hat wahrscheinlich eine gute Weile nicht mal gemerkt, dass ich weg war.“

Tatinne war aufmerksam, bis sie sich in einem Gedanken verlor. Das passierte selten, aber wenn es vorkam, war sie nicht zu halten, bis sie diesen Gedanken ausgeführt hatte.

„Dann auf zum Direktor“, sagte er und sie folgte ihm durch die große Halle zu den Treppen, die sie dann emporstiegen. Die Decke spiegelte sich in dem weißen Marmorboden und Etienne bewunderte die schönen Muster des Marmors. Die Eingangshalle war riesig. Sie gingen die mittlere Treppe hinauf, aber es gab noch weitere Treppen, welche alle zu einer höheren Ebene führten, von welcher auf die Halle hinab geschaut werden konnte. Von dort gingen viele Gänge in unterschiedliche Richtungen und weitere Treppen führten in die nächsten Stockwerke. Anstatt jedoch die vielen Treppen weiter hoch zu steigen, gingen sie durch einen Gang und folgten diesem hindurch. Etienne hatte an den Schildern lesen können, dass sich in der Richtung die Büroräume des Direktors, der Sekretäre und weiterer Mitarbeiter der Schule befanden. Schon bald hörte Etienne hinter einer der Ecken, auf die sie zusteuerten eine ihr bekannte Stimme. Und sobald sie um die Ecke gingen, erblickte sie ihre Tante.

„Tatinne!“, rief Etienne lächelnd.

Der Kopf der Frau fuhr zu ihr herum und die roten Locken, nun nicht mehr unter einer Kapuze, schwangen mit der abrupten Bewegung, „Da bist du ja! Ich hab dir gesagt du sollst bei mir bleiben. Wie hast du es geschafft zu verschwinden?“

Anaki sah zu Etienne, „Wenn deine Tante das sieht, dann wird es schon so kommen also“, rezitierte er ihre Worte, welche sie zuvor an ihn gerichtet hatte „bekommt eine ganz neue Bedeutung, wenn es sich um die Spinne handelt.“

Etienne lächelte ihn an, verwundert darüber, dass er sich an ihre Worte noch erinnern konnte, „Ehrlich gesagt, war es gar nicht so gemeint, wie es jetzt den Anschein macht.“

Als sie bei den zwei Personen ankamen, lächelte Etienne und legte die Bücher auf den breiten Fenstersims und streckte sich, „Meine Güte, sind die schwer!“

Auch Anaki stellte den Stapel zu den anderen und nickte Tatinne und dem Mann, mit dem sie sprach, freundlich zu.

Tatinne seufzte, „Wieso bist du immer so unvorsichtig?“

„Ich bin nicht unvorsichtig. Du hättest mir ruhig helfen können, dann hätte ich vielleicht noch was sehen können, während ich versucht habe dir hinterher zu laufen.“

Tatinne schnaubte, „Stell dich nicht so an, das wäre für dich absolut machbar gewesen.“

Anaki meldete sich kurz zur Wort, „Ich verabschiede mich dann mal. Wir sehen uns wahrscheinlich morgen. Du kannst dich gerne an mich halten am Anfang, nur so zur Orientierung. Wir haben hier sonderbare Regeln. Viel Erfolg.“

Etienne wollte ihm Danken, doch dies übernahm Tatinne für sie, „Danke Anaki. Ich bin sicher, das wird ihr am Anfang gut helfen.“

Anaki ging zurück und Etienne hoffte, dass sie ihm nicht zu viel von seiner Pause genommen hatte. Bei seinem schnellen Schritt glaubte sie jedoch, dass das Gegenteil der Fall war. Sie wandte sich von ihm ab und blickte zu dem Mann. Er war schick in einem Anzug gekleidet, die Haare gepflegt, wie ein Geschäftsmann. Sie waren lang und schwarz, mit grauen Strähnen, welche sich durch sie zogen. Sie streckte ihm die Hand entgegen, „Hallo, ich bin Etienne.“

Der Manns schüttelte ihre Hand und sagte, „Mein Name lautet Matteo Merlian. Ich bin der Direktor dieser Schule.“

„Fast wie Merlin“, sagte Etienne staunend. Ihre Tante seufzte.

Er blickte zu den Büchern und runzelte die Stirn, „Tatinne, ich werde Ihnen nicht den Gefallen in der Form erfüllen, dass ich Ihre Nichte einfach durchkommen lasse.“

Tatinne verdrehte die Augen, „Danach habe ich auch nicht gefragt.“

Merlian fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht und blickte zu Etienne, „Folgen Sie mir, junge Dame.“

Er betrat sein Büro und Etienne folgte ihm, nachdem sie den Djinn an Tatinne übergeben hat, „Pass gut auf ihn auf“.

„Beeile dich“, rief Tatinne ihr hinterher.

„Ist es schwer?“, fragte Etienne den Direktor, als die Tür ins Schloss fiel.

„Es hat unterschiedliche Kategorien. Mit jeder Kategorie wird er schwerer.“

„Haben sie den Test auch mal gemacht?“

Er blinzelte sie verwirrt an, „Weshalb sollte ich?“

„Wieso nicht?“, fragte Etienne zurück. Irgendjemand musste sie machen.

Der Mann atmete tief durch und holte dann einen großen Umschlag und einen Stift hervor. Er legte beides auf den Tisch und deutete Etienne sich ihm gegenüberzusetzen. Er schien genervt, ob das jedoch an ihren Fragen lag, konnte sie nicht sagen. Es hätte genauso gut das Gespräch mit Tatinne sein können.

„Viel Spaß.“

Nach drei Stunden trat sie wieder aus dem Raum. Ihre Tante erwartete sie gelangweilt, hatte aber diesmal neben der Kleidung eine weitere Tüte in den Händen. Etienne gab ihr einen Umschlag, „Das wird meine neue Klasse sein.“

Tatinne nickte und öffnete diesen, „Sehr schön. Gut, dass wir die Sachen nicht umsonst gekauft haben.“

„Willst du mir diesmal mit den Büchern helfen?“, fragte sie ihre Tante, während sie zu dem Stapel ging.

Tatinne seufzte und nahm sich das oberste Buch, „Gehen wir.“

Etienne verdrehte die Augen und legte den Stapel, den Anaki neben ihren hingelegt hatte, auf den ihren. Dann nahm sie die Bücher und lief ihr hinterher, „Verliere diesmal nicht deine geliebte Nichte.“

4.

Etienne folgte der netten Sekretärin, Miss Arvon. Sie war in einem Anzug gekleidet und hatte ein Klemmbrett, auf das sie immer wieder schaute, wenn sie Etienne etwas erzählte oder wenn sie Halt machten.

Als sie durch den leeren Schulhof ging, verschwand ihre Müdigkeit und sie war beeindruckt von dem prächtigen Gebäude. Sie wurde eine Stunde vor Schulbeginn beim Sekretariat erwartet. Als sie am Morgen an der Schule angekommen war, hatte sie nur wenige Schüler gesehen. Doch danach verbrachte sie fast zwei volle Stunden damit, durch die Schule zu laufen. Etienne wurde die Bibliothek gezeigt und der botanische Garten. Sie wurde durch mehrere Sporthallen im hinteren Bereich der Schule geführt und ihr wurden zwei weiteren Bibliotheken gezeigt. Sie kam an einigen Schülern vorbei, welche sie neugierig musterten und Etienne konnte nach kurzem Mustern auch erkennen, dass sie alle eine andere Uniform trugen. Etienne vermutete, dass deren Aufmerksamkeit durch ihre Kleidung und der Anwesenheit von Miss Arvon insbesondere geweckt wurde. Auch Miss Arvon, hatte das Tuscheln bemerkt und sie daraufhin nach ganz unten in den Keller geführt und ihr diesen gezeigt. So waren sie nicht mehr unter den Blicken der Schüler gewesen und Etienne wurde erklärt, dass sie den Keller als Lagerstelle für alle möglichen Dinge nutzten. Auch Schüler, welche einer AG angehörten, durften sich dort einen Platz für ihre Gegenstände mieten. Um etwas Zeit zu vertreiben, hatte ihr die Sekretärin ein Bühnenbild gezeigt, an welchem aktuell gearbeitet wurde, für ein Theaterstück, welches von Schülern geschrieben wurde und vorgetragen werden sollte und das scheinbar schon sehr bald. Etienne hatte Schwierigkeiten so zu tun, als würde sie das Ganze interessieren.

Als sie wieder hochkamen, waren schon alle in ihren Klassen. Etienne hatte die Ehre gehabt, später zum Unterricht antreten zu dürfen.

„Normalerweise wird am Anfang des Schuljahres die Schule den Schülern durch andere Schüler gezeigt. Da du aber mitten im Schuljahr kommst, werde ich dir alles zeigen“, hatte ihr die Sekretärin gesagt. Nichtsdestotrotz, bemerkte sie viele neugierige Blicke aus den Fenstern. Wahrscheinlich hatte sich schon herumgesprochen, dass es einen Neuankömmling gab. Etienne hoffte, dass die neugierigen Blicke nicht allzu lange andauern würden.

„Hier haben wir den Club der alten Künste. Im Moment wird hier hauptsächlich Karate gemacht“, führte die Sekretärin weiter aus, als sie an den Sporthallen vorbeigingen „Unsere Clubmitglieder haben schon den siebten Sieg in Folge bei der Stadtmeisterschaft gewonnen und insgesamt dreimal landesweit den zweiten und viermal den dritten Platz belegt, gleich nach den Vertretern von Vheruna und den Mandragonrys. Und da die ersteren sowieso kaum einer besiegen kann, zählen wir den zweiten als den ersten Platz“, sie lachte und Etienne lächelte höflich, als sie den Ausführungen der Frau lauschte. In jeder Stadt gab es über Generationen hinweg eine Menge an außergewöhnlichen Menschen. Jeder wurde von klein auf mit allem ausgestattet, was ihm das Überleben erleichtern würde. Und seit den letzten zwei Generationen, wurde langsam dazu übergeleitet, wieder die Menschen für die Gesellschaft zu produzieren, welche sie am Laufen halten konnten. Viele der alten, überlebenswichtigen Fähigkeiten wurden dennoch weiterhin vermittelt. Es war gut so, denn ansonsten hätten sich die Städte im Laufe der letzten Jahrzehnte niemals zu dem entwickeln können, was sie heute waren. Nach langer Zeit, standen die Menschen wieder an der Spitze der Nahrungskette, wenn auch immer noch unter starker Konkurrenz.

„Es ist Pflicht eines jeden Schülers, einem Club beizutreten, mit Ausnahme der obersten drei Klassen. Diese sind viel zu beschäftigt mit dem Lernen des normalen Stoffes, sodass sie sich auf Clubaktivitäten nicht einlassen sollen. Aber natürlich darfst du einem Club beitreten, wenn du es willst. Ich habe mitbekommen, du hast eine recht gute Punktzahl bei dem Test erreicht, das sollte für dich also kein Problem darstellen“, sie lachte erneut, „Empfehlen würde ich es dennoch nicht, du wirst neben dem Schulstoff in andere Aktivitäten eingebunden, welche du verpflichtet sein wirst, durchzuführen. Aber davon können dir deine Klassenkameraden mehr erzählen.“

Etienne lächelte weiterhin höflich, vermerkte aber, dass sie einen Weg finden sollte, das Ganze schnell über die Bühne zu bringen. Sie würde sich diese Schule nicht länger als nötig freiwillig antun. Sie hatte kein Interesse an dem Wissen, welches die Schule ihr bieten würde. Die meisten Fächer waren darauf ausgelegt, der Stadt zu dienen. Hierfür brachten sie den Schülern alte Wissenschaften bei, wie Physik und Chemie. Auch alte Geschichte wurde gelehrt, jedoch nicht so intensiv wie die neue Geschichte. Die alte Welt hatte kaum noch Einfluss auf das Leben der Menschen. Um Kultur jedoch zu bewahren und alte Wurzeln aufzudecken, wurde auch hier in geringem Maße gefördert. Viel interessanter schienen die Fächer für die Administration und Politik zu sein. Doch auch damit konnte Etienne nichts anfangen. Neugierig war sie jedoch auf die Klasse der neuen Geschöpfe.

Seit dem Untergang der alten Welt, sind viele Wesen emporgestiegen, welche den Menschen Konkurrenz gemacht hatten. Das Basiswissen hatte Etienne bereits zu Genüge gehört, wunderte sich aber, was die Schule hier zu bieten hatte. Vielleicht würde sie auch die Bibliotheken durchsuchen.

Die Frau blickte mit strahlenden blauen Augen zu ihr herüber und zupfte an einer Locke, welche aus der strengen Hochsteckfrisur locker an ihrem Hals herunterhing. Es ließ ihr noch den Anschein der jungen Frau, die sie war, „Wir haben dich in unsere jüngste Klassenzusammensetzung untergebracht. Du wirst dich da sicher wohlfühlen. Da du neu in der Stadt bist, will ich dich warnen, dich unnötig mit den anderen anzulegen. Du scheinst mir zwar nicht, wie eine Kriminelle, aber die gibt es im Überfluss an unserer Schule, und drei sitzen leider in deiner Klasse. Ah, wenn nur alle so vernünftig und nett wie Raffael und Elias wären. Leider nicht.“

„Ich komm in ihre Klasse?“, fragte Etienne. Die Frau gab ihr lächelnd ihre Zustimmung und fügte hinzu, „Du solltest dir überlegen, eine gute Beziehung zu ihnen aufzubauen. Schlaue Köpfe werden immer bei den Provinzen benötigt. Du hättest gute Chancen, durch den Kontakt zu ihnen, an einen gut bezahlte und sichere Arbeit zu kommen. Ansonsten, wenn du besonders gut in der Schule abschneidest, könntest du auch in der neutralen Provinz arbeiten. Wir haben einen Mangel an Arbeitskräften in administrativen Bereichen. Viele tendieren nach Vheruna zu gehen, wenn sie die Chance haben. Auch wurden uns schon einige schlaue Köpfe von den herrschenden Familien der anderen Städte abgeworben. Und die meisten Schüler tendieren viel eher dazu, in die Sicherheitseinheit zu gehen. Das macht es nicht einfach, die Balance zwischen den Provinzen zu halten.“

Etienne streichelte den Djinn, der an ihrer Schulter schlief und sein Schwanz zuckte leicht hin und her. Die Frau hatte ihm keine Beachtung geschenkt und Etienne hatte sich gefragt, ob ihr gutes Abschneiden im Test damit zu tun hatte, dass diese Frau nicht einmal bereit war den Kater an ihren Schultern zu hinterfragen. Wahrscheinlich lag es aber eher an seiner Magie.

„Die Nachricht einer neuen Schülerin hatte sich in Windeseile verbreitet. Es sind schon alle so neugierig! Selbst die Lehrer“, sie lachte erneut, „und dein Klassenlehrer, Herr Cruz, schwärmt wahrscheinlich gerade deine neue Klasse voll, so wie ich ihn kenne. Er ist immer von den ganz Schlauen begeistert. Wenn du gut lernst und keinen Ärger machst, dann wird er dich immer unterstützen. Lass dich aber nicht auf eine Diskussion mit ihm ein, er tendiert dazu, nie mit dem Gespräch aufzuhören.“

Etienne versuchte etwas einzuwerfen, doch das Thema wechselte schnell.

„Hier habe ich deinen Stundenplan, schau ihn dir genau an“, sie nahm einen Zettel aus dem Klemmbrett und gab ihn Etienne.

Etienne betrachtete diesen und war über die Fächer nicht überrascht. Genau das, was sie sich vorgestellt hat. Was sie sich nicht vorgestellt hat, war die Menge der Stunden pro Tag, „Ich soll jeden Tag zehn Stunden haben?“

Die Sekretärin blinzelte verwirrt und blickte sie noch einmal musternd an, „Ist das etwa ein Problem?“

Etienne lächelte wieder, „Nein, nein. Ich war nur kurz… überrascht“, unter diesen Umständen würde sie immer nur spät Abends aus der Klasse kommen. Sie müsste, um nicht zu früh aus der Schule zu fliegen, herausfinden, wie sie das mit ihrer Suche nach den Steinen vereinbaren sollte. Unter Umständen sollte sie mal genauer nachschauen, wie oft sie es sich leisten konnte zu fehlen. Sie musste die Scharade nur so lange mitmachen, wie sie auf der Spur der nächsten zwei Steine kommen würde. Bei der Situation mit Raffael würde sie nicht an der Schule bleiben müssen.

Die Frau lachte nach einem kurzen Zögern und Etienne folgte ihr dann die vielen, so vielen, Treppenstufen hinauf. Es überraschte Etienne, dass Miss Arvon nicht aus dem Atem kam. Anscheinend musste sie mehrmals am Tag laufen.

Tumult brach aus, als eine Tür zu ihrer Rechten aufgestoßen wurde und drei Schüler herausfielen. Beinahe hätte einer von ihnen Etienne in seinem Fall mitgerissen, doch sie schaffte es, ihm auszuweichen. Als er mit dem Gesicht auf dem Boden landete, spürte sie schlechtes Gewissen. Sie hätte ihm helfen sollen, doch ihr erster Impuls war es, zurückzuweichen. Als er den Kopf hob und sie erschrocken anblickte, lächelte Etienne ihn an, „Alles in Ordnung?“

Er errötete und sah aus, als würde er am liebsten im Boden versinken. Die anderen beiden beeilten sich, ihm aufzuhelfen.

Miss Arvon trat an sie heran und Etienne konnte trotz des Lächelns der Frau sehen, wie der Zorn in ihren Augen aufleuchtete, „Sind wir schon wieder am Schwänzen, Keyen, Walo und Quinn?“

Die Jungen sprangen in verschiedene Richtungen davon. Sie drehten sich nicht mal um. Etienne blinzelte verwirrt über die schlagartige Flucht. Die Sekretärin schob wütend ihre Brille zurecht und atmete tief durch, „Verzeih diese Störung. Das ist leider öfters der Fall als es sein sollte. Nur kommen sie damit durch, weil ihre Noten passen. Auch wenn Keyen sehr knapp an der Grenze ist.“

Etienne lächelte verunsichert und folgte der Dame weiter durch die Flure, während diese sich über die Schüler ausließ. Sie vermerkte in ihrem Kopf, wie vieles von den Noten abhing. Sie würde sich sicherlich das eine oder andere erlauben können, zumindest für die Dauer ihres Aufenthalts.

„Voila!“, sagte Miss Arvon nach einer Weile, wieder glücklich und am Strahlen. Sie klopfte an die Tür, „Deine Klasse.“

Damit verließ sie Etienne, die ihr nachdenklich hinterherschaute. An einer Abzweigung des Ganges sah Etienne ehrfürchtig zu, wie die Hand der Frau zur Seite schellte und kräftig einen Jungen an seinem Ohr hinter der Wand hervorholte und ihn dann unbarmherzig mit sich zog. Es war einer von vorhin. Die schlagartige Flucht ergab auf einmal Sinn. Die Tür wurde aufgerissen und Etienne wurde von einer kräftigen Hand hineingezogen. Sie verlor vor Überraschung das Gleichgewicht, wurde jedoch von einem kräftigen Griff oben gehalten. Die große Person zog sie ins Zimmer. Neue Gesichter blickten ihr entgegen und zwei davon grinsten. Scarlett saß hinter Raffael und sah Etienne mit großen Augen an, welche anschließen, vor Erkenntnis noch größer wurden. Neben Raffael saß einer der Jungen, der ihr in der Halle vor die Füße gefallen war und Etienne fragte sich, ob das die Vorhut zum Ausspähen war.

Zu ihrer Freude waren ihr auch andere bekannt. Die Klasse war in vier Teile aufgeteilt. Etienne entdeckte schnell die zierliche, geisterhafte junge Frau, welche sie am Vortag in der Schneiderei gesehen hatte. Auch sie musterte Etienne neugierig, doch sobald sie ihren Blick bemerkte, senkte sie den ihren und duckte sich regelrecht hinter einem Riesen. Anders wusste Etienne ihn nicht zu beschreiben. Es fühlte sich an, als würde allein seine Präsenz den ganzen Raum erfüllen und das lag zum einen an seiner Größe, zum anderen an der Menge seiner Muskeln, welche durch seine Kleidung deutlich zu sehen waren. Er schien genervt zu sein, während er sie gelangweilt von oben bis unten musterte und dann den Blick abwandte. Etienne war sich sicher, er könnte Löcher in Wände zu schlagen. Sie saßen in der Nähe des Lehrerpultes im vorderen Teil der Klasse, nah an den Fenstern. Eine in sich geschlossene kleine Gruppe. Von diesen gab es noch zwei weitere und Anaki, der allein ganz hinten bei den Fenstern saß. Dieser Platz gehörte wohl den Neutralen, von denen keine Gefahr ausging und welche wahrscheinlich auch keine Gefahren zu fürchten hatten.

Ebenfalls hinten, neben einer zweiten Tür, welche in das Klassenzimmer führte, saßen zwei der drei Menschen, die Etienne in der Buchhandlung gesehen hatte. Die junge Frau, mit den kurzen schwarzen Haaren und der junge Mann, welcher hinter ihnen an der Wand saß. Neben ihnen waren zwei weitere Schüler, die Etienne nicht bekannt vorkamen. Sie würde später herausfinden, wer von ihnen den Kontakt zum nächsten Stein hatte. Dass sie zwei von den drei potenziellen Menschen, die eine Verbindung zum Austreibungsrelikt haben könnten, in einer Klasse hatte, erleichterte ihr die Suche schon mal ungemein. Langsam stieg in ihr jedoch die Vermutung auf, das Tatinne dies bereits gewusst hatte.

Und dann war noch der Lehrer. Von all den Eindrücken, welche sie in der kurzen Zeit gesammelt hatte, verlangte er die größte Aufmerksamkeit von ihr. Er schlug ein wie eine Bombe, indem er zu reden anfing und Etienne diese kurze Zeit in einem schnellen und lautem Wortschwall verbracht hat, dass ihr die Ohren zu schmerzen anfingen. Selbst Catjill, der bisher friedlich an ihrer Schulter geschlafen hatte, war aufgewacht und sah mit angelegten Ohren unverwandt zu ihm. Am Ende der Rede, die sie beinahe zwanghaft ignoriert hatte, schlug ihr der Lehrer mit der flachen Hand auf den Rücken und sagte schallend lachend, „Stell dich vor!“

Etienne stolperte beinahe nach vorne, überrascht von der Kraft, die sie nicht erwartet hatte. Er war groß, hatte kurzes schwarzes Haar, sehr muskulös gebaut, auch wenn nicht so, wie der Riese im Raum. Dennoch spürte sie das Brennen seines Schlages noch immer zwischen den Schulterblättern. Er grinste sie mit seinen perfekten Zähnen an und überkreuzte die gebräunten Arme vor der Brust. Sein gelbes Shirt war zerknittert und seine Shorts war strahlend grün. Zu ihrer noch größeren Verwirrung war er barfuß. Etienne lächelte zurück und verspürte zum ersten Mal das Bedürfnis, zurückzuschlagen. Dann wischte sie alle Gefühle beiseite und lächelte ihr bestes Lächeln, „Mein Name ist Etienne. Ich bin siebzehn Jahre alt. Ich habe keine Hobbys. Aber als Nebenjob betreibe ich Exorzismus. Nett euch kennenzulernen!“

„Willkommen! Anscheinend haben wir ein neues jüngstes Küken“, sagte Cruz lachend, „Herzlichen Glückwunsch Elias, du wurdest abgelöst.“

Der junge Mann aus der Buchhandlung lächelte seinem Lehrer kurz zu. Etienne erkannte den Namen, als den des stellvertretenden Herrschers der ersten Provinz.

„Etienne also“, meinte ein anderer Junge bei Gilgian. Sie bemerkte einen wachsamen Blick von Raffael in deren Richtung. Das Mädchen neben Elias flüsterte ihm irgendetwas zu. Etienne spürte eine Spannung im Zimmer, die ihre eigene wiederspiegelte. Alle schienen etwas zu wissen, sie selbst konnte es jedoch nur erahnen. Etienne vermerkte weiter in ihrer imaginären Liste, dass sie ihre Tante später ausfragen sollte, was genau sie den jeweiligen Herrschern über ihre Vorhersehung gesagt hatte. Wenn sie, wie Raffael, Etienne als Gegenstand der Vorhersagung betrachten würde, könnte das ihren Zugang zu den Steinen einschränken. Ihre Tante hatte ihr nur oberflächlich davon erzählt und Etienne nahm dies nicht allzu ernst. Es konnte sich nicht um sie handeln. Sie musste nur noch Raffael und die Anderen davon überzeugen. Oder sich die Steine besorgen und verschwinden, dann konnte sie das mit dem Überzeugen überspringen, was ihr als die deutlich attraktivere Lösung vorkam.

Plötzlich wurde die Tür aufgerissen. Der Direktor stand tobend im Raum, brüllte sie alle an und gestikulierte wild mit den Armen. Etienne vernahm einige wütende Worte Richtung Elias und Raffael, anschließend wurden Papiere auf den Tisch des Lehrers geworfen. Cruz lachte und seine Hand berührte ihren Rücken. Er deute ihr, sich einen Platz herauszusuchen und schob sie Richtung Klasseninnenraum, während der Direktor weiter brüllte, irgendwas davon erzählte, dass die Schule ihm gehörte, dass sie sich im letzten Jahr zu viel bei ihm herausgenommen hatten. Doch die gespielt-ernsten Ausdrücke in den Gesichtern der Schüler zeigten ihr, dass sie nicht viel auf seine Worte gaben. Etienne kam der Gedanke, dass wenn sie sich auf die gute Seite des Direktors stellte, er sich sicherlich hier und da als eine gute Ressource gegen Raffael darstellen könnte. Sie ging an ihnen vorbei, zu dem leeren Platz neben Anaki. Etienne hatte die Sitzordnung bereits vermutet und sich fest vorgenommen, die neutrale Seite des Raumes zu besetzen. Schnurstracks ging sie zu Anaki und setzte sich neben ihn, wählte die Fensterseite.

„Vielen Dank für gestern“, flüsterte sie ihm zu, hoffte, dass er ihre leise Stimme durch das Toben des Direktors hören würde.

Er nickte ihr lächelnd zu, „Willkommen. Das wird wahrscheinlich eine Weile dauern, also nimm es als Anlass, dich an das Chaos zu gewöhnen.“

Etienne sah wieder nach vorne zur Klasse. Mittlerweile hatte Cruz die Zettel in die Hand genommen und sah sie durch. Einige schienen Briefe zu sein. Nach einigen Minuten wurde die Tür zugeworfen und es gab einige Momente Stille, welche sich im Vergleich zum Gebrüll von vorhin, als viel zu ruhig anfühlte.

Cruz fing an, lachend die Namen vorzulesen, welche auf den Briefen oder den Zetteln standen. Etienne verstand nicht ganz, was vor sich ging.

Sie sah sich die anderen Schüler, im Versuch an deren Ausdrücken etwas über die Situation zu erfahren, und entdeckte einen wachsamen Blick von Raffael. Seine Wange in die Hand gestützt sahen seine Augen sie kalkulierend an und Etienne fühlte sich schlagartig bedroht. Doch dann verflog dieser Gesichtsausdruck, als er ihren Blick bemerkte, und er zwinkerte ihr grinsend zu. Von diesem gespielten Ausdruck würde sie sich jedoch nicht mehr täuschen lassen. Im Château hatte sie gedacht, er wäre ein zu leichtsinniger Abenteurer gewesen, welcher mit seinen Kameraden keine wirkliche Ahnung davon hatte, wo sie gelandet waren.

Raffael wandte sich dem Lehrer zu, der ihm einen Brief entgegenhielt. Er öffnete ihn und las ihn durch. Plötzlich lachte er schallend auf und blickte zu Elias, „Du willst einen Krieg erklären?“

Elias lehnte sich mit verschränkten Armen zurück und hob eine Braue, „Wie kommst du darauf?“

„Was? Kneifst du jetzt?“, erwiderte Raffael. Er knüllte das Blatt zusammen und warf es nach Elias.

Der Schüler, eine Reihe vor Elias, der eine große, runde Brille hatte, fing das zerknüllte Blatt ab.

Cruz lachte, „Wollt ihr euch wieder die Köpfe einschlagen?“

„Lass sie doch, haben wir zwei inkompetente Plagen weniger“, meinte Gilgian.

„Ich bin kompetenter als du und das in jeglicher Hinsicht“, sagte Raffael zu ihm.

Anaki lachte und flüsterte Etienne zu, „So läuft es jeden Tag ab.“

„Ah“, meinte Etienne, die solch eine Unordnung und Desorganisiertheit, gebunden mit mangelnder Disziplin, in einer Bildungseinrichtung gar nicht gewohnt war.

Als es eine Weile später zur Pause klingelte, schossen die Meisten aus dem Raum. Unter ihnen waren es die Gruppen von Elias und Gilgian. Meta folgte ihm mit gesenktem Blick und Abstand zu allen anderen Klassenkameraden.

Etienne blinzelte und lehnte sich zurück, „Das war eine Zeitverschwendung.“

Anaki lachte, „So ist es. Du musst dir alles selbst erarbeiten. Zumindest bei Cruz.“

Etienne seufzte und holte eine Packung Süßigkeiten heraus.

„Wie zum Henker hast du es so schnell hierher geschafft?“, fragte Scarlett während sie langsam zu ihr herüberkam, „Es waren was? Zwei Tage?“

Etienne lächelte und hielt ihr die Packung hin, „Willst du auch was?“

„Nein, danke“, sagte sie. Ihre langen Haare fielen ihr diesmal glatt über den Rücken und mit ihren vollen Lippen, welche einen braunen Lippenstift trugen, und den markanten Gesichtszügen sah sie aus, wie eine aus Marmor geschlagene Statue.

„Ich würde etwas nehmen“, meinte Raffael, welcher ihr gefolgt war. Sie stellte fest, dass sie Ähnlichkeiten miteinander hatten und es nervte sie. Raffael nahm sich einen Stuhl und setzte sich auf die andere Seite von Anakis und Etiennes Tisch.

„Ich tausche die Packung für den Stein.“

„Nein.“

„Dann brauchst du gar nicht erst anzukommen“, erwiderte Etienne und gab Anaki die Packung, als er ihr fragend die Hand entgegenstreckte. Er verfolgte still die Konversation, sein Blick schoss wachsam zwischen seinen Mitschülern.

Raffael sah kritisch zu Anaki, „Und er kriegt was ohne Gegenleistung?“

„Das ist ein Dank dafür, dass er so hilfsbereit zu mir war“, sagte Etienne und fragte sich, wie die Beziehung zwischen den beiden war. Anaki schien Raffael gegenüber nicht wachsam oder vorsichtig zu sein, stattdessen lachte er und bot Raffael die Packung an, welcher diese jedoch ablehnte. So sehr schien er also gar nicht daran interessiert zu sein.

„Wie habt ihr euch kennengelernt?“, fragte Scarlett, welche sich gegen den Fenstersims lehnte.

„Wir haben uns gestern zufällig in der Stadt getroffen“, antwortete Anaki und aß die kleinen Bonbons, von welchen Etienne sich sicher war, dass sie mit Honig überzogen waren.

„Die sind richtig gut“, sagte er.

„Kommt ja auch aus meiner Provinz“, sagte Raffael.

„Du kannst sie behalten“, sagte Etienne und entschloss sich, diese nicht mehr zu kaufen, „Genau genommen habe ich dir ein paar mehr geholt. Ich hoffe, du hast es gestern pünktlich zurückgeschafft.“

Sie packte die anderen zwei Packungen aus ihrer Tasche und er lachte, „Das ist nicht nötig, Etienne. Und ja, der Weg ist nicht sehr lang.“

„Warst du gestern wieder arbeiten?“, fragte Scarlett, „Ich dachte du hattest was mit deinen Geschwistern vor.“

Etienne holte noch eine Packung heraus.

„Wie viele von denen hast du?“, fragte Raffael.

„Leider nicht genug, um dir was abzugeben“, erwiderte sie und stand auf, „Ich wünsche den meisten von euch eine schöne Pause.“

„Sie scheint dir gegenüber ja richtig nett eingestellt zu sein“, hörte sie Scarlett sarkastisch sagen, „Was hast du angestellt?“

Sie beeilte sich aus dem Raum zu kommen und war erleichtert, keine Blicke mehr in ihrem Rücken zu spüren. Sie stupste Catjill mit ihren Fingern an und fragte ihn, „Wo soll ich hingehen?“

Der Djinn rührte sich und spitzte dann die Ohren. Er schwieg für einen Moment und Etienne folgte dem Gang entlang zu den Treppen. In diesem Stockwerk gab es niemanden mehr, außer ihr. Von der Treppe drangen dumpfe Stimmen zu ihr empor.

Der Djinn gähnte und sagte schließlich, „Gehe zu der ersten Bibliothek, welche diese dauernd plappernde Frau dir gezeigt hat.“

„Vielen Dank“, sagte Etienne. Etienne folgte den Gängen und ignorierte die neugierigen Blicke der Jugendlichen. Catjill sah sich gelangweilt um und knurrte ab und zu unzufrieden über die Erschütterungen, als sie die Treppen hinunterlief. Etienne ging zielstrebig den Weg entlang, den sie sich gemerkt hatte, bis sie durch die Türen der Bibliothek treten konnte. Seltsamerweise befand sich hier niemand. Der Geruch nach Büchern und Papier überströmte sie und Etienne atmete tief durch. Es war angenehm still hier, eine beinahe beruhigende Stille im Kontrast zu den Geräuschen der fremden Menschenmengen, an denen sie vorbeigelaufen war und dessen neugierigen Blicke sich in sie gebohrt hatten. Sie ging tiefer in die Bibliothek und bemerkte schnell doch noch jemanden. Das blasse Mädchen aus ihrer Klasse. Sie wurde von Cruz mit dem Namen Meta angesprochen. Sie ging zu ihr herüber und betrachtete über ihre Schulter das Buch, das sie las.

„Lernst du eine alte Sprache?“, fragte Etienne dann lächelnd. Meta schrie auf und wirbelte im Stuhl zu ihr herum. Etienne lächelte entschuldigend und trat mit versöhnlich erhobenen Händen zurück, „Tut mir Leid.“

Sie sah Etienne mit ihren großen grauen Augen erschrocken an und sagte atemlos, „E-es tut mir leid. Ich wollte nicht schreien.“

„Nein, nein, ich muss mich entschuldigen. Ich hätte mich nicht so anschleichen sollen.“

In der Bibliothek hatte eine solch ruhige Atmosphäre, dass Etienne das Bedürfnis verspürt hatte, ebenfalls ruhig zu sein. Es war aber nicht ihr Ziel gewesen, Meta zu erschrecken. So hatte sie sich ihren ersten Eindruck nicht vorgestellt.

Meta sah wieder zu ihrem Buch. Sie hatte ihre Hand gegen ihre Brust gepresst und Etienne war verwundert über diese Schreckhaftigkeit. Das konnte doch nicht nur an ihr liegen?

„Ist wirklich alles in Ordnung?“, fragte Etienne besorgt. Sie wollte ihr beim ersten Treffen keinen Herzinfarkt bescheren. Dies würde ihr beim Erreichen ihres Zieles wirklich nicht helfen und das arme Mädchen sollte auch nicht so früh ableben müssen. Immerhin hatte sie aber einen ersten kleinen Eindruck von ihr gewinnen können. Sie war still und ruhig, schien aufmerksam im Unterricht gewesen zu sein. Sie schien aber auch schreckhaft und unsicher. Leicht einzuschüchtern.

„Das ist Sanskrit, nicht wahr?“

Etienne deutete auf ihr Buch. Meta blickte verwirrt zu diesem und dann wieder zu Etienne. Sie antwortete ihr nicht direkt, sondern sah sie weiterhin erschrocken an. Dann wanderten ihre Augen zu Catjill und Etienne hielt die Luft an. Sie starrte ihn an, als würde sie nicht verstehen, was ihr da entgegenblickte. Auch Catjill fing nach einem Moment nervös mit seinem Schwanz zu zucken.

Dann packte Meta das Buch, stand auf und sagte mit bebender Stimme, „Es tut mir leid, aber ich muss los.“

Sie rannte davon.

Ungläubig blickte Etienne ihr hinterher. Sie wusste nicht, wie sie damit umgehen sollte. Catjill schnaubte lachend an ihrer Schulter und sie wusste, er lachte sie aus.

„Ich habe gewonnen“, sagte er selbstzufrieden.

„Das Wettstarren?“, fragte sie ihn und lief ihr nach. Sie entdeckte Meta einige Gänge weiter. Sie hockte vor einer Wand, und hielt in der einen Hand ihre Tasche dicht an die Brust gedrückt. Mit der anderen Hand stützte sie sich gegen die Wand ab. Etienne wusste nicht so recht, wie sie diese junge Frau ansprechen sollte. Kurz fragte sie sich, ob sie Catjill vorschicken sollte. Ein kuscheliger Kater würde sie doch sicherlich beruhigen können. Und vielleicht wäre es auch eine gute Idee gewesen, wenn es nicht diese Reaktion gegeben hätte. Wie hatte Meta ihn überhaupt so deutlich wahrgenommen? Und wieso lief sie vor Etienne weg? Sie verstand immer noch nicht so ganz, was sie falsch gemacht hatte. Etienne wusste aber, dass wenn sie jetzt zu ihr treten würde, sie wahrscheinlich wirklich an einem Schrecken sterben würde.

Mit einem Blick auf die Uhr, welche das langsame Ende der Pause ankündigte, zwang sie sich dazu, die letzten Minuten zu nutzen. Doch Catjill hielt sie davon ab, „Warte ab.“

Aus einem anderen Gang waren lachende Stimmen zu vernehmen. Etienne sah, wie sich Meta versteifte und dann aufrichtete. Es kamen vier Schüler um die Ecke. Einen von ihnen erkannte Etienne als Crom, Raffaels Begleiter im Château de la Fortune. Er war mit drei weiteren, wie Etienne vermutete, Klassenkameraden unterwegs, welche alle die Uniform in denselben Mustern trugen, welche anders waren, als die von Meta und ihr.

Tiefere Klassen, dachte Etienne.

„Oh Gott, ein Geist!“, rief einer von ihnen aus und deutete auf Meta, welche einen Schritt zurücktrat. Die anderen lachten. Crom verdrehte die Augen, „Können wir nicht einfach weitergehen?“

„Gleich, warte einen Moment“, erwiderte ein Dritter.

Crom seufzte und lehnte sich etwas Abseits an die Wand, „Ich will damit echt nichts zu tun haben. Lasst uns einfach gehen“, sagte er, machte jedoch keine Anstalt seine Klassenkameraden zum Weitergehen zu bewegen. Einer seiner drei Klassenkameraden blieb bei ihm stehen, die anderen beiden traten zu Meta.

Meta trat ein Paar weitere Schritte zurück.

Die zwei Jungen lachten. Dann sprang einer von ihnen nach vorne und zog an einer ihrer hellblonden Strähnen, „Bleichst du dir mit Absicht das Haar, um noch mehr einem Geist zu gleichen?“

Etienne dämmerte es. Das war also das Problem gewesen. Wahrscheinlich auch der Grund, weshalb sie so schreckhaft war. Trotz der Belästigung ihrer Schulkameraden, schwieg sie. Sie wehrte sich kaum und blickte ihnen auch nicht in die Augen und das, obwohl ihr Kopf von seinem Griff geneigt war und das Ziehen Schmerzenstränen in ihre Augen trieb.

Einer der beiden riss Meta das Buch weg und blätterte es durch, „Was ist das schon wieder für ein Schwachsinn?“

„Du solltest aufpassen, dass sie nicht nach Wegen sucht, dich zu verfluchen“, meinte der Junge, der neben Crom stand und das ganze ebenfalls aus der Ferne beobachtete.

Etienne musste beinahe lachen. Um jemanden zu verfluchen, war deutlich mehr nötig, als eine alte Sprache. Diese Menschen hatten keine Ahnung. Genau so, wie sie es von einem Bewohner von Calisteo erwartet hatte.

„Bitte gibt das wieder her“, sagte Meta leise und versuchte nach dem Buch zu greifen. Sie war aber um so vieles kleiner als die beiden.

„Was hältst du davon, die beiden zu erschrecken?“, fragte Catjill mit voller Tatendrang in seiner Stimme.

„Du machst gar nichts“, ermahnte sie ihn warnend. Er würde wahrscheinlich tief in die Zauberkiste greifen, um seinen Worten Taten folgen zu lassen und es gab keinen Grund, noch mehr Menschen auf ihn aufmerksam zu machen. Mal abgesehen davon fürchtete sie sich vor dem Chaos, das er auslösen könnte. Sie würde das selbst machen.

Etienne trat von hinten zu ihnen und riss ihm das Buch aus der Hand. Er fuhr erschrocken zu ihr herum, seine schwarzen Haare, welche zu einem Zopf gebunden waren, schlugen ihr beinahe ins Gesicht.

„Von wo zur Hölle kommst du her?“

„Aus diesem Gang dort hinter mir“, sagt sie. Dann wandte sie sich an Meta, „Ich habe dich schon gesucht. Ich hatte gehofft, wir könnten gemeinsam wieder hochgehen?“

Als sie den schmerzerfüllten Ausdruck in ihrem Gesicht sah, verspürte sie schlagartig das Bedürfnis, es zurückzuzahlen. Ihr Vater hatte ihr beigebracht, dass es immer ihre Pflicht war, die Schwachen zu beschützen. Es war eine kompromisslose Regel. Und dann setzte das schlechte Gewissen ein. Wenn sie vorher zu ihr getreten wäre, dann wäre sie jetzt nicht in dieser Situation.

Etienne lehnte sich zu Meta und flüsterte laut, „Vielleicht müssen wir uns dann nicht mit diesen Versagern abgeben?“

„Und wer zum Teufel bist du, um so mit mir zu reden?“, rief derjenige, der Meta am Haar hielt. Meta schlug seine Hand weg, doch er schien es nicht mal zu bemerken, als er sich an Etienne wandte. Einzelne Haare wurden zwischen seinen Fingern mitgezogen und fielen zu Boden.

„Ich bin Etienne“, antwortete sie ihm. Er hatte kein so langes Haar, wie der andere. Aber vielleicht konnte sie auch ein paar herausreißen? Und dann kam ihr eine bessere Idee. Vielleicht könnte sie einen Fluch weben, welcher ihn nach und nach die Haare verlieren lassen würde? Sie müsste vorher nur kalkulieren müssen, inwieweit sie sich das leisten konnte. Fluchfarbe war nicht günstig.

„Du schon wieder?“, rief Crom aus und trat zu ihnen nach vorne.

Froh über ein weiteres Opfer, schnappte Etienne theatralisch nach Luft, „Oh nein! Der nächste Versager tritt dazu.“

„Was wird das jetzt?“, rief Crom beleidigt aus.

„Ich spreche dich nur so an, wie du es verdient hast“, sagte Etienne lachend, „Wer hätte gedacht, dass Raffaels kleiner Freund sich zur Seite stellt, wenn eine junge Frau in Bedrängnis gerät. Vielleicht hast du es ja von ihm gelernt? Was sagt das nur über ihn aus?“

Crom bekam große Augen, „Er hat damit nichts zu tun. Und ich hab nichts gemacht!“

„Du hast ein schutzloses Mädchen zwei Jungen ausgeliefert. Das nennst du nichts?“, fragte sie.

Crom verzog das Gesicht, „Was kümmert die dich überhaupt?“

Etienne ließ ein strahlendes Lächeln raus, „Sie ist meine neue Klassenkameradin.“

Die Blicke wanderten zu ihrer Uniform. Es war kurz still, dann sprangen die drei Jungen vor sie, „Du bist die neue Schülerin?“

Etienne nickte.

Die Aufregung schien sie zu übermannen und die zuvor angespannte Situation war vergessen. Sie bemerkte, wie Meta sich vorsichtig und leise hinter sie stellte und Etienne verspürte bei dem plötzlichen Interesse ebenfalls das Bedürfnis, etwas zwischen sich und die drei zu bringen.

„Wie hast du den Test geschafft?“, fragte einer von diesen aufgeregt.

„Wie heißt du?“, fragte der Nächste, bevor Etienne auf die erste Frage antworten konnte. Crom stieß alle Drei beiseite, „Das ist nicht möglich, dass du schlauer bist als ich! Wie zur Hölle hat ein Idiot wie du es in die höhere Klasse geschafft?“

„Scheint, als wäre ich sehr viel schlauer als du“, erwiderte sie.

Crom verzog das Gesicht, „Das ist ein Witz.“

Raffaels Lachen erklang hinter ihnen, „Das dachte ich auch! War gerade auf der Suche nach dir, um die Neuigkeiten zu überbringen.“

Crom sah ihn aus großen Augen an. Die anderen Drei standen still hinter ihm. Einer blickte schuldbewusst zur Seite, die anderen zwei waren sichtlich glücklich, ihn zu sehen. Auch Etienne verspürte eine stille Erleichterung darüber, nicht mehr Fokus der Aufmerksamkeit zu sein.

„Was geht hier vor?“, fragte Raffael dann interessiert.

„Du hast sehr gemeine Freunde, Raffael. Du enttäuschst mich“, sagte Etienne, in voller Absicht ihm das Ganze in die Schuhe zu schieben. Crom wirbelte erschrocken zu ihr herum, ebenso wie einige seiner Klassenkameraden.

Etienne würde sich davon nicht ablenken lassen. Das war nun ihre Möglichkeit, einige Sachen wieder geradezubiegen. Anstatt nun sorgsam darauf zu achten, ihm fair zuzuhören, um vernünftige Gespräche zu führen, würde sie stattdessen auf Angriff gehen.

Er sah lächelnd zu ihr, „Wieso ich?“

„Weil es deine Freunde sind. Bist du auch ein Mädchenschläger? Oder schaust du dem gerne zu? Und dann auch noch der dreiste Diebstahl des Buches. Ah, ich sehe, daher auch der Diebstahl an mir.“

„Etienne, lass es“, hörte sie Meta hinter sich kaum zu vernehmen sagen.

„Davon ist überhaupt nichts der Fall!“, rief Crom aus.

Raffael blinzelte sie verwirrt an und sagte ernst, „Ich hab noch nie jemand wehrlosen geschlagen. Ich schaue auch nicht dabei zu. Und ich stehle auch nicht.“

„Und ein gemeiner Lügner auch noch? Enttäuschend, wirklich enttäuschend.“

„Ich lüge nicht“, verteidigte er sich und grinste sie dann an, „Oder kannst du es beweisen?“

Anstatt es ihm zu erlauben, sie in die Verteidigungsposition zu bringen, ließ sie ihrer Kreativität freien Lauf, „Du hast meinen Stein gestohlen, also hast du gestohlen und somit bist du ein Dieb, so ist auch die Behauptung du würdest nicht stehlen eine Lüge, weswegen du auch ein Lügner bist.“

„Ich dachte wir sind uns einig geworden, dass ich den Stein ganz ehrlich erlangt habe?“, erwiderte er.

Etienne schnippte mit den Fingern, „Ich hab meine Meinung geändert.“

Sie hatte nach dem gestrigen Tag festgestellt, dass sie sich nur auf sein Spiel einlassen würde, wenn sie versuchte für Ordnung zu sorgen. Also hatte sie sich dazu entschlossen, das Chaos übernehmen zu lassen. Er könnte sie nicht an Verträge oder Versprechen binden, wenn sie ihm zeigte, dass er sich in diesen Fällen nicht auf sie verlassen konnte. Es war zwar in den heutigen Zeiten keine gute Taktik, sich als ein nicht zuverlässigen Partner zu etablieren. Aber das machte bei ihr keinen Unterschied mehr. Mal abgesehen davon, war sie kein Provinzherrscher. Er schon. Er musste zeigen, dass sein Wort galt. Sie nicht.

Raffael verzog das Gesicht, „So einfach funktioniert das nicht.“

„Natürlich. Ich habe gründlich darüber nachgedacht und das ist die einzig mögliche Schlussfolgerung.“

Catjill lachte.

Einer der Jungen schrie auf, „Die Kater lebt?“

Etienne kraulte den Djinn hinter dem Ohr, „Es ist ein Djinn. Und er kann reden.“

Raffael seufzte, als Etienne lachte, „Los Meta. Gehen wir zurück in die Klasse.“

Damit drehte sie sich um und Meta folgte ihr, wobei sie sich hinter Etienne zu ducken schien.

„Was zur Hölle macht die hier?“, fragte Crom Raffael aufgebracht. Etienne konnte noch vernehmen, wie die anderen Schüler sich bei ihm entschuldigten und anfingen, die Situation zu erklären, bis sie um die Ecke gegangen waren und die Stimmen kaum noch vernehmen konnte.

„Ah, diese Schule ist ganz schön gefährlich“, meinte Etienne lachend zu Meta.

„Ich…danke“, sagte Meta leise.

Etienne drehte sich zu ihr und lief rückwärts, „Keine Ursache. Du kannst also Sanskrit lesen?“

„N-Nein. Ich versuche es zu lernen“, sagte sie scheu, „Ich hatte das Buch heute zum ersten Mal in der Hand.“

Etienne grinste und entschloss sich, ihr Wissen mit Meta zu teilen, „Oh da liegt aber ein langer Weg vor dir. Sanskrit ist sehr, sehr tot. Dafür, dass es eine Sprache der alten Welt ist, und ich meine die wirklich alte Welt, hat sie sich aber als erstaunlich hilfreich in der Neuen entpuppt.“

„Kannst du Sanskrit?“, Etienne stellte fest, dass es sie anscheinend viel Mut gekostet hatte, diese Frage zu stellen. Sie beäugte Meta wachsam und diese blickte wie euch scheues Reh zu ihr.

Etienne machte es ihr leichter und ließ etwas Raum, eher sie Antwortete, „Vielleicht ein bisschen? Meine Familie benutzt sie gerne, weswegen ich wohl hier und da ein Sonderfall bin, der etwas kann. Gibt es hier in der Schule Möglichkeiten, sie zu lernen?“

„Wir haben eine außerschulische Gruppe, welche diese Sprache lernt. Sie sind wirklich beeindruckend. Ich wünschte, ich könnte mit ihnen lernen. Sie machen das so einwandfrei“, sagte Meta lächelnd und Etienne freute sich, dass sie so sehr von dieser Sache gebannt war, dass sie ihre Angst langsam zu vergessen schien.

„Sicher, dass sie das so einwandfrei können? Habt ihr einen anerkannten Sanskritübersetzer hier?“, fragte Etienne.

Meta schien zu zögern und antwortete dann, „Nein. Zumindest niemanden, der von allen Städten anerkannt wurde. Aber wir haben einige Lehrer hier, welche auf dem Weg sind, die Anerkennung zu bekommen.“

„Ich bin gespannt, diese Lehrer mal kennenzulernen“, sagte Etienne, „Ich habe ein wirklich großes Interesse an den verschiedenen Sprachen.“

Meta lächelte sie schüchtern an, „Ich auch. Vor allem die alten Sprachen.“

Etienne lächelte zurück, überrascht von dem neu erkannten, gemeinsamen Interesse. Vielleicht könnte sie sich mit ihr austauschen? Außerhalb ihrer ganzen anderen Planungen. Die Klingel läutete. Sie betrat ihre neue Klasse.

Plötzlich krachte eine große Faust neben ihrem Kopf in den Türrahmen und sie sah eingeschüchtert in zwei argwöhnische goldene Augen.

„Was zur Hölle hast du bei meiner Schwester verloren?“, fragte Gilgian sie.

„Gilgian-“, begann Meta, welche sich noch schnell mit der Hand über die Haare strich, welche zuvor so grob gepackt worden sind.

Getrieben von ihrem Instinkt strahlte Etienne ihn mit ihrem breitesten Lächeln an und versuchte ihre Nervosität zu überdecken, „Sie ist meine neue Freundin! Ich würde mich auch so sehr freuen, wenn wir das auch sein könnten.“

„Was?“, fragte er stirnrunzelnd. Meta errötete leicht. Sie sah überrascht zu Etienne, hatte etwas hoffnungsvolles und verletzliches in ihrem Ausdruck.

„Auf die Plätze!“, schrie plötzlich eine Frauenstimme.

Etienne entdeckte am Pult eine sehr streng aussehende ältere Dame. Ihre scharfen Augen schienen Funken zu sprühen, als sie Etienne betrachtete, „Die Neue, nehme ich an? Etienne. Richtig?“

„Wow“, meinte Raffael, als er hinter ihr in die Klasse trat und Gilgians Hand neben Etiennes Kopf entdeckte.

Die Lehrerin betrachtete sie streng, „Auf die Plätze.“

Raffael grinste sie an, „Ganz ruhig.“

Etienne setzte sich neben Anaki, welcher sie besorgt betrachtete. Die streng aussehende Frau ließ sich über Raffael aus.

Während dem Unterricht überlegte sie sich, was ihre beste Vorgehensweise im Hinblick auf Meta und den Stein sein sollte. Sie entschloss sich, nicht zu lange mit dem Handeln zu warten. Der Djinn hatte ihr eine Gelegenheit geboten, eine gute Beziehung zu Meta aufzubauen. Da Gilgian ihr gegenüber misstrauisch war, sollte sie besser schnell agieren. Sie glaubte nämlich nicht, dass sie in kurzer Zeit Gilgian auf ihre Seite ziehen könnte.

Sie blickte zu Meta und beobachtete sie dabei, wie sie aufmerksam der Lehrerin zuhörte und fleißig mitschrieb. Ob sie auch das Interesse hatte in die Administration zu gehen? Oder vielleicht in eine andere Stadt? Sie hatte noch nicht genug herausgefunden, um sich einen Plan zurechtzulegen, wie sie Meta davon überzeugen sollte, ihr zu helfen. Sollte sie also etwas mehr Zeit mit ihr verbringen, bevor sie sie fragen würde? Gilgian könnte ihr da jedoch in den Weg kommen.

Als sie einen Blick auf sich spürte, blickte sie zu Raffael und sah ihm direkt in die Augen. Er sah sie wachsam an und dann wanderte sein Blick zu Meta, verweilte dort kurz, eher er wieder fragend zu ihr zurückkehrte. Sie verstand nun sehr gut, weshalb Tatinne ihn eine Plage nannte.

Etienne sah nach vorne an die Tafel und hoffte, dass dieser qualvolle Unterricht bald vorbeigehen würde. Es fühlte sich wie eine Zeitverschwendung an. Immerhin hatte sie sich aber dazu entschlossen, noch direkt an diesem Tag zu handeln. Es war ein Problem, wenn sie Gilgian nicht überzeugen könnte, ihr gegenüber nicht so wachsam zu sein. Damit würde sie zurechtkommen. Was ihr jedoch ihr Vorhaben sprengen könnte, wäre es Raffael genug Zeit dafür zu geben, genau dies zu tun.

5.

Als Etiennes erster Schultag endete, war sie leicht deprimiert. Madamme O'Donnel war eine sehr strenge Lehrerin. Ihr Fach schien ihr Stolz zu sein und wenn dies nicht so von der Schülerseite erwidert wurde, dann nahm sie es persönlich. Und obwohl die Stunden eine Weile zurück lagen, saß das furchtbare Gefühl, der Wut dieser Frau ausgesetzt zu sein, tief in ihrer Brust.

„Sie hasst mich“, jammerte sie.

Anaki lachte, „Wieso schläfst du auch in ihrem Unterricht? Das war dein erster Schultag und die ersten Stunden bei ihr. Einen noch schlechteren Eindruck hättest du nicht machen können.“

„Aber es war so langweilig.“

„Es war nur Mathe. Hättest jederzeit fragen können, wenn du es nicht verstanden hast.“

„Aber es war so langweilig!“, rief Etienne zum zweiten Mal aus.

„Wir haben sie mindestens zwei Stunden am Tag“, sagte Scarlett fröhlich und schloss mit Raffael, Crom und Keyem zu ihnen auf. Eindeutig zu viele Menschen, die zu einer geschlossenen Gruppe gehörten.

Crom hatte vor dem Klassenzimmer auf sie gewartet. Etienne hatte bemerkt, wie er mit warmen Augen zu Scarlett geblickt hatte und sich diese Beobachtung im Hinterkopf vermerkt.

Etienne seufzte, „Na, zum Glück muss ich hier nicht meinen Abschluss machen.“

Raffael lachte, „Hast du dich etwas entschlossen das Angebot anzunehmen?“

„Welches Angebot?“, fragte Crom.

„Wir brauchen darüber nicht weiter zu sprechen“, sagte Etienne an Raffael gewandt, „Mal abgesehen davon, bin ich jetzt verabredet. Viel Spaß euch noch.“

Sie trennte sich hastig von ihnen und ging einige Gänge weiter. Als sie etwas Abseits war und sich sicher war, dass keiner ihr gefolgt hat, weckte sie ihren Djinn, „Kannst du mir eine Möglichkeit schaffen, sie allein zu treffen?“

Etienne hoffte darauf, dass sie noch außerschulische Aktivitäten hätte, von denen Miss Arvon gesprochen hatte. Etienne glaubte, Meta und Gilgian hätten die Schule noch nicht verlassen. Zumindest hatte sie diese nicht auf dem Weg nach draußen gesehen.

Der Djinn schwebte über ihr und dann auf den Boden, „Wird das einer der Wünsche?“

Etienne lächelte ihn an, „Nein. Sie ist der schnellste Weg zum nächsten Stein und so lange ich nicht alle drei in meiner Hand habe, wirst du mir dabei helfen. Egal auf welchem Wege. So haben wir es ausgemacht.“

Sein Schwanz zuckte und er blickte sie weiterhin an. Etienne merkte, wie er leicht versuchte sich dem zu widersetzen, doch es funktionierte nicht. Sie hatte sich, bevor sie den Djinn aufgesucht hatte, ganz genau überlegt, wie sie am effektivsten einen Vertrag mit ihm eingehen würde.

Sein Schwanz zuckte noch ein mal genervt und er sagte, „Was würdest nur ohne mich machen, du Idiot Etienne.“

Er nahm es ihr noch immer übel, wie sie ihn an sich gebunden hatte.

„Ich würde verzweifeln“, sagte Etienne, um ihn zu beschwichtigen.

Er richtete sich wieder stolz auf und meinte dann, „Sie müsste wieder in der Bibliothek sein.“

Etienne nickte ihm dankend zu und machte sich auf den Weg.

„Was ist mit Gilgian?“, fragte sie ihn.

Er flog neben ihr her, als sie durch die nun leeren Gänge ging. Die Schüler der A-Klasse gingen als letztes aus der Schule, deswegen hatte wahrscheinlich auch Crom auf sie gewartet.

„Er ist in der Turnhalle“, sagte Catjill ihr.

Etienne nickte nachdenklich. Als sie die Bibliothek erreichte, waren nun mehr Schüler dort. Viele saßen in Gruppen oder alleine an den angereihten Tischen und schrieben sich Notizen oder lasen Bücher. Diesmal entdeckte Etienne auch eine freundlich aussehende Bibliothekarin, welche ihr freundlich zunickte und ihre Uniform musterte. Dann sagte sie ihr leise, „Willkommen an unserer stolzen Schule. Die A-Schüler dürfen in den hinteren Räumen lernen. Soll ich dich dahin führen?“

Etienne zögerte kurz und nickte dann lächelnd. Sie beäugte das Namensschild der Frau, „Vielen Dank, Miss Roth.“

Die Dame lachte leise und sagte dann, „Ah, du bist ein Schatz. Eine Miss bin ich schon lange nicht mehr. Die Schüler können mich Adelle nennen und das trifft selbstverständlich auch auf dich zu.“

Etienne folgte ihr durch die Bücherregale bis nach ganzen hinten in den Raum hinein, in welchem mehre Tische standen. Die Schüler beachteten sie diesmal nicht, alle waren fokussiert auf ihre Arbeit.

Adelle verwies auf die Tür und sagte, „Hier sind wir Schatz. Ich wünsche dir einen produktiven Aufenthalt. Wenn du Hilfe brauchst, kannst du dich jederzeit bei mir melden.“

Etienne bedankte sich und wartete, bis Adelle gegangen war. Dann ging sie einige Regale durch und betrachtete deren Inhalt. Erstaunlicherweise konnte sie einige Bücher erspähen, welche ihr Interesse weckten. Sie nahm einige heraus und ging dann zurück zu der Tür, an welcher Adelle sie zurück gelassen hatte. Sie atmete kurz durch und trat durch diese hindurch. Zu ihrer Freude erblickte sie Meta, welche in einer hinteren Ecke im Raum, umgeben von Büchern still dasaß und las. Als Etienne hineintrat hob sie den Kopf und erblickte sie. Ihre Augen blickten noch immer misstrauisch, doch anstatt sich zu ducken und den Blick zu senken, lächelte sie Etienne zögerlich an.

Etienne lächelte zurück, „Meta! Darf ich mich zu dir setzen?“

Meta blickte kurz zu der Tür, welche ins Schloss fiel und meinte dann, „Das kannst du. Khalas wird jedoch bald zurückkehren und ich will nicht, dass es zu Missverständnissen kommt.“

„Missverständnisse?“, fragte sie, als sie einen Stuhl zurück zog und sich ihr gegenüber setzte.

Meta sah sie kurz verwirrt an und dann fragte sie, „Wie lange bist du schon in der Stadt, wenn ich fragen darf?“

„Das ist mein dritter Tag. Oh, aber ich kannte Calisteo schon eine Weile. Ich hab die Stadt einige Male besucht.“

Meta nickte verständnisvoll, „Dann kannst du natürlich über die genauen Einzelheiten nicht aufgeklärt sein. Ich bin ein Anhänger der dritten Provinz und eine Verwandte des Provinzherrschers. Khalas passt immer auf mich auf.“

Etienne legte das Buch ab und öffnete es, „Bedeutet das, dass du und ich nichts miteinander zu tun haben dürfen?“

Sie schielte zu Meta, während sie in einigen Seiten herumblätterte. Meta schien jedoch einen Moment nachzudenken, „Ich glaube nicht, dass wir nichts miteinander zu tun haben dürfen. Aber du hast meine Situation heute erlebt. Khalas könnte auf falsch Schlussfolgerungen kommen.“

Etienne lächelte sie an, „Dann können wir es ihm sicherlich erklären. Ich habe mich sehr gefreut zu sehen, dass hier jemand an er Schule ist, der auch Interesse an alten Sprachen hat. Und ich bin nicht die Einzige aus unserer Klasse hier in der Bibliothek. Darf ich so lange bei dir sitzen, wie ich noch kann?“

Meta lächelte schüchtern, „Das können wir machen, aber ich habe dich vorgewarnt.“

Etienne lächelte zufrieden und widmete sich wieder ihrem Buch.

Sie sah, wie Meta neugierig herüber schielte, „Das hat nichts mit unseren Fächern zu tun, oder?“

Etienne sah wieder zu ihr, „Das ist eine Dokumentation einiger magischer Relikte, welche in den ersten Jahrzehnten nach der Entstehung der neuen Welt bestimmt werden konnten. Ich hatte gehofft etwas über die Austreibungsreliquien zu finden. Sie werden auch die Steine von Expulsio genannt.“

Meta sah sie fragend an, „Austreibungsreliquien? Du hast gesagt, du bist Exorzistin, oder? War das ernst gemeint?“

Etienne nickte, „Ich hab ein paar sehr wichtige Sachen vor mir. Es wäre wirklich schön, wenn ich die Steine zeitig finden könnte. Bisher hat sich das aber als sehr schwierig erwiesen. Nachdem ich den ersten gefunden hatte und sehr mühselig versucht habe ihn zu erlangen, wurde er mir einfach vor der Nase weggeschnappt“, sie seufzte, „Und nun wird mein dringliche Notwendigkeit, die Steine zu erlangen auch noch gegen mich verwendet.“

Verständnis leuchtete in Metas Gesicht auf, „War es das, worum es vorhin im Gespräch mit Raffael ging?“

Etienne nickte, „Er hat ihn mir einfach gestohlen.“

Meta sah sie mitleidend an, „Er kann sehr hinterlistig sein, wenn er es will. Lass dich nicht auf wage ausformulierte Versprechen ein, die wird er drehen, wie er will.“

Lachend erwiderte Etienne, „Danke für die Warnung. Das habe ich auch schon mitbekommen. Nun denn, sei es zunächst drum. Ich habe ein paar Gründe zu vermuten, dass ich die anderen Steine hier in der Stadt finden könnte. Also habe ich mir gedacht, ich lese mir ein paar Bücher dazu durch.“

„Wir haben eine ganze Abteilung dazu in der Bibliothek im zweiten Stock. Da würdest du sicherlich noch sehr viel finden können“, sagte Meta.

Etienne bedachte ihre Bücher und fragte, „Was liest du da eigentlich? Wieder Sanskrit?“

„Nein. Ich mache ein Selbststudium. Ich will später Gilgian dabei helfen können, die Provinz besser zu verwalten. Von allen Provinzen geht es unserer am schlechtesten“, sie beäugte Etienne vorsichtig und zögerte, eher sie die nächsten Worte sprach, „Wenn ich mich hier gut anstelle, könnte ich vielleicht einigen Menschen helfen. Bastian Hartmann hatte einst gesagt, dass wenn nur jeder Mensch versuchen würde einem anderen ein kleines Bisschen zu helfen, dann würde wir in einer deutlich besseren Welt leben. Bisher hatte ich das nicht in die Tat umsetzen können. Aber ich habe es fest vor.“

Etienne war überrascht, dass von allen Überlebenden der alten Welt, Meta ausgerechnet ihn zitierte. Es gab viele mächtige Persönlichkeiten und Etienne kannte ihn. Er konnte jedoch nur in Zusammenarbeit mit den anderen, deutlich stärkeren, Überlebenden seinen Worten Taten folgen lassen. Das hatte zur Folge gehabt, dass andere Menschen viel leisten mussten, um seinen Anforderungen gerecht zu werden. Etienne hielt nicht viel von ihm.

Meta errötete nach ihren Worten und blickte lachend weg, „Ich entschuldige mich. Ich weiß gar nicht, wo das alles herkommt, ich kann ja nicht mal mir selbst helfen. Normalerweise rede ich auch nicht über so etwas mit Fremden.“

Etienne lächelte sie an, „Mach dir nichts draus, mir wurde schon öfters gesagt, dass ich so eine Art habe, dass Menschen mir einfach alles anvertrauen. “

Meta lachte, „Wirklich? Vielleicht solltest du Therapeutin werden.“

„Um Himmels Willen“, lachte Etienne, „ich bin nicht sehr gut darin, vernünftige Ratschläge zu geben.“

Meta lächelte sie an und Etienne kam nicht umhin, vorsichtig eine Beobachtung zu machen, „Du und Gilgian … seid ihr wirklich Geschwister?“

Sie hatten Gemeinsamkeiten, waren zeitgleich aber so unterschiedlich, dass Etienne sich darüber wunderte.

Meta blickte sie verwundert an, „Nein. Eigentlich bin ich seine Cousine. Aber wir lebten schon zusammen seit wir klein waren. Ich schätze irgendwann, haben wir uns einfach angefangen so zu nennen.“

Etienne lächelte, „Es muss wirklich schön sein, jemandem so nahe stehen zu können.“

Meta biss sich auf die Unterlippe, während sie Etienne nun wieder vorsichtiger musterte. Dann sagte sie, „Uns haben eher unsere Lebensumstände näher aneinander gebracht. Aber ich habe eher das Gefühl, dass ich ihm häufiger in Weg stehe, als dass ich eine Hilfe bin.“

Etienne lachte und meine ermunternd, „Das Problem haben wahrscheinlich alle, die in ihren höheren Positionen sitzen. Lass dich davon nicht unterkriegen.“

Meta entgegnete ihr strahlendes Lächeln mit einem verwirrten Blick, „Ich schätze, das haben viele. Aber Scarlett ist zum Beispiel eine viel größere Hilfe an Raffael, als ich an Gilgian. Und Meng hilft Elias auch viel mehr. Ich wünschte mir, ich könnte auch so hilfreich sein.“

Doch dann lächelte sie und hob das Buch hoch, dass vor ihr lag, „Deswegen ganz viel lernen. Ich habe fest vor, ihm irgendwann jede Hilfe zurück zu zahlen, die ich von ihm bekommen habe.“

Es wurde kurz still zwischen ihnen und Etienne bemerkte einen vorsichtigen, aber neugierigen Blick.

„Was ist?“, fragte sie Meta.

Meta legte ihr Hände in den Schoß und blickte nach unten. Dann schaute sie wieder zu Etienne und fragte, „Von wo bist du auf die Schule gewechselt?“

Etienne blinzelte verwirrt, überrascht von der Frage.

Meta schien sich gleich zurück zu ziehen und hob abwehrend die Hände, während sie wie ein Wasserfall zu reden anfing, „Das fragen sich alle an der Schule. Es passiert äußerst selten, dass jemand die Schulen wechselt. In Calisteo ist die Struktur klar geregelt. Außer, wenn du von Außerhalb kommst, was natürlich… natürlich sehr beeindruckend wäre. Ich schätze, ich habe mich bisher als erste getraut zu fragen?“

Sie merkte, wie Metas Wangen sich röteten, peinlich berührt darüber, eine Frage gestellt zu haben, die Etienne vielleicht zu nahe gehen könnte. Noch immer verwirrt darüber, dass Meta diese Frage überhaupt gestellt hat, lächelte sie dann und entschloss sich, ihr etwas Einblick zu gewähren, „Eigentlich, hab ich die Schule bis vor ein paar Jahren abgebrochen. Es gibt da etwas Wichtiges für mich zu tun. Leider musste ich wieder anfangen“, sie lachte, „Das ist alles Raffaels Schuld, wie du schon mitbekommen hast. Die Steine von Expulsio zu finden, ist meine größte Priorität“, sie seufzte schwer, „Ich könnte wirklich jede Hilfe gebrauchen, die ich bekommen könnte, stattdessen werde ich sabotiert. Mein Djinn kann mir auch nur begrenzt Unterstützung leisten. Was denkst du, werde ich in der Schule was dazu finden können?“

Meta blickte zur Seite, als würde sie nachdenken, dann fing sie wieder an, an ihrer Unterlippe zu knabbern, „Es kann sein, dass ich von den Austreibungsreliquien schon mal was gehört habe.“

„Ah ja?“, fragte Etienne nach. Sie sah, wie Meta sich nun auf die Oberlippe biss, während sie weiter zur Seite blickte. Dann atmete sie tief durch und blickte wieder vorsichtig zu Etienne, „Ich bin mir wirklich nicht sicher, ob ich das in der Schule aufgeschnappt habe oder … oder wo anders.“

Sie rieb sich mit der Hand den Nacken und sah aus, als würde sie sich unwohl fühlen.

Etienne griff nach vorne und nahm ihre Hände in die ihren, „Weißt du zufällig etwas, was mir weiterhelfen könnte?“

Meta versteifte sich, als Etienne sie berührte. Sie sah erschrocken zu ihr und Etienne füllte die Pause, indem sie weiter sprach, „Entschuldige, dass ich so aufdringlich bin. Nach all der Zeit und dem Rückschlag mit dem ersten Stein und dieser andauernden Auseinandersetzung mit diesen Monstern, habe ich gerade wirklich das Gefühl bekommen, dass mir jemand weiterhelfen könnte.“

Sie ließ ihre Hände los und sah sie entschuldigend an, versuchte freundlich weiter zu lächeln und sich die Anspannung nicht anmerken zu lassen.

„Ist es so schlimm?“, fragte Meta.

Etienne seufzte schwer und nickte, „Das Château de la Fortune war furchterregend gewesen.“

Sie sah, wie Metas Blick sich wieder senkte und sie die Haut an ihren Fingernägeln kratzte.

Dann sah sie wieder zu Etienne, „Nun, vielleicht gibt es in dem alten Haus meines Vaters einige Aufzeichnungen.“

Etiennes Herz setzte einen Schlag aus. Dies hörte sich nach einer Spur an, die sie direkt angehen konnte, „Wirklich?“

Meta zog wieder entschuldigend die Schultern hoch, „Ich darf es aber nicht betreten. Niemand darf das.“

Das würde kein Problem für Etienne darstellen. Sie könnte sicherlich während der Schulzeit sich einschleichen. Bis dahin, würde sie sich mehr Informationen beschaffen.

„Wieso?“, fragte sie bei Meta nach.

„Gilgian meint es sei gefährlich. Weißt du, mein Vater war sehr speziell, wenn es um sein Eigentum ging. Er ließ niemanden an die Gegenstände ran und… es gab genug Geschichten von verschwundenen Dienern. Und so wie er war vermute ich, dass er auch nach seinem Tod sein Schatz vor Anderen zu schützen versucht hat“, sie zuckte mit den Schultern, „Ich glaube Gilgian hat recht, wenn er den Zutritt verbietet.“

Etienne wischte ihre Aussage mit einer Hand weg, „Kein Problem. Damit komm ich klar. Als Exorzist komme ich an so manch gefährliche Orte. Meinst du es wäre in Ordnung für dich, wenn ich mich dort mal umsehe?“

Meta zögerte, „Nein. Das ist wirklich keine gute Idee. Mal abgesehen davon, glaube ich nicht, dass du es betreten könntest.“

Etienne sah sie fragend an und Meta zögerte wieder. Dann atmete sie frustriert aus und sagte, „Wie gesagt, mein Vater war speziell. Nur Familienmitglieder können das Anwesen betreten. In seinen letzten Jahren … es ist schwer zu erklären.“

„Meinst du, er hat einen Abstoßzauber wirken lassen? Oder ihn selbst gewirkt?“, fragte Etienne.

„Nennt man das so?“, fragte Meta misstrauisch. Etienne nickte, „Ich bin Exorzistin. Ich kenne mich damit aus. Das was du beschreibst, passt am besten in diese Kategorie. So ist es auch mit den Wesen aus dem Château de la Fortune gewesen.“

Von diesen gab es verschiedene Sorten. Eines davon war sehr subtil. Wenn man als normaler Mensch nicht darauf achtete, dann ging man an Dingen einfach so vorbei, weil man davon abgehalten wurde, ihnen Beachtung zu schenken. Und dann gab es welche, welche die Menschen davon abhielt einen bestimmten Weg einzuschlagen. Beispielsweise den Weg zu einem Anwesen.

Meta betrachtete sie zweifelnd, „Weiß man das wirklich als Exorzistin? Ich dachte diese wären auf menschengemachte Flüche spezialisiert?“

Etienne nickte, „Damit habe ich mich auch sehr viel beschäftigt. Aber es lohnt sich immer, sein Wissen zu erweitern. Was meinst du, könntest du mich vielleicht reinbringen?“

Meta schüttelte den Kopf, „Das ist eine furchtbare Idee, Etienne! Ich weiß nicht, was mein Vater alles an Sicherheitsmaßnahmen eingesetzt hat. Es war schon schlimm zu seinen Lebenszeiten. Ich bin mir sicher, nach seinem Tod ist es nicht besser. Außerdem hat Gilgian verboten, den Ort zu betreten.“

„Das ist die einzige Spur, die ich gerade habe. Was, wenn ich sonst nichts finde?“, fragte Etienne.

Meta zog die Schultern hoch, „Ich … vielleicht ist einfach keine gute Idee nach ihnen zu Suchen?“

„Ich könnt jemandem wirklich sehr helfen, wenn ich die Steine auftreibe“, sagte Etienne, „Sie sind besonders stark, wenn es gegen Flüche geht. Wenn ich sie nicht finde, dann wird jemandem wirklich was fürchterliches passieren.“

Sie betrachtete Meta Gesicht. In diesem mischten sich verschiedene Gefühle zusammen. Etienne konnte Angst ausmachen, aber auch Mitleid und Sorge.

„Du hast selbst gesagt, dass wenn die Menschen mehr einander helfen würden, wir insgesamt an einem besseren Ort wären. Wäre es wirklich so unmöglich, mich dahin zu begleiten und mir die Tür zu öffnen? Das ist alles, worum ich dich bitte.“

Etienne sah, wie Meta erschlagen den Blick senkte. Sie schwieg einige Momente. Etienne spürte, wie Catjill seine Magie verwendete und vernahm nach einem weiteren Moment, wie draußen etwas rumpelte. Ihr Herz schlug schneller, als ihr in den Sinn kam, dass es sich wohl um Khalas handelte.

Meta schien nichts davon mitbekommen zu haben. Sie schwieg noch immer und Etienne ließ ihr die Zeit zum denken. Dafür, dass sie so hilflos schien, hinterfragte sie gar nicht mal so wenig und Etienne wollte sie nicht unnötig drängen. Hoffentlich war das die richtige Entscheidung.

Dann seufzte Meta nach einer Weile, welche sich wie eine Ewigkeit anfühlte, „Ich begleite dich nur bis zur Tür.“

„Wirklich?“, fragte Etienne und Meta erwiderte geschlagen ihren Blick, „Nur bis zur Tür.“

Etienne strahlte sie mit dem besten Lächeln an, dass sie zustande bringen konnte, „Ich werde dir das nicht vergessen. Wann immer du meine Hilfe brauchst, sag es mir.“

Meta schüttelte den Kopf, „Ich brauche keine Gegenleistung. Außerdem … hast du mich auch nicht um eine gefragt, als du mir in der Pause geholfen hast.“

Etienne lachte, „Vielleicht sind wir uns in dieser Einstellung ja ähnlich.“

Meta lächelte leicht, „Ich muss mir überlegen, was ich meinem Bruder sage.“

„Schreib ihm eine Nachricht. Wir können uns morgen früh Treffen und du könntest ihm schreiben, dass du dir einen Tag zum Ausgehen nimmst.“

Meta sah sie ausdruckslos an und seufzte dann erneut, „Desto mehr du redest, desto schwerer machst du es mir gerade.“

Etienne schlug ihr Buch zu und stand auf, „Ich helfe wo ich nur kann, aber wenn das so ist, sollte ich besser schweigen und mich zu Hause vorbereiten.“

Meta lächelte wieder zögerlich, „Morgen um fünf, an dem kleinen Wald. Er heißt am Drachentor, ist in meiner Provinz.“

Etienne nickte ihr zu, „Ich werde da sein. Vielen Dank. Ohne deine Hilfe, wäre ich wirklich aufgeschmissen.“

Sie ging hinaus und beeilte sich von der Tür zu kommen, bevor sie von Khalas entdeckt werden konnte. Sie sah ihn vor einem Haufen Bücher stehen, welche am Boden lagen. Adelle stand schimpfend neben ihm.

 

„Du bist ja ganz schön hinterlistig“, meinte Catjill an ihrer Schulter, „Etienne die Hinterlistige. Ich mag das.“

Etienne öffnete das Tor zu dem großen Hof ihrer Tante und beeilte sich ins Haus, „Das ist gar nicht wahr. Ich hab sie ganz ehrlich um Hilfe gebeten.“

Der Kater schnaubte, „Ist klar.“

Etienne lächelte ihn an, „Catjill, sei nicht wieder so gemein.“

„Ich bin nicht gemein, du dummes Mädchen.“

Etienne öffnete die Tür und Catjill verließ ihre Schulter, wobei er diesmal durch die Luft die Treppen hinauf flog, direkt in die Küche, wo es nach Essen duftete.

Etienne folgte ihm und entdeckte ihre Tante. Sie hatte gemütliche Hauskleider an. Einen braunen Pullover und eine Stoffhose. Der Herbst wurde immer kälter. Die roten Haare Tatinnes waren zu einem Knäul zusammengebunden, ein seltener Anblick zu den sonst so perfekten Locken.

„Etienne. Du bist spät“, stellte sie desinteressiert fest, während Etienne sich ihre Jacke auszog und den blöden Koffer mit den Büchern abstellte, „Ich habe eine neue Freundin kennengelernt.“

Tatinne stellte ihr einen warmen Teller Suppe auf den Tisch, „So? Wie war die Schule?“

Etienne nahm sich einen Löffel und fing zu essen an, „Das Essen ist fantastisch. Ich bin in der Schule eingeschlafen. Magst du mir das Rezept geben, dass will ich auch können.“

„Du kriegst das Rezept. Und ich werde mir eine nette kleine Strafe ausdenken.“

„Wieso?“, fragte Etienne.

„Man schläft nicht in der Schule.“

„Aber es war langweilig!“

„Das interessiert mich nicht. Solange du bei mir bist, wirst du dich anstrengen.“

Etienne verdrehte die Augen.

Der Kater schwebte zu Tatinne, „Ich hab ihr gesagt, dass sie Ärger bekommt, wenn sie schläft.“

Tatinne tätschelte ihm den Kopf und gab ebenfalls etwas Suppe auf den Teller, welches er genüsslich verschlang. Tatinne kümmerte sich gerne um andere Lebewesen. Vor allem seit sie in Calisteo war, schien Etienne sie immer häufiger dabei zu beobachten, wie sie, trotz ihrer abweisenden und unnahbaren Art, eine helfende Hand hatte.

„Hast du gar nicht, du Lügner“, sagte Etienne zu ihm, „Ich bin nicht mit Absicht eingeschlafen, es war ein Versehen.“

„Außerdem hat sie vor, morgen zu schwänzen“, sagte Catjill.

Ihre Tante drehte sich auf dem Absatz um und sah sie mit einem wütendem Gesichtsausdruck an, „Etienne!“

Etienne seufzte und leerte ihren Teller, „Ich hab morgen etwas sehr wichtiges vor.“

„Und was, um Himmels Willen, soll das sein?“

Etienne lehnte sich zurück, „Ich bin einem zweiten Stein auf der Spur. Wahrscheinlich könnte ich ihn morgen schon haben.“

„Und das kann nicht nach der Schule geschehen?“

„Nein, Meta wird mich zu dem alten Anwesen ihres Vaters bringen.“

„Meta?“, wiederholte Tatinne verwirrt und schnaubte ungläubig, „Dieses scheue Reh? Wie zur Hölle hast du es geschafft sie dazu zu bewegen?“

Catjill beendete sein Essen, „Ganz hinterlistig und manipulativ.“

Etienne verdrehte die Augen.

Tatinne seufzte, „Ihr Bruder wird dich umbringen, sollte er das erfahren.“

„Mit ihm werde ich schon klar kommen.“

Tatinne seufzte, „Meinetwegen. Dafür erwarte ich aber gute Noten in den Arbeiten!“

Etienne lachte und schnappte sich ihre Jacke, „Natürlich!“

„Wohin gehst du?“, fragte Tatinne.

„Ich treffe mich morgen gegen fünf mit ihr an einem Wald. Ich will nur herausfinden wo der ist.“

Tatinne hob eine Braue, „Du willst um fünf Uhr früh unterwegs sein? Glaub ich dir nicht.“

„Es ist wichtig, also werde ich mir Mühe geben früh aufzustehen.“

Tatinne seufzte, „Zieh die Jacke wieder aus, ich werde dir zeigen, wo es ist.“

Sie ging in ihr Zimmer. Etienne vermutete alle Informationen und Gegenstände, welche Tatinne für ihre Arbeit nutzte in diesem Raum.

„Wirklich? Danke!“

Tatinne schüttelte den Kopf, „Wenn du nur für die Schule so aktiv wärst.“

 

Als Metas Wecker klingelte, beeilte sie sich schnell ihn wieder auszumachen. Wie von Strom berührt hatte sie sich aufgerichtete und wartete wenige Minuten unbewegt, ob etwas zu hören war. Sie lebte in einem großen Haus. Es lebten hier zwar nur Gilgian und sie, jedoch wurden hier auch hier viele andere Menschen untergebracht. Und vermutlich waren gerade mehrere Bedienstete unterwegs. Ihr Bruder schlief im Zimmer gegenüber. Sie lauschte angestrengt, konnte aber nichts hören. Also stand sie auf Zehenspitzen auf und schlich zu den Kleidern, die sie sich am Abend zuvor bereit gelegt hatte, um so schnell wie möglich am Morgen unterwegs zu sein. Schnell, aber so leise wie es nur ging, zog sie sich an und ging leise ins Bad. Ihr Bruder hatte ein verdammt gutes Gehör und sie wusste das nur zu gut. Nachdem sie fertig war, nahm sie sich ihre Schuhe und schlich zu der Tür, die sie einen Spalt offen gelassen hatte. So musste sie keine Geräusche des Schlosses fürchten, wenn sie diese öffnete. Sie sah sich den Brief, den sie am Tisch gelassen hatte an. Hoffentlich, wurde ihr Bruder das glauben.

Sie schlich auf den Flur und war froh über die weichen Teppiche, welche ihre Schritte dämpften. Die dicken Socken taten ihr restliches. Meta beeilte sich und fragte sich, wieso ihr Bruder nicht durch ihr rasendes Herz geweckt wurde. Als sie die Treppe erreichte hatte, sah sie sich erst einmal um, ob irgendwer auf dem Gang war. Dann beeilte sie sich hinunter. Ein Paar weitere Gänge und Treppen folgten und Meta nahm sich vor, demnächst in ein Zimmer etwas näher am Haupteingang zu ziehen. Aber nur, sollten diese Aktionen weiter geschehen. Meta fragte sich zum tausendsten Male, wieso sie überhaupt mitmachte. Sie hatte sich fest vorgenommen diese verfluchte Villa niemals wieder zu betreten. Ihr Vater war grausam gewesen. Wäre Gilgian damals nicht für sie da gewesen, dann wäre sie kaputt gegangen. Es waren fast zwei Jahre vergangen, aber sie konnte sich noch sehr gut an die Ereignisse von damals erinnern.

Sie zog die Schuhe an und schlich aus der Tür, sobald sie sich vergewissert hatte, dass da niemand war. Dann grub sie ihre mickrigen Schauspieltalente aus und ging aufrecht und langsam, wie jeden morgen, aus der Villa. Sie wünschte sich, sie hätte etwas von Scarletts Schauspieltalenten.

Kühle Morgenluft schlug ihr entgegen, ebenso wie das Gezwitscher von Vögeln. Sie wusste sie würde bei den vielen Menschen in der Villa nicht unbemerkt durch den Garten kommen. Es gab wenige Bäume und es musste nur aus dem Fenster geschaut werden, um sie zu sehen. Es würde wahrscheinlich viel Verwirrung und Misstrauen geben, wenn man sie in geduckter Haltung rennen sah. Und dann würden sie wahrscheinlich schnell Gilgian wecken und er würde sie finden. So aber sah es einfach nach einem frühen Sparziergang aus. Es war auch gar nicht so selten, dass sie es mal tat. Vor allem früh im Sommer, wenn die Morgenluft nach einem warmen Tag roch, ging sie gerne durch die Gärten. Im Winter eher weniger. Es würde sie hoffentlich also keiner beachten.

Meta ging durch die Stadt, beobachtete die wenigen Menschen, die aus ihren Apartments heraus kam und sich auf den Weg zur Arbeit machten. Es waren nicht viele unterwegs, dafür war es noch zu früher. Aber in einer Stunde, würden die Straßen voller werden. Die Häuser in ihrer Provinz waren äußerlich nicht so sauber, wie die von Elias’ Provinz. Aber dafür waren sie innerlich gut ausgestattet, gut isoliert und die Menschen konnten sich auf eine sichere Unterkunft verlassen. Anders war es bei Raffael, dessen Provinz vom alten Herrscher regelrecht ausgebeutet wurde. Doch nach dem, was sie im letzten Jahr mitbekommen hatte, kümmerte er sich bereits darum. Als Bürger der zweiten Provinz kannte er sich sicherlich sehr gut mit den Problemen der Bewohner aus.

Als Meta die vertrauten Straßen entlang ging, entdeckte sie ein neues Zeichen an der Wand eines Hauses. Sie blieb stehen und betrachtete es nachdenklich. Sie hatte es noch nicht so häufig gesehen, aber sie wusste, dass es sich um eine neue Bande handelte. Die Gruppe war wahrscheinlich noch sehr klein, hatte nicht viele Anhänger, oder es handelte sich um Kinder, welche Späße trieben, was sehr gefährlich werden konnte. Das konnte immer ausufern, vor allem, wenn andere Banden auf sie aufmerksam werden würden. Sie hoffte inständig, dass sich die Beziehungen zwischen den Provinzen bessern würde, denn keiner profitierte mehr von den Kämpfen, als diese ganzen Banden, die versuchten ihre Macht auszubauen.

Sie schaffte es rechtzeitig zu dem Eingang des Waldes. Von hier aus, waren es nur wenige Minuten bis zu der alten Villa ihres Vaters, welche ein Teil der inneren Mauer um Calisteo war. Genauso war es auch mit den anderen Häusern der Provinzherrscher.

Meta blickte auf die teure Uhr an ihrem Handgelenk. Diese hatte sie von ihrem Bruder vor kapp zwei Monaten zum Geburtstag geschenkt bekommen. Sie war bis heute heil geblieben, aber es würde eh keiner wagen, ihren Sachen, die beinahe alle von Gilgian kamen, etwas anzutun. Ihr Bruder würde die Namen der Schuldigen aus ihr herausquetschen und denjenigen dann verprügeln. Meta wollte das nicht, auch wenn sie ihre Quäler wirklich hasste. Sie fragte sich, wieso Etienne ihr geholfen hatte. Es müsste teilweise daran liegen, dass Etienne neu in der Stadt war. Sie kannte die ganzen Probleme nicht. Zum Anderen war Meta ein leichtes Ziel. Dass wusste sie selbst, dennoch hatte sie es nicht geschafft Nein zu sagen, als Etienne sie um Hilfe gebeten hatte.

„Was ist so lustig?“, fragte Etienne, als sie plötzlich mit einem strahlenden Lächeln vor ihr auftauchte.

Meta sprang mit einem Aufschrei zurück, „Etienne! Erschrecke mich nicht.“

Sie bewunderte Etiennes Lächeln. Ihr Strahlen ließ sie wunderschön aussehen, auch wenn etwas Unnahbares darin verborgen war. Sie lächelte, als würde ein Verkäufer einen Kunden empfangen. Im Gegensatz zu Meta, hatte sie eine robuste dunkelgrüne Jacke an und Jeans, welche in dicken Schuhen mündeten.

Etienne kicherte. Der Kater schlief auf ihrer Schulter. Meta würde gern erfahren woher Etienne ihn hatte. Sie waren selten. Sie erfüllten aber keine Wünsche, wie in den alten Geschichten von Aladdin. Genau genommen wusste niemand was sie taten. Außer vielleicht die großen Familien, wie die Cerreas oder die Patterianer. Aber die teilten ihre Geheimnisse nicht. Mit niemanden. Die Patterianer gingen sogar soweit, dass sie niemanden in ihre Städte ließen, genauso wie die Mandragonrys. Beide Familien konnten auf erste Überlebende der neuen Welt zurückgeführt werden. Sie gaben sich größte Mühe, ihr Blut rein zu halten und ihre Geheimnisse nicht nach Außen dringen zu lassen. Ähnlich war es bei den Cerreas der Fall, diese waren jedoch offener und diplomatischer.

Etienne tänzelte um sie herum, „Wohin gehen wir?“

Meta wunderte sich über ihre Neugier und ihren Eifer. Sie atmete tief durch, denn es war das erste Mal, dass sie etwas Verbotenes tat. Und das für ein Mädchen, dass sie erst seit gestern kannte … War sie verrückt geworden?

 

Etienne hatte wirklich Mühe so früh aufzustehen. Aber sie tat es. Ihr Körper hat sich schwer angefühlt und sie wäre wirklich beinahe im Bett geblieben, wäre ihre Tante nicht in ihr Zimmer gestürmt und dabei ganz viel Lärm mit einem Topf und einem Löffel gemacht, sodass Etienne vor Schreck aus dem Bett gefallen war und sie schockiert angesehen hatte. Dies war anscheinend ihre Strafe für den Schlaf im Unterricht gewesen. Doch auf ihrem Weg zu der verabredeten Stelle war sie durch den schönen Morgen munterer geworden. Und sie stellte fest, dass Meta wirklich hübsch war, wenn sie lächelte. Ihre roten, fülligen Lippen waren wirklich dafür geschaffen. Sie tat es nur so gut wie nie.

„Hier entlang“, sagte diese und lief in den Wald. Sie befanden sich in Gilgians Provinz. Wie sie erfahren hatte, hatte jedes Provinzmitglied ein Zeichen der Provinz an sich, sodass er sofort erkannt werden konnte. Sie entdeckte ein rotes Tuch um Metas linkem Oberarm. So eines hatte sie auch gestern gehabt und nicht nur sie, sondern auch manch anderer Schüler. Um den Oberarm, Bein, Hals. Das war vielleicht das Zeichen von Gilgians Leuten. Sie fragte sich was die Zeichen von Raffael und Elias waren. Es würde nicht schaden, es herauszufinden.

„Meta?“, diese blickte sich nach ihr um, „Ist das rote Tuch das Zeichen eurer Provinz?“

Meta sah zum Tuch an ihrem Oberarm, „Ja.“

„Ist es nicht leicht nachzustellen? Habt ihr keine Angst, dass sich jemand als Mitglied eurer Provinz ausgibt?“

Meta lächelte, „Nein. Die Strafen sind sehr hoch und es gibt eine einvernehmliche Zustimmung unter den Provinzen, dass wenn jemand dies macht, er keine Hilfe von seiner Provinz zu erwarten hat. Wenn du damit erwischt wirst, wird es gefährlich.“

„Das hört sich furchtbar an“, sagte Etienne, „Gibt es Zeichen von Elias' und Raffaels Provinzen?“

Meta nickte, „Ja. Elias' Provinzmitglieder haben eine Brosche mit einer Tulpe. Raffael hätte seines gerne geändert. Nexim hat den Menschen vorgegeben, sich tätowieren zu lassen. Raffael verlangt zwar keine Tattoos mehr und wechselt langsam über zu einer Brosche. Aber er lässt das alte Zeichen weiterhin gelten.“

„Ist Tätowieren nicht unpraktisch?“

Meta zuckte mit den Schulter, „Nexim war extrem misstrauisch. Auf diese Weise könnte ihn keiner reinlegen, denn er würde schnell herausfinden, wer wann und wo sich das Zeichen hat stechen lassen. Sie hatten akribische Buchführung.“

Sie liefen eine Weile weiter und bogen in einen kleinen Pfad ab, welcher mit verschiedenen Statuen versehen war. Die Wohnblöcke hatten sie schon vor einer Weile hinter sich gelassen. Hier gab es auch sehr wenige Menschen, die ihnen begegneten. Manchmal sah sie eine Gruppe von Jugendlichen, welche rauchten und die zwei jungen Frauen misstrauisch betrachteten.

„Muss ich mir sorgen machen, dass die uns angreifen?“, fragte Etienne. Meta blickte zu den jungen Menschen und schüttelte den Kopf, „Nicht, so lange du mit mir hier bist. In unserem Provinz wagt es niemand in meine Nähe zu kommen. Die anderen Provinzen sind meistens eher das Problem. Wobei vor allem die Menschen des neutralen Stadtteils sich viel erlauben können.“

„Ist das der Grund, weshalb Crom abseits stand?“, fragte Etienne.

Meta lächelte sie an, „Er ist so nah an Raffael, er kann es sich nicht leisten mich anzugreifen. Das würde Gilgian nicht durchgehen lassen. Die anderen hingegen“, sie seufzte schwer, „Ich sollte mich mehr wehren.“

„Oder sie könnten es einfach lassen“, erwiderte Etienne und blickte sich weiter um, mittlerweile wachsam. Ein Schaudern ging ihr durch den Körper und es fühlte sich kälter an, als sonst. Sie liefen weiter am Pfad entlang, große Bäume zu ihrer Rechten und Wiese zu ihrer Linken. Die Schatten, welche die Bäume auf sie warfen, beunruhigten Etienne. Es fühlte sich genauso furchteinflößend an, wie die ersten Minuten, die sie im Château de la Fortune verbracht hatte, als sie die modrigen Hallen betreten und in die Schatten geschaut hatte, welche zurück geblickt hatten.

„Sag, Meta, kommt es mir nur so vor oder wird es wirklich angsteinflößend hier?“

„Hm?“, Meta sah sie verwirrt an, dann blickte sie sich um, „Stimmt. Ich lebte einst hier, deswegen bemerke ich es kaum. Das liegt an einem Zauber meines Vaters. Es dient zur Abschreckung, meistens hat es geklappt.“

„Nur meistens?“

Meta lächelte sie an, „Nun, ich will nicht gemein sein, aber dann gab es noch Leute wie dich, die es nicht erwarten konnten, dahin zu kommen.“

Etienne lachte, „Nein, Meta, du bist nicht gemein. Das trifft ganz gut auf mich zu.“

Nach knapp zwei Minuten kamen sie an einem großen Tor mit einem endlos aussehenden Zaun heraus. Und Etienne verzog das Gesicht. Die Erde hinter dem Tor war schwarz. Es gab keine Blumen, Gras oder gesunde Bäume. Die goldenen und roten Farben des Herbstes gab es hier nicht.

Meta lächelte nervös, „Daran kann ich mich aber nicht erinnern.“

„Wie kommen wir über das Tor?“, fragte Etienne. Dieses Endete in der Stadtmauer, von welcher das Haus vor ihnen ein Teil war. Türme stiegen über der Mauer empor. Wahrscheinlich konnte hier ein großer Bereich hinter der Mauer überblickt werden, in einem passenden Abstand zu dem nächsten zentralen Haus der anderen Provinz.

Meta sah zum Schloss, „Gilgian hat die Schlüssel. Ich wollte ihn nicht nach ihnen fragen, um das Gespräch hierüber zu vermeiden. Ich dachte mir, du wirst sicherlich schon eine Idee haben?“

Etienne streichelte dem Kater den Kopf, „Aufwachen Catjill. Wir sind da.“

Der Kater gab ein Geräusch von sich und hob den Kopf. Er sprang von Etiennes Schulter und streckte sich dann.

„Wieso muss ich eigentlich immer mit?“, fragte er.

„Weil du mir helfen musst.“

 

Meta sah sich den Djinn an. Wenn nicht die ungewöhnliche Fellfarbe und die Augen, dann würde sie ihn mit einem richtigen Kater verwechseln. Sie würde ihm so gerne ein paar Fragen stellen. Wo er herkam und wie er normalerweise lebte. Aber sie traute sich nicht.

„Dort vorne ist die Eingangstür“, sagte Meta und zeigte durch die Gitter zu der mit Gold verzierten schweren Tür der Villa, „Ich kann dich bis nach dahin begleiten und dabei sein, wenn du sie öffnest. Der Zauber von meinem Vater sollte so lange aussetzen, immerhin bin ich seine direkte Verwandte. Danach musst du mich wieder auf die andere Seite des Zaunes bringen.“

Etienne nickte, „Das hört sich machbar an. Sicher, dass du nicht den Schlüssel haben musst?“

Meta schüttelte den Kopf, „Wir hatten so viele Bedienstete zu der Zeit, welche ihm in seiner Anwesenheit Dinge gebracht hatten, welche er näher untersuchen wollte. Es wäre sehr unpraktisch für ihn, wenn nur seine Blutsverwandten das Anwesen öffnen könnten.“

„Dann probieren wir das aus“, sagte Etienne.

„Wie kommen wir über den Zaun?“, fragte Meta.

„Wir springen“, sagte Etienne schlicht.

Meta sah sie mürrisch an, „Du machst dich über mich lustig. Das schaffe ich niemals. Wahrscheinlich würde ich mir bei dem Versuch was brechen. Oder von den Spitzen aufgespießt werden.“

Etienne sah sie an und dann blickte sie zum Zaun. Meta zögerte. Sie blickte zu Etienne, welche zu dem Kater sah und ihm zunickte. Misstrauisch sah sie zu dem Djinn, welcher seine ungewöhnlichen Augen schloss. Dann verlor sie den Boden unter ihren Füßen. Sie schrie überrascht auf, als sich er Boden weiter von ihr entfernt und fing panisch an, mit den Beinen zu strampeln.
„Bleib ruhig“, rief Etienne ihr von unten zu.

Meta versuchte die Panik zu unterdrücken, doch sie hielt ihr Herz fest umklammert. Es fühlte sich furchtbar an, nicht die Kontrolle über ihren Körper zu haben, keinen Halt von der Umwelt zu bekommen. Sie hatte Angst, sie würde nach hinten umfallen. Als die Stacheln näher kamen, wollte sie sich ganz klein machen, aus Angst, dass diese sie aufspießen würden. Ihr Herz schlug so hart, dass es ihr fast schon weh tat. Dann kam der Boden immer näher und als sie ihre Füße ihn berühren konnten, war sie erleichtert. Zeitgleich wurde ihr schlecht. Der Kater schwebte über den Zaun zu ihr und legte sich auf ihren Kopf, was sie beruhigte, aber zeitgleich auch verunsicherte. Sie wusste nicht, wie sie mit ihm umgehen sollte. Was, wenn sie ihn irgendwie beleidigte und er sie verzauberte?

„Du schuldest mir was dafür“, sagte der Djinn und Meta blickte zu Etienne, welche noch immer auf der anderen Seite des Zauns war. Sie wünschte sich, Etienne wäre mit ihr hier drüben.

Etienne ging einige Schritte zurück, während ihre Augen über die Metallstäbe des Zaunes wanderten, „Wie wäre es, mit etwas zu Essen? Ich besorge dir auf dem Rückweg etwas. Du darfst aussuchen, aber nur ein Gericht.“

Sie zog dunkle Handschuhe an und streckte sich.

Meta spürte, wie der wuschelige Schwanz des Katers hin und her schwang, „Das ist ganz schön wenig für meine Magie.“

„So viel hast du jetzt auch nicht gemacht“, rief Etienne ihm zu, „Ich kenne den Wert, Catjll. Und mein Angebot ist sehr großzügig.“

Meta verstand nicht, worüber sie redeten. Es war offensichtlich, dass sie einen Preis verhandelten, aber sie fragte sich, ob Etienne nicht sowieso schon einen Vertrag mit dem Djinn geschlossen haben musste. Würde seine Hilfe dann nicht auch da reinfallen?

Etienne lief los und sprang. Sie hielt sich mit beiden Händen an den Stangen fest und nutzte ihre Beine, um höher zu klettern. Meta hielt die Luft an. Das sah so gefährlich aus. Dann Schwang sie sich über die Stacheln und ihre Hände ließen die Stangen kurz los und griffen sie dann von der anderen Seite, während ihre Füße gegen diese schlugen.

„Oh mein Gott!“, rief Meta aus und Etienne blickte über die Schulter zu ihr. Ein Bild huschte Meta durch den Kopf, wie Etienne den Griff nicht wieder bekommen hätte und mit dem Gesicht in den Stacheln gelandet wäre.

„Alles in Ordnung?“, fragte Etienne, während sie etwas runter rutschte und dann auf den Boden sprang.

Meta schnappte nach Luft, ihr Herz schlug heftig gegen ihre Brust, „Das hättest du besser auch mit deinem Kater machen sollen. Was wenn du dich an den Spitzen verletzt hättest?“

„Catjill“, sagte der Djinn, „Wie wäre es mit einer Danksagung an meine Wenigkeit? Du bist nicht gerade leicht.“

„Niemand ist für dich leicht. Und mutig das zu sagen, nachdem ich dich jeden Tag herumtrage“, sagte Etienne lachend und sah sich dann in der Umgebung um, „Gruselig hier.“

Meta atmete tief durch und sah auf die Uhr. Ihr Bruder müsste schon wach und unterwegs zur Schule sein. Hoffte sie. Seine Mitarbeite hatten gestern viel von ihm verlangt. Er war so wütend gewesen, dass sie Angst gehabt hatte, er würde explodieren. Aber wie immer, hatte er es nicht getan.

„Los gehts!“, rief Etienne und machte sich dann auf den Weg zum Haus.

„Musst du immer so durch die Gegend schreien?“, fragte der Djinn.

„Ich hab nicht geschrien. Außerdem versuche ich motivierend zu sein.“

„Du bist nicht motivierend. Nichteinmal deine Stimme ist motivierend.“

„Catjill“, meinte Etienne beleidigt, „Schau dir diesen Djinn an. Er hat nichts als böse Worte für mich übrig!“

Meta lächelte über deren Streit. Deren Worte beruhigten sie etwas, lenkten sie von dem Ort ab, an dem sie aufgewachsen war und welcher nun so schrecklich schien. Sie hörte, wie es im vertrockneten Gebüsch raschelte und sah sich um.

„Ich nehme dein Preis an“, sagte Catjill. Etienne nickte ihm zu.

Sie durchquerten schnell den Hof. Früher führten viele geschwungene Wege durch diesen hindurch und es gab einzelne grüne Grasinseln, welche dekoriert waren mit Statuen und hübsch beschnittenen Bäumen. Die Statuen, an denen sie vorbeigingen waren von toten Ranken bedeckt, die Bäume waren nur noch dürres Holz.

„Ich verstehe nicht, wieso alles so tot aussieht. Selbst wenn sich keiner in den letzten Jahren um den Ort gekümmert hat, wir haben hier sehr freundliches Klima für Pflanzen“, sagte Meta. Sie ging etwas näher an Etienne, welche sich wachsam umsah. Metas Finger waren kalt und sie versuchte sie aufzuwärmen.

„Um diese Frage zu lösen, müssten wir zur Quelle des Problems vorstoßen. Diese wird wahrscheinlich im Haus sein.“

Es erstreckte sich vor ihnen, hinter ihm die große Mauer. Das Gebäude war in drei Teile aufgeteilt. Mit dem Hauptteil in der Mitte waren über Durchgänge jeweils links und rechts zwei weitere, kleinere Teile verbunden. Die Durchgänge wurden von runden Säulen gehalten, welche unten und oben mit Mustern verziert waren. Der Blick von dort oben auf den Garten war sehr schön gewesen. Auch der Blick nach oben war schön gewesen, vor allem im Sommer, wenn das Licht der Sonne durch die Fensterscheiben fiel und alles erhellt hat. Ihr Vater hat so viel rein investiert, seine Menschen furchtbar viel dafür arbeiten lassen. Die Fensterfront war nun mit weißen Vorhängen bedeckt, welche sich sanft bewegten. Meta vermutete, dass dort Fenster geöffnet sein mussten, was jedoch keinen Sinn ergab, da Gilgian alles verschlossen haben musste.

Meta fühlte ein Schaudern durch ihren Körper gehen, „Ich glaube, ich will es doch nicht herausfinden.“

Etienne lachte sie an, „Wie du magst. Aber das war mal dein Zuhause. Bist du sicher?“

Meta nickte, auch wenn etwas Zweifel in ihr aufstieg. Die schlechten Erinnerungen überwogen eindeutig. Aber es gab auch schöne. Ihre Mutter war immer mit schönen Erinnerungen verbunden. Oder ihr Großvater, welcher ihr immer die Geschichte über die Stadtgründer erzählt hatte. Er hatte sie als Kind noch kennengelernt.

Sie kamen an den Hauseingangstreppen an, von denen Meta hätte schwören können, dass das Granit früher viel heller war. In einem Halbkreis, welcher immer enger wurde, führten sie zu der mit Gold verzierten schweren Tür. Das Gold leuchtete ihnen bedrohlich entgegen.

Meta sah Etienne fragend an.

„Was?“, meinte diese.

„Du musst die Tür öffnen, ich habe keine Schlüssel“, erinnerte Meta sie.

„Natürlich“, sagte Etienne, „Ich war so in Gedanken über diesen Ort, dass ich es beinahe schon vergessen hatte.“

Etienne hob die Hand und zog den Griff herunter. Mit einem Klacken öffnete sich die Tür und als Etienne an ihr drückte, war ein langgezogenes Quietschen zu hören, als sie sich langsam Öffnete und die Dunkelheit im Innenbereich enthüllte.

„Das war erstaunlich einfach“, sagte Etienne.

Meta blickte mit großen Augen zu der Tür, „Ich bin mir sehr sicher, Gilgian hätte sie nicht offen gelassen.“

„Offensichtlich war sie aber nicht abgeschlossen“, meinte Catjill. Sein Fell richtete sich etwas auf, als er in die Dunkelheit blickte. Sie bemerkte, wie er sich hinter Etienne duckte und war verwirrt von dem Anblick. Djinns galten als mächtig. Wenn er so viel Angst hatte, dann musste da drin etwas furchtbares warten.

„Ich würde sagen, ihr schickt mich wieder zurück“, sagte Meta.

Etienne und Catjill blickten zu ihr und Meta entdeckte dieselbe Beunruhigung und Angst in deren Augen, welche die ihre widerspiegelte.

„Kann ich mit ihr gehen?“, fragte Catjill.

Etienne lachte, „Auf keinen Fall. Du kommst mit mir.“

Etienne blickte in den Raum, „Was denkst, wo ich was finden könnte?“

Meta zuckte mit den Schultern, „Ich schätze mal im Arbeitszimmer im zweiten Stock?“

„Im zweiten Stock“, wiederholte Etienne, dann seufzte sie, „Nun gut, lass uns dich hier rausbringen.“

„Vielleicht sollten wir etwas vor die Tür legen, damit sie nicht zufällt“, meinte Catjill.

„Das ist eine gute Idee“, sagte Etienne und blickte lächelnd zu Meta, „Sonst müssten wir dich gleich wieder reinholen.“

Sie gingen zurück zum Hof und Meta beobachte Etienne dabei, wie sie einen Ziegelstein, welcher die frühere Grasfläche von dem Weg trennte, heraus grub.

Sie blickte sich immer wieder um und Meta tat es ihr nach. Desto länger sie hier war, desto mehr bekam sie das Gefühl, dass ein innerer Frust sie in seinen Griff nahm. Etienne stand mit dem Stein in den Händen auf, „Die sind ganz schön schwer.“

Meta hört schon wieder ein Rascheln und verspannte sich. Es war Windstill und es sah nicht so aus, als wären hier Tiere. Keine Erklärung für diese Geräusche zu finden machten sie wahnsinnig.

Etienne drehte sich zu ihr und sie schien so unbeschwert, dass sich Meta fragte, ob sie sich die Sachen einfach nur einbildete.

Etienne ging zur Tür, als sie ein Knurren hörten, welches sie erstarren ließ. Catjills Fell sträubte sich auf und Meta fing flach zu atmen an, als sie hinter Etienne blickte und dort gelbe Augen aus dem trockenen Gebüsch zu ihnen herüber blickten. Die Gestalt ließ sich nur schwer erahnen.

„Oh mein Gott, Etienne“, wimmerte Meta leise.

Etienne sah hinter sich und Meta wartete angespannt, als sie das Wesen betrachtete. Catjill sprang von ihr zu Meta, welche weiter weg von dem Monster war.

„Wir gehen langsam rein“, sagte Etienne. Sie griff den Backstein in eine Hand und trat langsam zurück. Meta riss die Augen von dem Wesen und sah hinter sich. Die Tür stand weit offen.

„Soll das ein Witz sein?“, fragte sie panisch.

„Aktuell sehe ich keine Möglichkeit, sich woanders zurück zu ziehen“, sagte Etienne, „Und ich weiß nicht, ob das ein Hund ist oder ein Geist.“

Metas Herz schlug erneut gegen ihre Brust und sie zwang sich, ihre Beine zu bewegen, welche sich nun schwer anfühlten. Es kostete sie so viel Kraft, sie zu bewegen. Sie trat vorsichtig zurück.

„Catjill“, sagte Etienne, „Check den Innenbereich.“

Der Kater knurrte, tat dann aber, wie sie ihm befohlen hatte. Seine tröstliche Wärme an ihren Schultern verschwand kurz und Meta spürte, wie eine Brise über sie hinüberschwappte.
„Da ist nichts drin“, sagte er.

„Dann langsam rein“, sagte Etienne.

Meta wimmerte, folgte dann langsam dem Djinn, welcher sich bereits an der Türschwelle befand. Dann zögerte sie jedoch und blickte wieder zum Tor, „Ist das wirklich nicht möglich?“

Die Gestalt trat aus dem Gebüsch. Sie konnte nun etwas ausmachen, was aussah wie ein Hund mit scharfen Zähnen, welche in ihre Richtung gefletscht wurden.

„Gehe rein, Meta“, sagte Etienne. Der Hund sprang auf sie zu und Meta zuckte mit einem Schrei zusammen. Etienne holte aus und warf den Backstein in sein Gesicht. Es jaulte auf und dann verschwand er in einem Schatten, welcher sich kurze Zeit später wieder zu seiner alten Form formte.

Etienne drehte sich auf dem Absatz um und lief auf Meta zu, welche sie dann an der Hand packte und mit hineinzog. Meta lief ihr hinterher und versuchte dabei nicht über ihre eigenen Füße zu stolpern. Sie sah, wie die Tür näher kam, dann fand sie sich im Dunkeln wieder, als Etienne die Tür zuwarf. Sie hörte keine Geräusche mehr von Außen, nur ihren lauten Herzschlag welcher ihr zu verstehen gab, dass sie einen furchtbaren Fehler begangen hatte, hierher zurück zu kommen.

 

Etienne zog im Dunkeln ihre alte Halskette heraus, welche sie einst bei einem Turnier gewonnen hatte, als sie noch jünger war. Sie stellte sich vor, was sie wollte und ließ den Wunsch auf die Kette überspringen, welche sodann in einem weißem Licht den Raum hell erleuchtete.

„Schon viel besser, nicht wahr?“, sie blickte sich nach Meta um, welche zitternd neben ihr stand und ihre Hand so fest umklammert hielt, dass Etienne Sorge um ihre Kleidung hatte. Sie antwortete ihr nicht.

„Catjill?“, fragte Etienne und der Kater kletterte auf ihre Schulter. Erneut war sie froh darüber, sich die Jacke besorgt zu haben. Sie war ihr Stolz und ihre Sicherheit und nun schützte sie Etienne vor Catjills scharfen Krallen, von denen Etienne sich sicher war, dass er sie mit Absicht so scharf machte.

Etienne trat zu Meta und sah ihr in die Augen, „Ist alles in Ordnung bei dir?“

Meta sah sie aus ihren großen grauen Augen an, „Ich will hier raus.“

Etienne nickte verstehend, „Das kann ich mir vorstellen. Ich bin mir jedoch nicht sicher, ob wir da jetzt rausgehen sollten.“

Metas Atem beschleunigte sich und Etienne strich ihr beruhigend über die Schultern, „Es ist alles in Ordnung, Meta. So lange ich hier bin, wird dir nichts passieren.“

„Was war das für ein Wesen?“, fragte Meta.

Etienne lächelte sie an, „Ich bin mir noch nicht ganz sicher.“

Sie hatte eine Vermutung, doch diese würde sie zunächst für sich behalten. Wenn sie sich bewahrheiten würde, würde es Meta nur in Gefahr bringen, sie wieder heraus zu lassen. Also hatte Etienne sich dazu entschlossen, sie nah bei sich zu halten.

„Was sollen wir machen?“, fragte Meta weiter. Etienne war froh darüber. Ihr war es lieber, wenn sie Fragen stellte, anstatt in einer Schockstarre zu verharren.

Etienne wägte ihre Worte kurz ab, überlegte sich, ob sie Meta täuschen sollte, um ihr die Angst zu ersparen. Entschied sich dann jedoch dagegen, „Wir sollten weiter ins Haus gehen. Wenn sich meine Vermutung bestätigt, kann ich vielleicht einen Weg für uns herausfinden.“

Meta atmete tief durch und rieb sich mit der Hand die Stirn, „Das kann nicht dein Ernst sein.“

Etienne lachte, „Tut mir Leid. Aber ich bin Exorzistin. So wie wir in dieses Haus reingekommen sind, bin ich mir ziemlich sicher, dass wir nicht einfach so ohne Weiteres raus kommen.“

Meta ging in die Hocke und vergrub ihr Gesicht in ihren Händen.

„Das kann nicht dein Ernst sein“, wiederholte sie leise, mehr zu sich, als zu ihr.

Etienne gab ihr etwas Zeit, sich zu beruhigen und sah sich währenddessen im Zimmer um, welches in ihrem kalten Licht getaucht wurde. Sie entdeckte viele, mit Staub bedeckte, Möbel. Es standen Vasen auf Tischen, welche verwelkte Blumen hielten. Die schweren Vorhänge waren vor die Fenster geschoben, sodass kein warmes Sonnenlicht eindringen konnte. Etienne war sich sicher, dass heute das Wetter gut sein sollte. Die Atmosphäre im Vorgarten ergab für sie keinen Sinn. Es hatte regnerisch ausgehen.

Sie sah wieder zu Meta und änderte die Farbe des Lichtes von weiß zu einem wärmeren Farbton. Nun leuchtete es um sie herum in Gelb. Ihr war der kalte Farbton lieber, so konnte sie mehr sehen. Aber vielleicht würde die warme Farbe Meta etwas dabei helfen, sich zu beruhigen.

„Komm schon Meta“, sagte sie und zog sie hoch, „Ich brauche dich konzentriert und gefasst.“

Meta ließ sich hoch ziehen und atmete noch ein mal tief durch, „Ok.“

Sie sah zu ihrer Kette, welche Etienne in der Hand hielt, die Schnur um ihre Hand gewickelt.

„Was ist das?“, fragte sie in einer zittrigen Stimme.

Etienne antwortete ihr ausführlich, um sie etwas abzulenken, „Es ist ein gewöhnliches Artefakt. Nichts besonderes. Es kann die Farbe ändern und hell leuchten. Und es kann die Farbe von Gegenständen ändern, wenn ich etwas berühre.“

Sie hielt den Stein an ihre Jacke, welche auf einen Schlag weiß wurde.

Meta blinzelte verwirrt, „Das hört sich aber nicht nach etwas Gewöhnlichem an.“

„Oh, das ist es. Eigentlich ist es ziemlich nutzlos. Außer es als Lichtquelle zu benutzen, kann ich es kaum für etwas gebrauchen“, sie änderte die Farbe der Jacke zurück.

Meta nickte. Sie schwieg kurz und schloss dann kurz die Augen. Dann blickte sie nach einem kurzen Durchatmen wieder zu Etienne, „Vielleicht sollten wir ins Arbeitszimmer meines Vaters gehen. Er hat auch ein Schatzzimmer, in welchem er die ganzen Sachen gesammelt hat. Vielleicht hat er irgendwas in seinen letzten Tagen reingebracht, was das Ganze hier verursacht.“

Etienne nickte lächelnd, „Dann machen wir das. Laufe hinter mir und beschreibe mir den Weg. Catjill, du hältst deine Sinne offen und sagst mir, wenn sich etwas in unserer Nähe befindet.“

„Ich hasse es, dass du mich aus meinem Wald geholt hast“, sagte er.

Etienne lachte, „Das ist eine Lüge. Nicht, dass es dort besser war.“

Sie drehte sich zu der Treppe, welche auf der anderen Seite des Raumes war und setzte sich in Bewegung. Ihre Schritte wurden durch den einst roten Teppich gedämpft.

Sie gingen hinauf und Etienne sah sich wachsam um. Nichts rührte sich.

„Nach rechts. Dann durch die Tür den langen Gang entlang. So kommen wir im Arbeitsbereich meines Vaters an“, die Stimme war schwach und zittrig. Etienne machte sich Sorgen, dass sie erneut die Fassung verlieren würde. Sie würde dafür sorgen, dass Meta nichts geschah, vermerkte aber im Hinterkopf, dass sie unter Umständen damit rechnen sollte, dass Meta ihr mehr eine Last, als eine Hilfe sein würde. Wenn sie in Panik verfallen würde, müsste sie sich etwas überlegen, um Metas und ihre eigene Sicherheit zu garantieren.

Sie bemerkte, wie Catjill an das Geländer ging und es sogleich bereute, als Staub an seinen Pfoten hängen blieb.

„Komm zu mir“, sagte sie zu ihm. Sie mochte es nicht, dass er so viele Spuren hinterließ. Er befolgte nur zu bereitwillig ihre Anweisung und Etienne unterdrückte ein Seufzen. Sie hatte zwei furchtbar ängstliche Wesen bei sich, um welche sie sich kümmern musste. Das würde ein anstrengender Ausflug werden.

Sie trat an eine Tür heran, „Ist es hier?“

Meta sagte nichts und Etienne blickte zu ihr. Dann schüttelte Meta den Kopf, „Entschuldige, ich habe genickt. Ja, das ist hier.“

Etienne lächelte und öffnete die Tür. Vor ihr erstreckte sich ein langer Gang, an dessen beiden Seiten weiße Vorhänge hingen. Sie vermutete hier die Fenster, welche sie von Außen erblickt hatte. Die Vorhänge hingen ruhig hinunter und Etienne fühlte sich unwohl, während sie in den Gang blickte und nach Gefahren Ausschau hielt. Der Stoff ging nicht nach ganz unten und hing ruhig an den Fenstern. Es würde sich niemand dahinter verstecken können, so viel war sicher. Dennoch mochte sie es nicht, wie schwer es ihr fiel den Überblick über den dunklen Gang zu bekommen.

„Gibt es ein Problem?“, fragte Catjill ungeduldig.

Etienne versuchte mehr vom Gang zu erahnen, ihr Licht reichte jedoch nicht soweit. Sie schüttelte den Kopf und ging vorsichtig vor. Nach einigen Schritten spürte sie einen leichten Luftzug, welcher sie erschaudern ließ. Sie sah sich um, entdeckte aber nichts. Die Vorhänge hingen weiter ruhig hinunter, an der geöffneten Tür war niemand.

Sie ging weiter. Das Licht beleuchtete nun auch das andere Ende des Ganges. Es gab weiterhin nichts zu sehen.

Als sie fast an der anderen Seite angekommen waren, spürte sie ein Schaudern ihren Nacken hinauf wandern.

Sie sah sich wieder um. Meta wimmerte leise hinter ihr, „Ich bin mir wirklich unsicher. Vielleicht sollten wir wieder zurück gehen?“

Sie hielt Etiennes Hand so fest, dass es schon beinahe weh tat. Etienne spürte ihre Fingernägel durch die Handschuhe und war froh, diese an zu haben. Sie drehte sich zu Meta um und wollte sie erneut beruhigen, ihr versichern, dass solange sie bei ihr blieb, ihr nichts passieren würde. Sie hielt jedoch inne, als sie merkte, wie sich hinter Meta etwas regte. Ein Vorhang wehte sanft hin und her. Meta spannte sich an, als sie ihren Blick entdeckte und dann sah sie sich um. Auch sie entdeckte den Vorhand und die Fingernägel gruben sich tiefer in Etiennes Hand.

„Was ist...? War…?“, fragte sie. Ihre Stimme zitterte und brach.

Etienne atmete durch, „Nein, ich bin mir sehr sicher, dass keines auf war.“

„Wirklich?“, fragte Catjill, „Vielleicht hast du es übersehen.“

„Ich sollte eher fragen, ob du dir sicher bist, dass hier nichts ist?“, erwiderte sie.

Er gab ein beleidigtes Geräusch von sich, „Natürlich ist hier nichts! Ich hab das ordentlich durchgeschaut, uns sollte nichts in den Weg kommen. Zumindest noch nicht.“

Etienne blickte hinter ihre Schulter, wo ein weiterer dunkler Gang sich erstreckte. Dann sah sie wieder zum wehenden Vorhang, „Lass uns weiter.“

„Etienne …“, meinte Meta widersprechend. Dann schwang der Vorhang sehr stark nach oben und fiel sanft wieder hinunter. Meta schwieg, sah mit großen Augen in den Gang.

Etienne zog an ihrem Arm und sagte eindringlich, „Ich glaube wir gehen jetzt.“

Meta ließ sich mitziehen. Stolperte über ihre Füße, als sie versuchte hinter Etienne zu kommen.

Dann schwang der Vorhang wieder hinauf und hinab und sie hörten ein Wimmern. Der Vorhang senkte sich diesmal nicht direkt und fiel über eine Form, welche Etienne physisch nicht ausmachen konnte, und das versetzte sie in Unruhe. Etienne fragte alarmierend, „Catjill. Was ist das? Ein Geist?“

Plötzlich rannte Meta los und Etienne lief ihr sofort hinterher. Sie beeilte sich, sie einzuholen, versuchte ihren Arm zu erwischen, damit sie nicht von ihr getrennt werden würde.

Verflucht, dachte sie. Sie wäre um so viel besser dran, wenn sie sich nicht um Andere kümmern müsste. Aber etwas sagte ihr, dass Meta in diesem Haus sehr erwünscht war.

 

Als Gilgian in der Schule ankam, war er noch verwirrter als am Morgen. Metas Brief ließ ihn ratlos. Irgendwie widersprach er sich. Wahrscheinlich hatte das neue Balg damit zu tun. Taucht einfach auf und macht, was es will. Genauso wie die zwei Idioten, die er beinahe jeden Tag ertragen musste. Wieso starben sie nicht einfach einen langen, qualvollen Tod, um niemanden weiter zu nerven? War das zu viel verlangt?

Wie immer war Gilgian einer der ersten in der Klasse. Man sah es ihm vielleicht nicht an, aber er wollte eine gute Bildung haben. Nur nervten die Lehrer ihn. Und zwar ständig. Sowohl der laute Cruz, die hyperaktive Warlen, der zu stille Herdayan, die verdammte O'Donnel und auch der hinterhältige Illusianar. Jeder von ihnen. Fünf Lehrer, die er fast jeden Tag sah und nicht einer von denen konnte einfach normal sein. Er seufzte und warf seine Tasche neben seinen Tisch. Khalas war bereits da. Mit seiner Brille und den zu großen Streberkleidern sah er wie ein unschuldiger Junge aus. Er hatte nichts an sich, was einen fantastischer Boxer vermuten ließ. Gilgian hatte einmal gegen ihn gekämpft und nur mit viel Mühe gewonnen. Deswegen hatte Gilgian ihn mit sich. Einen sehr guten Kämpfer der ihm zur Not beistehen würde. Aber er sollte nicht Gilgian, sondern seine Schwester beschützen. Nicht, dass Gilgian nicht selbst dazu in der Lage gewesen wäre. Er wollte aber, dass sie in sicheren Händen war, falls es einen direkten Angriff auf ihn geben sollte. Und Khalas war gut genug dazu. Und wenn nicht, würde Gilgian ihm alle Knochen brechen.

„Wo ist Meta?“, fragte dieser.

„Nicht hier“, erwiderte Gilgian.

Und damit war das Gespräch beendet. Ein weiterer Grund, weshalb Gilgian ihn gewählt hatte. Eine Antwort reichte ihm, er brauchte nicht nachzuhacken.

Langsam trödelten alle in die Klasse. Scarlett, die Kuh, kam ebenfalls als eine der Ersten. Dann die ganze, hinterhältige Eliastruppe. Obwohl Gilgian Scarlett absolut nicht mochte, war es beachtenswert, dass sie immer ganz allein in einer Klasse voller Feinde war, ohne auch nur die Spur von Angst zu zeigen. Raffael und sein treuer, kleiner Schwertkämpfer kamen immer als Letztes, meistens auch zu spät. Heute kamen sie jedoch tatsächlich sogar etwas früher. Nicht gleich zu Unterrichtsbeginn, knapp vor dem Lehrer, sondern tatsächlich ganze fünf Minuten früher. Gilgian beobachtete wie Raffaels verdammtes, lächelndes Gesicht, in das er am liebsten stundenlang einschlagen würde, leicht verwirrt zuckte, als er das Platz dieses nervigen Balgs leer entdeckte. Auch jetzt fiel es Gilgian auf, dass sie nicht da war und das machte ihn wütend. Nicht nur schlafen, sondern auch schwänzen. Was zur Hölle wollte sie in der Schule, wenn nicht lernen? Es war eine sinnlose Frage, denn Gilgian kannte die Antwort bereits von Tatinne. Natürlich war wieder der Idiot schuld. Wieso konnte er dem blöden Mädchen nicht einfach den Stein überlassen, damit sie verschwand und nicht alles durcheinander brachte? Er hatte bereits vermutet, dass Raffael versuchen würde Einfluss auf die Person der Vorhersehung auszuüben. Er verstand noch nicht genau, was sein Plan war, denn momentan sah es eher danach aus, als würde er sie gegen sich aufbringen. Gilgian selbst war es herzlichst egal, ob er als Herrscher abgelöst wird oder nicht. Er hatte sowieso nicht vor, lange in dieser verfluchten Stadt zu bleiben. Interessant wäre es jedoch herauszufinden, was Elias und seine Familie planen würden. Diese würden niemals die Macht abgeben. Raffael würde einiges vor sich haben, wenn er sich aktiv auf Etiennes Seite stellen würde. Gilgian war immer noch in seinen Gedanken, als er dann plötzlich Bemerkte, wie Raffaels Blick auf den leeren Platz von Meta fiel. Er sag ihnen einen Moment ruhig an, hob dann überrascht die Augenbrauen und lächelte wissend. Und wenn Gilgian eines in diesen vergangenen Höllenjahren, die er mit Raffael und Elias verbringen durfte, gelernt hatte, dann war es diesen Blick niemals zu unterschätzen. O'Donnel, die Dämliche, stand schon seit mindestens fünf Minuten im Raum und versuchte mal wieder sinnlos die Klasse zur Ordnung zu rufen. Sie taten es mit Absicht, nur um sie zum Aufregen zu bringen.

Gilgians Faust knallte auf den Tisch, als er langsam dahinter kam. Die Gespräche verstimmten, als das Holz unter seiner Hand zersprang. Er sprang auf, schnappte Raffael an seinem Kragen und zog ihn mit hinaus.

„Bleib da“, meinte er noch zu Khalas.

Und nachdem das gehört wurde, blieben auch alle anderen in der Klasse. Er spürte die Unruhe, die er mit seiner Handlung verursacht hatte, die angespannte Stille, die schwer im Klassenzimmer wog. Dennoch, es würde sich keiner einmischen. Raffael grinste ihn im Flur an und meinte, „Bitte nicht die Kleider runter reißen. Ich weiß, ich bin anziehend und ich bin für Experimente zu haben, aber in der Schule?“

„Was?“, meinte Gilgian verwirrt und dann fiel ihm wieder ein, dass es Raffael war. Immer dumme Sprüche, um von den wichtigen Angelegenheiten abzulenken. Es hatte Gilgian etwas Zeit gekostet herauszufinden, dass Raffael es insbesondere immer dann tat, wenn er ihn damit auf die Palme bringen konnte. Dadurch behielt er eine Kontrolle, der Gilgian nichts entgegenbringen konnte, denn sobald Gilgian der Wut die Überhand gab, verlor er jegliche Kontrolle an ihn.

Und diese kehrte schlagartig zurück, „Was zur Hölle hat deine kleine, neue Kuh mit meiner Schwester gemacht?“

Raffael hob eine Braue, „Woher soll ich das wissen? Ich weiß nicht einmal ob sie zu zweit unterwegs sind.“

„Lüg mich nicht an“, sagte Gilgian drohend, „Du vermutest etwas, nicht?“

Raffael lachte und machte sich von seinem Griff los, „Wie kommst du darauf?“

„Weil ich dein verdammtes Gesicht leider viel zu gut kenne. Was weißt du? Zwing mich nicht es aus dir heraus zu prügeln.“

Raffaels Miene wurde belehrend und Gilgian hasste es, wenn er das tat, „Das würde aber gegen die Vereinbarung verstoßen.“

„Das ist mir egal. Glaub mir, wenn Meta etwas passiert, werde ich einen Weg finden, um es dir anzuhängen. Und ich weiß jetzt genug um zu vermuten, dass du zumindest dafür verantwortlich bist, dass dieses Gör überhaupt die Chance hatte, mit Meta in Kontakt zu treten. Du hast sie hergeholt.“

Raffael zuckte seiner drohenden Stimme mit den Schultern entgegen, „Ich kann nichts für das, was sie hier tut.“

„Wohin sind sie gegangen?“, knurrte Gilgian zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

Raffael seufzte, blickte kurz aus dem Fenster. Die Morgensonne leuchtete unangenehm in die Hallen hinein. Dann sah Raffael wieder zu Gilgian und sagte, „Sie ist auf der Suche nach den Steinen der Austreibung.“

„Den du ihr geklaut hast“, meinte Gilgian. Er hatte die Geschichte von Tatinne gehört. Er hatte sie im Gang zum Direktor vorgefunden und sie hatte ihm von alleine alles erzählt. Gilgian vermutete, dass Raffael sie genug auf die Palme gebracht hatte, dass ihre bereitwillige Erzählung dazu gedient hatte, Gilgian gegen Raffael aufzubringen. Und wenn sie gewusst hatte, dass Meta in dem Ganzen zusammenhing, dann war sie auf gutem Weg dahin, Erfolg zu haben. Hinterlistige alte Frau.

Raffael lachte erneut und Gilgian wollte verdammt sein, aber es schien wirklich, als hätte der Mistkerl Spaß an der Sache. Er hatte es noch nie geschafft, ihn wirklich wütend zu sehen.

„Hat deine Schwester irgendwas mit den Steinen von Expulsio zu tun?“, fragte er dann.

Gilgian runzelte die Stirn, „Möglich. Wieso?“

„Das ist dann ein Ja“, und Gilgian hasste ihn noch etwas mehr, „Wo könnten sie hingegangen sein? Wahrscheinlich dahin wo der Stein aufzufinden ist. Was mich eher interessiert ist, wie Etienne es geschafft hat deine Cousine zu überzeugen da mitzumachen?“

„Schwester“, korrigierte Gilgian knurrend. Für ihn war sie immer seine Schwester.

Er hatte eine gute Vorstellung davon, wohin sie gegangen sind. Es wäre genau der Ort, an dem sie durch furchtbare Erfahrungen zu Geschwistern geworden sind. Sein Onkel war schon immer eine gerissene kleine Ratte gewesen. Meta war ganz anders als er. Sie war aufrichtig, wollte niemandem etwas zu Leide tun. Sein Onkel hingegen, hat nur zu gerne mit den Hoffnungen der Menschen gespielt. Sie reingelegt und dann über ihr Leiden gelacht. Gilgians Kiefer verspannte sich, als ihm klar wurde, gegen was er anzutreten hatte. Und dazu kam noch dieses Gör. Er seufzte, „Gut, du kommst mit.“

„Was?“, meinte Raffael überrascht, „Wieso sollte ich das?“

Es war nicht das erste Mal, dass Gilgian ihn überrascht erlebt hatte. Damals hatte er jedoch beinahe schon Mitleid mit ihm gehabt.

„Weil es deine verdammte Schuld ist, dass dieses Balg hier aufgetaucht ist. Also wirst du mir dabei helfen, sie aus meinen Angelegenheiten herauszuhalten.“

Raffael schnaubte grinsend, „Sie war von Anfang an hinter den Steinen her. Also wäre sie so oder so in dieser Stadt aufgetaucht.“

„Ja, aber wahrscheinlich wäre sie nicht dieser Schule beigetreten.“

Raffael lachte erneut, „Vielleicht, wir werden es nicht herausfinden. Ich werde dieses Abenteuer aber aussitzen.“

Gilgian zögerte kurz, sah ihn prüfend an. Das war eine für Raffael unübliche Reaktion. Gilgian war nicht einfallsreich genug, um herauszufinden, wieso er die Chance nicht nutze. Offensichtlich hatte er mit dem Balg was vor, sei es ihr dabei zu helfen, Calisteo zu einen oder sie auszuschalten, damit sie genau dies nicht tat. Eine Chance wie diese könnte für beide Möglichkeiten von Vorteil sein. Doch Gilgian konnte sich auf sein Instinkt verlassen und nach den letzten Jahren, in denen er Raffael kennengelernt hat, wusste er, dass letzteres Unwahrscheinlich war. Und er hatte auch schon die beste Idee es zu prüfen.

„Gut“, sagte er lächelnd. Zufrieden bemerkte er das Misstrauen in Raffaels Gesicht, als dieser bei seiner Antwort stutzig wurde.

Gilgian drehte sich um und ging, dann hörte er Raffael hinter sich sagen, „Du hast aber erstaunlich locker nachgelassen.“

Gilgian spürte sein Grinsen breiter werden. Raffael würde Wissen, dass Gilgian ihn aus einem bestimmten Grund gefragt hatte. Als kämpferischen Beistand hätte er jeden anderen seiner Untergebenen fragen können. Raffael war aber schlau. Und das brauchte er auf die Schnelle mehr. Sicherlich war Raffael diese Vermutung auch gekommen.

„Ich habe mir zunächst überlegt, dass ich die beiden sicher aus der Lage rausholen könnte. Aber da du scheinbar nicht helfen magst, habe ich beschlossen diesem Balg alle Knochen zu brechen und sie dann meinem Onkel vorzuwerfen.“

Er drehte sich zu Raffael um, „Wenn du dich in den Lauf der Dinge einmischst, werde ich es auch machen. Wahrscheinlich wird sie überleben. Nicht aber, ohne von diesem Erlebnis ein paar Traumata mitzunehmen. Und dafür ist das Haus perfekt geeignet.“

Er wartete kurz, was Raffael dazu sagen würde. Er sah seinen prüfenden Blick und gab ihm Zeit abzuschätzen, wie Ernst es Gilgian meinte. Ob dieser Weg oder ein anderer, Gilgian war es gleich. Es würde sich nicht die Mühe machen, beide sicher von dort herauszuholen. Meta war ihm genug, sie war die Einzige, der er sich verpflichtet fühlte. Und entweder würde Raffael sich um das Gör kümmern oder Gilgian würde sie als Opfer nutzen. Ob dieser Weg oder ein anderer, ihm war es gleich.

Er sah, wie Raffaels Blick sich verdüsterte. Dann sagte er, „Ohne eine Gegenleistung kann ich dir nicht helfen.“

Gilgian lachte, „Ah, natürlich.“

Er würde schlecht vor den Provinzmitgliedern dastehen, wenn er einfach so einem Feind half. Dasselbe galt für Gilgian, aber ihm war es egal. Er würde sowieso nicht mehr lange in der Stadt leben. Er überlegte sich kurz, ob es das Wert war und entschied sich dann, darauf einzugehen. Auch wenn er seinen Verpflichtungen nicht mehr lange nachgehen müsste, er müsste auch nicht dafür sorgen, dass die Situation in der Stadt schlimmer wurde. Nicht nachdem er sich so viel Mühe gegeben hatte, diesen Vollidioten so lange bei Tatinne auszuhalten, bis sie endlich einen relativen Waffenstillstand auf den Tisch gebracht haben.

„Keine Unterwerfung“, sagte er an Raffael gewandt, „ich werde nicht für dich töten oder für dich kämpfen. Und ich werde nicht in deine Provinz gehen. Ich werde auch nicht Öffentlich etwas machen, worum du mich bittest. Egal was es sein wird, es wird diskret und nicht viel Zeit in Anspruch nehmen. Und du wirst diesen Gefallen nicht missbrauchen, um zu schaden.“

Raffael sah ihn einen Moment ausdruckslos an, dann lächelte er wieder und Gilgians Genugtuung wich dem Misstrauen.

„Einverstanden“, sagte er und ging zu ihm. Gilgian drehte sich um und machte sich auf den Weg zum Haus seines Onkels. Er sah, wie Raffael seine Waffen checkte und sagte, „Erzähl mir etwas über deinen Onkel.“

„Wieso sollte ich?“, fragte er genervt.

„Ich kann am Besten helfen, wenn ich mehr über die Situation Bescheid weiß. Mal abgesehen davon“, führte er weiter aus, „werde ich nicht in ein Haus hinein spazieren, wenn es offensichtlich eine Gefahr gibt, von der ich kaum etwas weiß.“

Gilgian schwieg kurz. Es nervte ihn, sein Wissen über diesen Ort mit Raffael zu teilen. Dann seufzte er und entschied sich, ihn nur über seinen Onkel zu informieren.

6.

Sie liefen in den ersten Raum, den sie finden konnten und Meta verschloss die Tür. Sie atmete schnell und hielt sich die Seiten. Etienne sah die Tür stirnrunzelnd an, „Wenn das ein Geist ist, müsste er nicht durch die Tür schweben können?“

„Halt die Klappe!“, rief Meta beinahe weinend aus, „Mach es nicht schlimmer indem du es schwarzmalst!“

Etienne lächelte und probierte den Lichtschalter aus. Der Raum erleuchtete in hellem Licht. Doch was sie zu sehen bekamen war ebenfalls gruselig. Etienne, Meta und Catjill betrachteten den Raum mit großen Augen. Es gab sehr viele Puppen und Spielzeuge. Sie sahen nicht freundlich aus.

„Das ist das Spielzimmer meines Vaters“, jammerte Meta, „Oh, lass uns wieder gehen, ich habe schon immer dieses Zimmer gehasst.“

Etienne betrachtete weiter den Raum, „Das ist ja fabelhaft. Wie viele hat er gesammelt?“

Er war mehrere Schritte lang. In der Mitte gab es eine Couch und einen Tisch. Zwei Sessel waren drum herum angeordnet. Ein großer Teppich füllte den Boden des Raumes aus. Die Wände waren voll von Regalen, an denen verschiedene Puppen und Spielzeuge aufgereiht waren.

„Alles, was er finden konnte“, sagte Meta und drückte sich an die Tür, „Etienne, sollten wir nicht wirklich weiter?“

„Ich will mir die Sachen nur mal kurz anschauen“, sagte sie und trat von Regal zu Regal, „Er muss ja aus allen möglichen Jahren was gesammelt haben. Die hier sieht aus, als wäre sie aus der alten Welt.“

„Bist du ein Puppenfan?“, fragte Meta.

Etienne ging weiter, „Nein. Aber diese Sammlung ist beeindruckend. Oh schaue, diese hier ist sogar verflucht.“

Meta blickte mit großen Augen zu der Puppe, auf die Etienne zeigte, „Woher weißt du das.“

„Ich hab da so ein Gespür für“, sagte Etienne. Sie ging dann weiter durch den Raum, „Hast du die Puppen je gesehen?“

Sie sah kurz zu Meta und Meta blickte zu der Couch und dem Tisch, bei dessen näheren Betrachtung Etienne nun ein Set aus hübschen zueinanderpassenden Tassen und Tellern vorfand.

„Vater hat mich früher immer mit ihnen spielen lassen“, sagte sie dann. Sie blickte auf ihre Hand und dann wieder zu den Spielzeugen und etwas in ihrer Stimme schien zu brechen, „Sind sie wirklich verflucht?“

„Nicht alle“, versicherte Etienne ihr, „Die meisten sind normal. Aber hier und da gibt es welche, die sich seltsam anfühlen. Wobei… diese scheint übel zu sein.“

Sie sah wieder zu Meta, welche sie ausdruckslos anschaute. Etienne fragte sie, „Ist dir nie etwas Komisches aufgefallen?“

Meta lächelte sie traurig an, „Natürlich. Ich dachte aber immer, dass diese Dinger einfach nur gruselig sind. Ich mochte nie wirklich Puppen und Vater schleppte immer welche an, die er mir dann gab. Manchmal hatte ich Albträume und das so lange, bis er das Ding wieder aus meinem Zimmer geholt hat. Und manchmal haben sie sich sehr seltsam in meinen Händen angefühlt.“

Etienne nickte, „Manche von denen erkenne ich aus den Verschriftlichungen wieder. “

„Oh wunderbar“, sagte Meta und seufzte müde.

„Bist du wieder zu Atem gekommen?“, fragte Etienne sie. Sie musterte Meta vorsichtig aus dem Augenwinkel. Wenn sie gewusst hätte, dass das Ganze solch ein emotionales Unterfangen für Meta werden würde, hätte sie den Ort vorher beobachtet. Sie hat sich stattdessen dazu verleiten lassen, so schnell wie möglich die Suche anzugehen. Meta sah grau im Gesicht aus. Ihr Beine zitterten noch etwas, während sie an der Tür lehnte. Seit Etienne sie nach den Puppen gefragt hatte, rieb sie sich andauernd die Handflächen.

„Tut dir etwas weh?“, fragte Etienne.

„Ich hab mir nur was gestoßen“, erwiderte sie. Catjill schwebte zu ihr und schmiegte sich an ihren Hals. Etienne musste über den Trost ihres Djinns lächeln. Sie war sich nicht sicher, ob das seine Djinnfähigkeit oder ob er einfach nur sehr empathisch war. Aber sie wusste, dass wenn es drauf ankam, er seine raue Art ablegte und tröstend da war. Am Anfang war er vorsichtig, fast schon schreckhaft, bereit davon zu laufen. Doch als Meta sich seufzend an ihn zurück schmiegte, wurde er mutiger und schien fast schon erfreut, dass seine Hilfe angenommen wurde.

Meta sah wieder zu Etienne und ihr Blick wechselte zu Panik. Etienne blinzelte verwirrt und drehte sich dann wieder zu der Puppe um. Dann schrie sie auf und sprang zurück. Die Puppen schwebten empor und Gekicher war im ganzen Raum zu vernehmen. Die Puppe, die Etienne so sehr bewundert hatte, schien in der Luft zu tanzen. Weitere schlossen sich ihr an, während sie lachend um Etienne schwebten. Sie trat langsam zurück und durchforstete beunruhigt in ihrem Kopf nach Wissen, welches das erklären konnte. Eine der Puppen schoss auf Etienne zu. Etienne fing sie auf, eher sie in ihrem Gesicht landen konnte. Sie sah verwirrt zu ihr hinunter, hatte ihre roten Stoffhaare in ihrer Hand. Als ihre Hand zu brennen anfing, stoß Etienne sie von sich. Sie trat weiter zurück.

„Meta! Raus hier!“

Etienne schrie auf und duckte sich, als ein weiterer Schwall Puppen mit Gelächter auf sie zuflog. Weitere Spielzeuge erwachten zum Leben. Kleine Autos, welche die Polizei darstellten, von der Etienne wusste, dass es sie in Calisteo unter diesen Namen nicht mehr gab, fuhren ihr über die Füße und trafen mit Vollgas gegen ihre Schienbeine. Fliegende Maschinen flogen mit voller Geschwindigkeit gegen sie, gefolgt von den Puppen, welche Etienne unter allen Umständen vermeiden wollte, denn in diesem Chaos konnte sie nicht ausmachen, welche verflucht waren und ihr schaden konnten und welche einfach nur von den verfluchten Puppen missbraucht wurden.

Sie stolperte zurück und ein Auto schaffte es unter ihren Fuß zu kommen. Dann fuhr es mit Vollgas nach vorne, sodass Etienne mit dem Rücken zu Boden fiel. Der Aufprall drückte ihr die Luft aus der Lunge. Nach Luft schnappend rollte sie sich herum und beeilte sich auf die Beine zu kommen, bevor die Menge an Spielzeugen sie erdrücken konnte. Die Maschinen flogen gegen ihre Arme und Beine, versuchten sie wieder herunter zu reißen.

„Catjill!“, schrie sie verzweifelt und sein Zauber schlug in einer Welle gegen die Spielzeuge, welche gegen die Regale gewirbelt wurden. Etienne rannte raus, ignorierte die Kratzer an ihrem Gesicht und Hals. Sobald sie draußen war schloss sie die Tür. Meta und Catjill pressten sich panisch an die Wand gegenüber. Etienne saß mit dem Rücken an die Tür gelehnt, hielt sie verschlossen. Sie atmete schwer und unterdrückte ein Schauer bei dem Gerümpel auf der anderen Seite.

„Ein bisschen mehr Hilfe, wäre nicht zu viel verlangt“, meinte sie an Catjill gewandt.

„Bist du verrückt?“, fragte dieser panisch, „Hast du diese Dinger gesehen? Hast du sie gesehen?“

Meta ließ sich an der Wand hinunter sinken, „Ich will nach Hause.“

„Versiegle die verdammte Tür!“, rief Etienne aus.

„Schrei mich nicht an!“, erwiderte Catjill setzte sich aber in Bewegung und berührte mit der Stirn die Tür. Daraufhin sprang Etienne zur Seite und war bereit Meta zu schnappen und wegzulaufen. Aber die kleinen Biester kamen nicht durch. Das Gelächter war einem beschwerenden Weinen gewichen.

Etienne packte Catjill und drehte ihn zu sich, „Siehe dir die Kratzer an. Bin ich verflucht? Haben sie mich verflucht?“

Seine großen Augen blickten panisch in ihre Gesicht, als Etienne ihn einen Kratzer an ihrer alten Narbe zeigte und anschließend zu ihrem Hals, welcher ebenfalls nicht verschont geblieben war. Sie war so froh um ihre dicke Jacke.

„Nein“, sagte der Kater, „Ich bin mir sicher, du bist nicht verflucht.“

„Ah ja?“, meinte Etienne, leicht wütend, „Wie sicher bist du dir? So sicher, wie du meintest, dass niemand im Haus sei?“

Sein Fell richtete sich auf, „Ich bin mir sehr sicher! Und da war niemand!“

Etienne seufzte und atmete kurz durch. Sie war so überwältigt worden von den kleinen Biestern, dass sie ihre Wut an Catjill ausließ.

„Tut mir Leid“, sagte sie, „Ich glaube dir und ich hab das nicht so gemeint.“

Er riss sich aus ihrem Griff los und kuschelte sich an ihren Hals. Sie hätte ihn nicht anschreien dürfen. Beruhigend strich sie ihm durch das Fell, als er Trost bei ihr suchte, obwohl sie diejenige war, die ihn angefahren hatte.

Sie wandte sich an Meta, „Wo ist das Arbeitszimmer deines Vaters?“

Diese zögerte, doch dann erreichten die Worte ihren Verstand, „Ich bin immer noch der Meinung, dass wir von hier verschwinden sollten.“

Catjill hob den Kopf und sah sie an, „Du glaubst doch nicht wirklich, dass sie uns einfach wieder heraus spazieren lassen?“

Meta fing zu stottern an, „W-Wie meinst du das?“

„Naja,“, meinte Etienne und zeigte mit dem Daumen hinter sich zu der geschlossenen Tür, „Die haben versucht mich umzubringen und wir haben sie eingesperrt.“

„Ich glaube, dass es da auch Geister gab“, sagte Catjill, „Nicht alle waren verflucht.“

„Ah, wie schön“, erwiderte Meta sarkastisch.

„Nicht wirklich“, erwiderte Catjill, welcher den Unterton nicht verstanden hatte, „Geister sind nie freundlich. Außerdem sind sie gierig. Die lassen uns nicht raus.“

„Also bist du auch gierig?“, fragte Etienne.

„Nein, du dummes Mädchen, ich bin ein Djinn. Meine Sorte ist nicht gierig, denn das hat sie nicht nötig. Wir erobern nicht, wir besitzen.“

„Das ist doch nicht dein Ernst?“, erwiderte Etienne spöttisch.

„Das ist jetzt nicht das Thema!“, schrie Meta dazwischen, ihre Stimme einige Oktaven höher, „Soll das etwa heißen, wir sind hier drin eingesperrt?“

Etienne lächelte sie an, „Das waren wir vorher auch schon.“

Meta atmete schwer, „Wie kannst du bei so einer Situation lachen?“

Etienne half ihr auf, „Es gib weitaus schlimmeres als gruselige Häuser mit mordlustigen Geistern, die nach deinem Blut trachten, um es nach deinem qualvollen Tod zu trinken und anschließend deinen Körper zu verspeisen.“

Meta sah sie schockiert mit großen Augen an, „Ist das dein Ernst?“

Catjill lachte.

Etienne schlug Meta auf die Schulter, „Los. Bring mich zum Arbeitszimmer deines Onkels! Und ich kümmerte mich darum, dass wir so schnell es geht hier heraus kommen.“

 

„Das ist ja wie im Horrorfilm. Naja, die gutaussehenden überleben meistens“, sagte Raffael unbesorgt. Er zog seine Schuljacke aus und hängte sie auf einen der Eisenstangen in dem Zaun.

Gilgian verdrehte die Augen und murmelte, „Was für ein Idiot.“

„Sei dankbar, dass ich mitkomme“, erwiderte Raffael.

„Wann hast du überhaupt einen Horrorfilm gesehen?“

„Nexim hatte ein paar“, sagte er.

„Muss schön sein, wenn man bedenkt, was du alles von ihm übernehmen konntest.“

Raffael funkelte ihn wütend an, sagte aber nichts dazu. Alle wussten, dass er seine Rolle als Provinzsherrscher nicht wegen Nexims Reichtum an sich genommen hatte. Als Gilgian ihn und Scarlett kennengelernt hatte, haben die beiden gemeinsam mit Raffaels Mutter in ärmlichen Verhältnissen gelebt, wie nahezu alle Mitglieder des zweiten Provinzs. Demnach gab es Menschen, welche vermuteten, dass Raffael deswegen die Macht an sich gerissen hat. Aber Gilgian und einige andere wussten, was über Wochen hinweg hinter den Kulissen passiert war. Er würde Raffael dennoch Habgier vorwerfen. Einfach nur, weil es ihn nervte.

„Wie sollen wir reinkommen? Hast du einen Schlüssel?“, fragte dieser ihn. Seine wachsamen Augen inspizierten das Anwesen. Gilgian hat auch schon einen Blick auf den Garten geworfen. Hier und da hat er eindeutige Fußspuren im Schlamm sehen können. Es war eindeutig, dass hier jemand gewesen war. Blieb nur zu hoffen, dass es sich um Meta handelte und sie nicht woanders hin verschleppt wurde.

Gilgian beantwortete Raffaels Frage, indem er den Kopf schüttelte.

„Wie kommen wir rüber?“, fragte dieser dann, mit dem Blick auf den Zaun.

Ohne Raffael etwas Näheres zu sagen nahm er ihn am Kragen seines Hemdes.

Raffael blickte ihn warnend an, „Wag dich.“

„Mach ich“, sagte Gilgian lächelnd. Dann hob er ihn hoch und warf ihn über den Zaun.

Raffael schrie nicht einmal auf, sondern lachte und rollte sich geschickt auf der anderen Seite ab. Gilgian wusste nichts über seine Fähigkeiten, außer, dass er verdammt schlau war. Aber das, was Raffael gerade geleistet hatte, war das absolute Minimum, was Gilgian von einem Provinzherrscher erwartete. Obwohl er sich sehr gewünscht hätte, der Mistkerl wäre mit seinem verfluchten Gesicht im Dreck gelandet.

Er betastete seine Jacke und meinte, „Oh schau mal, ich hab doch einen Schlüssel.“

Raffaels Augen wanderten zu ihm und Gilgian holte den grauen Schlüssel, welcher an einer Kette hing.

„Weißt du“, meinte Raffael, während er sich den Dreck von der Bluse schlug, „Wenn du vorhast daraus einen Kampf zu machen und ich mich nicht darauf verlassen kann, dass du mir nicht in den Rücken fällst, nur um mir eins auszuwischen, dann werde ich vielleicht doch nach Hause gehen.“

„Stell dich nicht so an“, murmelte Gilgian und öffnete das Tor, „Keine Sorge, sobald wir drin sind, werde ich schonender mit dir umgehen. Auch wenn du eine Prügel verdient hast.“

Raffael schob seine Hände in seine Hosentacshentaschen und betrachtete die Umgebung. Sie atmeten weiße Wölkchen. Gilgian konnte nicht einschätzen, an was er dachte.

„Ah, sie waren definitive hier“, sagte Raffael grinsend und deutete auf die Fußspuren. Wobei die einen so schwer zu entdecken waren, dass er sie beinahe übersehen hätte. Er hatte sie aber nicht übersehen und Gilgian auch nicht.

„Ich werde dem Balg das Fell über die Ohren ziehen“, knurrte Gilgian.

„Ich bin noch nicht mit ihr fertig“, widersprach Raffael.

„Willst du deinen Gefallen einlösen?“

Raffael lachte, „Nein, noch nicht.“

Gilgian zuckte mit den Schultern, „Dann auf geht’s.“

Raffael pfiff leise, als er sich umsah, „Das sieht wirklich sehr verflucht aus. Wäre das wirklich auf deinen Onkel zurück zu führen?“

Auch Gilgian sah sich um, „Ich war mir sehr sicher, dass ich mich gut um ihn gekümmert hatte. Ich schätze, er war doch sehr stur.“

Sein Onkel hatte schon vor langer Zeit den Verstand verloren. Er war wie besessen von seinen Artefakten, von seiner Sammlung an Gegenständen aus der alten Welt. Wahrscheinlich hatte er nicht vor, loszulassen. Gilgian hätte sich früher darum kümmern sollen. Er hatte diesen Ort aber schon lange nicht mehr betreten und hatte vor, ihn aus seinem Gedächtnis zu streichen.

„Wohin gehen wir?“, fragte Raffael, als er ihm in den dunklen Raum folgte. Gilgian bemerkte, wie er einen weiteren Ring anzog und seine Waffe zog.

„Denkst du, dass eine Schusswaffe etwas gegen die Monster hier ausrichten kann?“, fragte Gilgian.

„Meine kann das. Also, wohin?“

„Keine Ahnung. Wir suchen sie einfach.“

Raffael seufzte und Gilgian wollte ihn dafür schlagen.

„Wir können nicht einfach so im Haus herumspazieren. Nicht nachdem, was du mir erzählt hast.“

„Und wieso nicht?“

„Weil es zu gefährlich ist. Ah komm schon, du kannst noch so stark sein, einen Geist kannst du nicht schlagen. Mal abgesehen davon weißt du nicht einmal, was dein Onkel hier alles angeschleppt hat.“

Gilgian knurrte. Er würde ihn umso gern schlagen.

„Und was sollen wir deiner Meinung nach machen?“

„Wie wäre es mit einem Anhaltspunkt? Wo könnte sie den Stein finden? Oder Informationen dazu, oder irgendeinen Raum, der etwas mit diesem Ding zu tun haben könnte.“

Gilgian seufzte, denn er mochte es nicht Raffael dahin zu bringen, „Das Arbeitszimmer meines Onkels. Da müsste alles zu finden sein.“

„Na dann gehen wir dahin“, sagte Raffael und deutete ihm, vorzugehen.

Doch sie kamen nicht weit, als dann auch plötzlich ein Knurren hinter ihnen zu vernehmen war. Sie drehten sich um und entdeckten einen Schatten, welcher bedrohlich zu ihnen kam.

„Ah“, meinte Raffael genervt und seltsamerweise konnte Gilgian ihm zustimmen.

„Ich hoffe für dich, dass du dich dagegen wehren kannst“, meinte Gilgian und deutete ihm lächelnd den Vortritt an.

 

Als Etienne und Meta im Büro ankamen, hatten sie genug von diesem Haus. Etienne hatte sich selten auf so eine Art und Weise gejagt gefühlt, verfolgt von schaurigen Vorstellungen, welche ihr unter die Haut krochen und dann wahr wurden und auf ein Mal ging es nicht mehr darum, keine Angst zu haben, sondern zu überleben.

„Wie hast du es nur geschafft hier zu leben?“, fragte Etienne.

„Als ob es früher so gefährlich gewesen wäre!“, erwiderte Meta.

„Egal“, meinte Etienne und streckte sich. Sie sah sich um und betrachtete jeden Winkel des Zimmers. Es schien nichts auffällig. Dennoch erwartete sie, dass der alte Füller sich gleich vom Tintenglas hob und auf ihren Kopf zuflog. Sie machte sich auf den Weg, den Schreibtisch zu betrachten. Papier, über Papier, vergilbt und verstaubt. Und es stand nichts interessantes drauf.

Etienne seufzte, „Catjill?“

Der Kater schnaubte zufrieden, „Du kriegst echt nichts alleine auf die Reihe.“

„Mach deine Arbeit“, erwiderte Etienne lächelnd.

„Was macht er?“, fragte Meta, als Catjill durch den Raum flog und sein langer, wuscheliger Schwanz alles berührte.

„Er sucht nach etwas, was mit dem Stein von Expulsio zu tun haben könnte“, sagte Etienne. Das war seine Hauptaufgabe in ihrem Vertrag. Meistens war es, wie nach einer Nadel im Heuhaufen zu suchen. Deswegen musste sie nach den ersten Spuren suchen, recherchieren. So war es, als sie nach dem ersten Stein gesucht hatte. Ihr Glück, dass Calisteo alles hatte, was sie suchte. Sie hätte vorher zu ihrer Tante gehen sollen.

„Das kann er?“, fragte Meta staunend nach.

Etienne lächelte bei diesen Worten. Sie konnte nur ahnen, wie weit Djinns Fähigkeiten reichten. Bisher hat es sich jedoch ausgezahlt, den richtigen Vertrag zu formen.

„Hier ist was“, meinte Catjill. Es war ein Kamin.

„Oh, etwa ein Geheimgang?“, fragte Etienne aufgeregt und klatschte in die Hände.

Meta lachte leise, Etienne meinte, da etwas Verzweiflung herauszuhören. Sie trat zu dem Kamin und betrachtete diesen. Das alte Holz lag in einem Gitter. Etienne packte es und stellte es zur Seite. Das schwarze Kohlepulver wirbelte auf und sie achtete darauf, es nicht einzuatmen. Dann ließ sie ihren Stein leuchten und hellte den Kamin auf. Spinnennetze waren im Inneren überall verteilt und als sie diese zur Seite wischte, bewegten sich die kleinen Spinnen schnell weg. Die Weben klebten an ihren Handschuhen und sie schlug sie weg. Nachdem sie im Innerem nichts erkennen konnte, betrachtete sie den dunklen Kaminmantel. Die Oberfläche war glatt, es gab keine Muster oder Schmuck an ihm. Als sie die Seiten genauer betrachtete und mit den Finger vorsichtig drüber wischte, merkte sie, wie sie über etwas Raues strich. Es war kaum merklich, nur eine kleine Veränderung, welche vom Staub abwich. Sie ließ das Licht ihren Stein kaltes Licht leuchten und sah genauer auf die Stelle. Sie konnte das Muster nicht genau ausmachen, aber es erinnerte sie an einen Handabdruck in dunkler Farbe. Ob das Blut war? Sie war sich nicht sicher, aber jemand hat hierhin gegriffen. Sie sah sich die Stelle etwas genauer an. Der Kaminmantel stand ab und in der Innenseite schien es nach Innen abzuknicken, sodass sie ihre Fingerspitzen in die Innenseite drücken konnte. Sie war sich nicht sicher, ob sie das tun wollte. Vorsichtig betastete sie die Stelle, bis sie eine Unebenheit entdeckte. Etienne atmete tief durch. Hoffentlich würde sie nicht ihre Finger verlieren. Sie drückte gegen die Unebenheit und es war ein Klacken zu hören. Dann öffnete sich die Innenseite des Kamins und riss die letzten Spinnennetze auseinander. Ihre Finger blieben dran.

Triumphierend sah sie zu Meta und Catjill.

„Willst du einen Lob?“, fragte Catjill genervt. Meta seufzte leise und blickte in den kleinen Durchgang. Sie sah nicht aus, als hätte sie Lust da reinzugehen. Etienne konnte es ihr nicht verübeln.

„Schau es sind nur ein paar Schritte!“, sagte Etienne und blickte dann zu Meta, „Gehen wir?“

Meta nickte diesmal. Sie schien sich nicht mehr zu sträuben. Stattdessen hatte sie es akzeptiert, dass Etienne sie vorantreiben würde. Catjill schwebte zu Meta und schmiegte sich beruhigend an ihre Wange. Meta griff mit ihrer Hand in sein weiches Fell.

„Ich werde vorgehen. Wenn ich dir sage, dass es sicher ist, kannst du nachkommen“, sagte Etienne.

Etienne Sprang durch den Eingang und landete in einem hohen Gang. Das Licht beleuchtete diesen und Etienne wünschte sich, sie könnte die Ganzen Spinnennetze ignorieren. Als sie sich umdrehte und hoch zu Meta und Catjill blickte, entdeckte sie eine Leiter, welche zurück zum Kamineingang führte. Sie konnte aufrecht stehen, der Gang war auch nicht zu eng. Etienne versuchte die Weben wegzuschlagen, während sie zu der schwarzen Tür ging. Neben dieser lag ein in sich zusammengesackter Skelett. Nach kurzem Betrachten stufte sie es als ungefährlich ein, zumindest vorerst. Sie öffnete diese und sah in ein großes Zimmer.

„Ihr könnt hineinkommen“, rief sie den beiden zu.

Sie hörte, wie Meta eher ungeschickt hinuntersprang. Catjill drückte sich mehr an sie. Etienne vermutete, dass er die Weben zu vermeiden versuchte.

Als Meta mit Catjill zu ihr trat, ging Etienne langsam durch die Tür und ließ ihren Stein heller leuchten.

„Kennst du diesen Raum“, fragte sie Meta.

„Nein“, sagte sie kleinlaut.

Sie kamen in einer beachtlich großen Halle heraus, welche prall gefüllt war mit den unterschiedlichsten Gegenständen. Es gab Gold und Edelsteine, welche unter Etiennes Licht funkelten, und ganz viele alte Särge, alte Mosaike und Gegenstände, für die Magier und Hexen töten würden. Etienne entdeckte Artefakte wieder, von denen sie sich nicht sicher war, ob sie echt waren. Wenn doch, dann vermerkte sie sich in ihrem Kopf, dass es sich lohnen könnte, nach hierhin noch ein mal zurück zu kehren und sich vielleicht das eine oder andre noch mal genauer anzuschauen.

Ein Paar Stauen aus Gold und Marmor schienen aus der alten Welt zu stammen. Sie waren teilweise beschädigt, sahen aber aus, als hätte jemand versucht sie zu restaurieren.

Etienne blickte wachsam durch die Halle, sah einige Regale, in welchen noch mehr Gegenstände zu finden waren. Sie war sich nicht so ganz sicher, wo sie anfangen sollte.

Sie trat langsam in den Raum und versuchte nicht auf die ganzen Gegenstände auf dem Boden zu meiden. Wenige Schritte weiter entdeckte sie eine weitere Statue aus Stein am Boden liegen. Sie trat vorsichtig an ihr vorbei und meinte zu Meta und Catjill, „Bleibt hier hinten. Ich schaue mich um. Catjill, ist hier etwas, worum ich mir Sorgen machen muss.“

„Ich glaube nicht, dass du dir Sorgen zu machen brauchst“, sagte er. Etienne blieb kurz stehen und dachte über seine Aussage nach. Dann fragte sie noch mal, „Ist hier eine andere Präsenz im Raum, als wir drei?“

„Ja“, sagte er. Sie sah kurz stirnrunzelnd zu ihm.

„Was?“, meinte er, „Ich beantworte nur deine Fragen.“

„Was ist es?“, fragte sie Catjill.

„Ein Geist“, antwortete er.

„Wo ist dieser Geist?“, fragte Etienne weiter. Catjills kreuzförmige Augen wanderten durch den Raum und kamen in der Ecke zu ihrer Rechten zur Ruhe. Etienne blickte auch dorthin, entdeckte aber nichts. Entweder war es kein starker Geist und er konnte wahrscheinlich nur in der ersten Ebene existieren oder er hat sich aus irgendeinem Grund noch nicht dazu entschieden, sich ihnen zu zeigen. Falls er schwach war, könnte Etienne schnell nach dem Stein suchen und hoffen, dass die verfluchten Gegenstände nicht erwachen würden, um sie zu belästigen. Sie blickte kurz in den zweiten Raum. Die Sicht verschwamm etwas und nach kurzer Zeit konnte sie in der Ecke einen alten Mann stehen sehen. Seine gelb leuchtenden Augen starrten in die ihren. Etienne konnte Wut drin sehen. Dunkle Schleier legten sich um seine Gestalt, wanderten um ihn herum und Pfade schienen von ihm aus in andere Bereiche des Raumes zu verlaufen. Etienne folgte diesen mit den Augen und entdeckte ein altes Schwert, welches von dem Nebel umhüllt wurde. Ein weiterer Schatten schlang sich um ein Buch und einer endete in einem der Särge. Weitere verschwanden in der Decke. Etienne hatte die Vermutung, dass der Hund, dem sie draußen begegnet waren, und die verfluchten Puppen ebenfalls davon umschlungen waren. Sie konnte nicht einschätzen, ob er gefährlich war, aber er sah auf jeden Fall nicht freundlich aus. Sie ließ den Blick in den zweiten Raum fallen und sah zu Meta und Catjill. Catjill erwiderte ihren Blick, „Ich glaube, du solltest dich beeilen. Die linke, hintere Ecke. Irgendwo dort.“

Etienne drehte sich dem Bereich zu, den er genannt hatte und lief hin. Sie würde den Stein finden. So lange es nicht nötig war, würde sie mit dem Geist nicht interagieren. Dann würde sie Meta packen und einen Weg nach draußen suchen. Sie könnten zum Dach gehen und Etienne würde Catjill nutzen, um ihn Meta in Sicherheit bringen zu lassen. Oder sie könnte sich überlegen, an welchen Gegenstand der Geist gebunden war. Sie könnten zwar auch ohne einen Gegenstand existieren, aber dann wären sie nicht in der Lage, in den ersten Raum zu wandern. Seine Schatten ließen Etienne vermuten, dass er das durchaus konnte, also müsste sie etwas identifizieren, was ihn mit dem ersten Raum verband. Dafür müsste sie mehr über den Geist in Erfahrung bringen und ihre einzige Quelle war Meta. Alles andere wäre zu zeitaufwendig und dafür war die Umgebung nicht sicher genug.

Etienne blickte die Regale durch. Desto mehr sie sah, desto weniger konnte sie fassen, dass ein einzelner Mann so viel gesammelt hatte. Wenn die großen Familien davon wüssten, dann würde Calisteo wahrscheinlich zum Zentrum eines Machtkampfes werden. Vielleicht war das der Grund, weshalb Gilgian das Haus verschlossen gehalten hatte? Etienne war sich jedoch nicht sicher, ob er vielleicht nicht einfach das Ausmaß dessen verstand, was sich hier als Reichtum gesammelt hatte. Meta schien es nicht zu verstehen. Sie ging verwirrt an der Tür auf und ab, sah zwischendurch die Gegenstände an, aber Hauptsächlich blickte sie zu den Edelsteinen und den Münzen, welche verteilt im Raum lagen oder in die Ecke, in welcher der Geist sein sollte. Dabei ging sie an weiteren, unscheinbaren Gegenständen vorbei und schenkte diesen keine Beachtung, obwohl Etienne Menschen kannte, welche für diese töten würden.

In einem der Regale, erblickte Etienne ein rötliches Schimmern. Sie schob die Gegenstände beiseite, und betrachtete dieses.

„Hast du es?“, meinte Meta von der anderen Seite des Raumes.

„Nein“, sagte Etienne, „Wobei ich das auch gerne mitnehmen würde.“

„Was ist das?“, fragte Meta und Etienne ging auf das Gespräch ein, da sie vermutete, dass es Meta die Anspannung nehmen würde, „Ein Relikt von Rosemary Dupont. Sie hatte es genutzt, um die Magie von Gegenständen auszuschalten. So konnte sie beispielsweise in Orte eindringen, welche von Magie geschützt wurden. Sie ist damit überall rein gekommen.“

„Rosemary Dupont“, wiederholte Meta, „Ich hätte nie gedacht, dass Vater von solchen Persönlichkeiten etwas hat.“

Rosemary Dupont war nach dem Zusammenbruch der alten Welt noch ein Kind gewesen, dennoch, zusammen mit ihrem Bruder unter der Führung von Blue Moon, hat sie mitunter dafür gesorgt, dass die Menschen den Kampf gegen die Bestien, welche sie überrannt hatten, gewonnen haben. Sie haben die Welt stabilisiert, welche so menschenunfreundlich geworden war. Die Geschichten wurden in Schulen gelehrt.

Etienne sah wieder zum Geist und blickte in den zweiten Raum. Er war diesmal näher an Meta. Betrachtete sie von oben bis unten. Sie strahlte in vielen bunten Farben. Hauptsächlich jedoch in Blau, was ihrer Angst zur Schulden war. Etienne spannte sich an und nickte Catjill zu. Er würde sie beschützen, wenn es dazu kommen sollte. Sie würde mit ihm den Preis dafür später aushandeln. Auch das war ein Teil ihres Vertrages.

Sie blickte weiter die Regale durch und fand ein Kästchen, welches ihr bekannt vorkam. Es sah ähnlich dem, welches Raffael an sich genommen hatte.

Sie packte es und betrachtete die Verzierungen, welche diese schmückten. Nachdem sie sich versichert hatte, dass dort nichts gefährlich dran war, öffnete sie das Kästchen und sah zufrieden, dass der zweite Stein von Expulsio dort drin verstaut war. Sie packte das Kästchen in ihre kleine Tasche, in welcher auch ihre Tasche mit den besonderen Ampullen drin war. Sie hatte ein oder zwei, welche ihr gegen Geister helfen könnten. Wenn es hart auf hart kommen sollte, würde sie ihnen einen weiteren Tod bescheren. Doch sie würde das lieber vermeiden.

Sie blickte sich wieder um und sah nach dem Geist. Erschrocken musste sie feststellen, dass er in ihre Nähe gekommen war. Er blickte sie weiterhin wütend an. Etienne konnte nun einen besseren Blick auf ihn erhaschen. Er war hochgewachsen und dürr. Die Hälfte seines Gesichtes war in einem dicken Bart gehüllt,welcher sie an einen Busch erinnerte.

Sie lächelte ihm verunsichert entgegen. Er knurrte sie an. Wahrscheinlich hatte er schon festgestellt, dass solange Catjill in Metas Nähe war, er ihr nichts tun konnte. Die dunklen Schleier zogen sich in ihre Richtung, versuchten, sie zu umkreisen. Sie trat um ihn herum, zurück zu Catjill und Meta. Meta blickte sie an, „Wie sollen wir nun hier raus kommen?“

Etienne zögerte kurz, als sie beobachtete, wie der Blick des Geistes zu ihr wanderte. Er knurrte erneut.

Etienne hörte ein Geräusch hinter sich. Es hörte sich nach einem Klappern an, gefolgt von einem unangenehmen Knirschen. Sie blickte hinter sich und sah das Skelett, welches von dunklen Schatten umgeben war. Es schien sein Gleichgewicht nicht halten zu können, kämpfte damit, nicht wieder auf den Boden zu fallen. Etienne sah wieder schnell zum Geist. Die Wut verzerrte sein Gesicht.

„Oh mein Gott“, wimmerte Meta, sie ging näher zu Etienne.

„Catjill“, meinte Etienne zu ihm, „Kannst du die Verbindung zwischen ihnen brechen?“

Der Kater sprang von Metas Schulter hinunter und sprang gegen die Schatten, welche den Geist mit dem Toten verband. Das Skelett fiel in sich zusammen. Etienne hörte erneut ein Knurren. Sie blickte zum Geist und und sah noch, wie sein Gesicht sich verzog und er einen markanten Schrei ausstieß. Meta schrie auf und hielt sich die Ohren zu.

Etienne bemerkte, wie die Raumgrenze auseinander gerissen wurde und die alte, bärtige Gestalt stand nun vor ihnen. Etienne bemerkte, dass sie ihre Form noch nicht richtig gefasst hatte. Dies war ein Zeichen dafür, dass er seine Macht nicht richtig unter Kontrolle hatte.

„Nun haben wir ihn wirklich wütend gemacht“, meinte Catjill, der sich wieder zu Meta stahl.

„Bleib bei ihr“, sagte Etienne. Sie würde schauen, ob sie mit dem Geist eine Abmachung eingehen könnte. Wenn er sich gezeigt hat, würde er sicherlich mit ihnen sprechen wollen. Ansonsten würde er weiterhin aus dem zweiten Raum heraus sie angreifen. Nun, wo sie jedoch wusste, was die Quelle verfluchten Gegenstände war, würde er es schwerer haben. Catjill könnte alles auf dem Weg unschädlich machen, indem er die Verbindung zum Geist löste. Somit würde er nichts mehr aktivieren können.

Der Geist schien es aufgegeben zu haben, seine Gestalt zu stabilisieren und hatte stattdessen nur sein Gesicht klar identifizierbar manifestiert.

Meta schnappte hinter Etienne nach Luft und Etienne blickte kurz zu ihr. Mit großen Augen blickte sie zu der Gestalt.

„Oh, Gott Etienne, das ist mein Vater“, sagte sie leise zu ihr.

Etienne sah wieder zu der Gestalt. Es war keine überraschende Erkenntnis für Etienne. Es gab zwei Möglichkeiten einen Ort zu verzaubern. Entweder waren die verfluchten Gegenstände instabil und wurden nicht versiegelt, sodass sie mit der Psyche der Menschen spielten und ihre Ängste gegen sie einsetzten, oder, ein Mensch mit einer besonders starken Bindung zu einem Ort, würde an diesen Gebunden werden. Wie genau sie Gebunden waren, lag an der Mentalität des Menschen. Die Wächter im Château der la Fortune waren wahrscheinlich einst Menschen gewesen. Nun konnten sie die Wesen kontrollieren, welche das Château für sie beschützten und somit die Schätze, welche sie dort versteckten. Ähnlich schien es in diesem Haus zu sein. Metas Vater schien so besessen von seiner Sammlung, dass bereits zu seiner Lebenszeit sich viele seiner Gefühlte und Obsessionen magisch manifestiert hatten. Seit dem Zusammenbruch der alten Welt, war dies bei weitem kein Einzellfall. Es gab viele Phänomene, welche sich auf die starken Gefühle der Menschen zurückführen ließen.

Etienne hob ihre Hände und sagte an den Geist gewandt, „Sicherlich können wir eine friedliche Lösung finden?“

Der Geist blickte zu ihr. Dann sprach er zu ihr, in einer abgehackten Stimme. Es war offensichtlich, dass er Schwierigkeiten hatte, seine Stimme zu kontrollieren. Das, und seine Probleme, seine Erscheinung unter Kontrolle zu halten, deuteten darauf, dass er noch kein alter Geist sein konnte. Wahrscheinlich hatte er noch nie richtig in die erste Ebene gewechselt.

„Du hast keine Erlaubnis, hier zu sein.“

„Ich stimme dir voll und ganz zu“, sagte Etienne, „Deswegen werden wir jetzt gehen.“

„Du hast mir etwas weggenommen“, sagte er.

Etienne hatte schon vermutet, dass er darauf zurückgreifen würde, „Ich kann dir als Gegenleistung etwas anderes anbieten.“

Sie holte ihren Stein hervor. Es würde sie schmerzen, ihn zu verlieren, aber sie wäre bereit, ihn herzugeben, „Ich habe hier einen Gegenstand, der alles in Gold verwandeln kann, was es berührt.“
Sie berührte eine alte Statue, dessen blasse graue Farbe sich in ein leuchtendes Gold verwandelte. Es fiel Etienne nicht schwer, sich Gold vorzustellen. Sie hatte genug Referenzen im Raum.

Er sah zu der Statue. Etienne hoffte, dass er ihr Gespräch mit Meta über den Stein nicht allzu intensiv gelauscht hatte. Er schien zu wissen, dass Meta das Haus hätte verlassen wollen und Etienne vermutete, dass die Angriffe aus dem Grund gestartet hatten. Aber so schlecht wie er sich in der ersten Ebene manifestierte, vermutete Etienne auch, dass er nicht so gut in ihre Welt rein lauschen konnte.

Seine Augen wanderten zu der Statue. Etienne sah Gier in ihnen. Was sie ihm präsentiert hatte war ein seltenes Artefakt, welches schon allein deswegen für einen Sammler wie ihn interessant wäre. Dazu kam die Fähigkeit, über die Etienne gelogen hatte. Wenn sie aber so aus dem Haus rauskommen könnten, würde sie das in Kauf nehmen. Sie würde sich jedoch eine andere Lichtquelle für künftige Ausflüge besorgen müssen.

Dann wanderte sein Blick zu ihr. Er schien nachzudenken. Sein Blick wanderte weiter zu Meta und Catjill. Sein Blick fixierte sich auf Meta und Etienne sah erneut Gier in ihnen. Noch stärker, als zuvor.

Etienne trat vor sie und sein Blick wanderte erneut zu ihr, „Ich bin mir sicher, wir wissen beide, dass du mir nicht viel anhaben kannst. Ein Angebot wie dieses kommt nicht noch einmal.“

Er lächelte, „Ich wäre bereit es für den Stein zu tauschen.“

„Und für einen sicheren Ausgang aus der Villa“, fügte Etienne hinzu.

„Das ist mir zu teuer“, sagte er. Sein Blick wanderte hinter sie, versuchte auf Meta zu blicken. Das machte Etienne nervös. Er war eindeutig possessiv über seine Sammlung. War aber bereit, den Stein auszutauschen durch einen anderen. Wahrscheinlich hätte er sie auf dem Rückweg angegriffen, um beides behalten zu können, so hätte er seinen Vertrag nicht gebrochen. Das war nichts, was sie nicht erwartet hatte. Sie hätte ihn nur weiter versuchen sollen ihn davon zu überzeugen, dass ihr Talisman es wert war. Doch sein stetiger Blick zu Meta gab ihr das Gefühl, dass er nicht durch einen einfachen Vertrag mit ihr bereit wäre. Er schien etwas anderes zu wollen. Vielleicht war einfach froh, seine Tochter wieder zu sehen, doch Etienne zweifelte daran.

„Ich kann dir versichern, dass es nicht zu teuer ist“, sagte sie zu ihm und lenkte seine Aufmerksamkeit wieder auf sich, „Es hat einen sentimentalen Wert für mich. Mich davon loszulösen ist so schmerzhaft.“

„Wieso sollte mich deine Gefühle interessieren?“

„Ich habe hart für diesen Talisman gekämpft“, sagte sie zu ihm, „Sein Wert ist auch durch meine Mühe bestimmt, ihn zu erlangen. Ich habe ihn als Belohnung bekommen und mich gegen alle Anderen durchgesetzt. Diese Geschichte wirst du mit ihm bekommen.“

Er sah wieder zu dem Stein. Geschichten hatten immer einen anziehenden Eindruck auf Geister. Sie waren gebunden an einen Ort und sehnten sich nach Geschichten, weil sie nicht mehr viel erleben konnten. Und dieser hier war wahrscheinlich über eine lange Zeit isoliert gewesen. Er würde danach brennen, Geschichten zu hören.

Er sah sie von oben bis unten an. Blickte wieder zu ihrem geliebten Talisman und Etienne sah wieder die Gier in ihren Augen. Er zögerte immer noch, sah sie zögernd an, „Ich werde dich mit dem Stein gehen lassen.“

Etiennes Herz pochte, „Wir sind zu zweit. Du musst uns beide hier herauslassen.“

„Meine Tochter wird bei mir bleiben“, sagte er dann und Etienne spürte ihr Herz hinunterrutschen. Sie fragte sich, ob sie mit Catjills Hilfe sicher rauskommen könnten. Vielleicht wäre dies machbar. Die Puppen hatten nur sie angegriffen, nicht Meta. Dies könnte sich aber vielleicht ändern, wenn Meta versuchen würde das Haus zu verlassen.

„Das geht nicht“, sagte Etienne. Sie hatte Meta unnachgiebig hier reingezogen, sie würde sie nicht hier drin sitzen lassen.

Der Geist grinste sie an, „Dann scheint es, als würden wir keine Abmachung bekommen.“

„Bist du sicher, dass das zu deinen Gunsten verlaufen wird?“, fragte Etienne, „Ich weiß, wie ich deinen Zugriff auf die verfluchten Gegenstände unterbinden kann. Wenn wir hier herauskommen, was wir werden, dann wirst du mit nichts dastehen. Keinem Stein, keinem Talisman und keiner Geschichte.“

Sie sah Zögern in seinem Blick. Dann verzog sich sein Gesicht wieder zu einer Grimasse und er sagte, „Dann lass es uns herausfinden!“

Etienne trat zurück, als er seine Magie in einer gewaltigen Welle freiließ. Sie fiel fast auf den Boden, hörte, wie dies Meta passierte, welche erneut aufschrie.

„Catjill, hilf ihr raus“, befahl sie ihm. Sie hörte, wie er sie anfeuerte loszugehen. Dann schrie Meta auf und als Etienne sich umsah, sah sie das Skelett wieder aufrecht stehen. Sie blickte schnell in den zweiten Raum und bereute es, dass sie das nicht vorher getan hatte. Er schien seine Schatten wieder verbunden zu haben und diesmal sah Etienne mehr von ihnen.

Sie zog ihre Waffe hervor, doch dann hörte sie einen Schuss von der anderen Seite des Ganges. Der Schädel zerbrach in viele Splitter. Und als noch mehr Schüsse folgten zerbrachen seine Knochen und er fiel ins ich zusammen. Der Geist schrie wütend auf. Etienne stand immer noch zwischen ihm und Meta, ihre Hand an ihrer Tasche, bereit eine der Ampullen zu nehmen. Sie blickte kurz über die Schulter und sah Gilgian in das Zimmer zu Meta stürzen. Raffael war hinter ihm, seine Waffe gezückt. Etienne unterdrückte ein Seufzen. Noch mehr Leute zu beschützen. Sie leuchteten durch den Blick in die zweite Ebene, wie Meta, in bunten Farben. Etienne war überrascht davon, dass Herrscher von Provinzen es anscheinend als nicht notwendig sahen, dies zu unterdrücken.

„Falsche Richtung“, rief sie ihnen zu, während sie weiter beobachtete, wie seine Schatten sich um ihn sammelten, sich bewegten und in Gegenständen verschwanden. Etienne war sich nicht sicher, auf welches von denen sie Catjill zuerst ansetzen sollte.

„Ihr müsst hier raus, wieder nach oben“, rief sie ihnen zu.

Sie merkte, wie Gilgian ein paar Worte mit Meta wechselte und sein Blick bedrohlich auf Catjill fiel. Dies sprang von ihrer Schulter hinunter und machte Anstalt zu Etienne zu kommen, sie hielt ihn jedoch ab, „Bleib bei ihr, du kannst sie am besten beschützen.“

Sie hörte Gilgians bedrohliches Lachen hinter sich, „Du kleines Gör. Ich werde sie sehr gut beschützen. Am besten geschützt wäre sie aber, nachdem meine Faust in deinem Gesicht gelandet ist.“

Sie verzog das Gesicht als sie sich erinnerte, welches Loch er am Vortag in der Schule hinterlassen hatte. Sie hatte aus genau dem Grund vermeiden wollten, dass er irgendwas davon merkte. Sie blickte noch mal hinter sich, sah wie Catjill zögerlich vor ihnen schlich und anschließend unter Gilgians drohendem Blick auf Metas Schulter zurückkehrte.

„Er ist ein Djinn“, sagte Etienne zu ihm, „Er ist das mit Abstand sicherste Wesen in diesem Haus.“

Ihr Blick fiel auf Raffael, welcher wachsam den Ort betrachtete. Sicherlich hatte er etwas mit dem Auftauchen von Gilgian zu tun.

Sie hörte wie Meta auf Gilgian einredete und als ihr Blick zu ihnen zurück wanderte, sah sie Metas Hand in Catjills Fell, welches sich aufgerichtet hatte. Er fühlte sich von Gilgian bedroht und sie konnte es ihm nicht verübeln.

Der Geist lachte, „Gilgian, oh Gilgian.“

Etienne blickte wieder zu ihm. Sein Gesicht war wieder sichtbar und sie entdeckte Zorn in ihm. Er sah Gilgian nicht mit Gier an, wie er es bei Meta getan hatte. Er sah aus, als würde er ihn in Stücke zerreißen.

Etienne hörte ein lautes Stoßen. Sie blickte zur Quelle des Geräusches und entdeckte den Sarg, welchen sie bereits zuvor ausgemacht hatte. Es gab noch mal ein Stoßen von Innen des Sarges. Etienne trat zurück und sagte, „Geht jetzt raus!“

Sie merkte, wie Meta von Gilgian hochgezogen wurde und trat ebenfalls einige Schritte zurück, bereit zurück zu laufen oder einen Angriff abzuwehren. Der Sarg öffnete sich mit einem Knall und eine dunkle Gestalt schoss mit einem markerschütterndem Schrei empor.

Etienne zog ihr Messer. Das sah weniger nach einem Geist aus, eher nach etwas, was sie verletzen konnte. Es hatte lange Schwingen und einen humanoiden Körper, war jedoch komplett schwarz, als würde es alles an Licht verschlingen, was auf es fiel. Es hob den Kopf in die Luft und Etienne betrachtete, wie es die Luft in die Nase einsog und dann ruckartig zu ihnen blickte. Dann schrie es auf und sprang auf sie zu. Etienne hob ihren Dolch, bereit es abzuwehren. Hinter ihr erklang ein Schuss und das Wesen sprang zurück, flog an die Decke, haftete an dieser und beobachtete sie wachsam. Etienne trat weiter zurück, behielt es im Auge. Sie sah kurz hinter sich, Raffael war an der Leiter, zielte in den Raum. Gilgian zog Meta hinter sich.

„Kommt sofort zurück! Meta! Gilgian! Ihr werdet mich nicht noch mal hier zurück lassen!“

 

Meta zuckte zusammen, als sie die laute Stimme ihres Vaters hörte. Sie hätte nie gedacht, sie wieder zu vernehmen. Noch immer fühlte es sich so an, als würde etwas von Innen in ihr ihr zuflüstern, dass das hier gar nicht passierte. Gilgian hatte ihr nie erzählt, was in der Nacht passiert war, als sie bei einer Freundin übernachtete hatte, der einzigen, die sie jemals gehabt hatte. Meta hatte ihn aber auch nur ein mal gefragt und danach nie wieder. Ihr Vater hatte sich nie für sie interessiert, erst als sie älter geworden war, hatte er immer angemerkt, wie ähnlich sie ihrer verstorbenen Mutter aussehen würde. Es hatte sie damals mit Glück erfüllt, da es endlich so schien, als würde er sie wieder beachten und das nicht nur wegen Gilgian. Bis er diesen fürchterlichen Vorschlag gemacht hatte. Ihr letztes Gespräch war ein Streit, der erste den Meta je hatte und der erste, indem er seine Hand persönlich gegen sie erhoben hatte. Gilgian hatte sich dann eingemischt und sie am nächsten Tag weggeschickt. Seit dem, hatte sie nie wieder was von ihrem Vater gehört. Bis jetzt. Sie blickte zu Etienne, welche alleine vor ihnen stand. Sie schien bei weitem nicht so panisch zu sein, wie Meta sich gerade fühlte. Gilgian zog sie mit sich und Meta war sich kurz unsicher, ob sie denn Etienne wirklich mit nichts weiter, als einem Messer zurück lassen sollten. Sie sollte wenigstens Catjill wieder zurück nehmen, welcher noch immer dicht bei Meta blieb. Als sie mit Gilgian den Eingang des Tunnels erreichte, vernahm sie noch ein Mal einen Schrei, diesmal von ihrem Vater. Sie blickte zu ihm zurück, wie er die Hand hob und etwas flog auf ihn zu, was sie unter Etiennes hellem, aber begrenztem Licht, nicht genau ausmachen konnte. Dann wackelte der Boden unter ihnen. Sie schrie auf, als Gilgian sie zurück zog und sich schützend über sie warf. Er fluchte ausgiebig. Es war auch schon eine Weile her, seit sie das von ihm gehört hatte. Das letzte Mal war es in diesem Haus gewesen. Krach übertönte ihr laut schlagendes Herz und sie merkte, wie Staub aufgewirbelt wurde, sich überall verteilte und ihr die Sicht nahm. Er drang in ihren Mund ein, als versuchte einzuatmen und sie hustete ihn wieder heraus. Sie merkte, wie Gilgian sich wieder aufrichtete und sah sich um. Der Tunnel hinter ihnen war größtenteils eingestürzt. Es gab einzelne Lücken oben an der Decke und sie entdeckte, wie sich dort etwas bewegte.

„Lebt ihr noch?“, rief Raffael ihnen zu.

Meta blickte wieder in den Raum, während ihr Bruder ihm antwortete. Über ihrem Vater war ein langer Riss in der Decke, welcher in die andere Etage führte. Ihr Vater stand mit ausgestreckten Armen da, schien die Macht zu genießen, die er nutzte. Er war schon immer süchtig danach, die Gegenstände zu verwenden, die er gesammelt hatte. Nichts hatte ihm eine größere Befriedigung verschafft. Der Gegenstand schwebte noch immer in einem glühenden Rot vor ihm und Meta sah gebannt zu ihm. Sie verstand nicht, was hier los war. Sie verstand nicht, wie sie hineingeschlittert war. Bis vor wenigen Stunden hatte sie sich nichts von dem hier denken können.

Meta blickte zu Etienne, welche sich aufrichtete. Sie rieb sich den Staub aus den Augen und Meta war so glücklich, dass ihr nichts passiert war. Wenn sie wegen ihrem Vater zu Schaden kommen würde, dann würde Meta nicht wissen, wie sie damit umgehen sollte. Ihr Vater hatte bereits so vielen etwas angetan und Meta fühlte die Schuld in ihrem Herzen sitzen, als wäre sie diejenige, welche an seiner Stelle stand. Sie schämte sich für ihn. Sie hatte das Bedürfnis, sich für alles zu entschuldigen, was er tat.

Kaum das Etienne sich aufgerichtet hatte, fiel sie nach hinten um. Meta wollte zu ihr und ihr hoch helfen, war sich aber nicht sicher, ob sie eine Hilfe sein könnte. Dann wurde Etienne plötzlich weggezogen und Meta schrie erschrocken auf.

„Gilgian! Etienne“, rief sie ihrem Bruder zu, welcher sich daraufhin wieder auf das Geschehen vor ihnen konzentrierte. Etwas Dunkles schleifte Etienne hinter sich und flog dann nach oben durch den großen Riss in der Decke. Ihr Bruder fluchte ausgiebig. Meta bemerkte, wie die Krallen des Katers sich in ihre Schultern bohrten.

„Hilf ihr“, sagte sie zu Catjill, welcher sich nicht vom Fleck rührte.

„Sie sagte, ich soll bei dir bleiben“, erwiderte er.

„Catjill, komm schon“, sagte sie flehend zu ihm. Meta blickte wieder zu ihrem Vater, welcher langsam seinen Kopf wieder senkte und zu Gilgian und ihr blickte.

„Ihr müsst mir sagen, was bei euch los ist!“, rief Raffael zu ihnen hindurch. Gilgian ignorierte ihn und trat vor Meta. Sie wusste nicht mal, was er vorhatte zu tun oder ob er überhaupt etwas tun konnte.

„Etienne wurde nach oben gezogen!“, rief sie Raffael zu, „Die Decke ist aufgerissen. Ich glaube es war dieses schwarze Ding.“

„Früher wurden sie Crowling genannt“, sagte ihr Vater und sie blickte wieder zu ihm, „Sie waren der Grund, weshalb die Menschheit auf dieser Seite des Ozeans drastisch reduziert wurde.“

Meta erinnerte sich an den Unterricht von Cruz. Sie hatten die Geburtsstunde der neuen Welt besprochen. Es gab immer noch offene Fragen, Unklarheiten, wieso Dinge so ihren Lauf genommen haben, wie sie es haben. Es war aber klar, dass es eine schreckliche Zeit war. Es war eine düstere Stunde, welche beinahe jedes Licht ausgelöscht hat.

„Wir finden einen anderen Weg zu euch“, hörte sie Raffael ihnen zurufen, „Ich finde Etienne. Haltet so lange durch.“

Sie blickte zurück und konnte durch die Lücken des Gesteins ausmachen, wie er sich bewegte. Wahrscheinlich kletterte er die Leiter nach oben. Dann war er weg. Metas Herz raste.

„Ist das nicht eine wunderbare kleine Familienzusammenführung?“, fragte ihr Vater an sie gerichtet, „Keine Sorge, diese zwei Störungen werden nicht lange hier bleiben. Die Crowling sind geborene Jäger. Einer nach dem anderen wird fallen.“

Er betrachtete Gilgian. Sah ihn von oben bis unten genau an. Meta versteifte sich bei seinem Blick. Es war, als würde er ihn analysieren. Wie eines seiner neuen Sammlerstücke. Dann blickte er zu Meta und sie bemerkte nur, wie Gilgian sich vor sie stellte. Verzweiflung erfasste sie, als sie merkte, dass sie erneut beschützt wurde. Sie war eindeutig die Schwachstelle in jeder Gruppe. Etienne hatte ihr Catjill als Schutz zurückgelassen. Gilgian beschützte sie mit seinem Körper. Sie biss sich auf die Lippe und zwang sich, ruhiger zu werden.

„Was soll ich tun?“, fragte sie an Catjill gerichtet. Sie würde ihren Bruder nicht ablenken, während er sich dem Geist ihres Vaters widmete. Sollte sie versuchen wegzulaufen, dass ihr Bruder keine Rücksicht auf sie nehmen müsste? Es wäre um so viel einfacher für sie alle, wenn sie nicht einen Ballast wie sie bei sich hätten.

„Bleib an Ort und Stelle“, hörte sie Gilgian ihre Frage beantworten. Sie blickte zu ihm, saß weiterhin hinter ihm, an Ort und Stelle, mit nichts weiter, als eingestürzten Steinen um sie herum, vor denen er sie beschützt hatte.

„Ich habe mir viel Zeit genommen zu überlegen, was ich mit euch beiden tun soll“, sagte ihr Vater. Das bedrohlich rot leuchtende Licht, ließ seine Konturen erahnen. Der Raum war um so vieles dunkler ohne Etiennes Licht. Nur ihr Vater stand da, in Form all ihrer Albträume.

„Nicht genug, wie es scheint“, sagte Gilgian zu ihm, „Ich finde, du könntest noch einige Jahre hier drin weiter rotten.“

Seine Stimme nahm Meta die Angst, die sie umklammert hielt.

„Frech, wie eh und je. Du kommst ganz nach deinem Vater. Er wusste nie, wann er den Mund halten sollte. Aber das ist nicht schlimm. Wir werden deine Persönlichkeit aus deinem perfekten Körper entfernen und sie durch eine bessere ersetzen.“

„Was meinst du damit?“, fragte Meta mit zitternder Stimme. Ein weiterer Gegenstand umkreiste ihn. Meta wusste nicht, seit wann dieser da war, geschweige denn, was es war.

„Das brauchst du nicht zu wissen. Sei einfach still und lass die Hauptfiguren sprechen, Liebling.“

Meta schauderte es bei seinen Worten. So hatte er seine Mutter immer genannt.

„Katze“, meinte Gilgian, „Sorge dafür, dass er nicht an sie herankommt.“

Dann ging er weiter vor, bereit für den Kampf. Ließ sie zurück.

„Ich nehme keine Befehle von dir“, hörte sie Catjill an ihrem Ohr flüstern, viel zu leise, um von Gilgian gehört zu werden.

„Catjill, was ist das? Was hat mein Vater vor?“, fragte sie ihn leise.

Der Kater zögerte an ihrer Schulter. Er bewegte seinen Schwanz und Meta überlegte sich, dass dies doch meistens ein Grund für Nervosität bei Katzen war. Glaubte sie. Sie hatte Katzen selten gesehen. In Büchern stand es.

„Bitte Catjill, ich flehe dich an. Ich gebe dir alles, was du willst, wenn du uns hilfst“, sagte sie ihm.

„Ich nehme keine Verträge an, so lange ich einen mit Etienne habe“, sagte er zu ihr und hasste seine Antwort.

„Etienne hat dir gesagt, dass du mir helfen sollst“, erwiderte sie.

„Nein, sie hat gesagt, ich soll dich beschützen. Wie, obliegt mir.“

Ihr Vater lachte, beachtete sie nicht. Sie war für die beiden verschwunden. Zumindest so lange sie still war.

„Was willst du tun Gilgian? Du hast mich unbesiegbar gemacht. Alles, was du je gegen mich hättest ausrichten können, kann mich in meiner jetzigen Gestalt nicht erreichen. Aber ich kann alles gegen dich nutzen“, sagte er bedrohlich, „Du hast keine Ahnung, was sich alles in diesem Raum befindet. Aber das wirst du vielleicht herausfinden. Nachdem wir die Rollen getauscht haben.“

Der Gegenstand flog vor ihn. Es war ein kleines Fläschchen, welches hell aufleuchtete. Und dann war die Gestalt ihres Vaters verschwunden. Dann leuchtete es erneut hell auf und Gilgian stolperte zurück, als er von einem hellen Strahl getroffen wurde. Meta zuckte zusammen und sah ihn still an. Zunächst rührte er sich nicht. Dann hörte sie ein Knurren tief aus seiner Kehle emporsteigen. Gilgians Körper zuckt und beugte sich dann auf. Er gab einen schmerzerfüllten Schrei von sich, welches zu einem Brüllen wurde, als er sein ganzer Körper sich anspannte und ein heller Strahl wieder aus ihm herausschoss.

Meta packte das Fell des Katers, als Gilgian zu lachen anfing, „Ich wusste schon immer, dass du ein schwacher Mann bist“, sagte er, „Glaubst du wirklich, ich hätte nie was von deinen Plänen mitbekommen, meinen Körper zu übernehmen?“

Ihr Vater tauchte wieder auf. Seine Gestalt war nun nicht mehr so gut sichtbar, wie zu vor, dennoch konnte Meta sein wuterfülltes Gesicht sehen. Er war furchterregend.

„Keine Sorge Liebling“, sagte er beruhigend, „Ein kleiner Rückschlag wird sich uns nicht in den Weg stellen. Ich hab dich nicht übernehmen können, das bedeutet nicht, dass es nicht geht. Ich muss dich einfach nur schwächen. Genug, dass du dich nicht mehr wehren kannst. Ich hab dein Körper erschaffen. Er gehört mir.“

Ein Schwert hob sich hinter ihm und Meta sah, wie Gilgian in Kampfstellung fiel. Es flog auf ihn zu und wich gekonnt aus, packte es am Griff und schleuderte es zurück. Es flog durch die Gestalt ihres Vater und während dieser kurz verschwand, sah Meta, wie ein Schatten hinter ihm hinunterfiel. Schrecken erfüllte sie, als sie vom Schlimmsten ausging. Sie wollte näher ran, erkennen, um wen es sich dabei handelte. Dann tauchte ihr Vater auf und das Schwer flog wieder auf Gilgian zu, diesmal schneller. Dennoch erreichte es ihn nicht. Es schlug am Boden auf, wo Gilgian zuvor gestanden hatte. Die Wucht zerbrach den Boden, wo es aufschlug und Fragmente dessen schossen in alle Richtungen davon, flogen in ihre Richtung, prallten aber an etwas Unsichtbaren ab. Meta blickte wieder zu Gilgian, sah ihn Bedrängnis, als weitere Gegenstände auf ihn zuflogen und er mit einem gezielten Schlag einen davon in die Dunkelheit beförderte.

„Vater, hört auf!“, rief Meta ihm zu. Ihre Angst um Gilgian übermannte sie. Sie zuckte zusammen, als etwas neben ihr einschlug, aufgehalten von dem, was der Djinn wahrscheinlich tat, um sie vor Gefahren zu schützen. Sie hasste es. Sie konnte nichts tun. Sie war kein Kämpfer. Und als Gilgian von einem Dolch getroffen wurde und seine Hand es packte und herauszog. Sie wollte ihm zurufen, dass es keine gute Idee war, doch dann schellte der Dolch wieder in die Dunkelheit und Meta wurde sich bewusst, dass es noch mehr Schaden anrichten würde, wenn es in seinem Körper geblieben wäre.

„Catjill“, meinte sie zum Djinn, ihre Stimme brach beinahe von der Angst, die sie empfand, „Was soll ich tun?“

„Bleib ruhig“, sagte er zu ihr, „Das wird schon alles.“

Es fiel ihr schwer, ihm zu glauben.

 

Etienne schrie erschrocken auf, als sie durch Schuttgestein und Goldmünzen gezogen wurde. Dann setzte ein seltsames Gefühl in ihrem Magen ein, als ihr Rücken den Boden verließ und Etienne sich durch die Luft bewegte. Die Umgebung verschwamm und sie packte ihr Messer fester. Konzentrierte sich auf das schwarze Wesen, welches sie in ein anderes Stockwerk hinauf zog, während es immer wieder bedrohliche Geräusche tief aus seiner Kehle gab. Dann wurde sie durch die Luft geschleudert und schlug in etwas ein, was unter ihr nachgab. Sie biss sich auf die Lippe und ignorierte den Schmerz zwischen ihren Schulterblättern. Das Wesen stürzte sich auf sie und sie nutzte ihren Arm und ihre Beine, um es von sich fernzuhalten, während es nach ihrem Hals schnappte. Mit der anderen Hand griff sie ihr Messer fester und schlug es in die Öffnung seines langen Ohrs. Es kreischt auf. Etienne zog das Messer schnell wieder heraus und trat es von sich. Es stolperte von ihr Weg, wand sich unter dem Schmerz. Etienne sprang auf und ging auf Abstand, während ihr Blick zwischen dem Wesen und dem Raum hin und her sprang. Sie entdeckte ein großes Bett, eine Couch. Einen Schrank, der offen stand. Ein Loch im Boden. Die Tür war bei dem Wesen. Hinter ihr war ein Fenster. Ein Tisch mit einem Spiegel neben der Tür.

Etienne packte einen Stein neben dem Loch und warf es so stark sie konnte in den Spiegel. Die Gestalt kreischte auf und sprang dorthin, nahm die Möbel auseinander, welche dort standen. Etienne packte das Messer fester und sprang auf seinen Rücken. Sie wollte es in den Nacken stechen, doch seine abrupte Bewegung sorgten dafür, dass sie abrutschte und seine Schulter traf. Es kreischte wieder auf und wirbelte herum. Etienne verlor durch den Schwung den Griff und wurde gegen den Schrank gestoßen. Ihre Wange schlug stark an der Seite auf und sie biss sich auf die Lippe. Durch Adrenalin getrieben sprang sie wieder auf die Füße und wich dem Wesen aus, welches in den Schrank krachte, an der Stelle, wo sie zuvor noch gewesen war. Schnell fing es sich wieder und griff nach ihr. Etienne schnitt ihm durch die Hand und es kreischte erneut auf und setzte seinen Angriff fort. Etienne duckte sich unter seinem Griff und versenkte ihr Messer tief in seinem Bein, zog es wieder heraus und rollte sich hinter das Wesen, während es weiter nach ihr schlug. Etienne stach ihm in den Knöchel desselben Beines, durchtrennte die Stelle, in der sie die Sehne vermutete. Dann sprang sie wieder auf Abstand, als es herumwirbelte und kreischend nach ihr Schlug. Es schlug weiter um sich, suchte blind nach ihr, und Etienne trat leise weiter weg, beobachtete es und stellte fest, dass es desorientierter war als vorher. Die Ohren und die Nase gaben ihm die Informationen, die es zum Jagen brauchte. Es war sicherlich fürchterlich, wenn es in der dunklen Nacht auf Lauer lag. Es war so dunkel, dass es in Etiennes schwachem Licht kaum zu sehen war. Sie überlegte sich, wie sie am besten ihren letzten Schlag ausführen sollte. Es schien sein Gewicht nicht mehr auf sein beschädigtes Bein verlagern zu können und wenn sie sein Ohr betrachtete, schien dieses sich auch nicht zu regenerieren. Etienne packte ihr Messer anders und hielt still, als es plötzlich ruhiger wurde. Sie gab kein Geräusch von sich und hoffte, dass es ihr pochendes Herz nicht hören konnte. Dann sog es wieder Luft durch die Nase und Etienne packte ein kaputtes Brett in die Hand und warf es ihm entgegen, bevor es sie durch ihren Geruch lokalisieren sollte. Sie vermutete, dass ihre Reaktion darauf zu langsam war, als es sich auf sie stürzte, das Brett ignorierte und sie am Hals packte. Etienne stach ihm in sein Handgelenk und es zog die Hand zurück, packte sie dann jedoch an der Jacke und ließ diesmal nicht los. Sie trat ihm in die Wunde am Bein und als es in die Knie ging, setzte Etienne mit einem Stich in die Nase ein. Es kreischte erneut auf und warf sie hin und her. Etienne wehrte sich nicht gegen den Griff, versuchte bei seinen Bewegungen mitzugehen und als es sie wieder zu sich zog, stach sie ihm in den Hals, dann packte sie mit der freien Hand sein anderes Ohr, zog seinen Kopf zurück und stach erneut zu. Sie spürte wie es träge wurde, seine Klagelaute wurde leiser. Es stolperte zurück, hielt sie noch immer am Kragen ihrer Jacke feste. Etienne drückte es weiter zurück. Hinter ihm war das Loch im Boden, durch welches es sie in den Raum gezogen hatte. Es gab keinen besseren Ort ihn loszuwerden. Sie wollte es nicht neben sich sterben lassen. Sie hatte ihrem Bruder versprochen, keine Gewalt für ihre Ziele einzusetzen, aber niemals hätte sie gedacht eines von diesen Dingern inmitten dieser vergleichsweise kleinen Stadt zu finden. Sicherlich würde er ihr verzeihen, immerhin handelte es sich hier um ein Monster, welches die neue Welt in ihren Anfängen terrorisiert hatte.

Es stolperte weiter zurück, seine Klaue ließ ihre Jacke los. Etienne hielt es weiter wachsam fest. Als sie das Gefühl hatte, dass es sie nicht weiter angreifen würde, zog sie ihr Messer aus seinem Hals. Doch der Schmerz ließ es noch einmal aufkreischen und es packte sie erneut am Kragen der Jacke und zog sie mit, als es hinunter fiel. Etienne fluchte, als sie vom Gewicht mitgezogen wurde, versucht sich zu drehen, um dem Griff zu entkommen, wollte etwas im Zimmer greifen, fiel dann jedoch Rückwerts hinunter. Sie stach mit dem Messer in die Wand, versuchte mit ihren Beinen und dem Arm sich an dem Gestein festzuhalten. Das Messer verhakte sich in dem kaputten Stein. Sie spürte das Gewicht des Wesens stark an ihr ziehen, als sie ihren Fall verhinderte, dann ließ es sie los und sie fühlte sich auf ein Mal leichter. Doch dann setzte die Anstrengung in ihren Gliedern ein, als sie versuchte ihre Körperspannung aufrecht zu erhalten und nicht einzusacken. Sie dachte panisch nach, wie sie wieder nach oben kommen sollte. Sie hatte Angst loszulassen und sich auf ihr Messer zu verlassen, welches tief in den Überresten der Wand steckte. Sie konnte nicht einschätzen, ob die Wand nicht unter ihrem Gewicht nachgeben würde. Schweiß sammelte sich auf ihrer Stirn und floss ihr ins Auge. Sie ignorierte es und überlegte sich, ob sie den Fall in Kauf nehmen sollte. Sie könnte auch Catjill rufen, vermutete jedoch, dass die anderen seinen Schutz jetzt wirklich brauchen würden, erst recht, wenn noch mehr von diesen Wesen in den anderen Särgen sein sollten. Sie hörte, wie die Tür zu ihrer Rechten aufging, konnte jedoch nicht über die Kante des Lochs sehen. Ihr Herz hatte sowieso schon schnell vor Anstrengung geschlagen, nun hatte sie Angst, dass es aussetzen würde.

Kurz hörte sie nichts weiteres, als das schwere Atmen einer Person und versuchte ebenfalls so ruhig zu sein, wie es nur ging. Dann vernahm sie eine bekannte Stimme, „Etienne?“

Sie atmete fast erleichtert durch, „Ja, hier.“

Sie hörte schnelle Schritte, dann sah sie Raffael besorgt zu ihr hinunterblicken.

„Schön dich hier zu sehen“, presste sie unter Anstrengung hervor.

„Gib mir einen Moment“, sagte er und sie merkte wie er verschwand, etwas in dem Raum tat.

„Wo ist das Wesen?“, hörte sie ihn fragen.

„Keine Sorge darum“, presste sie hervor. Dann tauchte er wieder auf, beugte seinen Oberkörper zu ihr und packte sie mit einem Arm unter der Taille. Sie füllte Erleichterung in ihren Gliedmaßen, als er ihr so einen Teil der Kraft abnahm, mit der sie sich halten musste. Sein anderer Arm war noch immer aus dem Sichtfeld, wahrscheinlich hatte er eine Möglichkeit gefunden, sich festzuhalten.

„Alles gut?“, fragte er besorgt, während er sie festhielt.

„Ja“, sagte sie und atmete tief durch.

Er sah ihr prüfend ins Gesicht und sagte dann, „Leg deinen Arm um mich, ich kann dich hochziehen.“

Sie tat wie er sagte, überwand die Angst loszulassen und griff mit ihrem freien Arm schnell um seine Schulter, packte seine Jacke und hielt sich fest. Der Geruch von einfacher Seife drang zu ihr und alte Erinnerungen flitzten durch ihren Kopf, als sie damals mit ihrem Vater Berge bestiegen hatte. Auch damals hatten sie einfache Seife ohne irgendwelche Duftstoffe verwendet, ein Geruch, den sie immer mit diesen schönen Erinnerungen verband. Sie hatte damals auch gelernt, zu klettern. Raffael zog sie hoch, strengte sich genauso sehr an wie sie. Etienne nutzte ihre Beine und spannte ihren ganzen Körper an, um sich hoch zu hieven. Ihre Bauchmuskeln brannten, ebenso wie ihre Oberschenkel und Oberarme. Und als sie sich endlich zur Seite rollen konnte, überrannte sie die Erleichterung und Zufriedenheit, die Herausforderung gemeistert zu haben. Sie atmete schwer, als sie am Rand des Loches lag. Raffael richtete sich auf und sah sie an. Auch er atmete schwer.

Nun, wo es ruhiger wurde und sie nicht mehr ihr Herz dröhnen hörte, bemerkte sie die Stimme des Geistes von unten zu ihnen hindurchdringen. Etienne hörte auch Metas verzweifeltes Rufen und es rumpelte, als würde ein Kampf unter ihr stattfinden.

„Wieso bist du hier oben?“, fragte sie Raffael. Sie sah zu ihm und er blickte hinunter durch das Loch im Boden, „Der Tunnel zum Kamin ist eingestürzt. Nicht komplett, aber es wird schwer sein, durchzukommen. Meta hat mir zugerufen, dass du sehnsüchtig auf meine Hilfe wartest. Ist alles in Ordnung?“

Sie richtete sich auf und ihre Muskeln beschwerten sich, „Sehnsüchtig bestimmt nicht. Ist auch halb so wild. Wir sollten uns überlegen, wie wir die beiden da rausholen.“

„Sie werden sicherlich noch eine Weile durchhalten. Eine Idee, wie wir den Geist ausschalten können?“

Etienne beugte sich über das Loch und packte ihr Messer, welches noch immer in der Wand steckte. Mit viel Kraft zog sie es wieder heraus. Sie bemerkte wie Raffaels Blick auf das Messer fiel und dann wieder zu ihr zurückkehrte, „Was? Glaubst du ich hab mich gegen das Ding mit Fäusten gewehrt?“

„Hab dich nicht als Messerschwingend eingeschätzt“, sagte er.

Etienne wischte das Messer an dem Vorhang ab, das neben ihnen lag. Die Kordeln des Vorhanges hingen noch um Raffaels Arm. Während sie es wegpackte, sagte sie, „Eigentlich hatten wir vor, mit Catjill von hier zu verschwinden. Aber ich kann mich nicht noch um zwei zusätzliche Leute kümmern.“

Es war schon schlimm genug, dass sie für Meta mit ihm Verhandlungen abschließen musste.

„Ist das ein Vorwurf?“, fragte er.

Sie sah ihn lächeln und antwortete, „Ich stelle nur Tatsachen fest. Und wir müssen etwas finden, was den Geist an die erste Ebene bindet. Wenn wir das zerstören, wird es zwar weiterhin spucken, kann uns aber nicht mehr gefährlich werden.“

Er sah sie prüfend von oben bis unten an, sein Blick blieb an ihrer Wange haften. Seine Finger berührten etwas von der dunklen Flüssigkeit, welche an ihrer Jacke war und er betastete diese prüfend. Etienne hoffte, dass die Jacke noch einigermaßen heile war.

„Gilgian hat mir erzählt, dass er seinen Onkel und seine Bedienstete versteinert hat“, sagte Raffael.

Etienne blickte ihn überrascht an, „Meinst du das metaphorisch?“

„Nein“, sagte er lächelnd und sah ihr in die Augen, erwiderte ihren Blick, ohne seinen abzuwenden, was sie irritierte, „Wir wusste alle schon eine Weile, dass er Dinge in Stein verwandeln kann. Es ist ihm mal aus Versehen passiert, als seine Fähigkeiten gerade erst erwacht waren. Du hättest sehen sollen, wie er den Ball zurück geworfen und damit jemanden fast getötet hat. Damals war er noch kein Provinzsherrscher. Ich habe nur nicht gedacht, dass er es auch an lebenden Wesen nutzen kann.“

Etienne rief sich noch mal ins Gedächtnis, was sie gesehen hatte, als sie das Schatzzimmer von Metas Vater betreten hatte. Sie konnte sich an einige Statuen erinnern. Einige von diesen waren eindeutig aus einer anderen Zeit. Aber es gab auch welche, die sie sich nicht so genau angeschaut hatte und sie als einen Versuch der Rekonstruktion der alten Kunst im Hinterkopf vermerkt hatte. Sie würde sich diese noch mal genauer anschauen müssen.

„Sein versteinerter Körper könnte natürlich sehr gut geeignet sein als Verbindung zur ersten Ebene“, sagte sie nachdenklich, „Erst recht, wenn er noch größtenteils intakt ist. Dafür müssten wir dann wieder runter.“

„Willst du da wirklich wieder rein?“, fragte er sie.

Etienne blickte in das Loch. Unter ihr tat sich noch ein Stockwerk auf, in dessen Boden ein größerer Spalt klaffte. Es war sehr dunkel, als sie versuchte weiter hineinzublicken, aber sie entdeckte huschende Schatten, „Ich glaube nicht, dass ich da wirklich eine Wahl habe. Wenn wir ihn gut genug ablenken, könnte Gilgian vielleicht den Körper seines Onkels identifizieren und wir könnten ihn zerstören.“

Sie könnte ihn zerschmettern. Das würde die Präsenz des Geistes deutlich mindern. Und wenn er ihnen gegenüber immer noch ein Problem darstellen würde, würde sie Catjill den Rest machen lassen. Das würde aber seinen Preis haben, denn es handelte sich bei ihrem Gegner nicht um einen Menschen.

„Du könntest auch einfach gehen. Oder hast du deinen Stein noch nicht?“

Sie blickte mit zusammengekniffenen Augen zu ihm und hielt ihre Hand davon ab, prüfend zu ihrer Tasche zu wandern. Sie hatte den Stein, „Hast du vor mich wieder zu bestehlen?“

Er schüttelte den Kopf, „Einer reicht mir.“

Sie sah ihn schweigsam an, dachte über seine ersten Worte nach. Auch er blickte ihr prüfend ins Gesicht.

„Testest du mich gerade?“, fragte Etienne.

Er lachte, „Ich glaube nicht, dass ich das muss. Ich hab genug gesehen, um dich einschätzen zu können.“

Er blickte wieder zu ihrer Wange, strich vorsichtig zwei Strähnen weg.

„Um Himmels Willen, was ist da?“, fragte Etienne und berührte mit den Fingern die Stelle, die er angeblickte und zuckte zusammen, als ein brennender Schmerz ihr bis in die Knochen zog.

„Stocher da nicht rum“, sagte er wütend, packte ihre Hand und zog sie weg.

„Wie soll ich sonst einschätzen, ob das schlimm ist?“, fragte sie zurück. Mal abgesehen von dem offenliegendem Fleisch schien ihre Wangenknochen nicht gebrochen zu sein. Schlimmer fühlte sich mittlerweile ihre Schulter an. Sie würde mit einigen blauen Flecken nach Hause kommen. Tatinne würde sehr unglücklich mit ihr sein. Zweiter Tag und sie würde schon wieder schlecht vor ihr dastehen.

„Sieht so schlimm aus, dass du deine Finger nicht reinstecken solltest.“

Etienne stand auf und verzog das Gesicht. Die Schulter tat deutlich mehr weh, als die Wange.

„Lass uns die Pause kurz halten“, sagte sie zu ihm, „Ich werde da runter steigen. Wenigstens Meta bin ich es schuldig.“

Er seufzte und stand ebenfalls auf. Sie sah ihm dabei zu, wie er die Kordel von seinem Arm löste. Ihr Ende verlief zum Bettpfosten, welches in schönem, dunklen Holz emporragte. Er hatte Ärmel von seinem Hemd hochgezogen und sie konnte an seinem Unterarm die roten Abdrücke erkennen.

„Was hast du nun vor?“, fragte sie ihn. Er richtete sich auf und sah ins Loch, „Ich schätze ich werde auch helfen. Auch wenn ich mir nicht sicher bin, ob ich mich wirklich in eine Familienfehde einmischen will.“

„Vielleicht ist es eine gute Sache“, sagte sie, „Dann würdet ihr euch nicht mehr so sehr anfeinden.“

Raffael sah sie mit einem Gesichtsausdruck an, den sie nicht deuten konnte. Er rührte sich nicht und Etienne wunderte sich, ob sie etwas Falsches gesagt hatte. Das war der Grund, weshalb sie nicht wirklich gut mit Menschen war. Sie überließ es den anderen.

„Was ist?“, fragte sie bei ihm nach und es fühlte sich fast schon wie ein Eingeständnis an ihre schlechten Fähigkeiten an.

Er atmete durch, „Nichts. Mach dir keine Gedanken drüber.“

Sie sah ihn weiterhin prüfend an. Sie ließ solche Sachen nicht auf sich sitzen, erst recht nicht, wenn es so suspekt schien. Dann kam ihr ein Gedanke und sie fragte, „Dachtest du gerade an Tatinnes Vorhersehung?“

Raffael hob die Brauen, „Hat sie dir davon erzählt?“

„Ja“, sagte Etienne, „Aber da brauchst du dir keine Gedanken drum zu machen. Es kann sich unmöglich um mich handeln.“

„Ah wirklich?“, fragte er ausdruckslos.

„Ein Grund, mir den Stein nicht weiter vorzuenthalten“, sagte sie.

Er lächelte „Wir können das gerne wann anders besprechen. Was ist der Plan?“

Etienne sah wieder runter, „Wenn der Eingang durch die Tunnel gesperrt ist, können wir hier herunter klettern.“

„Ich habe dich da gerade rausgezogen“, warf er ein.

Sie sah leicht genervt zu ihm, „Das war ein unkontrollierter Fall. Wenn wir es schaffen uns unbemerkt wieder rein zu schleichen, dann könnten wir seinen Körper ausmachen und zerbrechen. Könntest du ihn ablenken, dass er mich nicht bemerkt?“

„Mir wird sicherlich was einfallen. Wir sollten aber vorher schauen, was genau da unten los ist. Bitte spring nicht einfach zu dem Geist rein.“

„Wie kommst du darauf, dass ich das einfach blind machen würde?“, fragte sie aufgebracht. Sie war kein selbstmordgefährdeter Vollidiot.

Er erwiderte ihren Blick und sagte trocken, „Du bist mindestens blind in dieses Haus reingestürmt. Oder willst du mir sagen, dass du innerhalb eines halben Tages herausgefunden hast, was hier auf euch treffen würde?“

Etienne warf ihm einen genervten Blick zu und entschied sich, den Zusatz zu ignorieren. Sie ging in die Hocke und stieg dann vorsichtig durch die Öffnung. Sie prüfte einige Stellen, an denen sie sich festhalten konnte und als diese sicher schienen, hielt sie sich an diesen fest und hievte sich hinunter in die untere Etage. Sie landete leise neben dem größeren Spalt im Boden, der deutlich größer war, als der in die höhere Etage, und konnte die Kampfgeräusche lauter hören. Sie sah sich zunächst im Zimmer um und entdeckte keine Gefahren. Raffael kam ebenfalls leise hinunter. Er blickte sich kurz um, sah dann aber nach unten in das Geschehen.

„Du solltest dich aufmerksamer umschauen“, sagte sie zu ihm.

Er lächelte erneut bei ihrer Bemerkung und sagte, „Du hast keinen Alarm geschlagen.“

Er sah hinunter in die Etage unter ihnen, das Schatzzimmer des Geistes. Etienne erfüllte kurz das Gefühl des Stolzes. Sie hatte selten mit anderen Menschen zusammen gefährliche Situationen durchgestanden. Aber die Anerkennung für ihre Fähigkeiten zu bekommen, so viel, dass er ihr regelrecht zu vertrauen schien, dass keine Gefahren auf ihn warteten, überraschte sie. Ihre Begegnungen waren bisher nicht sonderlich positiv gewesen. Sie schüttelte das Gefühl ab und blickte ebenfalls hinunter. Sie konnte die Umrisse des Crowling ausmachen, dessen reglose Gestalt am Boden lag. Sie war sich sicher, dass es tot war.

Blieb nur zu hoffen, dass es keine weiteren gab. Die Tatsache, dass der Geist keine Flüche gegen Etienne und Raffael nutzte, gab ihr zu hoffen, dass er viel zu selbstsicher war, als dass er glauben würde, sie könnten sich gegen einen Crowling behaupten. Vielleicht hatte er sie schon längst vergessen, während er sich mit Gilgian auseinandersetzte.

Sie konnten nicht viel ausmachen. Manchmal flogen Gegenstände durch den Raum. Etienne konnte ein Schwert erkennen.

„Lass mich zuerst rein“, sagte Raffael, „Ich kann meinen Ring nutzen, mich wird nichts davon treffen. So lange es physisch ist. Ich gebe dir dann ein Zeichen, wenn du nachkommen sollst. Und wenn er mich entdeckt, dann kann ich dir eine Chance geben, unbemerkt reinzukommen.“

Etienne nickte zögernd, „Gut.“

Sie war es nicht gewohnt, sich auf jemanden Fremdes zu verlassen. Er blickte zu ihr hoch und lächelte dann, als er ihr Zögern bemerkte, „Keine Sorge, ich werde dich nicht auflaufen lassen.“

„Das hab ich nicht gesagt“, erwiderte sie.

Er lachte leise, „Nein. Das brauchst du nicht.“

Raffael stand auf und drehte den Ring um seinen Finger. Etienne erinnerte sich plötzlich daran, wie Raffael einen Ring genutzt hatte, um den Wächter zu fangen. Damals hatte Crom ihm direkt seinen als Ersatz gegeben.

„Was halten eigentlich deine Beschützer davon, dass du ohne sie hier bist?“, fragte sie ihn.

Er blickte wieder kurz zu ihr, „Wieso hast du deine Fähigkeit noch nicht genutzt?“

Sie blinzelte verwirrt, „Woher kommt diese Frage jetzt?“

Raffael zwinkerte ihr zu und prüfte dann seine Waffe, „Antwort gegen Antwort. Das hatten wir schon.“

„Gut“, sagte Etienne und unterdrückte die Ernüchterung, welche in ihr hoch stieg. Sie würde bei ihm nicht weiter kommen.

Er blickte wieder kurz zu ihr, „Schau nicht so enttäuscht.“

„Ich bin nicht enttäuscht“, sagte sie. Er lachte wieder leise und setzte sich hin, nahm ihr Hand und drückte ihr einen Ring rein, welchen er aus seiner Hosentasche genommen hatte, „Ich bin mehr als bereit, mit anderen zusammenzuarbeiten. Aber nur, so lange ich es auch im selben Maße zurück bekomme.“

„Nur damit das klar ist“, erwiderte Etienne und steckte den Ring ein, „Du bist derjenige, der einfach auftaucht und mir Schwierigkeiten bereitet. Wenn es nach mir ginge, würde ich euch alle gar nicht kennen.“

Er zuckte mit den Schultern, „Leider sind die Dinge nun so, wie sie sind. Zeit sich anzupassen.“

Sie schnaubte und ließ das Thema dann fallen, als sie lautes Gelächter unter sich vernahm, „Gilgian ich muss schon sagen, es ist immer wieder amüsant, dich beim Kämpfen zu betrachten.“

Sie nahm ihre Kette und gab sie Raffael, „Du musst meine Lichtquelle sein. Ich erwarte aber, dass du mir das wiedergibst.“

Sie sah ihn ernst an, als er die Kette entgegen nahm und er nickte ihr zu, „Versprochen. Wie nutze ich das?“

„Drücke sie leicht zwischen deinen Fingern und stell dir das Licht vor. Wenn es nicht klappen sollte, nicht schlimm. Ich werde schon zurecht kommen. Aber es wäre leichter. Mach es aber nicht zu hell. Er soll die Regale nicht sehen können.“

Er nickte erneut und wickelte sie um seine Hand. Dann beobachtete Etienne ihn dabei, wie er sich sich an dem Stein festhielt und sich dann langsam hinunterließ. Etienne entschloss sich herauszufinden, wie gut er im Kämpfen war. Es war offensichtlich, dass er nicht unfähig war. Er lehnte sich nicht zurück, während seine Untergebenen seine Arbeit erledigten, sondern packte selbst an und schien genug Vertrauen in seine eigenen Fähigkeiten zu haben, dass er sich hier hinein getraut hatte. Sie musste herausfinden, ob sie ihn im Fall der Fälle besiegen können würde.

„Ein starker Schlag kann dir keine Knochen brechen, aber sobald ein Messer angeflogen kommt, blutest du wie ein Schwein“, hörte sie den Geist sagen. Er schien sehr beschäftigt zu sein.

Sie beobachtete Raffael weiter dabei, wie er hinunter sprang und auf den Flügeln des Monsters landete. Er gab keine Geräusche von sich und sah wachsam in den Raum und sie bemerkte, wie er mit Blick auf jemand anderen einen Finger an den Mund hob und signalisierte leise zu sein. Etienne bemerkte, wie seine Augen durch den Raum huschten und nach einigen weiteren Sekunden blickte er zu ihr hoch und deutete ihr, ebenfalls hinunter zu steigen.

Während sie das tat, hörte sie den Geist weiter sprechen, „Ich muss aufpassen, dass ich dich nicht ausbluten lasse. Es wäre eine Schande, deinen Körper zu übernehmen, nur um in ihm zu sterben. Und ich würde ungern noch mal sterben.“

Raffael hob seine Arme, um sie aufzufangen und sie ließ sich darauf ein, da dies die Chancen senken würde, dass sie auf etwas landete, was sie verriet. Er packte ihr Hüften, als sie sich langsam hinabließ und ließ sie langsam am Boden ab. Sobald sie im Raum war, sah sie sich kurz um. Der Geist war mit Gilgian beschäftigt, welcher sie beide sicherlich schon bemerkt hatte. Auch Meta blickte mit großen Augen zu ihr. Dies gab Etienne den Anstoß, sofort zu handeln. Sie stahl sich in die Dunkelheit, hinter die Regale. Wenn der Geist auf Metas Blick aufmerksam werden würde, würde er nur noch Raffael entdecken. Sie sah weiter in den Raum hinein und betrachtete noch ein mal die Statuen. Im dunklen Licht fiel es ihr schwer sie genau auszumachen. Vor allem nach dem Einsturz von einzelnen Teilen der Decke sah sie viel Gestein herumliegen und war sich nicht sicher, ob sie die Statuen, die für sie relevant waren, übersehen könnte. Hoffentlich war keine von ihnen bereits begraben. Und hoffentlich war sein alter Körper nicht begraben. Das würde die Suche ungemein erschweren. Unter Umständen sollte sie sich schon mal einen Plan B zurecht legen. Meta als erstes aus dem Haus zu bekommen, sollte das Hauptziel sein, denn danach könnte Etienne Catjill wieder zu sich nehmen. Als sie jedoch zu Gilgian blickte, war sie sich nicht mehr sicher, ob das der richtige Ansatz war. Er hielt sich seine Seite. Etienne hoffte, dass er nicht allzu schwer verletzt war, doch sie konnte es nicht deutlich erkennen.

Sie bemerkte, wie etwas durch den Raum auf ihn zuflog und entdeckte das Schwert, welches sie zuvor schon bemerkt hatte. Sie wechselte kurz den Blick in die zweite Ebene und war überrascht davon, wie erdrückend sich die Schatten im Raum verteilt hatten. Sie ließ den Blick fallen. Sie konnte dort nicht klar sehen.

Auf ein Mal leuchtete der Raum in warmen, gelben Licht auf und Etienne schloss die Augen. Kurz darauf wurde das Licht etwas gedämmt und Etienne sah erschrocken zu Raffael, welcher entschuldigend zu den anderen lächelte, „Entschuldigung. Das war das erste Mal, dass ich es nutze.“

Immerhin hatte er nun die Aufmerksamkeit aller Personen im Raum. Etienne sah sich wieder um und sah nach den Statuen. Sie entdeckte, dass eine darstellte, wie jemand auf allen Vieren auf den Schätzen kroch. Eine andere sah aus, als würde jemand um Hilfe flehen. Die nächste hatte die Hände über den Kopf. Und sie sahen sich alle von der Konsistenz her ähnlich. Sie würde unter dem Licht nicht ausmachen können, welche von denen echt waren und welche ein versteinerter Mensch sein sollte.

„Ich bin überrascht, dass ein kleiner Junge wie du es geschafft hat, es lebend hierher zu schaffen“, sagte der Geist an Raffael gewandt.

„Ich bin auch überrascht. Aber mein Glück, dass dieses Ding unter mir so sehr beschäftigt war, dass es mich nicht hat kommen sehen.“

Etienne schlich sich langsam zu Gilgian. Unter dem Licht konnte sie nun erkennen, dass er sehr stark zu bluten schien. Sein weißes Hemd war an der Seite rot angelaufen. Doch er stand noch immer. Er atmete nicht mal schwer. Stattdessen war sein finsterer aber ruhiger Blick auf Raffael und den Geist gerichtet. Er sah kurz zu ihr, als sie sich leise auf den Weg zu ihm machte, blickte dann weiter auf das Geschehen. Er tat so, als wäre sie nicht da.

Der Geist antwortete nicht direkt und Etienne blickte wieder kurz zu ihm, sah seinen Blick, welcher auf das Wesen unter Raffaels Füßen fixiert war. Dann wanderte er nach oben zu Raffael, „Ich muss zugeben, ich bin überrascht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du es besiegt haben könntest.“

„Ich bin immer für Überraschungen gut“, sagte Raffael lachend. Seine Stimme war laut im Raum zu vernehmen. Etienne schlich weiter durch die Dunkelheit, bis sie bei Gilgian angekommen war.

„Dann hättest du aus dem Haus verschwinden sollen“, sagte der Geist zu ihm, „Ich hätte es nicht einmal gemerkt.“

„Oh natürlich. Aber ich wollte den Mann kennenlernen, welcher es geschafft hatte solch ein Wesen unter seine Führung zu bringen.“

Etienne kam bei Gilgian an. Sie hörte den Geist lachen und Raffael antworten. Etienne stellte sich in die Dunkelheit hinter Gilgian und sagte leise, „Welche der Statuen ist sein Körper? Wir sollten diesen zerstören.“

Er antwortete ihr nicht direkt. Sie beobachtete von hinten, wie sein Kopf sich langsam drehte. Er blickte zu den Statuen, welche verteilt im Raum waren. Dann sagte er leise, „Der kriechende Mistkerl. Es wird mir eine Freude sein, ihn zu zerschmettern.“

„Bleib hier und beweg dich nicht zu viel“, sagte sie ihm und drückte ihm den Ring in die Hand, welchen Raffael ihr gegeben hatte. Dann ging sie zurück zwischen die Regale. Sie war noch immer in Ehrfurcht vor den Gegenständen, welche sie in diesem Zimmer sehen konnte. Doch diesmal interessierte sie nur die schwere Stange, welche sicherlich einst dazu gedient hatte, die Decke über ihren Köpfen zu stabilisieren. Nun konnte Etienne sie für sich nutzen, nachdem der Geist sie ihr, in einem Versuch sie unter dem Gestein zu verschütten, zur Verfügung gestellt hatte. Sie packte das Gestein leise zur Seite und hob die Stange hoch. Sie fühlte sich schwer in ihren Händen an, aber genau das, was sie brauchen würde. Ein gezielter Schlag und wenn er wirklich über seinen alten Körper mit der ersten Ebene verbunden war, dann würde es ihn genug stören, dass er zumindest seine Energie nicht mehr dazu verwenden können würde, um sie mit verfluchten Gegenständen zu belästigen.

Sie hörte Raffael im Hintergrund seine Stimme erheben, ebenfalls lachend. Die gute Laune, mit welcher er den Geist ansprach, schien seine Aufmerksamkeit komplett auf sich zu ziehen, „Ich war schon lange nicht mehr wirklich so beeindruckt gewesen. Ich muss zugeben, ich kann Gilgian nicht wirklich gut leiden. Wenn du also wirklich seinen Körper übernehmen willst, dann würde ich das begrüßen.“

Etienne blickte zu ihm und dann zu Gilgian, welcher ihm zwischen zusammengepressten Lippen einen herausfordernden Blick zuwarf, „Nur zu, Beltran. Ich kann es mit euch beiden aufnehmen.“

Etienne schlich weiter durch die Schatten, auf die andere Seite des Raumes. Gilgian stand nicht in der Nähe an dem Körper, den er ihr genannt hatte, aber der Fokus war auf ihn gerichtete. Der Geist war zwischen ihnen, blickte von einem zum anderen.

Er beachtete Meta nicht und Etienne war überzeugt davon, dass er über ihre Anwesenheit auch nichts wusste. Raffael lenkte ihn gut ab. Er schmeichelte ihm, war laut, nutzte das Licht, welches sie ihm gegeben hatte, um das Zentrum des Raumes zu sein. Etienne ging weiter, während Gilgian in Raffaels Richtung fluchte. Der Geist lachte, schien die Aufmerksamkeit zu genießen. Etienne war sich sicher, dass er einige Jahre allein in diesem Haus verbracht hatte. Es verlangte ihn sicherlich nach Sozialisation. Soziale Bedürfnisse konnte ein Mensch nicht ablegen, wenn er als Geist wieder erschien. Sie waren der Nährboden für ihre Existenz und ohne menschliche Interaktionen, würde ihnen dieser Nährboden fehlen. Sie brauchten Gesellschaft, Liebe, Streit, Diskussionen und alles andere, was Menschsein mit sich brachte. Seinen Schatz zu schützen, würde ihn nicht erfüllen, wenn er niemanden hatte, gegen wen er ihn schützen konnte und so verhielt es sich mit seinem Bedürfnis für Rache und Anerkennung.

Etienne stand nach einigen Schritten vor dem versteinerten Körper. Aus der Nähe konnte sie nun erkennen, dass er einen Bart hatte, welcher dem Geist glich. Auch seine Kleidung schien ähnlich zu sein. Dennoch blieb ihr nur die Mutmaßung, denn der Geist hatte sich nicht sehr gut manifestiert und der Körper war so verstaubt und das Gesicht in einem Moment der Angst verzogen, dass sie es nicht direkt mit dem Geist vergleichen konnte. Etienne hob die schwere Stange und schlug mit aller Kraft gegen den Kopf der Statue. Er zersprang in viele Einzelteile und zeitgleich schrie der Geist auf. Er verschwand jedoch nicht direkt. Etienne hob noch mal die Stange, doch diesmal flog das Schwert auf sie zu und Etienne nutzte die Stange, um es abzuwehren. Die Wucht ließ sie jedoch nach hinten stolpern und dann folgten dem Schwert einige andere Gegenstände, welche sie nach hinten fallen ließen. Einige Dinge fielen mitten im Flug hinunter, ein Zeichen dafür, dass er schwächer geworden war. Seine Gestalte fing zu flackern an, verschwand kurz im Dunkeln und tauchte wieder auf.

„Scheint zu funktionieren“, sagte Etienne in den Raum hinein und versuchte sich wieder aufzurichten.

Der Geist schrie auf, „Mein Körper! Wie kannst du es wagen? Mein Körper!“

Erneut erhoben sich Gegenstände in der Luft. Etienne entdeckte alles Mögliche. Von Steinbrocken, bis zu spitzen Waffen. Wahrscheinlich sah er sich nun genug bedroht, dass er sich nicht mehr zurückhalten würde. Oder er schlug einfach wild um sich. Etienne war sich nicht sicher, was sie gegen die Menge ausrichten sollte, der sie sich gegenüberstand. Sie überlegte sich, hinter die Regale zu springen, wollte jedoch nicht von diesen begraben werden, wenn sie umgestoßen werden sollten. Gilgian tauchte vor ihr auf. Als die Dinge auf sie zuflogen, prallten sie vor ihm ab. Der Ring, den Raffael ihr gegeben hatte, schützte ihn und er nutze diesen, damit sie nicht direkt getroffen werden würde. Sie war nicht im Radius drin, so wie Raffael ihr dies vor einigen Tagen gezeigt hatte, war dieser nicht so groß. Die Dinge prallten am Schutz ab und flogen in alle Richtungen davon oder zerbarsten. Etienne hob die Hände schützend über ihren Kopf und versuchte es zu vermeiden, vom Schutt getroffen zu werden, während Gilgian weiterhin vor ihr stand.

Gilgian lachte laut, „Was ist los, alter Mann? Sieht so aus, als würdest jetzt keinen Körper mehr bekommen.“

Er trat langsam zu dem versteinerten Körper und der Geist war nun auf ihn fokussiert. Es hoben sich weitere Dinge, flogen auf ihn zu nur um dann kurz vor ihm abzuprallen. Das Gesicht des Geistes war eine Mischung aus Verwirrung und Wut. Dann setzte Verzweiflung ein, als Gilgian über seinem versteinerten Körper stand, „Geh da weg! Geh sofort zurück!“

Weitere Dinge flogen gegen ihn. Gilgian schenkte ihnen nicht mal mehr Beachtung.

Der Geist sah zu Raffael, „Halte ihn auf! Dann gebe ich dir alles was du willst.“

Raffael hob mit einem Lächeln entschuldigend die Hände, „Ich will mich nicht in Familienangelegenheiten einmischen.“

Gilgian blickte verachtend auf den Körper unter ihm, dann hob er die Faust und schlug auf diesen ein. Die Splitter flogen in alle Richtungen davon. Der Geist verschwand kurz, tauchte wieder auf und verschwand dann wieder. Gilgian zerschmetterte jedes Stückchen Stein, welches einst zum Geist gehört hatte.

Etienne seufzte erleichtert. Es war zwar erst vorbei, wenn sie wirklich hier raus waren, aber nun würde es deutlich einfacher werden. Sie saß an der Wand und nutzte den Moment, um kurz durchzuatmen. Sie hatte nun den Stein. Der Geist war eindeutig eingeschränkt, er müsste sie nicht mehr allzu sehr belästigen dürfen. Catjill war immer noch bei Meta, welche einfach nur traurig Gilgian dabei zuschaute, wie er den Körper zerschmetterte. Etienne empfand Mitleid mit ihr und empfand Schuldgefühle, welche sie schnell zur Seite schob. Sie hätte geduldiger sein sollen, etwas mehr Informationen sammeln und anschließend alleine mit Catjill gehen sollen. Sie seufzte leise und wechselte den Blick in die zweite Ebene. Der Geist war immer noch an Ort und Stelle. Schrie Gilgian weiter an aufzuhören. Die Schatten wirbelten wild durch die Gegend und erschwerten ihr die Sicht. Sie ließ den Blick wieder fallen. Nun musste sie sich überlegen, wie sie damit umgehen sollte, sollte Gilgian nun auf sie wütend werden. Etienne wollte seine Faust ungern in ihrem Gesicht spüren. Sie war der Meinung, dass es noch immer keinen Grund dafür gab, dass er und Raffael hier aufgetaucht waren. Selbst wenn sie Etienne mit Meta vermutet hätten, hatten sie erstaunlich schnell zusammengezählt, dass sie mit ihr auf die Suche nach dem zweiten Stein von Expulsio sein würde. Sie blickte zu Raffael und entdeckte ihn dabei, wie das Wesen unter sich betrachtete. Er hob seinen Kopf an einem Ohr an, betrachtete die Wunden, welche Etienne ihm zugeführt hatte. Dann sah er seinen Nacken an. Er runzelte die Stirn, während er es betrachtete, rieb zwischen den Fingern die dunkle Flüssigkeit und sah dann zu Etienne. Sie hatte sich gewehrt und um ihr Leben gekämpft, dennoch fühlte sie sich bei seinem Blick ertappt. Erneut stellte sie fest, wie sehr er sie störte. Auch im Château de la Fortune hat sie sich zu wachsam beobachtet gefühlt, nun fühlte sie sich, als würde er bei seiner Beobachtung etwas entdecken.

„Du solltest aufpassen, dass es nicht wieder aufwacht“, sagte sie und hoffte, ihn etwas zu erschrecken.

Er ließ den Kopf fallen und sah stirnrunzelnd wieder zu dem Wesen, „Kann es das?“

„Vielleicht“, sagte Etienne und hatte nicht das Gefühl, dass ihre schwachsinnige Warnung ihn groß davon ablenken würde, was sie mit dem Carwling gemachte hatte.

Er schlug sich die Hände sauber. Gilgian hatte aufgehört zu schlagen. Etienne konnte von der einstigen Statue nichts mehr erkennen. Sie war zerkleinert in kleine Steine und Staub. Dann wandte er den Blick zu ihr.

Etienne stand auf und lächelte seinem Blick entgegen, „Fantastischer Zeitpunkt, von hier zu verschwinden, denkt ihr nicht?“

„Du hättest gar nicht erst hier auftauchen dürfen. Geschweige denn meine Schwester mitnehmen.“

„Das war halb so wild, bis ihr hier aufgetaucht seid“, sagte sie, „Catjill, komm zu mir.“

Der Kater flog von Metas Schulter und war schnell bei ihr. Etienne bemerkte, dass er leicht zitterte. Sie trat näher zu Meta, um nicht allzu weit weg zu sein, wenn doch etwas passieren sollte. Dann sah sie zu Gilgian und seiner verletzten Seite, „Du solltest mich das anschauen lassen.“

Er sah sie warnend an, „Denkst du wirklich, ich würde dich an meine Wunde lassen.“

Etienne zuckte mit den Schultern, „Wie du willst. Aber es wird sicherlich niemandem helfen, wenn du hier verblutest.“

„Und der ganze Aufwand, euch beiden zu helfen, wäre umsonst“, warf Raffael ein.

Etienne ließ Gilgian darüber nachdenken und sah dann zu Meta, „Ist alles in Ordnung bei dir? Ist dir etwas passiert, seit ich weg war?“

Meta saß immer noch am Boden. Sie sah müde aus. Dann atmete sie durch und wisch sich mit den Händen über das Gesicht, „Ist mein Vater immer noch hier?“

Etienne sah noch mal in die zweite Ebene und entdeckte ihn schnell in der Nähe von Gilgian, ihn wütend anschreien und verfluchen.

„Ja, aber er wird nichts mehr tun können“, sagte sie ehrlich.

„Wirklich?“, fragte Gilgian, „Was soll ich tun, damit er wahrhaftig verschwindet?“

„Darüber können wir uns gerne Gedanken machen, wenn wir hier raus sind“, sagte Raffael.

„Wir sollten uns wirklich deine Wunde anschauen“, fügte Etienne hinzu. Sie konnte sich nicht denken, dass er den Weg nach oben schaffen würde. Es sah nach so viel Blut aus. Vor allem nachdem er angefangen hatte sich zu bewegen und den Körper zu zerstören, konnte sie sich gut vorstellen, dass er noch mehr verloren hatte.

„In der oberen Etage ist ein Badezimmer. Da wird es ein erste Hilfekasten geben“, sagte Meta. Gilgian knurrte unzufrieden. Meta sah wütend zu ihm, „Hör auf. Was soll ich tun, wenn du gleich umkippst?“

„Das werde ich nicht“, sagte er stur. Er und Meta sahen sich eine Weile stur in die Augen, dann seufzte er, „Meinetwegen.“

„Ich hole den Kasten. Wo muss ich hin?“, fragte Etienne und ging zum Spalt an der Decke. Meta erklärte ihr den Weg, während sie aufstand und zu Gilgian ging.

„Brauchst du Hilfe?“, fragte Raffael.

Etienne nickte widerstrebend, „Wenn du mich hoch hieven könntest. Und du kannst das Licht zunächst behalten.“

Er lachte, „Das sollte kein Problem sein. Bist du sicher, dass du das nicht brauchst?“

„Ich habe Catjill und ihr würdet hier mit nichts bleiben, wenn ich es mitnehme.“

Raffael nickte und suchte sich eine passende Stelle. Etienne sah noch mal zur Decke, „Bist du sicher? Das ist ganz schön hoch.“

„Wenn du Anlauf nimmst“, sagte er und deutete ihr dann an, dass er bereit war. Etienne blickte abschätzend zur Decke, dann schickte sie Catjill vor, welcher geschickt nach oben flog. Sie nickte Raffael zu, welcher in die Knie ging und seine Hände ineinander verschränkte. Sie lief los, ging mit einem Fuß in seine Hände sprang mit seiner Hilfe so weit hoch, wie es nur ging. Etienne hielt sich am Gestein fest und nutzte den Schwung und ihr Gewicht, um sich leichter hoch zu ziehen. Catjill wartete auf sie im Zimmer.

„Alles in Ordnung?“, fragte sie bei ihm nach.

„Hier ist alles gut“, sagte er und dann leuchtete er, ohne dass sie ihn fragen musste, in einem blauen Licht auf.

„Los geht’s“, sagte sie und er sprang daraufhin wieder auf ihre Schulter. Sein Licht blendete sie nicht, sondern umfing sie in gleichmäßiger Intensität.

„Ich habe alles von Meta ferngehalten“, sagte er stolz. Er erzählte ihr, was passiert war und Etienne kraulte ihn hinter dem Ohr. Sie kam schnell bei dem Badezimmer raus, welches Meta ihr beschrieben hatte. Etienne sah die Schränke durch und fand schnell einen Erste-Hilfe-Koffer. Etienne öffnete diesen kurz und blickte hinein. Alles, was sie fürs erste brauchen würde, war da drin. Sie seufzte und schloss kurz die Augen. Sie atmete tief durch. Sie hatte den Stein und sie hatten einen Geist besiegt, aber irgendwie fühlt sich das nicht nach einem guten Tag an. Sie dachte an Meta, welche in das ganze hineingezogen worden ist, keine Möglichkeiten hatte, sich mental darauf vorzubereiten, ihrem Vater begegnet war und ihrem Bruder dann dabei zugeschaut hat, wie er seinen Körper zerschmettert hat. Schlechtes Gewissen setzte erneut bei ihr ein.

„Was ist los, Etienne“, fragte Catjill.

Sie lächelte ihn an, „Alles in Ordnung Catjill, mach dir keine Sorgen. Du hast wirklich sehr gut durchgehalten heute.“

Er richtete sich stolz auf, „Das habe ich, nicht wahr?“

Etienne holte das Kästchen mit dem Stein heraus und öffnete dieses, „Du weißt, was jetzt folgt? Du musst ihn versiegeln.“

Er flog aufgeregt um sie herum, landete dann vor ihr auf dem Koffer, „Ich würde dir empfehlen, es gar nicht aus dem Kästchen zu nehmen. Das erledigt seine Arbeit schon ganz gut.“

Er legte seinen Kopf an den Stein und sie schloss die Augen, als es kurz sehr hell wurde. Dann legte sich ein blauer Schleier um den Stein und als Etienne ihn hoch hob, konnte sie in Catjills schwachem Licht ein blaues Schimmern um den Stein erkennen. Zufrieden nickte sie und stand auf, „Das hast du gut gemacht. Einer von drei.“

Sie packte den Koffer und machte sich auf den Rückweg, „Ich werde dir etwas wirklich gutes zu Essen besorgen. Du darfst dir wünschen, was du willst. Und du kannst dir einen Nachtisch dazu wünschen, denn ich werde deine Fähigkeiten gleich noch mal brauchen.“

„Was soll ich machen?“, fragte er aufgeregt. Etienne bedachte ihn aus dem Augenwinkel, verwundert über seinen Ehrgeiz, „Du bist ganz schön motiviert, wie kommt es dazu?“

„Du hast mich heute fast die ganze Zeit in den hinteren Reihen sitzen lassen. Nicht, dass ich meine Arbeit dabei schlecht gemacht habe, aber ein kleines Menschlein wie du sollte sich auf mich verlassen. Ich sollte an der Front kämpfen, immerhin haben wir einen Vertrag.“

Etienne lächelte. Sie war sich nicht sicher, aber es schien, als wollte er ihr seinen Nutzen beweisen. Das verwunderte sie nicht. Er war immer gefangen zwischen seinen Gefühlen, sie auf der einen Seite schlecht zu reden und auf der anderen zu beeindrucken.

„Gut“, sagte sie und streichelte ihn erneut, „Ich muss Gilgian sicher zu meiner Tante bringen. Sorge dafür, dass ihn keiner sieht, wenn er mit uns beiden unterwegs ist, bis ich dir sage, dass du von der Aufgabe befreit bist.“

Der Kater wurde wachsam und fragte vorsichtig nach, „Das wird jetzt keine Aufgabe bis ans Ende der Ewigkeit sein?“

„Nein“, sagte Etienne lachend, „Nur für heute oder für morgen, je nachdem, wie viel Zeit vergangen ist. Ich hab da so ein Gefühl, dass wir deutlich länger hier sind, als wir sein sollten.“

Er nickte, „Gut, das kann ich machen. Einen sicheren Weg gewähren. Was bekomme ich dafür?“

„Wie wäre es mit einem Erlebnis für einen Tag?“, fragte sie ihn, „Du kannst dir etwas wünschen, vorausgesetzt es liegt in meinen Fähigkeiten.“

„Ich will ans Meer“, sagte er. Etienne gab ein nachdenkliches Geräusch von sich, „Das ist einen halben Tag von hier entfernt. Lass mich sehen, wie ich meine nächsten Wochen plane. Und dann gebe ich dir Bescheid.“

Er stieß aufgeregt seine Pfoten in ihre Schulter, „Ich war noch nie am Meer. Darf ich dann auch für ein paar Stunden drüber fliegen gehen?“

Etienne lachte, „Das werde ich mir noch überlegen. Ich will ja nicht meinen wunderbaren Djinn verlieren.“

„Können wir Segelboot fahren?“, fragte er weiter aufgeregt nach.

„Sammel ein paar Ideen und ich werde dir später eine Antwort geben“, sagte sie.

„Das mach ich!“, sagte Catjill und Etienne musste über seinen Eifer lächeln.

Sie kam zurück beim Spalt an, sah, wie das Licht sich im unten im Zimmer hin und her bewegte.

Sie sprang hinunter und hob lächelnd den Koffer hoch, „Habs gefunden.“

Gilgian sah unverändert aus. Wenn Etienne nicht das ganze Blut gesehen hätte, würde sie nicht vermuten, dass es ihm schlecht ging. Raffael stand weiterhin in der Mitte des Raumes. Er war nicht zu Meta und Gilgian getreten und Etienne vermutete, dass dies daran lag, dass sie unter normalen Umständen verfeindet waren.

Sie trat zu Gilgian und sah ihn kurz wachsam an, „Bitte versteinere mich nicht.“

Er stieß ein lachendes Geräusch aus, was jedoch genauso gut eine bedrohliche Ankündigung sein könnte, dass er genau das mit ihr tun wollte.

Sie setzte sich neben ihm und öffnete den Koffer, „Zeig mal her.“

Er zögerte kurz, sah sie noch mal aus wachsamen Augen an und Etienne bekam leicht Angst vor ihm. Es war, als würde sie vor einem wartenden Löwen sitzen, welcher noch nicht entschieden hat, ob er sie mit einem gezielten Biss vernichten wollte oder ob er es langsamer angehen sollte.

Er hob langsam sein Hemd und Etienne schluckte leicht bei der Wunde. Meta versteifte sich neben ihr und sie hörte ein leises Keuschen, welches sie zu unterdrücken versuchte.

„Gut“, meinte Etienne, „ich werde das schließen, aber Tatinne sollte den Rest erledigen.“

„Tatinne?“, knurrte er fragend.

„Besser sie, als wenn dich jemand so in deinem Provinz sehen sollte“, rief Raffael zu ihnen hinüber, „Vor allem nach euren täglichen Machtkämpfen.“

Etienne sah zu ihm und entdeckte ihn neben einem Regal einen Gegenstand hoch heben.

„Oh nein, fasse das nicht an“, rief sie ihm zu. Er legte das Ding wieder hin und Etienne fügte hinzu, „Fasse am besten gar nichts an.“

Er sah zu ihr, eindeutig nicht glücklich mit der Situation, „Bin ich jetzt verflucht?“

„Ja“, sagte Etienne trocken.

„Nein“, lachte der Djinn, „aber kann noch passieren.“

Etienne blickte wieder zu Gilgian, „Das wäre am Besten für euch. Tatinne ist sehr gut darin, Wunden zu versorgen. Und sie wird diskret sein.“

Sie packte die Bandagen heraus und machte sich dran die Wunde zu betrachte, „Kann ich das anfassen?“

Er nickte, sichtlich unzufrieden. Etienne wollte nach Fremdkörpern schauen, entschied sich jedoch dagegen, da die Wunde noch immer blutete. Sie packte die Kompressen, presste sie an seine Wunden und wies ihn an, „Halt sie da fest.“

Er machte, wie sie sagte und langsam konnte Etienne bemerken, wie viel Schmerz er hatte. Sie fixierte die Kompresse und umwickelte sie dann mit einer Mullbinde.

„Gut“, sagte sie dann, „Das wird fürs erste reichen. Lasst uns das Haus verlassen.“

Sie stand auf wischte sich die Hände an einem Tuch ab, „Catjill kann euch in die obere Etage fliegen.“

„Wieso hat er das vorhin nicht gemacht?“, fragte Raffael.

„Weil es keinen Anlass dazu gab“, erwiderte sie ausweichend.

Er sah zu ihr und sie bemerkte, wie er es registrierte, dass sie die Frage nicht direkt beantwortet hat. Hierfür müsste sie ihm aber von ihrem Vertrag zum Djinn erzählen und das würde sie nicht tun. Es bestand immer die Gefahr, dass jemand einem den Djinn zu stehlen versuchen könnte. Und dafür müsste man über die Einzelheiten des Vertrages Bescheid wissen.

„Catjill wird auch dafür sorgen, dass keine Aufmerksamkeit auf euch fällt“, fügte sie hinzu.

Der Kater richtete sich auf, „Das werde ich.“

Gilgian stand energisch auf, „Ich brauche nicht die Hilfe einer Kanalratte.“

Catjill zuckte zusammen und zog den Kopf ein. Etienne verzog leicht das Gesicht, „Vielleicht nicht um da hoch zu kommen, aber um unbemerkt zu Tatinne zu gelangen schon.“

Er knurrte sie an und Etienne erwiderte seinen Blick, „Es ist nur ein Angebot.“

„Gilgian, genug“, sagte Meta dann. Sie hörte sich müde an.

Er blickte schweigend zu ihr. Und dann seufzte er, „Ich helfe euch hoch, dann kann dein Kater mir helfen.“

„Catjill“, sagte der Kater korrigierend. Gilgians einschüchternder Blick fiel auf ihn und er duckte sich hinter Etienne weg.

Etienne seufzte und entschloss sich, weiter zu machen, „Schick mich als erstes hoch, dann kann Meta folgen.“

Er sah immer noch mit zusammengekniffenen Augen zu ihnen herüber, tat dann aber, wie sie gesagt hatte. Etienne sprang mit Gilgians Hilfe hoch und nutzte dann Catjill, um Meta zu helfen, damit sie nicht herumgeworfen werden würde. Raffael folgte ihnen und anschließend tat Catjill dasselbe bei Gilgian, wie bei Meta. Er schien nicht glücklich damit zu sein.

Etienne entschloss sich, das so gut es ging zu ignorieren, als sie sich auf den Weg zu Tatinne machten.

7.

„Hör auf mich anzuschreien. Wieso kriege ich immer die Schuld?“, fragte Etienne bei ihrer Tante aufgebracht.

„Weil du so verdammt leichtsinnig bist!“, erwiderte diese wütend. Meta betrachtete Raffael immer misstrauisch aus dem Augenwinkel und schien unschlüssig, ob er half, oder ob er gleich ihren Bruder endgültig beseitigen würde. Tatinne hat sich ihn noch nicht einmal angesehen. Stattdessen hatte sie sich sofort über Etienne hergemacht. Diese hatte sich das eine Weile angehört, bevor sie scheinbar genug hatte.

Meta versuchte etwas einzuwerfen, hatte aber keine Möglichkeit Gehör zu finden. Dann hörte sie Raffael laut loslachen, was ihm sofort zwei wütende Blicke einbrachte.

„Was willst du überhaupt noch hier?“, fragte Etienne. Sie wurde jedoch von Tatinne übertönt, welche drohend die Stimme senkte, „Provoziere mich nicht, Beltran.“

„Ganz ruhig“, meinte Raffael und hob beschwichtigend die Hände, „Ich wollte nur darauf aufmerksam machen, dass wir noch immer ein ernstes Problem hier sitzen haben.“

„Welches es nicht gäbe, wenn ihr einfach draußen geblieben wärt“, flüsterte Etienne.

„Und welches ich nicht hätte, wenn ihr keinen blutenden Körper zu mir geschleppt hättet“, sagte Tatinne.

„Bitte spuck jetzt kein Gift“, erwiderte Etienne trocken. Die Frau schnaubte und ging in ein Nebenzimmer, in welchem sie sich einige Sachen herausholte. Gilgian war mittlerweile grau im Gesicht. Er schien nicht mehr zu bluten, was immerhin eine gute Nachricht war.

„Macht euch keine Sorgen“, sagte Etienne und sah Meta dabei an. Meta kam nicht umhin zu bemerkten, dass Etienne auch nicht gerade heile aussah. Ihre Sorge um Gilgian hatte sie jedoch so übermannt, dass sie nicht wirklich auf sie und Raffael geachtet hatte, bis ihr aufgefallen war, wie seltsam es war, dass ausgerechnet Raffael hier war und nicht Khalas. Wieso hatte Gilgian Raffael mitgenommen. Sie würde ihn später fragen… nachdem sie ihm freiwillig alles erzählen würde, was geschehen war. Sie hatte da so ein Gefühl, dass er sie fragen würde. Sie musste sich auch überlegen, wie sie ein gutes Wort für Etienne einlegen sollte. Wegen Metas Vater hatte sie einiges durchzustehen, sie wollte nicht, dass sie auch noch Ärger mit ihrem Bruder bekommen würde.

„Hast du ein Nähset?“, fragte Etienne ihre Tante.

„Ja, hol es oben aus meinem Zimmer. Linker Schrank ganz oben.“

Etienne sah zu den anderen, „Ich gehe dann mal hoch. Falls ihr mich braucht, ruft mich. Und sagt mir Bescheid, wenn ihr geht, ich werde Catjill mitnehmen.“

„Heißt das, ich bekomme noch einen Wunsch?“, fragte dieser aufgeregt.

„Nein“, erwiderte Etienne und verschwand schnell nach oben.

Meta sah dem Kater hinterher, welcher sich beschwerend beeilte, ihr hinterher zu kommen.

„Also wirklich Kinder“, sagte Tatinne, „Wieso legt ihr euch mit einem Geist an, für welchen ihr eindeutig nicht vorbereitet wart?“

Sie kam mit einer großen knisternden Decke heraus und breitete sie auf der Couch aus.

„Soweit ich weiß, war es deine Nichte, die meine Schwester da hineingezogen hat“, sagte Gilgian. Seine Stimme war rau, dennoch war er, wie immer, stets für einen Kampf bereit. Meta unterdrückte ein Seufzen.

„Es mag sein, dass Etienne die Situation vorher hätte besser beobachten sollen müssen. Aber es ist euer Haus“, sagte Tatinne und betonte die letzten Worte so stark, dass es sich anfühlte, als würde sie diese ihnen entgegenspucken, „Und ich muss mich entschuldigen, wenn ich zu direkt bin, aber solltet ihr nicht immer wissen, was in eurem Haus vor sich geht?“

Meta wollte etwas erwidern, hielt sich dann aber zurück. Es war das erste Mal, dass sie Tatinne der Spinne so nahe war. Sie war etwas eingeschüchtert von ihr und sie war auch eingeschüchtert von der Art und Weise, wie sie mit ihnen schimpfte.

„Deine Nichte…“, fing Gilgian an doch Tatinne unterbrach ihn direkt, während sie die zwei Koffer unsanft auf den Tisch warf und öffnete, „Ich bin noch nicht fertig. Also unterbrich mich nicht. Ihr solltet es als Glücksfall betrachten, dass Etienne euch da reingezogen hat. Ein verdammter Crawling hat da unten geschlafen. Ihr hattet Glück, dass er noch so klein war. Wenn er in einigen Jahren herangewachsen wäre, dann könnt ihr euch nicht einmal ausmalen, was er in dieser Stadt ausgerichtet hätte. Hast du eine Ahnung wie sich das anfühlt, einen geborenen Jäger in einer eng besiedelten Stadt zu haben, welcher nur dazu gedacht ist, auf Menschen Jagd zu machen?“

Sie deutete ihm, sich auf die ausgebreitete Decke zu legen und Meta beobachtete Gilgian ungläubig dabei, wie er schweigend das tat, was Tatinne ihm befahl. Sie hatte Gilgian noch nie so gehorsam gesehen.

„Und er war in eurem Haus! Nicht in meinem oder in Etiennes. In eurem. Herrscher des dritten Provinzs. Dafür, dass du als Herrscher alles genau im Blick haben solltest, war das ein fürchterlicher Patzer, den du dir nicht bieten solltest!“

Gilgian knurrte und Tatinne warf ihm einen wütenden Blick zu, „Wag dich so mit mir umzugehen du halber Meter!“

Meta schluckte und sah kurz zu Raffael, welcher sich erstaunlich still an die andere Seite des Raumes geschlichen hatte.

„Zieh das aus“, sagte Tatinne und deutete auf sein Oberteil. Nachdem er ihrem Wort gefolgt hatte, schnaubte Tatinne, „Oh siehe mal diese fürchterliche Arbeit an. Lass mich raten: das sieht aus, als hätte Etienne dies gemacht.“

Sie machte sich daran, die Verbände aufzuschneiden und sah sich die Wunde an, „Sieht wenigstens nicht nach der Tat eines Crawlings aus. Wer von euch allen hatte das Vergnügen sich mit diesem auseinander zu setzen?“

„Etienne und Raffael“, sagte Meta kleinlaut, als keiner Antwortete.

Tatinne schnaubte, „Natürlich hat Etienne nichts besseres zu tun, als sich mit einem Crawling anzulegen.“

Ihr Blick wanderte zu Raffael, welcher ihn mit einem neutralen Lächeln erwiderte, „Hast du Wunden von ihm?“

Er schüttelte den Kopf.

Sie seufzte und blickte zu Meta, „Bring ihr einen Verbandskasten hoch, sie soll überprüfen, ob sie von ihm etwas abbekommen hatte. Dann soll sie mir später Bescheid geben.“

Meta zögerte. Sie wollte Gilgians Seite nicht verlassen. Sie hatte auch etwas Angst Etienne unter die Augen zu treten. Sie wollte ihr wirklich helfen, als sie am Morgen mit ihr in das Anwesen ihres Vaters aufgebrochen ist. Nun hatte sie das Gefühl, dass sie alles um so vieles schlimmer gemacht hatte. Das war der Grund, weshalb sie lieber ohne Freunde lebte.

„Auf!“, rief Tatinne ihr zu und Raffael trat dann vor und nahm den Koffer, „Ich kann das erledigen.“

Er sah Meta an und diese erwiderte überrascht seinen Blick, welcher ihr verriet, dass er ihr Zögern sehr gut wahrgenommen hatte.

„Wenn du es wagst ihr irgendeinen Vertrag aufzutischen oder es gar nur zu versuchen, werde ich dich fertig machen“, sagte Tatinne und Gilgian knurrte, als sie etwas an der Wunde tat, was scheinbar fürchterlich weh tat.

Raffael lachte und machte sich auf den Weg nach oben, „Ich werde heute nichts anstellen, versprochen.“

Meta sah zu Gilgian. Sie war erleichtert unten bleiben zu können. Sie wollte die Seite ihres Bruders nicht verlassen. Nachdem, was heute passiert war, fühlte sie sich so verletzlich wie schon lange nicht mehr.

 

Etienne sprang die Treppen nach oben und ignorierte den Schmerz in ihren Gliedmaßen. Sie wusste nicht, wo sie alles was abbekommen hatte, aber sie würde später noch genug Zeit haben, sich darum zu kümmern. Catjill flog ihr wütend hinterher, „Was soll das? Ich sollte noch eine Gegenleistung bekommen, wenn ich diesen rüpelhaften Riesen unbemerkt in sein Zuhause begleiten soll.“

„Wir haben ausgemacht, dass so lange wir mit ihm unterwegs sind, du das machst“, erwiderte sie.

„Ja, wenn wir zu Tatinne gehen“, widersprach er ihr.

„Ich sagte, dass ich ihn zu Tatinne bringen muss. Und so lange wir mit ihm Unterwegs sind, hältst du ihn bedeckt. Und das für heute und morgen. Das war die Abmachung, der du zugestimmt hast.“

Sie ging in Tatinnes Zimmer und durchsuchte den Schrank, den sie ihr genannt hatte. Der Djinn sagte nichts und Etienne sah kurz zu ihm. Er saß mit weit geöffneten Augen am Tisch. Dann richtete sich sein ganzes Fell auf und er rief, „Du bist so dumm, Etienne! Dumm, dumm, dumm!“

Er flog in ihr gemeinsames Zimmer davon. Etienne seufzte. Sie würde sich überlegen, wie sie sich später mit ihm vertragen sollte. Aber sie konnte sich einfach nicht noch mehr Wünsche von ihm leisten. Sie hatte zwar noch zwei sicher festgelegte bei ihm offen und diverse kleine, welche sie auf Gegenleistung bei ihm einfordern konnte. Aber vor allem diese kleinen bargen immer die Gefahr, dass er irgendein Schlupfloch suchen könnte, um ihr die anderen zwei nicht zu erfüllen. Das konnte sie nicht riskieren. Und er wollte allein für einen Weg einen ganzen Tag haben. Sie konnte ihm einfach nicht noch mehr geben.

Sie ging mit dem Nähset zum großen Tisch und legte dieses dort ab. Dann zog sie ihre Jacke aus und betrachtete diese. Sie fluchte. Mal abgesehen davon, dass die dunkle Flüssigkeit des Crawlings einige nicht auszuwaschende Flecken hinterlassen würde, wies die Jacke einige Löcher auf, die eindeutig auf den Crawling zurück zu führen waren. Auch ihre Hose, wo es sie gepackt und hinter sich her geschleift hatte, hatte einige Risse. Beide Kleidungsstücke waren von robustem, hochwertigem Material und Etienne überlegte, wie sie das ersetzen sollte. Die Hose könnte sie so lassen. Sie hatte noch ein Paar Stiefel, welche sie über die Löcher tragen könnte. Somit wären ihre Beine weiterhin geschützt. Die Jacke hingegen…

Etienne hörte Tatinnes wütende Stimme und war froh, nicht unten bleiben zu müssen, wo sie ihr Geschimpfe aushalten musste. Tatinne konnte einen Menschen mit ihren Worten häuten.

Sie stand auf und ging zum Waschbecken. Sie ließ warmes Wasser über die Löcher laufen und wischte alles weg, was freiwillig bereit war abzugehen. Den Rest würde sie zunächst nicht schrubben. Sie hatte Angst, dass die Nähte noch weiter aufgehen sollten. Sie würde versuchen das zu nähen. Vielleicht könnte Tatinne ihr einen Rat geben, wie sie das flicken könnte. Nur wenn es absolut nicht umgänglich war, würde sie Tatinne danach fragen, ihr eine neue zu besorgen. Tatinne hatte zwar in den letzten Tagen besonders viel Einsatz gezeigt, Etienne Dinge zu besorgen, es waren aber nur die, welche sie aus ihrem begeisterten Impuls heraus gekauft hatte, weil sie Etienne auf die Schule schicken wollte. Mal abgesehen davon aber, hatten sie eine nicht so enge Beziehung zueinander. Es gab bestimmte Grenzen und Regeln. Sie einzukleiden gehört definitiv nicht zu den Dingen, die Etienne von ihr erwarten würde.

Sie hörte, wie der Raum betreten wurde und sah kurz über die Schulter, nur um Raffael zu entdecken, welcher ebenfalls so aussah, als wäre er froh nicht mehr unten zu sein.

„Flüchtest du vor Tatinne?“, fragte sie ihn und kümmerte sich dann wieder um ihre Jacke.

„So ungefähr“, sagte er und sie hörte ihn seufzen. Sie lächelte. Für einen kurzen Moment war sie ihm gegenüber nicht mehr abgeneigt, sondern empfand tatsächlich ein Gefühl von Kameradschaft.

„Was machst du da?“, fragte er.

„Meine Jacke flicken“, erwiderte sie und spürte die Müdigkeit. Sie würde am liebsten ins Bett.

Kurz hörte sie nichts von ihm und hoffte, dass er sich wieder um seine Angelegenheiten kümmern würde, doch dann sagte er in einer tiefen Stimme, welche sie alarmierte, „Ist das dein Ernst? Du kümmerst dich um deine Jacke?“

Sie sah wieder zu ihm und sah ihn nicht, wie gewohnt, lächeln. Stattdessen war sein Gesicht ausdruckslos. Sie zögerte, „Ist da etwas Falsches dran? Das ganze Zeug ist schon größtenteils getrocknet. Und die Risse sehen aus, als wären sie nicht zu flicken. Ich kann froh sein, wenn ich überhaupt etwas davon retten kann.“

„Setz dich hin“, sagte er ruhig. Sie hörte jedoch die Wut in seiner Stimme, „Wir schauen uns jetzt deine Wunden an.“

Sie sah wieder zu ihrer Jacke, „Dafür habe ich jetzt keine Zeit. Die werden später schon noch verheilen. Die Jacke nicht.“

Sie hörte, wie etwas auf den Tisch knallte und sah sich wieder zu ihm um. Er hatte den Koffer, den Tatinne in ihrem Vorratszimmer lagerte, auf den Tisch geworfen und lächelte sie nun an. Doch diesmal fühlte es sich bedrohlich an. Beinahe schon, als würde er seine ganze Wut in dieses Lächeln legen, „Setz dich hin.“

Etienne drehte sich vollends zu ihm um und verschränkte die Arme. Sie sah ihn herausfordernd an, „Du kannst mir gar nichts befehlen.“

Auch sein Blick wurde herausfordernd und er sagte, „Gut. Das kann ich nicht. Aber ich verspreche dir hiermit, dass wenn du dich jetzt nicht hinsetzt und wir uns deine Wunden anschauen, ich den Stein von Expulsio nehme und ihn auf den Grund des Meeres befördern werde.“

Etienne hob das Kinn, „Na wenn das mir nicht zugute kommt. Catjill wird ihn mir wieder herausholen können.“

„Wenn er das tun können würde, dann hätte er ihn dir aus dem Château geholt und aus dem Anwesen der McClaines. Da er beim ersten Mal erst dann angefangen hat zu agieren, als der Stein in deiner Nähe war, und beim zweiten Mal nichts getan hat, kann ich davon ausgehen, dass er ihn dir nicht einfach so mal holen gehen kann. Was wahrscheinlich auch der Grund ist, wieso er ihn nicht einfach von mir geholt hat. Wie sieht’s aus, Etienne. Willst du tauchen gehen?“

Etienne sah ihm prüfend ins Gesicht, versuchte einzuschätzen, wie ernst er seine Drohung meinte. Er legte nach einem kurzen Moment den Kopf schräg und sagte, „Ich meine das sehr ernst.“

Sie atmete wütend durch, als sie aufgab, schloss den Wasserhahn und sagte vorwurfsvoll, „Ich habe nur die eine.“

Er zog den Stuhl zurück, setzte sich hin und öffnete den Koffer, „Ich hol dir eine neue.“

„Ich bezweifle es, dass du es dir leisten kannst“, sagte sie wütend und setzte sich auf den Stuhl hin, den er gedeutet hatte.

Er lachte, diesmal wieder das Lachen, dass sie bereits von ihm kannte, „Du redest hier mit einem Provinzsherrscher. Was glaubst du, was ich mir hier nicht leisten kann?“

Etienne verschränkte die Arme vor der Brust und sah ihm dabei zu, wie er verschiedene Dinge herausholte, „Unabhängig davon, weigere ich mich, in deiner Schuld zu stehen.“

„Siehe es als Gegenleistung für den Crawling.“

Sie überlegte sich kurz, ob es das Wert war. Dann dachte sie an all die Vorzüge der Jacke und daran, dass sie so umgehen konnte, Tatinne ihr eine neue besorgen zu lassen.

„Gut, aber das wird teuer“, sagte sie.

„Keine Sorge. Und nachdem wir das nun geklärt haben: ich kann es nicht glauben, dass deine erste Handlung die ist, sich um eine Jacke zu kümmern. Hast du dich mal im Spiegel gesehen?“

„Ich habe Tatinne nach einem Nähset gefragt. Was dachtest du denn, wofür ich es brauche?“, fragte sie aufgebracht.

Sein Blick fiel auf ihre Wange und Etienne schnaubte, „Ist das dein Ernst? Mit einem Nähset?“, fragte sie ihn ungläubig. Er verzog das Gesicht und seine Wangen färbten sich rot, „Was wohl der Grund ist, weshalb sich diese Schlussfolgerung so komisch angefühlt hat. Was denkst du, liegt es an mir oder an dir, dass ich es im Zusammenhang mit dir tatsächlich als eine Möglichkeit in Betracht gezogen habe?“

„Du kennst mich doch gar nicht“, erwiderte sie. Das war beinahe schon amüsant.

„Und dennoch traue ich es dir zu.“

Er dreht sich zu ihr und sah ihre Wange an, „Ist das von dem Crawling?“

Etienne schüttelte den Kopf, „Nein, eher von einem Schrank. Ich hab keine Wunden vom Crawling.“

„Bist du sicher?“, fragte er.

„Ich werde später nachschauen“, sagt sie schließlich. Sie war sich ziemlich sicher, dass sie hauptsächlich viele blaue Flecken davongetragen hatte. Es hatte sie jedoch am Bein gepackt und das würde sie sich genauer anschauen müssen.

Er sah sie mit erhobener Augenbraue an und wartete auf eine weitere Erklärung.

„Ich werde mein Bein später anschauen“, sagte sie konkreter. Sein Blick fiel auf ihre Beine und schon bald entdeckte er die Löcher in ihrem unteren Hosenbein. Er nickte dann schließlich und sagte trocken, „So lange du nicht vorhast, deine Hose zuerst zu behandeln.“

Sie verdrehte die Augen, „Deine Reaktion ist absolut übertrieben.“

„Ah ja? Ich habe noch so einen bei mir sitzen, der genau denselben Mist von sich gibt. Und dann ist er beinahe an einer Entzündung gestorben, weil er sich lieber um einen wertlosen Gegenstand kümmern wollte.“

Sie konnte erneut die Wut aus seiner Stimme heraushören. Er nahm ein Tuch und tränkte es mit dem Desinfektionsmittel. Etienne sah zu der Verpackung und war froh darüber, dass Tatinne nicht das aggressive Zeug eingekauft hatte.

„Das wird etwas weh tun“, sagte Raffael.

„Kein Problem“, erwiderte Etienne, „Nichts, womit ich nicht klar komme.“

Er lehnte sich zu ihr und sie dreht ihren Kopf und wischte sich die Haare aus dem Gesicht.

„Hast du öfters Abenteuer, nach welchen du das machen musst?“, fragte er. Als das Tuch ihre Wunde berührte unterdrückte Etienne beim Brennen ein Zusammenzucken. Sie merkte, wie vorsichtig er war, dennoch spürte sie den Schmerz bis in die Schultern hineinziehen.

„Ich beantworte dir die Frage, wenn du mir den Stein gibst“, sagte sie. Wenn er ihr keine Fragen beantworten wollte, würde sie ihm auch keine beantworten.

Sie sah ihn an und sein Blick wanderte kurz zu ihren Augen und dann wieder zurück zu dem, was er tat. Er schwieg kurz und seufzte dann, „So werden wir nicht weiter kommen.“

Er lehnte sich wieder zurück und meinte dann, „Kannst du das mehr ins Licht drehen.“

Sie tat, wie er anwies und er untersuchte die Wunde noch mal. „Da ist etwas drin“, sagte er dann und Etienne unterdrückte ein Seufzen.

„Ich frage mich langsam, ob du jemals etwas Gutes zu sagen hast“, sagte sie. Er lachte und nahm eine Pinzette aus dem Kasten.

„Ich bin mir sicher, dass ich gute Nachrichten hatte, als ich dich vor einem Fall bewahrt habe“, sagte er und machte sich dann daran, das aus ihrer Wunde herauszuholen, was auch immer er entdeckt hatte. Etienne biss die Zähne zusammen und versuchte so still zu halten, wie es nur ging.

„Es ist gleich vorbei“, sagte er und sie bemerkte, wie er die Pinzette immer wieder an dem Tuch abwischte. Als er sie wieder weglegte und erneut die Wunde anschaute, war sie erleichtert, als er zufrieden nickte. Er wandte sich wieder dem Koffer zu und holte weitere Gegenstände heraus. Etienne blickte zu dem Tuch und entdeckte einige kleine Holzsplitter, wahrscheinlich von dem Schrank, in welchem sie gelandet war.

„Ich bin mir nicht sicher, ob das genäht werden soll“, sagte er.

„Gibt mir den Spiegel“, sagte Etienne. Die Müdigkeit erreichte sie langsam.

Er holte einen kleinen runden Spiegel aus dem Koffer heraus, „Wieso ist da eigentlich ein Spiegel drin?“

„Tatinne macht sie rein, damit man sich selbst versorgen kann, wenn es nötig ist“, sagte Etienne, „Offensichtlich kann ich nicht alles sehen.“

Sie nahm den Spiegel entgegen und sah zum ersten Mal richtig ihre Wange. Es war kein tiefer Schnitt, dafür aber kein sauberer. Neben den ganzen kleinen Schürfwunden drum herum, war Etienne dennoch zufrieden festzustellen, dass es nicht so schlimm war, wie sie gedacht hatte.

„Ein paar Verschlussstreifen reichen“, sagte sie und legte den Spiegel wieder weg.

Raffael nickte und holte die entsprechenden Gegenstände heraus.

„Da sollte noch eine Büchse mit einer Creme drin sein. Ich würde sie zuerst drauf machen“, sagte sie.

Er hielt sie nach kurzem Durchsuchen hoch. Sie war hübsch geschmückt und Etienne entdeckte Tatinnes Handschrift.

„Was ist das?“, fragte Raffael, während er es öffnete mit einem Wattestäbchen etwas von dem Inhalt aufnahm.

„Das hat Tatinne selbst gemacht. Ich kann dir nicht genau sagen was drin ist. Aber es beschleunigt die Heilung.“

„Selbst gemacht?“, fragte er und trug etwas davon auf ihre Wunde auf, „Ich hätte nicht gedacht, dass sie sich in so etwas gut auskennt.“

Sobald etwas von der Creme ihre Wunde berührte, spürte sie die Entspannung einsetzen, als der Schmerz gedämpft wurde. Sie hörte Tatinne noch immer unten fluchen, dafür aber keinen Ton von Gilgian. So wütend wie sie war, würde es Etienne nicht wundern, wenn sie nicht sonderlich sanft mit ihrem Patienten umgehen würde. Umso beeindruckender, nichts von Gilgian mitzubekommen.

„Ich bekomme noch einen Ring von dir“, sagte er, während er nach den kleinen Pflastern griff.

„Den hat Gilgian“, sagte sie, „Ich werde ihn dir die Tage über geben. Wenn ich die Jacke bekomme.“

Er grinste, „Natürlich. Wieso hast du ihn ihm überhaupt gegeben?“, fragte er dann, „Gilgian kann ziemlich viel einstecken. Von allen Leuten in dem Zimmer, brauchte er ihn am wenigsten.“

„Dafür, dass er so viel einstecken kann, hat er gut was abbekommen.“

„Dass stimmt. Ich schätze, er hat nicht richtig aufgepasst. Oder er hat sich entschlossen, gar nicht aufzupassen. Gilgian kämpft sehr direkt. Er nimmt auch gerne mal einen direkten Schlag entgegen.“

Er schien unsicher zu sein, wie genau er das mit den Pflastern machen sollte. Seine Bewegungen waren zögerlich. Raffael schien das nicht so häufig zu machen und Etienne spürte die Unsicherheit und Vorsicht in jeder seiner Bewegung. Er schien jedoch eine grobe Ahnung davon zu haben. Sie hielt still, während er sich an ihrer Wunde zu schaffen machte und entschloss sich, dies nicht anzusprechen. Zum Schluss holte er etwas Verband heraus, legte es zusammen und klebte es mit zwei Pflastern fest.

„Fertig“, sagte er.

„Nun sehe ich aus, als hätte man mir eine reingehauen“, sagte sie, als sie wieder in den Spiegel blickte.

„Vielleicht solltest du nicht alleine in gruselige Häuser gehen. Dann würdest du auch nicht so wieder herauskommen.“

Sie schnaubte, „Oh entschuldige, wenn ich das so direkt sage, aber ich glaube nicht, dass dich das irgendwas angeht, wo ich hingehe.“

„Das stimmt“, sagte er und packte die Sachen wieder in den Koffer, „Aber dann will ich auch keine Beschwerden über dein Aussehen hören.“

Etienne zuckte mit den Schultern, „Mich stört nur, dass es so offensichtlich aussieht. Was hattest du mit Gilgian dort überhaupt zu suchen?“

Er sah kurz einschätzend zu ihr und sie erwartete schon beinahe, dass er sich weigern würde, ihr die Frage zu beantworten. Doch zu ihrer Überraschung tat er dies diesmal nicht, „Ich schätze Gilgian ist aufgefallen, dass du und Meta miteinander unterwegs wart.“

„Ah wirklich? Ihm ist das aufgefallen?“, fragte sie nach.

Er lächelte wieder zu ihr, „Vielleicht ist es auch mir aufgefallen und er hat Wind davon bekommen.“

„Und wie ist es dir aufgefallen?“, fragte sie weiter nach.

Er schloss den Koffer und wandte sich ihr zu, „Es war nicht schwer zu bemerken, dass du irgendwas ausgeheckt hast. Ich muss nur zugeben, ich bin sehr überrascht, dass du schon am nächsten Tag aufgebrochen bist. Wie hast du es überhaupt geschafft, Meta dazu zu bringen?“

Etienne zögerte. Sie hatte noch immer das Bedürfnis, es ihm für den Stein heimzuzahlen. Und für die Art, wie er sie andauernd reinzulegen versuchte und wie es ihm hier und da gelang. Es ging ihr unter die Haut und sie musste an das Gespräch zurück denken, welches sie am Morgen ihres ersten Tages in Calisteo mit ihm geführt hatte. Wie er sie vor Tatinne bloßgestellt hatte. Das nahm sie ihm besonders übel.

Er lehnte sich zu ihr vor, „Komm schon. Ich möchte nur ein normales Gespräch mit dir führen.“

Sie lachte, „Aber du hast damit angefangen. Mit allem, wenn ich mich nicht täusche.“

„Das habe ich und ich bin bereit mich zu entschuldigen. Und ich werde deine Fragen beantworten, ohne eine Gegenantwort abzuverlangen. Nicht alle, offensichtlich. Würde das als erste Versöhnung reichen?“

„Wenn du eine Versöhnung willst, dann wirst du mir den Stein geben müssen“, sagte sie eindringlich.

„Deswegen spreche ich auch nur von der ersten“, sagte er lächelnd und meinte dann weiter, „Ich werde dir den Stein wiedergeben. Nur nicht jetzt.“

„Und wann? Und was wirst du dafür haben wollen“, fragte sie.

„Über das Wann können wir gerne reden, wenn du den zweiten hast. Bis dahin wirst du sicher auf ihn noch verzichten können“, sagte er lächelnd.

„Ich überlege es mir“, sagte sie unbefriedigt.

„Ich könnte dir dabei helfen, den zweiten Stein zu bekommen“, sagte er dann. Er stand auf und ging zum Waschbecken, in welchem noch immer ihre Jacke lag. Nahm sie hoch und betrachtete sie, „Es gibt bestimmt viele Möglichkeiten für mich behilflich zu sein.“

Etienne hob die Brauen. Sie glaubte ihm nicht, dass er ihr einfach so helfen würde, „Würdest du mir alles geben, worum ich verlange?“

Er lachte, „Auf keinen Fall. Wenn dein Vorgehen dem von heute gleicht, dann würde ich dir wirklich gerne nahelegen, so etwas anders anzugehen.“

„Ich sehe nicht wo das Problem liegt. Ich habe einem Geist den Zugang in diese Welt verwehrt, hab meinen Stein bekommen und es wäre niemand verletzt gewesen, wenn du und Gilgian nicht hier aufgetaucht wärt.“

„Vielleicht wäre es anders gelaufen“, sagte er und sie sah ihm dabei zu, wie er die Jacke zusammenlegte, „Aber ich glaube es ehrlich gesagt nicht.“

„Was hast du vor?“, fragte sie ihn und deutete auf die Jacke, als er sie sich unter den Arm packte.

„Ich nehme sie als Referenz mit.“

Etienne verzog das Gesicht und er lachte erneut, „Ich kann wohl kaum etwas in Auftrag geben, wenn ich nichts habe, an was sich die Leute orientieren können.“

„Wann bekomme ich sie wieder?“, fragte sie misstrauisch. Er sah zur Decke, als er nachdachte, dann meinte er, „In zwei Tagen? Ja, ich denke, das sollte hinkommen.“

Sein Blick wanderte wieder zu ihr und er meinte lächelnd, „Was hältst du davon, wenn ich dich am Abend abhole und wir uns anschauen, ob sie dir passt?“

Misstrauisch erwiderte sie seinen Blick, „Und dann?“

„Nichts. Ich will nur mein Versprechen einhalten“, sagte er.

„Aus irgendeinem Grund fällt es mir schwer das zu glauben, dass das alles sein soll.“

Er seufzte, „Ich kann dir das nicht verübeln. Aber vielleicht kann ich dich überzeugen, dass nicht hinter all meinen Handlungen ein Hintergedanke steckt.“

Etienne lächelte. Sie glaubte das nicht, denn er enthielt ihr noch immer den Stein. Früher oder später würde es darauf hinauslaufen, dass er etwas verlangen würde. Sie entschloss sich jedoch, zunächst die Versöhnung anzunehmen und sie zu ihrem Vorteil auszunutzen. Wie er richtig festgestellt hatte, musste sie immer noch einen Stein finden und über den zweiten wusste sie zumindest Bescheid, wo er sich befand.

Sie sich über den Tisch, „Wenn du mir den Stein nicht mehr auf die selbe Art über den Kopf hältst, wie gerade eben, werde ich mich darauf einlassen.“

Sein Auge zuckte und er sah sie nachdenklich an, gab ihr nicht direkt eine Antwort. Das bestätigte Etienne in ihrer Vermutung, dass er nicht bereit war die Kontrolle aufzugeben, welche er, in einem von ihr unachtsamen Moment, an sich gerissen hatte. Und sie vermutete, dass der Versuch, ihr seine Hilfe anzubieten, nur darauf hinauslaufen würde, dass er noch mehr Kontrolle bekommen würde. Das spornte sie jedoch an, es ihm heimzuzahlen, dass er sie so unterschätzte. Sie war vielleicht nicht sonderlich gut darin, mit anderen zu Verhandeln, aber sie war auch kein Fußabtreter, den man nach lieben und belieben herumschubsen konnte.

„Und“, sagte sie dann weiter, „du wirst mir sehr ausführlich erzählen, was du von mir willst.“

Er hob diesmal überrascht die Brauen, „Und ich hab mich schon gewundert, wann diese Frage von dir kommt.“

„Ich hab sie dir bereits gestellt, aber als Antwort habe ich Schwachsinn erhalten“, sagte sie und musste wieder an ihr erstes richtiges Gespräch denken.

Er grinste belustigt, „Das stimmt. Da habe ich noch nicht entschieden, wie ich mit dir umgehen soll.“

„Und nun weißt du es?“, fragte sie.

Er zuckte mit den Schultern, „Vielleicht. Aber ich akzeptiere deine Bedingungen. Ich werde den Stein nicht mehr gegen dich verwenden und ich werde dir erzählen, was ich von dir erwarte.“

Sie spürte, wie ihr Gesicht sich verdüsterte. Er erwartete etwas. Wie er das so dreist und selbstverständlich sagte, als würde er ein Recht darauf haben, von einem fremden Menschen, den er noch nie zuvor gesehen hatte, etwas zu erwarten.

Er lachte, als er ihren Blick sah und das machte sie noch wütender. Er hob beschwichtigend eine Hand, „Ich will mich nicht streiten. Aber ich will auch ehrlich sein. Ich würde nicht diesen ganzen Aufwand machen, wenn ich nicht etwas brauchen würde. Das würde niemand machen. Denkst du nicht?“

„Ich merke es mir“, sagte sie und stand dann auf. Sie musste sich noch vorbereiten, „Ich muss mich umziehen. Vielleicht solltest du wieder nach unten gehen. Und lass mir meinen Talisman auf dem Tisch.“

Er seufzte, „Sei nicht sauer.“

„Bin ich nicht“, sagte sie und ging dann durch die Tür nach oben. Sie war genervt, aber nicht sauer, dafür war sie zu müde. Wäre nicht das erste mal, dass jemand aus heiterem Himmel auftaucht und etwas verlangt. Sie würde herausfinden, wie sie damit umgehen sollte. Doch zunächst müsste sie sich um andere Dinge kümmern. Eines davon war es, Gilgian und Meta nach Hause zu bringen. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, Meta durch das Ganze hindurchgezogen zu haben. Sie hätte mehr Rücksicht auf sie nehmen sollen. Also würde sie damit sicherlich eine kleine Wiedergutmachung leisten können.

Sie entdeckte Catjill unter der Decke im Bett liegen. Darum müsste sie sich jetzt auch kümmern. Sie holte einige Sachen aus dem Schrank. Sie waren nicht so gut, wie die Jacke und ihre Hose. Diese hatte sie sich erworben, als sie dringen robuste und sichere Kleidung für ihre kleinen Abenteuer benötigt hatte. Und diese Kleidung war ihr noch von der Zeit geblieben, als sie sich den Rest nicht hatte leisten können. Es war nicht so sicher, wie die anderen Sachen, aber es würde reichen. Sie müsste halt vorsichtiger werden.

Sie zog ihre Kleidung aus und sah die blauen Flecken. Diese sahen fürchterlich aus. Sie hatte einige an ihren Oberschenkel und an der rechten Seite ihrer Hüfte. Auch ihr Rücken sah nicht verschont aus. Sie seufzte und sah dann zu ihrem Bein. Etienne fluchte, als sie Kratzer und Löcher rund um ihren Knöchel sah. Sie konnte den Griff der Kreatur allein von der Anordnung der Wunden erahnen. Das würde sich Tatinne anschauen müssen. Und darauf freute sie sich nicht. Aber das würde sie sich auf später verschieben. Selbst wenn sie die Bakterien des Crawlings abbekommen haben sollte, würden diese nicht so schnell wirken, als dass sie sich jetzt Sorgen darum machen sollte. Sie zog sich in die neue Kleidung und ihre Schuhe wieder an und setzte sich dann ans Bett zu Catjill.

Sie zog die Decke zurück und begegnete seinen wütenden Augen.

„Also wirklich, als Djinn musst du das doch von Weitem kommen sehen“, sagte sie.

Er fauchte sie an. So wie er gerade war, würde sie ihn nicht anfassen wollen. Sie könnte ihm befehlen sich zu benehmen, aber das würde sie nur im Notfall tun. Am Anfang hatte sie nicht vor gehabt so zimperlich mit ihm umzugehen. Sie seufzte und dachte an Raffael. Sie konnte wohl nicht weiter wütend auf ihn sein, wenn sie mit ihrem Djinn genauso umging, wie er es mit ihr versuchte. Aber ein Djinn war etwas anderes. Sie waren von Natur aus darauf ausgelegt zu nutzen und genutzt zu werden. So hatten sie sich nach dem Zusammenbruch der alten Welt entwickelt. Catjill würde sie ohne mit der Wimper zu zucken auflaufen lassen, wenn er geschickt genug dafür wäre. Aber er war noch jung und das war der einzige Vorteil, den sie ihm gegenüber hatte. Raffael hingegen war schwerer einzuschätzen. Sicherlich würde auch er ihr in den Rücken fallen, wenn er die Chance bekommen würde. Etienne verwarf die Gedanken jedoch wieder. Sie war nicht sauer auf Raffael, weil er so mit ihr umging, sondern weil er gut genug dabei war, dass sie sich im Nachteil ihm gegenüber fühlte. Zu dem Djinn hingegen hatte sie sehr gemischte Gefühle. Als sie ihn im Wald aufgesucht hatte, war sie nach all den Strapazen bereit, so hart wie nötig mit ihm umzugehen. Aber nach kurzer Zeit hat er sich nicht als das herausgestellt, was sie erwartet hatte. Er war tollpatschig und schien nicht konkret zu wissen, was er eigentlich tat. Und schon bald hatte Etienne die Vermutung gehabt, dass er mehr von ihr erwartete, als nur eine klar definierte Beziehung von Meister und Untergebener auf Zeit. Das verunsicherte sie, denn sie wusste nicht, wie sie mit ihm umgehen sollte. Er stellte ihr andauernd Fragen, wollte mehr von der Welt um sie herum entdecken und war so neugierig, dass sie stetig Angst hatte, ihn zu verlieren. Es überraschte sie auch, wie verraten er sich fühlte, wann immer sie ihn an ihre fest gesetzten Verhältnisse erinnerte. So wie eben.

„Wie wäre es damit“, sagte sie, „Wir bringen die beiden gleich weg. Und nachdem ich eine kleine Erledigung erledigt habe, können wir auf die Stadtmauern gehen und den Ausblick auf die Stadt und die Sterne genießen. Dort oben könnten wir auch das Essen essen, welches ich dir für deine großzügige Hilfe mit Meta schulde.“

Sein Schwanz schlug hin und her, „Woher weiß ich, dass du das wirklich machst?“

Er hörte sich so misstrauisch an, aber sie konnte hören, wie sein Interesse geweckt wurde. Er wollte so sehr etwas erleben. So sehr, dass er immer wieder vergaß, wie er und Etienne zusammenhingen. Und das verunsicherte Etienne im Umkehrschluss, denn sie war mit fester Absicht in dieses sonderbare Verhältnis reingegangen, sich nicht zurück zu halten, wenn es um den Umgang mit einem Djinn ging.

„Ich verspreche es dir, dass wir das heute machen“, sagte sie, „Du wirst mir jedoch vertrauen müssen, denn ich werde heute keine neuen Abmachung mit dir eingehen. Ich habe keine Energie dafür.“

Er stellte sich langsam hin, dachte über das nach, was sie ihm gesagt hatte.

„Ich bin immer noch sauer auf dich. Aber ich, als das großartige Geschöpf, das ich bin, bin bereit so gnädig zu sein und einem dummen Menschen wie dir zu verzeihen“, er richtete sich stolz auf und Etienne lächelte.

Sie strich ihn mit der Hand über den Kopf und er streckte sich ihrer Bewegung entgegen, „Das ist sehr gnädig von dir. Ich werde dir das nicht vergessen.“

Er flog wieder hoch und umkreiste sie, „Wann gehen wir los?“

Sei stand auf und merkte, wie ihr Körper sich beschwerte. Heute würde noch ein langer Abend werden.

„Lass uns schauen, wie weit sie da unten sind.“

Sie gingen gemeinsam wieder hinunter und sie entdeckte Raffael noch immer mit ihrer Jacke in der Küche sitzen, sein Gesicht in die Hand gestützt. Tatinnes Stimme war noch immer laut zu vernehmen. Wahrscheinlich der Grund, weshalb er noch nicht nach unten gegangen war.

Er blickte zu ihr und hob die Brauen, „Und? Gibt es noch mehr Wunden, um die wir uns kümmern müssen?“

„Nichts, worum du dich kümmern könntest“, sagte sie und zwang dann heraus, „Danke, für das Andere.“

Er lächelte ihr entgegen und sein Gesicht schien sich aufzuhellen, erfüllt von dem warmen Lächeln, dass sie bei ihm noch nicht gesehen hatte. Etienne hatte zum ersten Mal das Gefühl, dass es ehrlich war und ihr Herzschlag setzte kurz aus, „Gern geschehen.“

Sie verspürte das Bedürfnis zurück zu lächeln und stand wie versteinert da, verwirrt und unwissend, was sie tun sollte. Ob sie weggehen sollte oder ob sie etwas sagen sollte. Catjill flog dann an ihr vorbei zu ihm auf den Tisch, an welchem der Talisman lag, und fragte ihn aufgeregt, „Raffael, weiß du wo hier die Aussicht auf die Stadt am Besten ist?“

Seine Aufmerksamkeit wanderte zu dem Kater und Etienne fühlte sich, als würde sie wieder aufatmen können.

„Die Aussicht? Was hast du denn vor?“, fragte er den Djinn und Etienne bemerkte, dass er ihm tatsächlich interessiert zuhörte, während dieser ihm davon erzählte, was sie heute Abend vorhatten. Er plapperte es einfach aus, als wäre es nichts. Sein Blick wanderte dann wieder zu ihr und er sagte, „Ich kenne einige Orte mit guter Aussicht.“

„Catjill und ich sollten los. Wir kommen schon alleine klar“, sagte sie schnell und ging an ihm vorbei zu der Treppe. Sie hörte, wie der Stuhl zurückgeschoben wurde und er ihnen folgte. Als sie unten ankam, saß Gilgian aufrecht auf der Couch. Meta stand besorgt neben ihm.

„Sieht so aus, als könnten wir los“, meinte sie, vielleicht etwas zu hastig. Tatinne schnaubte, während sie ihre Hände an einem Tuch abwischte, „Bleib morgen zu Hause Gilgian. Sag deinen Beratern Bescheid, wenn es sein muss und siehe zu, dass keiner die Situation ausnutzt.“

Etienne blickte neugierig zu ihrer Tante. Es war überraschend, dass sie solche Ratschläge gab, da Etienne sie immer eher als wahrhaftig neutral eingeschätzt hat. Deswegen lebte sie auch im neutralen Provinz. Welchen Gefahren Gilgian ausgesetzt sein sollte, könnte ihr egal sein. Aber das war nicht der Fall und so wie Etienne sich erinnerte, schien auch Raffael immer wieder Andeutungen von sich gegeben zu haben, welche auf die Sicherheit von Gilgian und Meta schließen ließen. Meta hingegen schien misstrauisch. Etienne vermutete eine Dynamik, in welche sie und Meta nicht eingeweiht waren.

„Bist du in der Lage zu laufen?“, fragte sie an Gilgian gewandt. Er funkelte sie an, doch sie hatte das Gefühl, dass es mehr daran lag, dass er Schmerzen hatte, als dass er wirklich wütend auf sie war.

„Das sollte kein Problem sein“, sagte Tatinne an seiner Stelle, „Es war nicht so schlimm und er stellt sich deutlich zimperlicher an, als er sollte. Was ist mit dir, Etienne? Brauchst du noch irgendwas?“

„Ein Tee, wenn ich wiederkomme, sollte mir reichen“, sagte sie. Und trat zu den anderen. Gilgian stand auf. Mit Ausnahme von seinem grauen Gesicht, sah er nicht so aus, als hätte er gerade eine anstrengende Behandlung hinter sich.

Etienne nickte Catjill zu und sie gingen hinaus.

 

Es war mittlerweile dunkel. Die kalte Herbstluft fegte durch die Straßen und Etienne traute umso mehr der Jacke hinterher, welche sich noch immer in Raffaels Hand befand. Catjill saß auf Metas Kopf. Er war direkt dorthin geklettert und ließ sich nicht von Gilgians warnendem Blick einschüchtern. Keiner der Menschen, an denen sie vorbeigingen, achtete auf sie. Das hatten sie schon auf dem Hinweg zu Tatinne gut feststellen können, nun waren die Anderen daran gewöhnt. Nur Raffael wurde hier und da nett gegrüßt. Manchmal hörte Etienne auch Getuschel, welches ausbrach, nachdem er an den Menschen vorbei gegangen war. Nicht immer hatten die Leute hinter seinem Rücken was Nettes zu sagen. Er war der Einzige, auf den Catjills Zauber sich nicht auswirkte. Catjill hatte entschlossen besonders penetrant darauf zu achten, nur das zu erfüllen, was er erfüllen musste. Desto näher sie an Gilgians Provinz kamen, desto ruhiger wurden die Straßen. Etienne konnte das Rascheln der Blätter hören, welche leise bewegt wurden und jedes mal schauderte es sie, da der Wind auch sie erreichte.

Calisteo bei Nacht schien zumindest in diesem Teil des Provinzs sehr ruhig zu sein. Es gefiel ihr, wenn kaum jemand auf den Straßen war und diese in der Dunkelheit zwischen den Laternen getaucht wurde. Es gab ihr ein Gefühl von Ruhe. Ganz anders war es im Herzen des neutralen Provinzes. Dort waren die Straßen erleuchtet von buntem Licht. Viele Menschen sind durch die Straßen gelaufen und es schien, als wäre die Stadt im Nachtleben erwacht. Wie sie die Sterne mit Catjill jedoch betrachten wollte, erwies sich als eine schwer zu beantwortende Frage. Bei dem ganzen Licht, welches von der Stadt ausgestrahlt wurde, würden sie nicht viel sehen.

Etienne lief hinter Meta und Gilgian, welche sich leise unterhielten. Sie konnte manchmal einzelne Gesprächsfetzen heraushören, aber sie versuchte nicht allzu sehr auf den Inhalt zu achten. Sie wollte ihnen etwas Privatsphäre gönnen. Und wenn es wichtig war, würde Catjill sie darüber schon informieren.

Raffael holte zu ihr auf. Sie warf ihm aus dem Augenwinkel einen verstohlenen Blick zu, während er in etwas Papier etwas hinein kritzelte, welches er irgendwo auf der Straße aufgetrieben hatte. Er hatte ihre Jacke noch immer unter seinem Arm geklemmt und Etienne blickte sehnsüchtig zu ihr.

„Wir sind gleich in Gilgians Provinz. Ich werde mich am Eingang verabschieden“, sagte er.

Sie hatte sich schon gewundert, wann er gehen würde.

„Du solltest besser nicht mit mir reden. Die Menschen werden denken, dass du Selbstgespräche führst“, sagte sie trocken.

„Es ist doch keiner hier“, sagte er lachend.

„Du kannst nie wissen, wer gerade zuhört“, erwiderte sie.

Er drückte ihr das Papier in die Hand. Es handelte sich um eine Karte von der Stadt. Sie war nicht sehr detailliert, hauptsächlich war nur das neutrale Provinz darin verzeichnet. Dieses war immer die Hauptanlaufstelle für Besucher aus anderen Städten. Es gab sogar so etwas wie Tourismus, welcher jedoch nie sonderlich stark in all den Jahren gedeiht hatte. Calisteo war einfach eine zu weit entfernte Stadt und hatte zu wenig Relevanz, als dass sich die Menschen viel dafür interessiert hatten. Was gut war, wie Etienne fand.

„Hier sind die Orte, die du meiden solltest“, sagte er und zeigte mit dem Finger auf einige eingekreiste Stellen, „Und mit meiden meine ich wirklich, dass du da nicht alleine hingehen solltest. Egal, ob dein Djinn dich bedeckt halten kann oder nicht. Leg es nicht darauf an, in Gefahr zu kommen. Für heute sollten die Abenteuer reichen.“

Sie betrachtete die eingekreisten Orte und las die Namen. Manche kannte sie bereits von Tatinne. Andere nicht.

Er öffnete eine Seite der Karte und zeigte dann auf einige in Grün markierten Kreise, „Die beste Aussicht auf die Sterne gibt es wo anders, aber diese Orte sind gar nicht mal so schlecht, um die Stadt zu sehen. Die Stadtmauern würde ich euch nicht empfehlen, die Wachen sind nicht sonderlich erfreut davon, wenn sich die Leute da hoch schleichen. Das könnte in einer Festnahme enden. Nicht lange jedoch. Wahrscheinlich nur über Nacht.“

Sie blickte nachdenklich zu ihm und war erneut überrascht davon, dass er ihren Blick direkt erwiderte. Sie blickte wieder zu der Karte und sagte, „Du gibst erstaunlich viele Informationen für jemanden, der bisher so sparsam war.“

„Ich meine das mit der Versöhnung ernst“, sagte er und zeigte dann wieder auf die Karte, „Und wenn du Hilfe brauchst, hier findest du mich, was du wahrscheinlich sowieso schon von Tatinne weißt.“

Sie wusste es von ihr. Aber sie würde es ihm nicht sagen. Etienne würde es lieber so halten, dass er keinen Einblick in das haben sollte, was Tatinne mit ihr teilte. Er mochte zwar jetzt entgegenkommender sein, aber sie kaufte ihm das keinen Moment ab, dass es so bleiben würde.

„Du scheinst dich gut in der Stadt auszukennen“, meinte sie zu ihm.

„Ich bin hier geboren. Und ich war nie wirklich die Art von Person, welche sich brav in seinem Provinz befand. Dafür bin ich zu neugierig.“

„Das hätte ich nie von dir gedacht“, erwiderte sie sarkastisch.

„Ich weiß, ich bin voller Überraschungen“, sagte er lachend.

Sie betrachtete die verschiedenen Orte. Schnell entschied sie sich für einen, welcher in der Nähe am Stadtzentrum war. Es war eine Art kleiner Dom, welcher zu diesen Zeiten wahrscheinlich geschlossen war. Sie würde sich mit Catjill dort hinein schleichen und einige Stunden auf dem Turm verbringen.

„Du solltest nicht zu lange machen“, sagte Raffael, während sie sich langsam dem Torbogen näherten, welcher als Eingang für den Provinz galt, „Morgen wird O’Donnel sicherlich einen Test machen. Ich hoffe du bist fit genug dafür.“

„Woher weißt du das?“, fragte Etienne und klappte die Karte wieder zusammen.

„Sie tut es immer, wenn jemand neues in die Klasse kommt. Es ist zwar schon etwas her, seit wir das letzte Mal jemanden neuen hatten. Aber bisher war das Muster bei ihr immer zu beobachten. Ich glaube nicht, dass es diesmal anders sein wird.“

„Dann sollte ich morgen vielleicht einfach zu Hause bleiben“, meinte sie seufzend.

„Dann wird sie es einfach verschieben. Sie wird es sich nicht nehmen lassen, dich auf deine Fähigkeiten zu prüfen. Wahrscheinlich hatte sie vor, das schon heute zu machen. Nun, da du nicht da warst, bekommst du morgen was zu hören.“

„Sie scheint eine sehr strenge Frau zu sein“, meinte Etienne mürrisch. Bei all den Dingen, die sie zu tun hatte, war es sich mit einer Lehrerin zu streiten sicherlich nicht das, wofür sie Zeit und Energie verschwenden wollte.

„Man gewöhnt sich dran. Wenn du gute Noten schreibst, kannst du dir bei ihr einiges leisten. Wenn nicht, dann solltest du dich darauf gefasst machen, dass sie dich runter steigen lassen wird.“

Etienne seufzte und überlegte sich kurz, ob es nicht wert wäre, genau das machen zu lassen. Aber sie hatte ihre nächsten Ziele schon vor Augen und das war die Gruppe von Elias, welche in ihrer Klasse saß. Es wäre gerade jetzt eine schlechte Idee, sich von ihnen zu entfernen. Im Gegenteil, sollte sie nach einer Möglichkeit suchen, mit ihnen in Kontakt zu treten.

„Was muss ich alles bestehen, damit sie mich in Ruhe lässt?“, fragte sie Raffael.

„An sich reichen die Hauptprüfungen“, sagte er, „Dir würde ich aber empfehlen, auch bei ihren Prüfungsleistungen gut abzuschneiden. Sie lässt nur die Provinzsherrscher vom Haken, bei dir wird sie das nicht tun.“

Sie lachte, „Ah ich sehe schon. Provinzsherrscher müsste man sein, um mit allem durchzukommen.“

„Nicht wahr?“, stimmte er ihr zu und sie begegnete seinem wachsamen Blick, „Vielleicht kommst du auch mal auf den Genuss. Die Zeiten ändern sich schnell.“

Sie schnaubte belustigt, „Oh wenn ich eine Wahl habe, dann würde ich solch einen Job nicht einmal mit Handschuhen anfassen.“

„Manchmal hat man nicht wirklich eine Wahl. In solchen Momenten ist besser, bestmöglich vorbereitet anzutreten.“

„Natürlich hat man eine Wahl“, erwiderte Etienne, „man kann sich einfach umdrehen und weggehen.“

„Das würde nur zur Folge haben, dass ein Vakuum entsteht und die Wahrscheinlichkeit steigern, dass irgendein Abschaum an die Macht gelangt.“

„Das wäre nicht mein Problem“, sagte sie trocken, „Das Leben hat genug Herausforderungen anzubieten, wieso sollte ich freiwillig solch eine annehmen?“

„Um die Menschen zu schützen, die nichts für das Ganze können“, erwiderte er, beinahe schon aufgebracht, „Es sind immer die Schwachen, die bei solchen Machtkämpfen zu Schaden kommen. Und da es immer in Kauf genommen wird, kann hier schon fast von Opferung gesprochen werden.“

Etienne blickte zu ihm und sagte, „Ist das Grund genug für dich? Es für die Menschen zu machen?“

Er antwortete ihr nicht direkt. Schwieg einen Moment. Dann nickte er.

Etienne zuckte mit den Schulter, „Dann schätze ich mal, dass du diese Stadt wirklich magst.“

„Ich liebe sie“, sagte er ernst. Es war kein belustigter Unterton in seiner Stimme zu hören, welches ihn normalerweise beinahe die ganze Zeit über begleitete.

Etienne lächelte ihm entgegen, „Wie schön das dann für die Menschen sein muss, dich da zu haben. Belassen wir es doch dabei, dass es so bleibt. Viel Erfolg weiterhin.“

Er sagte nichts dazu und sie musste auch nicht hören, was er zu sagen hatte. Es war sehr wahrscheinlich der Fall, dass er bald kein Provinzsherrscher mehr sein würde. Und Etienne könnte sich verschiedene Szenarien ausmalen, in denen er die Macht verlor. Keines davon war sonderlich friedlich. Und das müsste er wahrscheinlich auch gedacht haben, als Tatinne ihm von der Vorhersehung berichtet hatte. Gut für Etienne, dass sie wusste, dass es sich nicht um sie handeln würde. Selbst wenn ihr die Macht auf einem Silbertablett präsentiert werden würde, sie würde nicht danach greifen. Denn im Gegensatz zu Raffael, hatte sie dieser Stadt nicht mehr entgegenzubringen, als Desinteresse und maximal die Anerkennung, dass das neutrale Provinz ganz hübsch aussah.

„In zwei Tagen“, sagte er dann leise und sie wurde etwas nervös, als sie seinem intensiven Blick begegnete, „werden wir uns darüber etwas deutlicher unterhalten. Aber ich kann dir versichern, dass wenn ich die Macht über meinen Provinz verliere, das zu meinen Bedingungen passieren wird.“

Sie seufzte. Es war nicht ihre Absicht gewesen, ihn wütend zu machen. Aber sie konnte sehen, dass sie ihre Worte mit mehr Bedacht hätte wählen können.

„Ich sehe nicht, was es da viel zu bereden gibt. Ich würde definitiv nicht deinen Job übernehmen wollen. Oder deren“, sie deutet auf Gilgian und Meta.

Raffael lachte leicht, doch sein Ausdruck hatte noch immer etwas ärgerliches an sich, „Es gibt sehr viele Menschen hier, die genau das wollen. Siehst du die Gruppe da hinter uns“, fragte er und deutete an die Glasfenster zu ihrer Linken, in welchen die Spiegelbilder von drei Gestalten zu sehen waren.

„Ja“, sagte Etienne, „Ich will wetten, die werden es auf dich abgesehen haben.“

Sie hatte sie schon vor ein paar Minuten bemerkt.

Er nickte lachend, „Unter normalen Umständen, würden sie sich das nicht einfach so trauen. Aber um diese Uhrzeit, ein Provinzsherrscher allein in der Stadt… Keine Chance, dass nicht irgendjemand aus seinem Loch gekrochen kommt und sein Glück versucht.“

„Dann solltest du dich auf den Heimweg machen“, sagte sie. Er holte ein Handy hervor und Etienne blinzelte überrascht, „Das hast du?“

Er sah kurz lächelnd zu ihr, während er es anschaltete und etwas eintippte, „Du weiß, was das ist?“

„Gibt es Menschen, die das nicht wissen?“, fragte sie ausweichend und verfluchte sich für ihr zu schnelles Mundwerk. Die gab es nicht, aber die Meisten wussten nicht, wie eins aussah. Die Prioritäten lagen einfach auf anderen Gegenständen und es war nicht so, als könnte man viele produzieren lassen.

Er sah noch mal zu ihr, diesmal wieder mit diesem vorsichtig beobachtendem Blick, als wäre sie ein Geschöpf, dass es zu analysieren gab.

„Viel Erfolg heute Nacht. Ich hoffe ihr habt einen guten Ausblick. Ich wäre wirklich gerne mitgekommen, aber ich hoffe du kannst es mir verzeihen, dass ich nicht dabei sein kann“, sagte er und sie blinzelte verwirrt.

„Ich hab dich nicht eingeladen“, erwiderte sie.

Raffael zwinkerte ihr zu und ignorierte ihren Einwand, „Ich werde mich für diese Vernachlässigung meinerseits revanchieren. Du kannst dich auf das Treffen in zwei Tagen freuen.“

Sie sah ihn genervt an, „Wir holen nur meine Jacke.“

„Natürlich“, stimmte er ihr lächelnd zu und sie glaubte ihm keinen Moment.

Er hielt sie an, indem er ihren Ellenbogen packte, „Eine Sache noch. Die Anderen haben mir erzählt, was in der Halle mit Meta passiert ist. So sehr ich es missbillige, was sie machen, will ich dir dennoch raten dich nicht in die Angelegenheiten zwischen Provinzsmitgliedern einzumischen. Erst recht nicht, wenn du keine Ahnung über mögliche Regeln hast. Wenn du dir unsicher bist, sag es mir und ich werde mich darum kümmern.“

Etienne schnaubte, „Natürlich. Wenn ich sehe, dass jemand in der Ecke zusammengeschlagen wird, werde ich erst nach dir suchen.“

Er sah sie herausfordernd an, „Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass selbst wenn du dich einmischst, du die Situation schlimmer machen wirst.“

„Ich sehe nicht, wo ich es bei Meta schlimmer gemacht habe“, verteidigte sie sich und erwiderte seinen Blick. Er wandte seine Augen nicht ab, was sie erneut verunsicherte.

Seine Stimme wurde etwas sanfter, „Du hattest Glück, dass es sich hier um relativ ungefährliche Individuen gehandelt hat. Wir haben genug von denen in der Schule, die es nicht sind. Leg dich nicht unnötig mit diesen an.“

Sie blickte zu ihm hinauf und war sich nicht sicher, wie sie antworteten sollte. Es war nicht so, als wollte sie sich unnötig irgendwo einmischen. Und es war auch nicht so, als hätte sie ein dringliches Bedürfnis danach, den Helden zu spielen. Sie sah sich selbst definitiv nicht als die Art von Mensch an, der jedem beliebigem zur Rettung eilte. Und seltsamerweise merkte sie, dass sie genau das machen würde, nur weil er ihr gesagt hat, dass sie es nicht soll.

„Bitte“, fügte er auf einmal hinzu, „Der Ärger ist es nicht wert und ich kann helfen, die Situation ruhig zu entschärfen.“

Das überraschte sie mehr als sie erwartet hätte. Und sein ehrlicher, ernster Blick, ohne jegliche Belustigung, sorgte dafür, dass sie seufzend nachgab, „Hör bitte auf so zu tun, als würde ich mir die Auseinandersetzungen suchen. Aber ich werde mein Bestes geben.“

Er lächelte sanft und ließ ihren Ellenbogen los, „Würdest du es auch versprechen?“

Sie musste zum ersten Mal lachen, überrascht von dieser absurden Bitte, „Auf keinen Fall. Ich glaube nicht, dass es je dazu kommen wird, dass du mein Wort für überhaupt irgendwas bekommst.“

Er schien überhaupt nicht beleidigt zu sein und ihr wurde bewusst, dass auch er wusste, dass sie das nicht machen würde.

„Ich hätte ja Glück haben können“, sagte er grinsend, „Aber das hab ich mir schon gedacht. Ich will dir in der nächsten Zeit aber zeigen, dass man sich auf mich verlassen kann. Und es ist nur diese eine Sache, um die ich dich bitte.“

„Um die du mich heute bittest“, korrigierte sie, immer noch belustigt, „Aber ich habs verstanden. Ich werde mein Bestes geben.“

Auf einmal war Scarlett da. Etiennes Kopf wirbelte zu ihr herum, als diese wunderschöne Frau, gekleidet in Schwarz, neben ihnen auftauchte. Ihr Blick traf auf Raffael und Etienne blieb kurz die Luft weg, als sie die Wut und die Sorge in diesem erkannte, „Bist du eigentlich verrückt geworden?“

Ihre Stimme war ruhig, aber diese Wut in der Ruhe ließ Etienne erschaudern. Es fühlte sich an, wie das Donnern eines weit entfernten Sturms von dem man ganz genau wusste, dass er bald auf einen Treffen würde. Dennoch erkannte sie eine Ähnlichkeit zu Raffael. Genau so hatte er sich vorhin auch angehört. Vielleicht war Scarlett ja der Schlüssel für Etienne, ihn besser einschätzen zu können. Sie waren sich ähnlich, sahen sich ähnlich, hatten eine ähnliche Mimik. Wenn Etienne Scarlett besser einschätzen könnte, dann könnte sie das sicherlich auch bei Raffael, egal wie gut er seine Absichten und Gefühle verbergen konnte.

Sie entdeckte Etienne nicht. Oder es wäre besser zu sagen, dass sie Etienne sicherlich im Hinterkopf registrierte, ihr aber keine Beachtung schenkte. Das lag an Catjills Magie.

„Lass uns nach Hause gehen“, sagte Raffael lachend und steckte das Handy wieder weg. Es schien ihm absolut nichts auszumachen, dass Scarlett so wütend war.

„Da kannst du drauf wetten“, sagte sie und schloss die Augen.

Er zwinkerte Etienne kurz zu und dann war er mit ihr verschwunden. Sie seufzte schwer. Wieso hatte sie das Gefühl, dass er es ihr nicht leicht machen würde, an ihren Stein zu kommen. Es blieb ihr vorerst nichts übrig, als ihn davon zu überzeugen, dass sie nicht diejenige war, um die sich Tatinnes Vorhersage drehen würde. Und wenn er sich nicht davon überzeugen ließ, dann müsste sie herausfinden, ob er sie loswerden wollte, ob er ihr die Macht übergeben wollte oder ob er vorhatte, sie als sein kleines Vorzeigemännchen einzusetzen, während er im Hintergrund alles weiterhin kontrollierte. Sie hatte eine gute Idee davon, was er wählen könnte und sie war nicht glücklich damit.

Sie beeilte sich Meta und Gilgian aufzuholen, blieb jedoch weiterhin im angemessenen Abstand. Sie betraten das Provinz und Etienne folgte ihnen schweigsam weiter. Sie entdeckte schon bald die Straße, die sie am Morgen genommen hatte. Etienne legte die Arme um sich, als sie fröstelte. Gilgians Provinz war erstaunlich dunkel, auch wenn das Licht aus den Fenster der Gebäude zu der Straße drang.

Sie wusste nicht, wie lange sie schon gelaufen waren, als Gilgian stehen blieb und sich zu ihr umdrehte. Sein Blick bedachte sie von oben bis unten und er seufzte dann, „Pass auf. Ich hatte vor dich auseinanderzunehmen, nachdem du Meta in dieses verfluchte Haus mitgeschleppt hast.“

„Gilgian!“, sagte Meta protestierend dazwischen.

„Aber ich werde darauf verzichten. Weil du mich auf ein Problem aufmerksam gemacht hast, welches ich angehen werde. Mach das aber nicht noch mal.“

Etienne gab ihm ihr bestes Lächeln, „Das ist sehr großzügig von dir.“

Er schnaubte, „Das wird nicht noch mal vorkommen. Weiterhin sehe ich es nicht ein, in deiner Schuld zu stehen. Was willst du?“

Sie legte den Kopf schief, „Es gibt nichts, für was du mir etwas schuldig wärst. Ah, aber ich brauche den Ring wieder.“

„Was willst du für die Begleitung zu Tatinne und zurück“, sagte er knurrend, holte den Ring hervor und warf ihn ihr zu. Etiennes Lächeln fror ihr im Gesicht fest, als sie vorsichtig den Ring in die Hosentasche steckte. Sie stellte fest, dass sie wirklich leicht von ihm einzuschüchtern war. Und er schien leicht zu reizen zu sein, wenn er nicht direkt eine Antwort bekam.

„Lasst uns einfach befreundet sein“, sprudelte es aus ihr heraus und sie hoffte, dass er das als so abstrus betrachten würde, dass er sie damit in Ruhe ließ. Sie brauchte keinen Gefallen von ihm und sie verstand nicht, wieso das jetzt das Thema sein sollte. Er sollte einfach nach Hause gehen, damit sie ihren Abend endlich zu Ende bringen konnte.

„Versuchst du mich zu veräppeln?“, fragte er sie mit zusammengekniffenen Augen. Etienne erwiderte seinen Blick, ihre Kopf war leer. Ihr fiel keine Idee ein, wie sie mit ihm umgehen sollte. Hilfesuchend sah sie zu Meta, welche den Kopf in den Händen versteckt hatte. Etienne blickte wieder zu Gilgian, „Gut, wie wäre es damit. Ich schulde Catjill ein ausgiebiges Essen. Kannst du eine Empfehlung aussprechen?“

Sie sah sich erneut seinem Blick entgegengesetzt. Etienne unterdrückte es, von einem Fuß auf den anderen zu treten. Gilgian seufzte dann und holte sein Geldbeutel hervor.

Etienne bekam große Augen, als er einige Geldscheine herausholte und sie ihr hinhielt, „Ich brauche kein Geld, nur eine Empfehlung.“

„Ich übernehme seinen Preis“, sagte Gilgian und drückte ihr dann das Geld gegen die Brust, sodass ich nichts anders blieb, als es aufzufangen, „Und der Weg bis nach hierhin reicht. Wir brauchen deine Begleitung nicht mehr. Und für die Empfehlung, frag Meta.“

Er drehte sich um und ging davon. Etienne fühlte sich beschämt. Sie war nicht verarmt. Etienne blickte zu Meta, „Würdest du das bitte wieder zurück nehmen?“

„Nein“, sagte Meta und sah zu ihr wieder hoch, nur um dann von Etiennes genervten Blick zusammenzuzucken. Etienne setzte wieder ein Lächeln auf. Es lag nicht in ihrem Interesse, Meta noch mehr einzuschüchtern. Sie war sicherlich froh, mit Etienne nichts mehr zu tun haben zu wollen. Und das konnte Etienne ihr nicht verübeln.

Meta atmete tief durch und sah wieder zu ihr, „Ich bin dir auch dankbar für deine Hilfe. Unser Provinz ist nicht wirklich glücklich mit Gilgian und mir und deine Begleitung hat uns den Heimweg sicherlich leichter gemacht.“

„Ein Danke reicht mir“, sagte Etienne, „Mal abgesehen davon, glaube ich, dass es das Mindeste ist, was ich tun kann, nachdem, was heute passiert ist.“

Meta und Etienne blickten sich schweigsam in die Augen. Etienne war sich nicht sicher an was Meta dachte. Und das war ungewohnt, denn Meta schien bisher nicht deutlich gut darin gewesen sein, ihre Gefühle zu verbergen. Meta atmete dann tief durch, trat etwas näher an Etienne und nahm ihre Hände in die ihren, „Es tut mir wirklich leid, was mein Vater getan hat. Ich wünschte mir, ich könnte das ändern.“

Etienne sah sie verwirrt an, unschlüssig, was sie mit dieser Aussage anfangen sollte. Sie drückte ihre Hand zurück und sagte, „Dir ist aber bewusst, dass du nichts für das kannst, was heute passiert ist.“

Von allen Beteiligten hatte sie am wenigsten zur Situation beigetragen. Selbst wenn Meta nicht mitgekommen wäre, Etienne hätte einen anderen Weg in die Villa gefunden. Es wäre vielleicht etwas schwerer gewesen herauszufinden, wo sie hin sollte und wie sei reinkommen sollte, aber sie hätte es geschafft.

Meta lächelte ihr traurig entgegen und äußerte sich nicht weiter dazu, „Wir sehen uns bald in der Schule. Danke für die Begleitung und komme gut nach Hause. Und falls du meine Hilfe bei etwas benötigst, dann hoffe ich, dass es das nächste Mal etwas ist, wo ich dir wirklich helfen kann.“

Sie trat zurück und packte Catjill von ihrem Kopf, welcher sie dann zu sich herumdrehte, „Auch dir vielen Dank Catjill. Ohne dich wäre ich verzweifelt.“

Für einen Moment rührte Catjill sich nicht. Etienne war sich sicher, dass es die Art war, wie Meta mit ihm umging. Catjill riss sich dann von ihren Händen los und flog zu Etienne, „Du kannst mir deine Dankbarkeit gerne in Form einer Belohnung zeigen.“

„Nein“, unterband Etienne dies sofort. Sie blickte dann wieder zu Meta und sah Gilgian hinter ihr an der Straßenecke warten, „Kommt gut nach Hause. Wir sehen uns die Tage über und ich hoffe, dass du es mir vielleicht erlaubst, dir öfters in der Bücherei Gesellschaft zu leisten.“

Metas Wangen röteten sich leicht und ihr Gesicht war eine Mischung aus Freude und Zögerlichkeit. Etienne würde für die Zeit, in der sie hier war, gerne mit ihr befreundet sein. So könnte sie am besten Wiedergutmachung leisten. Indem sie wenigstens dafür sorgte, dass Meta von niemandem mehr belästigt wurde, so lange Etienne da war.

Meta nickte ihr zu, „Komm gut nach Hause.“

„Ihr auch“, sagte Etienne und macht sich dann mit Catjill auf den Weg.

Etienne steckte das Geld weg und war unzufrieden damit, es zu haben. Sie würde es so bald es ging an Catjill ausgeben und anschließend nie wieder erwähnen, dass sie es je erhalten hatte. Sie hatte ihren Stolz.

„Wir machen noch einen kurzen Zwischenstopp“, sagte Etienne, „dann gehen wir zurück in das neutrale Provinz. Ich hab uns schon einen Ort rausgesucht. Ich hoffe du hast die Augen offen gehalten nach etwas, was du essen willst.“

Seine Pfoten zuckten aufgeregt an ihrer Schulter und er fuhr die Krallen ein und aus. Etienne musste bei seiner Freude lächeln.

„Was müssen wir erledigen?“, fragte er.

Etienne lief an den Menschen vorbei, welche sie nicht beachteten. Zu einigen von denen gehörten die Männer, welche ihnen zuvor gefolgt waren. Etienne bedachte sie kurz und entdeckte, dass sie an ihren Armen unter den kurzen Westen Tattoos hatten, welche einander ähnlich sahen. Diese Zeichen schienen jedoch nicht dieselben zu sein, welche die Zugehörigkeit zu den Provinzen markierten. Etienne wartete, bis sie an ihnen vorbeigegangen war. Sie würden sie zwar dank Catjill nicht wahrnehmen, aber sie wollte es nicht riskieren, dass sie dennoch auf sie aufmerksam wurden. Diese Magie wirkte subtil. Wenn Etienne es darauf anlegen würde, bemerkt zu werden, dann würde der Zauber brechen. Und sie kannte sich gut genug mit solcher Magie aus, um es gut einschätzen zu können.

„Du musst gar nichts erledigen“, sagte sie, „Warte einfach auf mich. Ich werde bald da sein.“

 

Etienne stieg mit Catjill die Treppen des Turmes hinauf. Sie war durch ein Fenster, welches offen gestanden hatte, hineingeklettert. Anschließend war sie mit Catjill an den Priestern vorbei geschlichen. Die Treppen zu dem Turm waren schnell gefunden und nun lief sie seit einigen Minuten in der Dunkelheit hinauf. Sie hatte Catjill nicht befohlen, Licht zu machen, da sie keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollte. Ihre Gedanken waren schnell zum Talisman gewandert und sie fragte sich, was in sie gefahren war, diesen bei Tatinne liegen gelassen zu haben. Sie war sich sicher, dass Raffael es ihr auf den Tisch gelegt hatte, wie sie es verlangt hatte. Sie war jedoch zu hastig nach unten gegangen. Es war etwas her, seit sie das letzte Mal so aus der Ruhe gebracht wurde.

Die verpackten Tüten in ihren Händen verströmten den Geruch von heißem Essen. Catjill flog vor ihr her, aufgeregt endlich nach Oben zu kommen. Sie hatte ihm nicht erlaubt, sich zu weit zu entfernen. Und so spürte sie seine Aufregung, als er sie anspornte schneller hinauf zu laufen. Etienne war zwar müde, aber ihn so aufgeregt zu sehen brachte sie zum Lächeln. Es war besser, als ihn wütend zu sehen.

Als sie oben ankamen, war die Tür verschlossen. Sie ließen sich davon jedoch nicht aufhalten. Catjill ließ das Schloss aufschnappen und sie traten hinein. Die kalte Luft strömte ihnen entgegen. Es gab keine Fenster, nur steinerne Bögen um sie herum. Etienne blickte durch diese hindurch. Sie konnten zwar keine Sterne sehen, aber um diese Uhrzeit erstrahlte die Stadt unter ihnen, als wäre sie ein eigener kleiner Sternenhimmel. Etienne liebte den Ausblick. Eine ihrer schönsten Erinnerungen war die, wie sie damals mit ihrem Vater einen Berg bestiegen hatte. Es war ein steiler, anstrengender Weg, doch als sie sich umgedreht hatte, hatte ihr die Aussicht mehr Luft geraubt, als der Aufstieg selbst. Sie waren so weit oben gewesen, dass die Luft so dünn war, dass sie Schwierigkeiten gehabt hatte zu atmen. Sie wurden von wilden Tieren bedroht und es gab Wesen, welche sie noch nicht gekannt hatten. Und doch war das die schönste Erfahrung, die sie je gehabt hatte. Es war traumhaft gewesen.

Während Catjill um den Turm herumflog, setzte Etienne sich hin und öffnete das Essen. Sie legte die Sachen aus und war doch froh über das Geld, das Gilgian ihr gegeben hatte. Catjill hat sich nicht zurückgehalten. Etienne hätte es sich zwar leisten können, aber ihr Budget war beschränkt und sie wollte nicht zu tief in die Taschen greifen. Vor allem nun, wo sie durch Tatinnes Unterkünfte und Einkäufe etwas sparen konnte, waren unnötige Ausgaben nur hinderlich für sie. Selbstverständlich könnte sie noch eine Aufgabe der Ekklea übernehmen. Nicht umsonst nannte sie ihren Nebenjob Exorzismus. Aber es war auch nicht der Fall, dass sie viel Zeit zur Verfügung hatte. Sie musste sich schnell die Steine besorgen. Demnach bedeutete dies, dass sie sich ihre Abmachungen mit Catjill besser einteilen sollte. Sie sollte nach Möglichkeiten vermeiden, Gefallen für andere Menschen einzulösen. Das bedeutete, dass sie ihn nicht mehr dazu nutzen würde, jemanden zu schützen oder anderwärtig zu helfen. Nicht, dass sie es jemandem schuldig war. Es war manchmal nur die einfachste Art und Weise, für möglichst wenig Aufsehen zu sorgen. Wenn Meta etwas passiert wäre, würde Gilgian sie nicht so einfach davonkommen lassen. Und wenn Gilgian etwas passiert wäre, könnte dies die Machtverhältnisse in der Stadt stören, was ihr unter Umständen mehr schaden, als helfen würde. Wie Raffael gesagt hatte, es lohnte sich seine eigenen Bedingungen vor einer Veränderung zu etablieren. Dasselbe galt für Etienne, wenn sie für Chaos sorgen wollte. Ihr kam wieder in den Sinn, wie Raffael seine Liebe zu der Stadt bekundet hatte und sie fühlte sich etwas schlecht für ihre Gedanken. Vielleicht würde sie sich doch Mühe geben, nicht zu allzu drastischen Maßnahmen zu greifen. Sie würde es jedoch nicht für ihn tun. Immerhin ist er schuld, dass sie hier festsaß.

Catjill flog zu dem Essen. Er setzte sich hin und wurde umhüllt von blauem Rauch. Dann saß ein kleiner Junge vor ihr, mit blauen Haaren und hell leuchtenden Augen. Er packte das Essen und zog die Folie ab. Mit seinen Händen schob er sich das heiße Essen in den Mund. Etienne lachte, „Catjill, iss ordentlich. Es gibt Besteck.“

„Ich brauche kein Besteck“, rief er aus und seine glücklich leuchtenden Augen blickten kurz zu ihr, nur um dann weiter zu schlingen. Etienne schaute ihm dabei zu. Er sah klein aus, aber sein Alter war nicht nach menschlichen Maßstäben zu messen, genauso wenig, wie seine geistige Reife. Wenn Tatinne von einem Herrscher gesprochen hatte, dann musste es sich um Catjill handeln. Diesem Entschluss hatte Etienne direkt nach Tatinnes Erzählung geschlossen. Etienne konnte Raffael nicht erzählen, dass sein Fokus wahrscheinlich auf der falschen Person lag. Sie hatte sich so viel Mühe gegeben, die ganze Arbeit, einen Djinn zu erhalten. Und Raffael drohte ihr gerade, ihn ihr wegzunehmen. Unter den Umständen musste sie seine Aufmerksamkeit entweder auf sich lenken oder auf jemand anderen. Noch hatte sie den Vertrag mit Catjill, doch es könnte Möglichkeiten geben, ihn ihr wegzunehmen. Er war nicht vollends davon abgehalten, Verträge mit anderen zu schließen. Er glaubte es aber und Etienne beließ ihn gerne in den Glauben. Wenn er dahinter kommen sollte, dann müsste sie sich unter Umständen mit den Anderen um ihren Djinn prügeln. Auf kurze Sicht bedeutete dies, dass sie ihn von ihrem Djinn ablenken sollte. Was an sich vielleicht gar nicht so schwer zu meistern wäre, da der Djinn durch seine Magie sowieso vor zu neugierigen Blicken geschützt war. Die Menschen hinterfragten ihn nicht. Das würde jedoch nicht ewig halten. Früher oder später würden sich die Leute wundern. Mit Ausnahme von einer Person, welche Etienne überrascht hatte.

„Weißt du, ob Meta immun ist gegen deine Magie?“, fragte Etienne ihn vorsichtig.

Seine leuchtenden Augen blickten nicht mal zu ihr auf, als er sich über das zweite Gericht hermachte. Etienne öffnete auch ihr Essen. Es war das erste, was sie heute hatte.

„Nur mentale Magie“, sagte er mit vollem Mund, „ich habe das direkt bei ihr gespürt. Du wirst sie mit Illusionen oder Beeinflussungen ihrer Gefühle nicht dran kriegen. Sie wird das direkt durchschauen. Auch wenn ich nicht glaube, dass sie es bewusst machen wird. Ich glaube ehrlich gesagt nicht mal, dass sie Magie wahrnimmt, außer es fliegt direkt in ihr Gesicht. “

Etienne nahm nachdenklich etwas Essen in den Mund und dachte über das Gesagte nach. Sie erinnerte sich daran, wie Meta ihr davon erzählt hatte, dass sie mit vielen verfluchten Gegenständen in Kontakt gekommen war. Sonderbar war jedoch, dass sie, wie Etienne, auf den Geist reagiert hatte, welchen Catjill als nicht Existent betitelt hat.

„Erinnerst du dich noch an den ersten Geist, dem wir im Gang begegnet sind?“, fragte Etienne bei ihm nach.

Catjill lachte, „Da war nichts Etienne. Es war kein Geist.“

„Was dann? Wenn der Fluch rein mentaler Natur wäre, dann hätte Meta nichts sehen sollen.“

„Der war nicht rein mentaler Natur. Es haben sich nur die Gegenstände bewegt. Den Rest hast du dir eingebildet. Und dieses scheue Reh auch. Kein Wunder aber, es ist jedes mal was passiert, wenn sie raus wollte.“

Etienne aß weiter. Zu dem Schluss war sie auch schon gekommen. Immer wenn sie zu lange an einem Ort waren oder wenn Meta meinte, sie würde wieder rausgehen wollen, war etwas aufgetaucht, was zum Weiterbewegen gezwungen hatte.

Etienne sortierte die Informationen in ihrem Kopf. Sie spürte die Müdigkeit hinter ihren Augen einsetzen. Es war schon späte Nacht. Nachdem Catjill sein Essen verschlungen hatte, leckte er sich die Finger. Etienne war froh drum, sie hatte nämlich kein Interesse, das für ihn zu übernehmen.

„Catjill“, sagte sie dann, „Erinnerst du dich noch an unsere Regeln?“

Sein wachsamer Blick traf den ihren. Sofort verwandelte er sich in einen Kater. Sie lächelte, „Es ist keiner hier. Mach dir keine Sorgen, ich wollte dich nicht bedrängen.“

„Wieso fragst du dann nach den Regeln nach?“, fragte er misstrauisch.

„Ich wollte nach dem heutigen Tag nur noch mal betonen, dass du in der Nähe der anderen niemals deine Gestalt wechseln solltest“, sagte sie sanft.

„Ich habe mich bisher immer an alle Regeln gehalten. Wieso sagst du das jetzt?“, fragte er und sie konnte einen beleidigten Unterton in seiner Stimme hören.

Etienne seufzte und stellte das Essen wieder weg. Sie würde später mehr essen. Sie hatte zwar keinen Hunger, aber sie wusste, sie brauchte die Nährstoffe.

„Catjill, ich wollte diese Regel nur noch mal hervorheben. Nimm das nicht persönlich. Und genieße deine Zeit hier oben. Wir müssen bald zurück.“

Er blickte noch einige Momente zu ihr, sein Schwanz zuckte hin und her. Dann entschloss er sich, ihrem Ratschlag folge zu leisten und sich weiter umzuschauen. Etienne atmete leise durch, als er sich abzulenken schien. Sie wusste, dass er ihren Befehlen folge leisten würde. Sie wollte nur noch mal sichergehen, dass er das im Hinterkopf behielt. Immerhin war er manchmal viel zu eifrig. Etiennes Gedanken wurden unterbrochen, als sie ein lautes Geräusch und anschließend das ferne Schreien von Menschen hörte.

Etienne stand auf und trat zu Catjill an die Balken. Der Wind wehte durch die Bögen und sie hörte um sich herum pfeifende Geräusche, in welchen sich die Schreie mischten. Ihr Haar, das viel zu lang geworden war, flog um sie herum und sie versuchte die Strähnen aus dem Gesicht zu halten.

Sie blickte weit in die Stadt und entdeckte dicke Rauchschwaben emporsteigen. Es war in Gilgians Provinz. Sie bemerkte, wie sich unter ihr die Menschen besorgt versammelten und in die Richtung der Explosion blickten.

„Wir gehen zurück“, sagte sie zu Catjill. Er kletterte auf ihre Schultern, als sie den ganzen Müll einsammelte und in eine Tüte stopfte. Sie sollten sich beeilen herauszukommen, bevor der Platz unter ihnen von Leuten nur so wimmeln würde.

8.

Etienne wusste nicht mehr, wie lange sie da an der Tür stand. Sie hatte verschlafen und war zu spät gekommen. Zu ihrem Unglück, war in der ersten Stunde O’Donnel ihr Lehrer gewesen, welche nach den letzten zwei Tagen sowieso nicht sonderlich gut auf Etienne zu sprechen war. Und heute hatte sie Etiennes Zuspätkommen genutzt, um richtig über sie herzufallen. Etienne ließ es über sich ergehen. Sie hörte ihr seit nun schon fast fünf Minuten nicht mehr zu. Ob es O’Donnel auffiel? Anscheinend nicht und Etienne fragte sich, was mit ihr nicht stimmte. Selbst Catjill hatte die Ohren angelegt, schlief aber weiter. Und die Stimme hatte andauernd diesen schrillen Unterton, welcher in den Ohren wehtat. Die Klasse, die zunächst sehr belustigt schien, schien nun zu leiden. Und Etienne stand immer noch an der Tür, mit der Tasche und vollkommen gelangweilt vor der Frau.

Etienne war aufgefallen, dass Gilgian und Meta fehlten, was sie schon erwartet hatte. Gilgian würde sich wahrscheinlich erholen wollen und so, wie sie Meta in dieser kurzen Zeit kennengelernt hatte, würde sie seine Seite wahrscheinlich nicht verlassen. Doch es fehlten auch Raffael, Keyen, Elias und Meng, was Etienne überrascht hatte. Sie wunderte sich, ob ihre Abwesenheit etwas mit dem Knall in der Nacht zu tun hatte.

Ein Lineal knallte plötzlich gegen die Tür hinter ihr. Hatte sie diesen gerade wirklich nach ihr geworfen? Etienne sah ungläubig zu der Frau vor sich.

„Hörst du mir überhaupt zu?“

Etienne antwortete ernst, „Natürlich, Madame.“

Sie hatte sie am Vortag „Miss“ genannt und die erste unfreundliche Ansage kassiert. Raffael hatte sie daraufhin ausgelacht und Anaki hat ihr die Anrede aufgeschrieben, die „Madame“ O’Donnel erwartete.

„Was hab ich gerade gesagt?“

Da sie die Frage nicht beantworten konnte, blieb Etienne nichts übrig, als ihr entgegen zu lächeln. Sie hörte Scarlett seufzen.

„Verflucht! Setzt dich auf deinen Platz!“

„Ja“, meinte Etienne und versuchte nicht das Gesicht zu verziehen.

Anaki grinste sie an und gab sich Mühe nicht zu lachen. Sie lächelte ihn an. Es war unmöglich bei seinem glücklichen Gesicht nicht mitlachen zu wollen. Er hatte eine ungefährliche Art an sich, welche dafür sorgte, dass man sich in seiner Nähe entspannte. Es ging keine Gefahr von ihm aus und Etienne konnte nicht fassen, was für ein Glück sie hatte, neben ihm gelandet zu sein.

Als sie sich setzte, meinte sie flüsternd zu ihm, „Das hab ich doch ganz gut gemeistert, was meinst du?“

Er hielt sich den Bauch und biss sich auf die Unterlippe, während sich in seinen Augen Tränen bildeten. Er schüttelte sich leise mehrmals, bis er dann aufatmete. Er schüttelte den Kopf, „Unglaublich.“
„Überraschungstest!“, sagte O’Donnel.

Etienne unterdrückte ein Seufzen, „Wie unnötig.“

Es war, wie Raffael es ihr gesagt hatte. Und da die einzige Person, die davon überrascht werden könnte sie war, schien es keine Überraschung mehr zu sein.

Anaki hob die Augenbraue und Etienne sagte, „Ich weiß ja noch nicht einmal was für Unterrichtsstoff ihr durchgenommen habt.“

„Dumm gelaufen“, sagte Anaki trocken, „Wenn du nicht geschlafen hättest, würdest du es jetzt wissen.“

Etienne sah sich das Blatt an, dass die Frau, noch immer wütend, vor sie auf den Tisch geknallt hatte.

„Lass schauen, ob hinter deiner Bequemlichkeit auch etwas Talent steckt“, sagte sie und sah sie bedrohlich an, „Doch unabhängig davon, hoffe ich, dass du versagst.“

Etienne lächelte sie an. Das würde sie für ihre reizende Lehrerin einrichten. Dann seufzte sie. Dieses Fach war langweilig. Sie war noch immer so müde vom Vortag und es gab nichts, was ihr in diesem Moment sinnloser erschien, als irgendwelche Aufgaben zu bearbeiten. Sie kritzelte die Lösung der ersten Aufgabe auf das Blatt und musste dann gähnen. Sie hatte nicht viel Schlaf bekommen. Nach wenigen Minuten hatte sie aufgegeben, um ihre Aufmerksamkeit zu kämpfen und angefangen irgendwelche Tiere auf das Blatt zu kritzeln.

Die Standpauke ging nach der halben Stunde wieder los. Anscheinend war der Überraschungstest doch nicht so witzig wie sie es gehofft hatte. Zu Mindestens nicht für O’Donnel.

Etienne war sich nicht sicher. Aber sie war sich sicher, dass sie sehr erleichtert war, als es zur Pause klingelte und sie die Frau für den heutigen Tag endlich begraben konnte.

Etienne seufzte und lehnte sich erleichtert im Stuhl zurück, „Diese Schule ist witzig, wie du es gesagt hast.“

„Witzig?“, fragte Anaki ungläubig, „Du spinnst doch.“

„Wieso?“, fragte Etienne. Sie fand die Schule tatsächlich witzig. Sie hatte das Gefühl, dass sie nirgendwo sonst ohne Konsequenzen davonkommen konnte, wie hier. Vielleicht würde der Test ein Nachspiel haben, aber viel zu spät, als dass es einen Unterschied machen sollte. Als Tatinne ihr in der Nacht noch ihr Bein behandelt hat, hatte Etienne sie gefragt, wie das mit den Abstufungen funktionieren würde. Sie würde das erst in Monaten erleben müssen. So lange hatte sie nicht vor zu bleiben.

„Wer findet das witzig? Ganz bestimmt niemand der von O’Donnel schon am ersten Tag und dann auch noch am dritten angeschrien wurde. Willst du wissen, wieso ich den zweiten Tag gerade übersprungen habe? Ganz einfach, weil du geschwänzt hast.“

Etienne musterte Anaki, „Es hört sich an, als würdest du mit mir schimpfen.“

Er lächelte nett, „Scheint so. Aber es ist nicht meine Absicht. Du wurdest heute genug ausgeschimpft.“

Etienne gähnte und Anaki fragte, „Brauchst du Hilfe?“

„Wo?“, fragte sie.

„In Mathe.“

Etienne legte ihren Kopf in die Arme, „Eigentlich brauche ich nur etwas Schlaf.“

Catjill hatte es gut. Er schlief den ganzen Morgen schon auf ihren Schultern.

Er lachte, „Wie ich sehe, hast du nicht vor das ernst zu nehmen.“

Etienne blinzelte und wollte Antworten, als dann die Tür aufgestoßen wurde und sie sich unweigerlich auf die nächste Katastrophe gefasst machte. Doch es war Anakis genervtes Seufzen, welches sie dazu verleitete überrascht zu ihm zu blicken. Sein so freundliches Gesicht war unglücklich verzogen und sie beobachtete ihn, wie er tief durchatmete. Er war nicht der einzige in der Klasse, welcher ein genervtes Gefühl zum Ausdruck brachte. Die zwei, welche immer bei Elias waren, Colin und Valtin, standen auf. Keyen stellte sich vor Scarlett, welche wütend zu der Person an der Tür schaute. Ihr Blick wanderte dann besorgt zu Etienne und Anaki, was Etienne dazu verleitete sich anzuspannen. Sicherlich war die Person nicht wegen ihr hier. So lange war sie nicht da, um jemanden gegen sich aufzubringen. Mit Ausnahme von Gilgian vielleicht. Sie sah wieder zu der Tür und entdeckte hellblonde Haare. Das zweite, was ihr auffiel, war seine Kleidung. Er hatte einen Karateanzug an.

„Guten Morgen, liebe Klassenkameraden“, sagte er grinsend in die Runde. Die abweisenden Blicke schienen ihn nicht im geringsten zu stören.

„Wer ist das?“, fragte Etienne.

„Eine Nervensäge“, antwortete Scarlett, so laut wie sie nur konnte.

Der Junge grinste sie an, „Zickig wie eh und je. Aber eine Schönheit wie du scheint sich das leisten zu können.“

Scarletts Blick verdüsterte sich und sie funkelte ihn wütend an.

„Lass sie in Ruhe Halil“, sagte Keyen in seiner sanften Stimme. Halil beachtete ihn nicht mal und blickte weiter. Schnell entdeckte er Etienne, „Ein neues Gesicht.“

Etienne lächelte ihn an und hob grüßend die Hand, „Ich bin Etienne. Nett dich kennenzulernen.“

Er legte den Kopf schief und sagte, „Ebenfalls erfreut. Ich bin Halil, der Leiter des Karate Clubs unserer Schule.“

Seine Stimme hatte etwas beunruhigendes und Etienne entschloss sich nichts zu erwidern. Zu groß war die Gefahr, an seine schlechte Seite zu landen. Dafür lächelte sie etwas breiter.

Catjill richtete sich auf. Er betrachtete kurz die Lage, schnaubte dann so leise, dass nur Etienne es hören konnte, und legte sich wieder schlafen.

Sein Blick wanderte weiter zu Anaki und wurde bedrohlicher, als er ihn erblickte. Er senkte den Kopf und sie konnte die Feindseligkeit in seinen Augen sehen, „Wo ich nun wieder auf den Grund meines Erscheinens zurückkomme“, er zeigte mit dem Finger auf Anaki und sagte „Ich schulde dir noch eine Prügel.“

Scarlett stand auf, „Verschwinde von hier. Was denkst du, wer du bist, in unsere Klasse zu kommen und hier einen Kampf anzufangen?“

Valtin stimmte ihr zu, „Es wäre besser, wenn du diesen Mist woanders machst.“

Halil lachte, „Und was wollt ihr tun? Es mir verbieten hier zu sein? Ah, das könnt ihr nicht, heute ist keiner von euren mächtigen Meistern anwesend. Wie schade.“

Etienne legte ihre Hände flach auf den Tisch und war bereit aufzuspringen. Das Gefühl, dass die Situation eskalieren könnte, verstärkte sich und sie blickte kurz zu Anaki, welcher grau im Gesicht aussah. Er stand auf und sah trotzig zu Halil, „Lass uns einfach rausgehen.“

„Wieso?“, fragte Halil, „Hast du Angst bloßgestellt zu werden?“

Er ging langsam auf sie zu und Etienne blickte zu Uhr. Die Pause würde noch etwas dauern. Dann sah sie zu ihren Klassenkameraden und musste betrübt feststellen, dass keiner Anstalt machte, sich ihm in den Weg zu stellen. Sie blieben alle an Ort und Stelle und Etienne fragte sich, ob sie vorhatten ihren Provinzsherrschern alles akribisch zu berichten.

Plötzlich rannte Halil los und war in wenigen Sekunden vor ihrem und Anakis Tisch. Etienne blickte verwundert zu ihm hinauf, überrascht von seiner Geschwindigkeit. Ihr Körper spannte sich an, bereit zu reagieren und ihre Schulter fing aufgrund der Anspannung erneut mächtig zu schmerzen an. Anaki wich einem gezieltem Faustschlag nur knapp aus, fiel auf den Boden und stand schnell wieder auf. Halils Hand krachte auf die Wand und hinterließ Risse. Etienne blieb sitzen und betrachtete den Schaden, welcher jedoch nicht so tief war, wie der von Gilgian. Dennoch war das überraschend schnell und überraschend stark. Halil blickte zu ihr hinunter und zwinkerte ihrem wachsamen Blick zu.

„Aber, aber, meine Kinder!“, rief plötzlich eine angenehme Frauenstimme in den Raum.

Etienne schaute zu der Tür und entdeckte eine etwas kleine, dafür aber eine sehr elegante Frau. Sie hatte eine Brille an der kleinen Nase und ihre roten Haare gingen ihr bis zum Kinn. Sie klatschte in die Hände, „Wir wollen doch nicht zu Gewalt greifen.“

„Madame Warlen“, grüßte Scarlett und Etienne konnte die Anspannung in ihrer Stimme hören. Halil richtete sich auf und sah sie genervt an, „Mich dich nicht ein, blöde Kuh.“

Sie lachte, „Ah, Halil Schatz. Wie immer charmant. Wieso wundert es mich nicht, dass du heute hier bist, um Ärger zu machen? Du und unser liebster Anaki müsst darauf Acht geben, dass kein Ärger passiert. Nicht den Ärger anstiften.“

Etienne blickte zwischen den Beteiligten hin und her, unsicher, ob sie sich nicht zwischen Anaki und Halil stellen sollte. Sie war sich jedoch nicht sicher, ob das etwas bringen würde.

Die grauen Augen der Frau fielen auf sie, „Du bist unsere neue Schülerin. Willkommen! Ich hab mich schon gefreut, als ich von dir gehört habe. Lass uns eine schöne Zeit hier verbringen.“
Etienne strahlte sie an, erfreut über die ganz andere Behandlung, als die, die sie von O’Donnel bekommen hatte, „Ich freue mich schon!“

Die Frau lächelte zufrieden und blickte dann wieder zu Halil und Anaki, nachdem Halil mit dem Fuß auf den Boden stampfte, welcher davon Risse bekam. Etienne hob die Brauen, als sie besorgt dorthin blickte. War Halil von sich aus so stark oder hatte er verborgene Fähigkeiten, die ihm das erlaubten, auf solch kurze Entfernung solch einen Schaden anzurichten? Etienne blickte noch mal zu ihm. Sie spürte kaum Magie von ihm ausströmen. Wenn, dann war da nur ein sanfter Zug, welcher darauf vermuten ließ, dass sie in seinem Körper floss, aber es schien nicht so zu sein, dass sie nach außen Drang.

„Also wirklich, wer soll das reparieren?“, schimpfte Warlen.

Halil funkelte sie wütend an. Zeitgleich schien er jedoch die Situation einzuschätzen, bedachte sie vorsichtig und grinste dann wieder, „Soll der Versuch deine Anwesenheit zu präsentieren mich von irgendwas abhalten? Du gehörst Raffaels Provinz an.“

Dann drehte er sich wieder zu Anaki um, welcher die Hände hob, „Nur zu, ich werde mich nicht wehren.“

Etienne sah besorgt zu ihm. Dass die Lehrerin nichts tat, um ihn aufzuhalten, irritierte sie.

„Natürlich nicht, ansonsten müsstest du ja zugeben, dass du nie gegen mich gewinnen könntest.“

Anaki sah ihn wütend aber wachsam an, „Hast du mich nicht bereits besiegt?“

„Nicht genug besiegt, du Abschaum.“

Etienne atmete tief durch und sah noch mal zu der Uhr. Würde er nach der Pause wieder verschwinden? Er war immerhin erst in dieser aufgetaucht.

„Halil, ich finde, du solltest wieder in deine Klasse gehen“, sagte Warlen, doch er ignorierte sie komplett. Als er sich wieder vollends zu Anaki drehte und einen Schritt auf ihn zu ging, atmete Etienne tief durch, stand auf und trat mit erhobenen Händen zwischen sie. Sie hörte Scarlett fluchen und sah, wie sie aufstand.

„Was auch immer es ist, sicherlich können wir das friedlich klären“, sagte sie lächelnd. Nicht, dass sie sich einmischen wollte, aber Anaki war bisher nur nett und hilfsbereit zu ihr gewesen. Sie konnte nicht dasitzen und dem zuschauen. Sie bemerkte, wie der Djinn sich im Schlaf unruhig bewegte, als Halils bedrohlicher Blick auf sie fiel, „Ich habe gehört, das ist dein dritter Tag. Willst du dir wirklich mich zum Feind machen?“

„Wir könnten auch Freunde werden“, warf sie ein.

„Wir werden keine Freunde, wenn du dich zwischen ihm und mir stellst“, sagte er und grinste sie boshaft an, „Wobei. Ich würde es mir überlegen, wenn du mir einen Gefallen tust.“

Sie wurde von Anaki zur Seite geschoben und nun fand sie sich auf einmal hinter ihm.

„Lass sie in Ruhe, Halil. Es gibt wirklich gar keinen Grund all diese Menschen hier hineinzuziehen. Lass uns einfach rausgehen.“

Noch bevor er richtig zu Ende gesprochen hatte, ging er keuchend zu Boden, als Halil ihm die Faust in den Magen rammte. Halil lächelte zufrieden zu ihm hinunter und sah dann wieder zu Etienne, „Also, der Gefallen.“

„Verrenne dich nicht“, hörte sie Scarlett sagen, „Es gibt eine Grenze von dem, was du dir erlauben kannst.“

Er lachte und drehte sich zu ihr um, was Keyen dazu verleitete, sich noch mehr vor sie zu stellen.

Etienne ging in die Hocke und legte die Hand an Anakis Rücken, während er weiter nach Luft schnappte. Sie konnte sein gerötetes Gesicht, welches vor Schmerz verzogen war, ausmachen und Speichel floss sein Kinn hinunter. Sie strich mit der Hand beruhigend seinen Rücken hinunter, hoffte, dass er bald wieder normal atmen konnte. Etienne war sich sicher, ein schlechtes Geräusch beim Schlag vernommen zu haben.

Sie stupste Catjill an, welcher daraufhin aufwachte und leise an ihrer Schulter die Situation betrachtete, während Halil Scarlett auslachte, „Ah, kümmere dich um deinen eigenen Kram. Hast du nicht noch alte Männer zu verführen?“

Scarletts Gesicht rötete sich und sie hob trotzig das Kinn. Etienne sah ihren verletzten Blick, welcher sodann wieder von Keyen verdeckt wurde, „Es reicht Halil. Du machst das Ganze noch zu Raffaels Problem, wenn du so weiter machst.“

„Oh entschuldige, mir war nicht bewusst, dass Raffael eine Diktatur führt, in welcher wir armen Mitglieder der neutralen Provinzs nichts sagen dürfen, was wir wollen.“

„Du weißt, dass ich das nicht meine“, erwiderte Keyen aufgebracht.

„Kannst du stehen?“, fragte Etienne Anaki. Dieser nickte unter Schmerzen.

„Dann lass uns dich zur Krankenschwester bringen“, meinte sie.

„Was glaubst du, was du da tust?“, fragte Halil an sie gewandt.

Etienne lächelte ihn an, „Genau das, was ich gesagt habe. War nett dich kennengelernt zu haben. Wir sehen uns sicher die Tage über.“

„Warte Etienne…“, flüsterte Anaki kaum merklich. Etienne musste sich keine Sorgen um Halil machen. Er war ein Mensch. Ihr Djinn beschützte sie vor Menschen.

„Ist gut jetzt“, sagte sie lachend und zog ihn hoch.

Halils bedrohlicher Blick fiel auf sie. Etienne hatte zwar die Abmachung mit ihrem Djinn geschlossen, aber es war das erste mal, dass sie herausfinden würde, wie er sie einhielt. Das machte sie etwas nervös. Dennoch entschloss sie sich, ihrem Vertrag mit ihm zu vertrauen. Sie wusste nicht, wie sie die Situation gewaltlos lösen sollte. Somit konnte sie ihrem Bruder gegenüber nicht ihr Versprechen einhalten. Sich auf ihren Djinn zu verlassen, war ihre beste Möglichkeit, diese Situation zu bewältigen.

„Du denkst wirklich, du kommst damit durch?“, fragte Halil und trat zu ihr. Scarlett schob Keyen beiseite und schien zu ihnen treten zu wollen, wurde jedoch von Keyen abgehalten. „Nur damit das klar ist“, rief sie Halil zu, „Wenn du sie verletzt, wird das kein privates Problem unter Mitgliedern der gleichen Provinz mehr.“

Etienne blickte zu ihr, leicht überrascht von ihrem Versuch sie zu beschützen. Raffael und Scarlett haben sich bisher als teilweise wirklich beschützend ihr gegenüber gezeigt. Etienne vermutete, dass die beiden den kommenden Wechsel anscheinend zu begrüßen schienen. Wie schnell diese Einstellung wohl fallen würde, wenn sie merken würden, dass es sich nicht um sie handelte, welche sie ablösen würde.

Halil schien kurz zu zögern und Etienne drückte Anaki sanft, aber bestimmt, zur Tür. Sie sah noch mal wachsam zu Halil und drehte sich dann mit Anaki zur Tür. Es war still, als sie zu dieser gingen. Anaki lief gekrümmt, schien kaum Kraft zu haben, sich gegen sie zu wehren. Trotz der ganzen Menschen im Zimmer, war es ruhig, nur Anakis schwerer Atem war zu hören. Etiennes Sinne waren auf Halil konzentriert, von welchem sie sich langsam entfernten. Sie spürte die Blicke der anderen, welche die Situation genau beobachteten.

„Ah, zum Teufel“, hörte sie Halil dann sagen, gefolgt von seinen Fußschritten, welche schnell auf sie zugingen. Gänsehaut schoss ihr den Nacken hinunter und sie war bereit sich zu verteidigen, als Catjill ein lautes Brüllen von sich stieß, während er von ihrer Schulter sprang und seine Gestalt sich vergrößerte. Er schnappte nach Halil mit seinen nun langen, scharfen Zähnen. Halil stolperte zurück und fiel hin. Etienne blickte mit großen Augen zu Catjill, welcher sich langsam wieder zurück in seine kleine Katzengestalt begab. Zufrieden leckte er sich über die Pfote. Ein Gefühl kroch tief aus ihr empor und sie unterdrückte es, indem sie ihren Atem kontrollierte und sich vor Augen führte, dass es seine Magie sein musste. Die Angst war jedoch scharf und ließ ihr kalten Schweiß den Rücken runter laufen.

„Wir gehen dann mal“, sagte Etienne leise, vertraute ihrer Stimme nicht, dass sie nicht zittern würde. Dann drückte sie Anaki schnell Richtung Tür. Sie sollte ihren Djinn aus den Augen der Leute schaffen. Sie sah dieselbe Angst auch bei Anaki, welcher immer wieder mit großen Augen hinter sich blickte und wusste, dass es den Anderen wohl genauso gehen würde. Catjill hatte den Menschen nicht unbedingt gezeigt, wie gefährlich er war, aber er ließ sie dennoch um ihr Leben zittern. Er hatte sich meistens still und ruhig verhalten und seine Magie, welche ihn vor neugierigen Blicken und Fragen abschirmte, hatte dafür gesorgt, dass er nicht zu viel Aufmerksamkeit bekam. Das könnte sich nun geändert haben. Und nun sollte sie sich überlegen, was sie tun sollte, wenn die Neugierde der anderen Menschen zu groß werden würde. Wenn ihre Köpfe sich durch die Magie hindurch setzen würden und sie verstehen würden, dass es sich hier um einen wahrhaftigen Djinn handelte.

„Was zum Teufel“, sagte Anaki. Er beendete den Satz nicht und sah dann zu dem Djinn an ihren Schultern, welcher weiterhin Stolz und Selbstzufriedenheit ausstrahlte. Neben der Angst setzte auch Panik in Etienne ein.

„Was genau hat Halil gegen dich?“, fragte sie ihn schnell, versuchte seine Aufmerksamkeit von dem Djinn abzulenken, damit sein Zauber wieder subtil zu wirken anfing.

„Was?“, fragte er und sein panischer Blick wandelte wieder zu ihr, schien seine Schmerzen für einen Moment vergessen zu haben.

„Ich hätte nicht gedacht jemanden an dieser Schule zu treffen, der so schnell und agil scheint“, plapperte sie los, „Und mit so jemandem hast du einen Streit? Und wieso hat die Lehrerin sich nicht eingemischt? Und wieso kam Halil heute zu dir?“

Sie bombardierte ihn mit Fragen und merkte, wie er langsam sich mehr und mehr auf ihre Stimme konzentrierte. Sein Blick wurde wieder etwas klarer, als die von Catjill künstlich erzeugte Angst nachließ.

Anaki stöhnte kurz schmerzerfüllt auf, als die Treppenstufe hinunterstieg und der nun reale, einsetzende Schmerz schien ihn fürs erste von Catjill abzulenken.

Sie half ihm besorgt hinunter. Auf dem Weg zur Krankenstation, von denen es, wie sie erfahren hatte, ganze vier gab. Sie begegneten anderen Schülern auf ihrem Weg, welche sich neugierig betrachteten. Einer fragte Anaki sogar lachend, ob er sich wieder mit Halil angelegt hatte, woraufhin Anaki nur ein Lächeln zustande brachte.

„Scheinen alle zu wissen, worum es geht“, meinte Etienne dann.

Er seufzte leicht und meinte dann zu ihr, „Ich hatte noch nie mit jemandem einen Streit. Aber als ich dann doch einen hatte, habe ich mir natürlich den besten Gegner rausgesucht.“

„Könnt ihr euch nicht einfach wieder vertragen?“, fragte Etienne.

Anaki seufzte. Er hielt sich weiterhin den Bauch, lief gekrümmt, „Er will sich nicht vertragen.“

Etienne blickte besorgt zu ihm und wechselte dann das Thema, indem sie auf die Stelle deutete, wo er ihn geschlagen hatte, „Wie schlimm ist das?“

Er antwortete ihr nicht. Dann sah er tadelnd zu ihr, „Ich weiß, ich hab gesagt, mit dir wurde heute genug geschimpft, aber ich habe hierzu meine Meinung geändert.“

Sie hörte die Glocke klingeln, welche das Ende der Pause ankündigte. Etienne hoffte, dass wenn sie in die Klasse zurückkehrte, dort keine weiteren unangenehmen Überraschungen auf sie warten würden.

Sie sah zu Anaki, „Ich bin immer noch der Meinung, dass es genug war.“

Er lächelte leicht, „Du bist in der neutralen Provinz, oder? Überlege dir vielleicht für die Dauer deines Aufenthalts die Provinz zu wechseln. Halil wird dich nicht belästigen können, wenn du in einer anderen bist.“

Etienne lachte, „Das werde ich definitiv nicht tun. Sonst muss ich einem von denen noch Frage und Antwort stehen.“

„Besser, als von Halil zusammengeschlagen zu werden“, sagte Anaki.

Etienne dachte kurz nach. Dachte dann daran, wie es wäre, in Raffaels Provinz zu sein.

„Nein“, sagte sie, „Das ist auf alle Fälle ein Nein.“

„Dann hättest du dich nicht einmischen dürfen! Wie die anderen auch.“

Er ächzte und legte sich die Finger an den Nasenrücken. Sie war sich nicht sicher, aber sie glaubte, es lag mehr an ihr, als an seinen Schmerzen.

„Nun ist es eh egal. Es ist schon passiert“, sagte Etienne, während sie langsam zu der Tür des Krankenzimmers kamen. Sie lächelte ihn so breit an, wie es ging, „Mal abgesehen davon, kann ich gut auf mich aufpassen.“

Er seufzte schwer und verzog dann vor Schmerz das Gesicht.

„Gut, genug davon. Lass uns schnell reingehen“, sagte Etienne und öffnete dann die Tür zu dem Krankenzimmer.

Der nett aussehende Mann, welcher an einem Tisch am Fenster saß, sah zu ihnen auf. Er erblickte zuerst Etienne, welche hineinging und inspizierte die blauen Flecken und Verbände, welche sie vom Vortag hatte. Dann wanderte sein Blick zu Anaki und Etienne konnte es ihm ansehen, dass er genau zu wissen schien, was vorgefallen war.

 

Etienne hatte Catjill zurück zu Tatinne geschickt und war wieder vorsichtig in die Klasse gegangen. Erleichtert hatte sie festgestellt, dass Halil nicht mehr dort war und Warlen ihren Unterricht führte. Sie hatte Etienne strahlend begrüßt und während die anderen ihre Arbeit fortgeführt hatten, hatte sie sich zu ihr gesetzt und war mit ihr gemeinsam die Themen durchgegangen. Etienne hatte betrübt feststellen müssen, deutlich mehr abverlangte, als sie es sich je hätte vorstellen können. Es war ein Zusatzfach. Nichts, was wirklich wichtig war. Aber dennoch musste sie auch hier gute Leistungen erbringen und ihr entschloss sich nicht, wie sie diese alte Sprache in wenigen Wochen lernen sollte. Somit überdachte Etienne noch einmal ganz genau, ob sie sich ihr Verhalten bei O’Donnel weiter leisten sollte. Nicht, dass sie es doch irgendwie zu Stande bringen würde, sie vorher zu verbannen.

„Um Himmels Willen, da liegt einiges an Arbeit vor uns“, hatte Warlen gesagt. Etienne hatte ihr entgegen gelächelt. Trotzt dessen, dass sie kein Wissen in den alten Sprachen hatte, hatte sie erstaunlich viel Spaß daran, sie zu erlernen. Zu ihrem Glück, konnte sie eine besonders gut lesen, wenn auch nicht fehlerfrei sprechen. Diese hatte einen wichtigen Stellenwert in der Welt der Flüche und Zauber gehabt, sodass Etienne nie was anderes übrig geblieben war, als sie zu erlernen. Immerhin konnte sie hier Punkten. Jedoch nur, so lange es im Zusammenhang mit den entsprechenden Themen war. Warlen hatte schnell ihr Interesse in diesem Bereich bemerkt und die anderen Themen vom Tisch gefegt. Warlen hatte sie anschließend alle früher entlassen. Scarlett hatte die Chance ergriffen und war sofort zu ihr gekommen. Etienne hatte noch einen Protest von Keyen gehört und dann war sie mit ihr verschwunden.

Die Welt verschwamm kurz vor ihren Augen und Übelkeit stieg in ihr auf. Sie rieb sich die Augen, während die Sicht langsam zurückkehrte. Etienne lächelte Scarlett unzufrieden an, „Eine Vorwarnung wäre ganz nett gewesen.“

Scarlett zuckte entschuldigend mit den Schultern, „Nur ein kleiner Nebeneffekt.“

„Wo sind wir?“, fragte Etienne.

„Im zweiten Gebäude der Schule.“

„Und wieso hast du mich hergeholt?“, fragte Etienne, während sie sich nun neugierig umblickte. Sie war nur daran vorbeigelaufen und Miss Arvon hatte ihr nicht viel dazu erzählt. Sie wusste nur, dass es hinter der Schule lag und ziemlich leer stand. Es sollten Renovierungen vorgenommen werden, diese wurden jedoch angehalten. Als Etiennes Blick sich langsam klärte, konnte sie die große Halle erkennen, welche von Plastikplanken und Gerüsten gefüllt war. Der Geruch von Putz erfüllte den Raum.

„Damit Halil nicht noch einmal hineinschneit und dich belästigt, nachdem du so erfolgreich seine Aufmerksamkeit von Anaki auf dich gelenkt hast. Und nach deiner Djinnaktion vorhin, wird er zu tausend Prozent auf dich zurückkommen. Eher früher als später.“

Sie bedachte Etienne mit einem langen Blick. Die Übelkeit verschwand nach einigen Momenten und als Etienne ihren Blick erwiderte, sank sie nach einem Moment den ihren auf ihre Fingernägel.

„Was ist?“, fragte Etienne.

Scarlett sah wieder zu ihr und meinte dann lächelnd, „Ich mache mir langsam etwas Sorgen um dich. Erst Gilgian, nun Halil. Mir scheint, du bist ein Magnet für Menschen mit nervigen Eigenschaften.“

„Hat mit deinem Cousin angefangen“, erwiderte Etienne trocken. Zu ihrer Überraschung lachte Scarlett, „Das kann ich nicht leugnen. Muss fürchterlich gewesen sein, auf einmal drei Gestalten vor dir zu haben, welche etwas von dir wollen und die du noch nie zuvor gesehen hast.“

„Und noch dazu habt ihr mich bestohlen, das machte es deutlich schlimmer“, sagte Etienne.

Scarlett zuckte mit den Schultern und grinste dasselbe Grinsen, dass Etienne schon von Raffael kannte, „Zeig uns an.“

Ihr Handy klingelte und Scarlett versteifte sich für einen Moment und holte es dann seufzend hervor. Sie schaute aufs Display und schien nicht so recht zu wissen, was sie tun sollte.

„Ruft Raffael an, damit du ihm alles erzählen kannst?“, fragte Etienne lächelnd und spürte, wie etwas, was Angst ähnelte, in ihr hochstieg. Sie hatte erst am Vortag mit ihm darüber gesprochen und ihm versichert, keinen Ärger zu machen. Es wunderte sie nicht, dass sie das nicht einhalten hat können. Es war nur viel früher passiert, als sie gedacht hatte. Und als sie sich an seinen wütenden Blick in der Küche erinnerte, war sie sich sicher, dass sie ihn nicht nochmal sehen wollte. Vor allem, weil er seinen Kopf durchbekommen hatte. Das zweite Mal, als sie ihm unterlegen war. Sie wollte kein drittes Mal. Also musste Etienne die Situation mit Halil schnell lösen, am besten bevor sie Raffael das nächste mal sah.

Scarlett blickte zögerlich zu ihr und drückte dann den Anruf weg, „Keyen hat ihn wahrscheinlich direkt angerufen, nachdem ich mit dir weg bin. Ein Grund mehr für meinen kleinen Überfall. Er hätte uns sonst nicht gehen gelassen.“

„Ist er so was wie dein Bodyguard?“

„Oh nein. Ich komme ganz gut alleine klar. Er ist eigentlich ein langjähriger Freund von uns. Wir wohnten früher Nebeneinander“, erzählte sie Etienne, „Ich will ihn nicht unnötig in das Ganze reinziehen“.

„Hat er euch dabei geholfen, den alten Herrscher zu stürzen?“, fragte Etienne. Tatinne hatte ihr erzählt, dass Raffael dies in wenigen Wochen geschafft hatte. Hatte aber nicht alle Einzelheiten herausgefunden, nur, dass Raffael einige Wochen zuvor die Ehefrau von Nexim aufgesucht hatte.

Scarletts Ausdruck versteinerte sich und Etienne merkte, wie die selbstsichere, ruhige Fassade bröckelte. Sie lächelte schief und ihr Augen wanderten von einer Ecke des Raumes in die andere. Etienne wunderte sich, ob Raffael mit seiner Machtübernahme zu konfrontieren zu derselben Reaktion bei ihm führen würde.

Scarlett seufzte und rieb sich dann mit der Hand den Nacken, „Nein. Aber das ist eine lange Geschichte. Frag Raffael.“

Etienne lächelte und wandte ihren Blick von ihr ab, damit sie sich nicht zu sehr von ihr eingeschüchtert fühlte. Ihre Stiefmutter hatte ihr das mal geraten, da sie der Meinung war, dass Etiennes Augen die Menschen zu sehr einschüchterten und sie deswegen immer den Blick abwandten und defensiv wurden. Scarletts Augen, im Vergleich zu Etiennes, waren in einem dunklen, warmen braun. Sicherlich hatte sie nicht diese Wirkung auf andere.

Etienne sah sich im Raum um und fragte sie, „Was machen wir jetzt, nachdem wir hier gelandet sind?“

„Die Pause aussitzen. Wir könnten nach ganz oben aufs Dach gehen. Früher sind wir oft dorthin gegangen“, sagte Scarlett.

„Bekomme ich eine Führung?“, fragte Etienne lächelnd.

Scarlett lächelte und schien ihre Selbstsicherheit wieder zurück bekommen zu haben. Dann ging sie vor Etienne auf die Treppen zu.

„Es fühlt sich an, wie eine Ewigkeit, seit ich das letzte Mal hier war. Als Raffael und ich auf die Schule gekommen sind, haben wir uns mit den Anderen immer hier hin geschlichen. Wir wären beinahe rausgeschmissen worden. Das Gebäude steht schon seit einer Ewigkeit geschlossen. Seit dem gibt es einen Wachmann“, erzählte sie und Etienne meinte, Stolz aus ihrer Stimme herauszuhören.

Während sie einige Treppen hinaufgingen, erzählte ihr Scarlett von dem Wachmann, welcher manchmal seine Rundgänge ging. Auf die Vermutung hin, dass er erneut da war, erzählte Scarlett ihr detailliert den Laufweg, den der Mann scheinbar jedes Mal aufs Neue lief. Etienne folgte Scarlett und schon bald entdeckten sie den gelangweilten Mann, welcher singend den Gang mit schleifenden Schritten entlang schlenderte. Scarlett führte Etienne zu einer unverschlossenen Tür in einem anderen Gang und sie versteckten sich dort, bis er vorbei gegangen war. Dann gingen sie den Weg weiter zum Dach. Als sie oben ankamen, traf Etienne der kalte Wind. Am Horizont erstreckte sich eine dunkle Wolkenfront. Es sah nach einem Gewitter aus.

Während Scarlett direkt einige Abdeckplanen ansteuerte, sah Etienne sich um. Das kleine Dach erstreckte sich vor ihr und sie hatte einen kleinen Blick auf Calisteo, wenn auch noch immer die Sicht durch Bäume und weitere Gebäude bedeckt wurde. Sie blickte hinter sich und konnte hinter der Kuppel des Daches das Gebäude der Schule ausmachen. Sie lief an der Halbhohen Wand entlang, welche beschriftet und bemalt war. Sie entdeckte verschiedene Bilder, mache waren fürchterlich schlampig gemalt, andere mit viel Mühe. In den Wänden war flache Beleuchtung eingebaut. Auch diese war mit Sprüchen und Namen bekritzelt. Etienne entdeckte auch den ein oder anderen Wunsch. Jemand hatte geschrieben, dass er Künstler werden wollte. Jemand anderes hatte geschrieben, dass er nach Vheruna und dort eine Schneiderei aufmachen wollte. Jemand anderes hatte Familie aufgeschrieben. Ein weiterer wollte reich werden. Etienne entdeckte weitere Sätze, überflog sie alle.

Etienne betrachtete die Namen, welche der Reihe nach auf jedem Glas der Lampe aufgeschrieben worden sind. Sie entdeckte sehr schnell Scarletts Namen, sowie den von Raffael. Sie sah auch Keyens Namen. Zu ihrer Überraschung sah sie jedoch auch welche, den sie nicht erwartet hatte. Einer davon war der von Elias. Sie entdeckte auch Colins Namen. Etienne sah zu Scarlett, welche unter der dreckigen, grünen Planen eine Kiste herauszog und öffnete. Etienne ging neugierig zu ihr und sah ihr über die Schulter. Es waren diverse Gegenstände in der Kiste zu finden. Etienne entdeckte einige Notizhefte, welche sehr alt aussahen. Sie sah ein Plüschtier und Nagellack, einige Filzstifte.

„Was ist das?“, fragte Etienne und Scarlett zuckte zusammen. Etienne sah sie entschuldigend an.

„Habe ich mir über die Jahre hinweg zusammengesammelt.“

Sie hielt Etienne grinsend einen Filzstift hin, „Willst du dich auch verewigen?“

Etienne schüttelte den Kopf, „Ich passe.“

Scarlett lachte, „Ah komm. Bisher haben sich fast alle überreden lassen. Du brichst eine richtig unwichtige Tradition. Außerdem könnte ich damit angeben, dass ein künftiger Herrscher mit mir hier oben war.“

Etienne hob abwehrend die Hand, „Nein.“

Scarlett warf den Stift wieder in die Kiste, „Vielleicht änderst du ja irgendwann deine Meinung.“

„Hast du vor mich öfters hierhin zu bringen?“

Scarlett setzte sich und zog die Kiste auf ihren Schoß, „So wie es aussieht, ja. Ich werde mal die Tage über schauen, inwiefern Halil vor hat, sich dich herauszupicken. Wenn er es auf dich abgesehen hat, dann werden wir uns öfters hier wiederfinden.“

Etienne unterdrückte es, das Gesicht zu verziehen. Sie konnte ihre Zeit nicht damit verschwenden, sich hier oben zu verstecken. Sie musste herausfinden, wie sie mit Meng oder Elias in Kontakt treten könnte. Etienne schielte wieder kurz zu den Namen an der Wand, „Habt ihr eure Namen auf die Lichter geschrieben.“

Scarlett nickte, während sie einen Nagellack herausholte und neben sich stellte, „Nachts haben hier früher die Lampen geleuchtet. Manchmal macht die Stadt das noch. Zum Neujahrsfest lassen wir alle Lichter aufleuchten. Dann heben sich die Namen vor dem Licht richtig schön ab. Vor allem wenn es schneit, sieht es traumhaft aus. Warst du schon mal beim Fest?“

Etienne schüttelte den Kopf, „Nein. So lange werde ich aber auch nicht bleiben.“

Scarletts Blick wanderte zu ihr und sie grinste, „Wir werden sehen. Falls aber doch, dann schreibst du deinen Namen auf.“

Etienne lächelte und antwortete ihr nicht. Scarlett wartete auch keine Antwort ab sondern wandte sich wieder ihrer Kiste zu.

Etienne beäugte die Notizbücher. Sie war neugierig, was sie drin wohl lesen würde. Vielleicht könnte sie etwas über Raffael herausfinden und seiner Beziehung zu Elias, falls es den welche gab. Oder über Elias und Meng, über welche Etienne noch nicht viel wusste. Sie hatte mit Tatinne aber noch nicht über sie gesprochen.

Scarletts Handy klingelte erneut. Sie schnalzte mit der Zunge und sah wieder auf den Display, „Er will aber auch nicht aufgeben.“

Sie drückte ihn erneut weg und schrieb einen Text.

„Also, Etienne“, fing Scarlett zu sprechen an und warf ihr einen neugierigen Blick zu, „Wie findest du es hier in Calisteo bisher?“

„Ganz nett für ein paar Tage, aber ich persönlich würde mich hier nicht niederlassen“, sagte Etienne.

„Wie schade“, sagte Scarlett, „dabei ist es eigentlich eine solch ruhige kleine Stadt. Zumindest im Vergleich zu den anderen. Hab ich gehört.“

Sie kramte weiteren Nagellack aus der Kiste und legte diese dann zur Seite.

„Warst du schon mal in einer anderen Stadt?“, fragte Etienne Sie zweifelte es an.

„Nein“, sagte Scarlett kopfschüttelnd, „Aber ich will irgendwann nach Vheruna. Es war schon immer mein Traum, dort zu leben.“

Etienne lächelte. Wenn Scarlett vorhätte, in Vheruna in die Politik einzusteigen, dann konnte sie sich auf was gefasst machen. Vheruna war politisch gesehen der Inbegriff eines Schlachtfelds. Es war eine große, wohlhabende Stadt und wie Calisteo, war sie neutral. Damals, als die alte Welt zusammengebrochen war, war sie der Zufluchtsort für all die Menschen, die versucht haben die Monster zu überleben. Blue Moon hat über sie geherrscht, bevor sie im Angesicht der Spaltung zur vollständigen Neutralität übergegangen und Blue Moon zurückgetreten war. Aber die historische und politische Relevanz von Vheruna war noch immer so immens, dass die anderen Familien versuchten, Einfluss auszuüben. Vor allem da der Rat, welcher dem Herrscher unterstand, in regelmäßigen Abständen neu gewählt wurde, gab es viele Kämpfe. Den Überblick über all das Geschehen zu behalten, schien beinahe unmöglich. Dennoch, schien es dem aktuellen Herrscher zu gelingen.

„Wird schwer nach Vheruna zu kommen, wenn du ein Provinz zu regieren hast“, sagte Etienne.

Scarlett zuckte mit den Schultern, „Wird schon klappen. Vor allem, wenn wir sowieso bald abgelöst werden.“

„Was willst du dort machen?“, fragte Etienne weiter nach, „Schneiderin werden?“

Scarlett blickte überrascht zu ihr hoch, „Woher weißt du das?“

Etienne lächelte, „Habe nur geraten.“

Scarlett sah sie aus zusammengekniffenen Augen an und Etienne merkte, wie sie nachdachte. Nach einem Moment sah sie zu der Wand hinter Etienne und dann lächelte sie, „Geraten? Hätte nicht gedacht, dass du dieses alte Gekritzel siehst. Das steht da schon seit Jahren. Aber du hast recht. Ich habe tatsächlich vor, eine Schneiderei zu eröffnen. Ich lerne bei Alberto das Handwerk, schon seit Jahren. Und ich hoffe, dass ich es für den Rest meines Lebens machen kann.“

Scarletts Augen schienen zu leuchten und Etienne trat unangenehm von einem Bein auf das andere. Es fühlte sich an, als würde Scarlett ihr etwas Intimes erzählen und das war ihr unangenehm. Sie verstand, nicht, wieso Menschen eine Obsession über einfaches Handwerk ausbildeten. Für sie waren Schneider noch immer Menschen, welche einen ungestraft herumschubsen konnten, wenn sie wollten.

„Dieser mürrische Mann hat einen Schüler?“, fragte Etienne.

Scarlett lachte, „Du hast ja gar keine Ahnung, was ich alles durchmachen musste, um ihn zu überzeugen, mich zu unterrichten. Ich hab zunächst nur bei ihm gearbeitet und das Atelier sauber gehalten. Und dann bin ich ihm jahrelang bettelnd hinterhergelaufen.“

Sie blickte erwartungsvoll zu Etienne hoch und hielt zwei Fläschchen Nagellack in ihre Richtung, „Welche Farbe willst du haben?“

Etienne blinzelte verwirrt, überrascht von der Frage. Es gab ein helles Grün und ein mattes Braun.

„Ich glaube nicht, dass wir die Zeit dafür haben“, sagte Etienne.

„Für eine Hand wird’s reichen“, erwiderte Scarlett grinsend.

Für einen Moment hatte Etienne das Gespräch vergessen. Sie blickte die zwei Farben an und war sich nicht sicher, was sie Scarlett antworten sollte. Sie wusste wofür das war. Ihre Tante nutze einige davon. Ebenso wie ihre Stiefmutter und ein Teil der anderen Frauen in ihrer Familie. Sie nutzten diesen jedoch nicht, um schöne Nägel zu haben. Zumindest nicht nur.

„Hast du das schon mal gemacht?“, fragte Scarlett sie.

Etienne schüttelte zögerlich den Kopf. Sie gehörte nicht zum Teil der Familie, der das machte.

„Na dann wirds Zeit für ein erstes Mal. Welche Farbe magst du?“, sie schüttelte die Fläschchen, „Das Grüne passt zu deinen Augen, das Braun ist eher etwas dezenter.“

Etienne verschränkte die Arme vor der Brust und sah mit einem leeren Kopf auf die Farben. Dann tauchte ein Gedanke auf und sie sprach ihn aus, bevor sie Scarlett abweisen konnte, „Braun.“

Sie trat zur Scarlett und setzte sich vor sie. Scarlett legte das eine Fläschchen weg und schüttelte das andere ausgiebig. Sie schraubte den Deckel auf und betrachtete die Farbe, „Es ist ganz schön alt.“

Etienne beobachtete, wie sie eine Plastikflasche aus der Kiste nahm und öffnete. Sie schüttelte einige Tropfen der Flüssigkeit in das Fläschchen mit dem Nagellack, verschloss sie wieder und schüttelte erneut. Ein beißender, dennoch süßlicher Geruch, erreichte Etienne.

„Also“, meinte Etienne langsam, „du hast vor nach Vheruna zu gehen. Das bedeutet, du und Raffael habt vor, den Job an mir abzuschmieren und die Stadt zu verlassen.“

Scarlett schaut kurz zu ihr hoch und widmete sich dann wieder der Farbe zu, welche beim erneuten Betrachten viel flüssiger schien. Sie nahm Etiennes Hand, welche sie ihr entgegenstreckte und fing an, ihre Fingernägel mit dem braunen Lack zu bemalen. Etienne beobachtete ganz genau, was sie tat. Sie musste zugeben, dass sie neugierig war, wie das am Ende aussehen würde, aber das alte Misstrauen schlich wieder in ihr hoch. Wenn Scarlett etwas Seltsames versuchen würde, wie sie mit der Farbe zu verfluchen, dann würde Etienne es merken. Dafür brauchte sie ihren Djinn nicht.

„Es ist nicht ganz so einfach. Ich werde früher oder später auf jeden Fall von hier verschwinden. Eigentlich war mein Plan, nach dem Abschluss loszuziehen. Aber da Raffael nun Herrscher ist, will ich ihn damit nicht alleine lassen. Ich muss zugeben, ich war sehr aufgeregt zu hören, dass wir abgelöst werden sollten.“
Etienne sah sie an, während Scarlett sich auf ihre Hand konzentrierte. Sie konnte die Ernüchterung in ihrem Gesicht ausmachen, während sie auf ihre Tätigkeit konzentriert war. Etienne fragte sich, ob Scarlett und Raffael sich den künftigen Herrscher als einen Retter vorgestellt hatten, welcher ihnen die Bürde der Herrschaft abnehmen würde und all die Probleme in Calisteo zu lösen vermochte. Beide waren sicherlich enttäuscht, Etienne im Château vorgefunden zu haben. Sie war jünger als die beiden und hatte kein Interesse daran, die Vorhersehung zu erfüllen. Vor allem Raffael musste sich die Haare raufen. Etienne war sich sicher, dass er die Herrschaft nicht einfach so abgeben würde, zumindest nicht ohne Vorkehrungen getroffen zu haben. Und sie konnte sich sehr gut vorstellen, dass er den Stein gegen sie verwendete, um sich Zeit zu verschaffen, die nötigen Vorkehrungen zu treffen. Stellte sich die Frage, welche genau er treffen wollte.

„Und was hat er vor, wenn er nicht mit dir nach Vheruna gehen wird? Ihr zwei scheint einander sehr nahe zu sein.“

Scarlett zuckte mit den Schultern, „Ah, er wird diese Stadt nicht verlassen. Das ist mir genauso klar, wie es ihm klar ist, dass ich nicht hier bleiben werde. Aber das macht nichts. Wir können uns auch aus der Ferne unterstützen. Und was ist schon eine kleine Reise von Vheruna nach Calisteo, wenn ein geliebter Mensch mal Hilfe braucht?“

Etienne lächelte. Mit dem Zug würde es eineinhalb Tage dauern. Und es würde teuer werden.

„Wieso habt ihr die Herrschaft übernommen, wenn ihr sie nicht wolltet?“, fragte Etienne. Sie wusste von Tatinne, dass die beiden eher rein geschlittert waren, als das sie es wirklich gewollt hatten.

Scarlett machte ruhig weiter und widmete sich dem nächsten Fingernagel. Etienne bemerkte jedoch, wie ihre Schultern sich anspannten und ihr Lächeln aus dem Gesicht verschwand. Ein Ausdruck trat in ihre Augen, den Etienne bereits bei anderen gesehen hatte. Die Glocke läutete. Etienne sah Scarlett an, doch diese merkte es nicht. Und so lange sie es nicht merkte, hatte Etienne nicht vor, sie darüber zu informieren.

Scarlett atmete tief durch. Sie blickte noch immer auf Etiennes Hand und diesmal schien es Etienne, dass sie einfach nicht in der Lage war, zu ihr hoch zu schauen. Etienne konnte in ihrem Gesicht Scham ausmachen, gemischt mit Angst.

„Es war einfach eine komische Zeit“, sagte sie schließlich, noch immer in einer ruhigen Stimme, welche nicht zu dem Ausdruck in ihrem Gesicht passte. Etienne merkte sich diesen. Vielleicht würde sie ihn bei Raffael auch sehen. Und wenn er es zu verstecken versuchen würde, dann wusste sie, worauf sie achten konnte. Es war erstaunlich. Die beiden waren sich ähnlich. Es war offensichtlich, dass sie verwandt waren. Aber Scarlett war viel leichter zu lesen, als Raffael.

„Hattet ihr keine Wahl?“, fragte Etienne weiter nach. Sie wollte Scarlett fragen, ob Halils Kommentar etwas damit zu tun hatte. Aber sie konnte sich nicht überwinden. Sie erinnerte sich an den verletzten Blick von ihr und entschied, dass es noch nicht notwendig war.

Scarlett seufzte, als sie den letzten Finger vornahm, und sagte, „Nexim und seine Frau, Oonagh, waren furchtbar gewesen. So sehr ich diesen Job hier hasse, ich würde ihn nochmal machen, so lange diese beiden weg sind. Sie und ihre kleinen Speichellecker, welche unser Provinz terrorisiert haben. Einige von ihnen versuchen es noch immer, aber es sind weniger geworden. Es gab so einige gute Menschen, die nur allzu bereit waren sich für das Gute einzusetzen. Für unsere Freiheit. Und als wir die Chance dazu hatten, haben sie die Chance auch ergriffen. Nun sind wir mehr gute Menschen, als schlechte.“

„Haben die schlechten gestern Nacht zufällig etwas in die Luft gesprengt?“, fragte Etienne nach.

Das entlockte Scarlett ein tiefes Seufzen und nun konnte Etienne Wut in ihren Augen sehen. Ein Funken, den sie am Vorabend bei Raffael ähnlich beobachtet hatte. Doch während Raffael die Wut hinter einem Lächeln versteckt hatte, schien Scarlett sie in all ihrem Sein nach Außen zu tragen.

Sie sah nun zu Etienne hoch, während sie das Fläschchen wieder verschloss, „Es gibt noch immer einige betrübte Loser, welche sich in Banden zusammengeschlossen haben. Nun terrorisieren sie weiter und denken, dass sie damit Gehör bekommen. Es ist leider nicht ganz unwirksam“, fügte sie dann säuerlich hinzu, „Das Hauptproblem sind die anderen Provinze. Auch nach Gilgians Machtübernahme, haben sich viele Persönlichkeiten, welche bei der Leitung des Provinzes beteiligt waren, gegen ihn gewandt. Wir vermuten, dass sie zusammenarbeiten, dafür gibt es ein paar Indizien. Es ist dann nie ganz klar, wer aus welchem Provinz welches andere Provinz angegriffen hat. Vor zwei Jahren hätte das noch für einen großen Kampf gesorgt. Raffael und Gilgian haben sich aber verständigen können, wahrscheinlich diskutieren sie noch mit den Anderen um die Folgen des Angriffs und wie künftig damit umzugehen ist.“

Plötzlich richtete Scarlett sich Stocksteif auf und sah Etienne schweigend an. Ihre Augen wurden groß vor Sorge und sie fragte, „Hat es schon geklingelt?“

Etienne zuckte lächelnd mit den Schultern, „Ich bin mir nicht sicher.“

Es war schon beinahe witzig. Scarlett trug jede Emotion in ihrem Gesicht. Von Scham zu Wut zu Panik, alles war deutlich zu sehen und so ausdrucksvoll, dass man an der Emotion nicht zweifeln konnte. Scarlett war sicherlich fürchterlich bei Kartenspielen.

Scarlett sprang auf, „Verflucht. Das tut mir Leid, mir ist das gar nicht aufgefallen.“

Etienne beobachtete sie dabei, wie die Sachen wieder in die Kiste packte. Während sie die Kiste dann erneut unter der Plane verstaute, blickte Etienne zu ihrer Hand. Der Lack war sauber an ihren kurzen Nägeln aufgetragen, die Farbe war dezent. Es sah hübsch aus, als das Tageslicht reflektiert wurde

„Gefällt es dir?“, fragte Scarlett auf einmal und Etienne blickte zu ihr hoch. Auf Scarletts stolzen Blick hin strahlte Etienne sie breit an.

„Natürlich. Du bist sehr gut darin“, sagte sie, ohne zu wissen, ab wann genau jemand als gut galt und wann nicht.

Scarlett hob eine Braue und betrachtete sie wachsam. Etienne grinste sie weiterhin breit an, wartete, bis Scarletts Interesse über Etiennes Reaktion zu ihrer Hand nachließ.

„Na komm“, sagte Scarlett, „beeilen wir uns. Ich werde die Schuld auf mich nehmen. Du hast heute schon genug Ärger abbekommen.“

Etienne stand auf und diesmal warnte Scarlett sie, bevor sie mit ihr von dem Dach zu dem Klassenzimmer verschwand. Diesmal schien Scarlett jedoch diejenige zu sein, welche nach dem Sprung durch den Raum, mitgenommen aussah. Etienne fragte sich, wie oft Scarlett das machen konnte, bis es zu schwer für sie wurde, denn jede angeborene Fähigkeit hatte ihre Grenzen.

 

Gilgian knurrte und gab einen Fluch von sich, als er lautes Rufen und das Bellen von Befehlen seiner Sicherheitsmänner im Flur hörte. Mit Mühe stand er auf und stapfte zur Tür welche er aufriss und Etienne im Gang, mit einigen seiner Leute ringend vorfand. Er wurde sich für einen Moment unsicher, ob seine Wachmänner so nachlässig waren, dass sie Etienne so weit in sein Anwesen haben eindringen lassen oder ob sie sich unsicher waren, eine junge Frau von seiner Schule durchzulassen und im letzten Moment gekniffen haben.

„Was zur Hölle machst du da?“, fragte er.

„Ich wollte euch besuchen“, sagte Etienne lächelnd.

„So?“, fragte Gilgian knurrend nach. Dann schickte er seine Leute zurück auf ihren Posten. Kurz überlegte er sich, dieses Balg wegzuschicken, doch dann dachte er an das Gespräch mit Meta und dachte, dass sie sich vielleicht freuen würde, sie zu sehen. Er ging zurück in sein Zimmer und spürte, wie Etienne ihm folgte. Meta saß auf einem Stuhl und sah verwirrt zu ihnen hinauf, „Etienne?“

„Hallo Meta! Wie geht es dir?“

„G-gut“, antwortete sie überrascht. Nachdem Gilgian sich am Morgen zu einem Treffen mit den Anderen geschleppt hatte, um über die Ereignisse der gestrigen Nacht in der Stadt zu sprechen, hatte er den ganzen Abend damit verbracht, sich mit Meta zu unterhalten. Gilgian war aufgefallen, dass es das erste Mal seit langem war. Eine ausnahmsweise gute Auswirkung von der gestrigen Wahnsinnstat der verrückten Neuen.

„Ich habe euch was zu Essen mitgebracht. Ich hoffe es schmeckt euch“, Etienne hob die weiße Tüte hoch und Gilgian nahm sie entgegen.

„Was willst du?“, fragte er dann.

„Nur meine Klassenkameraden besuchen“, sagte Etienne strahlend, „Ist daran etwas verkehrt?“

„Es ist unüblich“, erwiderte Gilgian und gab Meta ein Päckchen des Essens. Meta schaute zunächst ganz überfordert. Genauso wenig wie er, war auch sie jemals in dieser Position gewesen. Ein Besuch von jemandem Fremden. Für die längste Zeit waren sie nur untereinander gewesen und Gilgian hatte gedacht, dass das so passen würde. Doch nach ihrem Gespräch fragte er sich, ob das wirklich die richtige Einstellung für sie gewesen war.

Metas Lippen verzogen sich zu einem schüchternem Lächeln und ein Stich ging ihm durchs Herz. Er brauchte nicht viele Menschen in seinem Leben und er hatte gedacht, bei ihr wäre es genauso. Aber sie war wahrscheinlich einsamer, als er es wahrgenommen hatte.

Gilgian setzte sich auf sein Bett und beobachtete aus schmalen Augen, wie Etienne durch das große Zimmer ging und sich umsah. Bei dieser Neugierde wunderte es ihn nicht, dass sie geradewegs in das alte Haus der McClaines gegangen war. Das würde sie aber nicht noch einmal machen. Diesmal würde er nicht davon überrumpelt werden. Nach dem langen Gespräch mit Meta, war er sich sicher, dass Etienne gezielt auf sie zugegangen war. Und Meta hatte solch ein schlechtes Selbstwertgefühl, dass sie leicht zu überzeugen war, wenn man nur genug auf die Tränendrüse drücken würde. Das bedeutete nicht, dass sie unbedingt Mitleid mit den Menschen hatte. Sie wollte nur nützlich sein. Immerhin war das etwas, was er sicher über sie wusste.

„Das wundert mich irgendwie nicht“, sagte Etienne und riss ihn aus seinen Gedanken, „ihr seid alle nicht sonderlich hilfsbereit einander gegenüber.“

Sie trat an seinen Schreibtisch und betrachtete das Durcheinander aus Papieren. Gilgian ließ das Meiste die Menschen machen, die sich schon seit Jahren um das Provinz gekümmert hatten. Doch es gab leider noch immer Angelegenheiten, um die er sich nicht drücken konnte.

Soll sie nur schauen, dachte er dann. Es war nicht so, dass er Geheimnisse haben musste. Er hatte seinen Leuten gut genug demonstriert was passieren würde, wenn ihn jemand hintergehen würde. Und wenn dieses Balg die Herrschaft über alle Provinze übernehmen sollte, konnte sie sich schon mal mit den nervigen Angelegenheiten vertraut machen.

„Offensichtlich sind wir alle keine Freunde“, erwiderte er.

Sie schnaubte lächelnd, „Das habe ich gemerkt. Heute ist ein Halil in der Klasse aufgetaucht.“

Gilgian spürte, wie ein wütendes Gefühl sich in seiner Brust ausbreitete. Er war so sehr mit den anderen Problemen beschäftigt, dass er vergessen hatte, dass es auch noch diesen Ärger gab, welcher immer unterschwellig in der Schule lauerte.

„Oh nein“, höre er Meta besorgt sagen, „Wurde Anaki verletzt?“

Das fragte er sich auch. Er mochte Anaki nicht unbedingt, aber er wertschätzte ihn. Er war ein ruhiges Gleichgewicht in dieser nervenaufreibenden Klasse. Und er gab ihm nie das Gefühl, dass er ihn hinterrücks angreifen würde.

„Ja“, sagte Etienne, „Ich glaube seine Rippe wurde gebrochen. Aber ich bin mir nicht sicher. Nachdem ich ihn im Krankenzimmer abgeliefert habe, habe ich ihn nicht mehr gesehen.“

Gilgian knurrte, „Halil ist ein hinterhältiger Spinner. Er hat wahrscheinlich mitbekommen, dass keiner von uns da war. Wie ist Anaki so glimpflich davon gekommen?“

Sie hob die Hand und zog einen schwarzen Umschlag unter den Papieren hervor. Kurz sprang Gilgian der Gedanke durch den Kopf, wie dreist sie war. Bevor er das sagen konnte, ergriff sie jedoch das Wort, „Ich hab ihn mit Catjill erschreckt. Und dann sind Anaki und ich zur Krankenstation.“

Gilgian sagte für einen Moment nichts. Er blickte kurz zu Meta, welche mit einem schockierten Gesichtsausdruck zu Etienne sah. Sie war blass geworden und er konnte es verstehen. Dennoch, er selbst fing zu lächeln an.

„Du hast dich mit Halil angelegt?“, fragte Gilgian und Genugtuung breitete sich in ihm aus, „Ich glaube ich kann dir nun den gestrigen Tag verzeihen.“

Dann erinnerte er sich an Raffaels Gesichtsausdruck am Morgen, als er die Nachrichten auf seinem Handy gelesen hatte. Wie er kurz darauf seinen Kopf in die Hand gesenkt und mehrmals durchgeatmet hatte. Als er seinen Kopf wieder gehoben hatte, hatte Gilgian zum ersten Mal richtigen Frust in seinem Gesicht gesehen. Das war so überraschend, dass er neugierig geworden war und nun verstand er, worum es ging.

Etienne sah zu ihm und strahlte ihn dann an, „Darf ich das haben? Ich mag die Muster und sammle neuerdings besondere Umschläge.“

Sie hob den Umschlag und er konnte sich nicht weniger um ihn kümmern. Der kam sowieso von Außerhalb, nichts was ihn interessierte.

„Nur zu“, sagte er grinsend.

Sie steckte ihn schnell in ihren Rucksack und antwortete, „Wie kommt es, dass du dir bei Anaki Sorgen machst, während du dir bei mir regelrecht zu freuen scheinst?“

Gilgian widmete sich wieder dem Essen zu, „Du weißt wieso.“

„Etienne, du hast so viele Wunden von gestern mitgenommen. Selbst dein Bein scheint es abbekommen zu haben. Es ist eine furchtbare Idee, mit Halil zu kämpfen“, sagte Meta und ihre besorgte Stimme trübte Gilgians Freude. Säuerlich blickte er zu ihr und entdeckte die Sorge auf ihrem Gesicht.

Er sah wieder zu Etienne, welche zum Fenster ging. Es stimmte, sie hatte tatsächlich eine Bandage mehr gehabt, als am Vorabend. Ihr Bein war unten verbunden und er fragte sich, wieso ihm das nicht aufgefallen war.

„Oh, bitte sprich mich nicht auf meine Wunden an“, sagte sie seufzend, „Ich würde Tatinnes Behandlung gerne wieder vergessen.“

Sofort wanderten seine Gedanken wieder zu dieser alten Schachtel zurück. Es schauderte ihm.

Etienne öffnete die Vorhänge und sah hinaus. Nach einem kurzen Moment rief sie aus, „Wie cool! Von deinem Zimmer aus kann man zum Eingang des Hauses sehen. Und direkt nebenan ist der kleine Turm. Ich hab ihn von draußen gesehen. Die Aussicht muss fantastisch sein.“

Gilgian nahm wieder das Essen zu sich. Er wollte mit ihr nicht darüber reden. Das war ursprünglich das Haus seiner Eltern gewesen. Es war kleiner, als das von Meta, aber er fand es auf eine natürliche Art und Weise sicherer. Durch sein Zimmer konnte er in den Turm und entweder nach ganz oben oder nach unten zu einem weiteren, versteckten Ausgang gehen. Und er konnte immer sehen, wer sich zu seinem Haus bewegen wollte.

„Etienne“, sagte Meta, „Vielleicht solltest du das Provinz für eine Weile wechseln.“

„In meins kommst du nicht“, sagte Gilgian direkt. Meta warf ihm einen verärgerten Blick zu und er zuckte ihr grinsend mit den Schultern entgegen. Wenn es Meta wirklich wichtig wäre, dann würde er es erlauben.

„Nicht nötig“, sagte Etienne, „Das wäre aktuell für mich nicht tragbar.“

Gilgian sah Metas enttäuschtes Gesicht. Die Sorge war ihr noch immer anzusehen.

„Wieso bist du eigentlich hier“, fragte Gilgian und wechselte das Thema. Es war kein kurzer Weg von der Schule zu seinem Zuhause. Und da sie nicht sehr wohlhabend aussah, konnte sie nicht die wenigen Busse oder Pferde genutzt haben, um über die Hauptstraßen zu ihnen zu kommen. Wahrscheinlich war sie gelaufen. Oder eher gejoggt, wenn er die Uhrzeit bedachte.

Sie drehte sich mit einem entschuldigendem Lächeln zu ihnen um, „Ich habe gestern Abend noch mal einen kurzen Abstecher zu dem Haus gemacht.“

Gilgian spürte, wie die Wut sich in ihm regte. Sein Blick wanderte unweigerlich zu ihr und er war bereit, sie dafür zu bestrafen, dass sie sich in sein Revier und in seine Angelegenheiten weiter einmischte. Er spürte Metas Hand an seinem Oberarm und versuchte die Wut zu unterdrücken. Etienne sprach weiter, „Ich bin nicht reingegangen. Ich war nur unsicher wegen den ganzen Flüchen und der ganzen Magie des Geistes, die bei unserem Aufenthalt aufgewirbelt wurde, dass ich nur nachschauen wollte, ob das langfristige Auswirkungen hat.“

„Und was hast du festgestellt?“, fragte er knurrend. Er hatte mit Meta nur angeschnitten, was sie mit dem Haus machen wollten. Weiter waren sie nicht gekommen, als Etienne aufgetaucht war. Aber an erster Stelle sollte die Reinigung des Hauses von gefährlichen Wesen stattfinden. Er hatte sich schon lange nicht mehr wie ein kleines Kind gefühlt, als wie gestern, als Tatinne ihn wegen dem Crawling auseinander genommen hatte.

„Es ist alles sehr durcheinander. Ich habe meine Vermutungen, wie es dazu gekommen ist, kann aber nichts davon konkret bejahen oder verneinen. Es sieht aber so aus, als würden Flüche und Magie miteinander konkurrieren.“

„Das bedeutet?“, schnitt er ihr leise ins Wort, noch immer wütend.

Sie blinzelte kurz, legte den Kopf schief, als würde sie nachdenken und erklärte dann, „Jeder verfluchte Gegenstand und einige magische Gegenstände brauchen es, dass man sie auf eine bestimmte Art und Weise versiegelt. Wenn dies nicht passiert, dann fängt ihre Magie zu sickern an. Dabei steigt die Gefahr, dass sie mit anderen magischen Gegenständen interagieren kann. Und dein Onkel hat sehr viele von diesen im Haus. Sehr wahrscheinlich ist es gerade der Fall, dass die Magie der Gegenstände miteinander konkurrieren. Es kann gut passieren, dass manche Gegenstände ihre Magie dabei verlieren, andere könnten stärker werden.“

„Vorher war das nicht so. Wieso sollte es auf einmal verrückt spielen?“, fragte er und fühlte sich von ihr veräppelt.

Sie antwortete ihm, ohne sich beirren zu lassen, „Ich glaube nicht, dass es so war, dass sie nicht aktiv waren. Es war nur für eine Weile keiner da, um es zu beobachten. Das ist das eine. Das andere ist, dass dein Onkel sehr zielgerichtet am gestrigen Tag die Gegenstände aktiviert hatte. Wenn er eines davon erwischt hat, welches in sich besonders mächtig ist, dann kann es gut sein, dass die Magie, welche von ihm ausgeströmt wird, ausreicht, um die Siegel der anderen Gegenstände zu brechen. Das ist ab da an eine unkontrollierte Kettenreaktion.“

„Was genau bedeutet das für uns?“, fragte Meta. Gilgian legte sich die Finger an den Nasenrücken. Er wusste nicht viel über Magie, aber das hörte sich nach einem fürchterlichen Durcheinander an. Und es gab andere Dinge, um die er sich kümmern wollte.

„Nicht viel“, sagte Etienne unbekümmert, „Der Ort könnte für Menschen gefährlich werden. Wenn ihr also etwas aus dem Haus retten wollt, dann solltet ihr Catjill und mich um Hilfe bitten. Ich kann mit Catjill geschützt rein.“

„Ich habe kein Interesse an den Gegenständen in diesem Haus. Vielleicht sollten wir es einfach verbrennen?“, er sah fragend zu Meta. Sah das Zögern in ihren Augen. Das gab ihn Anlass, die Idee fürs erste zu verwerfen. Vielleicht könnte er sie später überzeugen.

„Dann lasst es einfach für ein paar Wochen ruhen. Drei Wochen sollten reichen. Um ganz sicher zu gehen, vielleicht so fünf“, sagte Etienne, „Bis dahin werden die Gegenstände untereinander ihren Kampf ausgetragen haben. Es werden einige übrig bleiben, die weiterhin ihre Flüche im Haus ausüben könnten. Dafür werdet ihr dann jemanden brauchen, der sie versiegelt. Ihr könntet jemanden aus Vheruna anfragen. Ein Priester oder ein Magori. Aber an sich sollte das weniger gefährlich sein, als wenn ihr es jetzt betreten würdet.“

„Nein“, sagte Gilgian. Weder das eine, noch das andere. So wie er es mitbekommen hatte, hatte sein Onkel einige beachtliche Sachen in diesem Haus. Wenn er einen Priester holen würde, würde ihm die Religion am Hals sitzen. Wenn es ein Magori wäre, dann wahrscheinlich die ganze Gesellschaft der Magiepraktizierenden. Vor allem beim letzteren könnten einige Familien auf sie aufmerksam werden und das wollte und würde er nicht riskieren.

Sein Blick fiel auf Etienne, „Wieso soll ich die Aufmerksamkeit von nervigen Individuen auf mich ziehen, wenn du diese Aufgabe genauso gut erledigen kannst?“, fragte er.

Sie zuckte mit den Schultern, „Wenn sich Zeit finden lässt.“

Ihm fiel auf, dass das keine eindeutige Antwort war. Er würde im Verlauf der Wochen jedoch dafür sorgen, dass sie eine eindeutige gab.

Kurz fragte er sich, ob sie, als Exorzistin, nicht ebenfalls den Priestern dieser nervigen neuen Religion Frage und Antwort stehen müsste. Dieser Job unterstand deren Aufsicht. Und dann fiel ihm ein, dass allein ihre Suche nach den Steinen dafür sorgen würde, dass sie die Geschehnisse im Haus weitergeben müsste. Seine Sorge stieg, als er sie dabei beobachtete, wie sie sich unbekümmert auf den Fenstersims setzte.

„Was Berichtest du deinen Vorgesetzten?“, fragte er sie. Sie sah ihn überrascht an und Verständnislosigkeit machte sich auf ihrem Gesicht breit. Er hob eine Braue und wartete ab, überrascht davon, dass jemand wie sie, der ständig etwas zu melden hatte, auf einmal schwieg. Dann blinzelte sie und er sah Verständnis in ihrem Gesicht, „Ah, du meinst die Zuständigen der Ekklea. Offensichtlich kann ich ihnen nichts berichten, da ihr keine Ekla in eurer Stadt habt. Wenn die früheren Herrscher denen erlaubt hättet, das heilige Gebäude zu bauen und Priester einzustellen, dann wäre das eine andere Sache. Die Levines hatten aber mächtig Probleme damit.“

„Was wirst du ihnen berichten?“, fragte Meta. Er mochte es nicht, seine Fragen zu wiederholen und war ihr dankbar, dass sie es für ihn übernommen hatte.

Etienne schweig für einen Moment, dann zuckte sie mit den Schultern, „Ich muss ihnen gar nichts berichten.“

Beide sahen sie verständnislos an. Etienne lächelte und führte aus, „Die Ekklea ist zwar zuständig für die Exorzisten, die meisten von ihnen werden jedoch von der Straße aufgelesen und in diesen Job geschmissen. Diejenigen, die eine gute Ausbildung genießen, bekommen einen anderen Job. Nicht, dass ich einen von denen haben wollen würde. Sie müssen sehr früh aufstehen. Die erste Gebetsstunde findet um sechs statt. Was mich daran erinnert, morgen muss ich auch früh aufstehen, früher als sonst. Seid ihr ab morgen wieder da?“

„Nein“, sagte Gilgian. Es störte ihn etwas. Er musste sich auf die Prüfungen vorbereiten. Sein Ziel war es immer noch, aus dieser Stadt zu verschwinden. Dafür brauchte er einen Titel, der ihm Möglichkeiten eröffnen würde. Er hatte bereits gute Rückmeldungen zu diversen Kampfsportarten bekommen. Aber er würde mehr brauchen.

„Zu schade“, sagte Etienne, „Ich habe gehört, dass du und Halil zu ähnlichen Zeiten die Turnhalle belegt. Ich hätte gehofft, du könntest mir etwas über seine Routine erzählen.“

Seine Grinsen kehrte zurück, „Du wirst schon sicherlich mit ihm klar kommen.“

Etienne lächelte zurück, „Vergiss dabei bitte nicht, dass wenn du willst, dass ich in ein paar Wochen dein Haus reinige, ich dafür unter Umständen unverletzt sein sollte.“

Er widmete sich wieder seinem Essen zu. Sie hatte recht. Aber das würde er nicht einfach so akzeptieren.

„Gilgian“, sagte Meta tadelnd.

„Wieso nimmst du die ganze Zeit ihre Seite ein?“, fragte er genervt.

Sie sah ihn verständnislos an, „Ich nehme nicht ihre Seite ein, aber es gibt auch kein Grund, dass du dich so benimmst. Sie hat gestern fürchterliches durchgemacht.“

Er sah aus dem Augenwinkel, wie Etienne bei dieser Aussage überrascht die Brauen hob. Das war einer der Gründe, weshalb es so sauer auf sie war. Meta gab sich schon immer die Schuld für die Dinge, die ihr Vater tat. Selbst wenn sie keine Schuld hatte. Es hat früh angefangen, als sie noch ein Kind war und es hat nie aufgehört. Und der gestrige Tag, hatte viele alte Wunden aufgerissen, die noch nie die Möglichkeit hatten, richtig zu heilen.

„Ich tendiere dazu meistens zu Hause zu trainieren. Eben weil ich sein Gesicht nicht sehen will. Oder eines der anderen Mitglieder. Aber er ist meistens morgens um sechs in der Turnhalle und macht seine Routine. Finde selbst heraus, wie gut er das kann“, sagte er und war nicht erfreut darüber, nachgegeben zu haben. Das Gewitter, dass draußen Einsetzte, bestärkte seinen Unmut.

9.

Etienne saß leise im Schatten der hintersten Ecke der obersten Reihe der Halle. Ihre dunkle Kleidung erlaubte es ihr, unentdeckt zu bleiben und die weißen Streifen der Uniform hatte sie mit einer dunklen, schicken Jacke bedeckt, welche Tatinne ihr ausgeliehen hatte. Gilgian hatte ihr am Vorabend den Tipp gegeben, nachdem sie und Meta ihn so lange genervt hatten, bis er sich zu etwas mehr hat hinreißen lassen, als ihr nur leeren Ermutigungen zu geben. Es war noch dunkel draußen und es fiel nur spärlich Licht in den Raum. Die Tage waren kürzer und grauer geworden. Und so gab ihr vor allem diese Ecke, welche in der Nähe einer Tür war, eine gute Deckung, um nicht von Halil entdeckt zu werden. Sie war durch die hinteren Gänge hineingekommen und hatte ihre warme Jacke vermisst. Die von Tatinne war hübsch, aber nicht sehr warm. Etienne hatte sich seltsam gefühlt, sie anzuziehen. Sie hatte noch nie eine schöne Jacke gehabt und manchmal war sie neidisch auf Tatinnes Kleiderschrank.

Etienne hatte Catjill bei Tatinne gelassen. Das würde sie für ein paar Tage so handhaben, einfach nur, damit er durch seine passive Magie etwas in Vergessenheit geriet. Sie hätte ihn gebrauchen können, um in die Halle zu kommen. Stattdessen hatte sie sich den Schlüsse des Hausmeisters besorgt. Nachdem sie die Tür geöffnet hatte, hat sie ihn anschließend unbemerkt zurück gegeben. Der Mann hatte geschlafen, war die ganze Nacht an der Schule gewesen. Auch diese Information hatte sie indirekt von Gilgian bekommen. Und nachdem sie sich ihren Platz herausgesucht hatte, hat sie gewartet. Ab und zu hatte sie Schritte an der Treppe hinter der Tür vernommen, welche jedoch nicht in die Halle gegangen sind. Das hatte sie dazu ermuntert, sich etwas weiter von der Tür wegzusetzen, damit sie nicht direkt entdeckt werden würde, wenn jemand sich doch dazu entschloss hineinzugehen. Nach einigen Minuten war Halil in die Halle getreten. Er hatte fürchterlich wütend ausgesehen. Sie hat ihn dabei beobachtet, wie er einige Matten ausgelegt hatte. Dann hatte sie ihm dabei zugeschaut, wie er sich aufgewärmt hatte. Seine Wut schien nach und nach verschwunden worden zu sein und nach dem Aufwärmen war er dazu übergegangen die Übungen durchzuführen, die er laut Gilgian scheinbar jeden Morgen übte.

Sie hatte am Vortag festgestellt, dass er versucht hatte sie abzufangen. Wie Scarlett es gesagt hatte, schien er es nicht gut zu heißen, dass sie sich zwischen ihm und Anaki gestellt hatte. Also hatte sie sich schnell dazu entschieden, dem Ganzen nach Möglichkeit ein schnelles Ende zu bereiten. Und dafür hatte sie sich zunächst vorgenommen herauszufinden, was er alles konnte und vor allem, was er nicht konnte. Er war, wie sie bereits wusste, sehr schnell. Etienne konnte auch die Kraft hinter seinen Tritten und Schlägen vermuten. Sie hatte aber auch schnell festgestellt, dass er sehr streng den Bewegungen folgte, die ihm beigebracht worden sind. Sobald er einen Fehler machte, wiederholte er die Bewegung mehrmals und fing dann mit seiner Routine von vorne an. Sie stellte die Vermutung auf, dass er nicht sehr kreativ war. Er würde vielleicht nicht flexibel auf Bewegungen außerhalb seines Können reagieren. Etienne fragte sich, ob er Figuren außerhalb seines Gebietes überhaupt kannte. Doch so verbissen er an einigen von denen zu arbeiten schien, die sie bereits auch schon kennengelernt hatte, glaubte sie das nicht. Etienne war bei weitem kein Experte in diesem Gebiet. Aber sie kannte sich gut genug darin aus, um herauszufinden, wie sie jemanden besiegen konnte, der stärker war als sie. Bei Halil sollte sie also keine Probleme haben.

Und desto mehr sie ihn dabei beobachtete, wie er schnell und gezielt, aber stumpf die gleichen Bewegungen immer und immer wieder durchführte, desto leichter fiel es ihr, weitere Schwächen auszumachen. Er war etwas schwächer auf seinem linken Bein. Sein Gleichgewicht war bei manchen Bewegungen nicht sicher. Er schlug besonders gerne mit der rechten Faust zu. Irgendwann hatte sie das Gefühl, sie würde seine ersten Schritte sehr gut zu kennen. Blieb abzuwarten wie er sich in einem Zweierkampf schlagen würde. Und nachdem eine Stunde vergangen war, sah sie weitere Mitglieder des Karateclubs die Halle beitreten. Sie unterhielt sich mit ihm und nun konnte Etienne eine andere Seite an ihm beobachten. Ihnen gegenüber war er nett. Hörte aufmerksam zu, wenn sie ihm etwas sagten. Als sie miteinander trainierten, nahm er sich die Zeit ihnen zu helfen, ihre Stellungen zu korrigieren. Er benahm sich ihnen gegenüber professionell. Als er dann anschließend an einem Zweierkampf teilnahm, konnte Etienne zufrieden feststellen, dass auch hier seine Bewegungen vorhersehend waren. Er war etwas dynamischer als bei seiner Routine. Doch auch hier verwendete er nur eine Handvoll von verschiedenen Angriffen, die sie alle bereits kannte.

Sie hörte weitere Schritte durch die Gänge hinter ihr. Menschen trudelten in die Schule ein. Einmal trat jemand durch die Tür und Etienne entdeckte ein paar Mädchen, welche sich nach ganz vorne setzten und das Training beobachteten. Perfekt für sie, denn sie würden die Aufmerksamkeit auf sich lenken und somit weg von Etienne. Etienne vernahm, wie Halil sie grüßte und sie kicherten.

Eine halbe Stunde vor Unterrichtsbeginn, verschwanden sie alle durch die Tür, welche aus der Halle führte und Etienne rührte sich nicht, als die Mädchen durch dieselbe Tür verschwanden, durch die Etienne gekommen war. Sie merkten sie nicht.

Sie blieb noch etwas sitzen. Nahm sich Zeit, bevor sie in ihre Klassen gehen würde. Bis dahin überlegte sie sich, wie sie ihm für heute am besten aus dem Weg gehen sollte. Am Abend würde er noch mal trainieren. Sie würde erneut die Schatten dieser Ecke nutzen, um ihm dabei zuzuschauen. Und morgen früh, wenn keiner da wäre, würde sie ihn konfrontieren und ihm eine Wette vorschlagen. So arrogant wie er schien, würde er sie sicherlich annehmen. Das wäre die beste Möglichkeit dafür zu sorgen, dass er ihr vom Hals blieb, damit sie in Ruhe den Kontakt zu Meng und Elias suchen konnte.

Sie schloss die Augen und sortierte in ihrem Kopf das Wissen, dass sie über Halils Fähigkeiten erlangt hatte. Sie vernahm noch mehr Schritte. Hörte Geräusche von der Halle zu ihr empor dringen und öffnete leicht die Augen. Ein Mann putzte den Boden der Halle. Sie schloss sie wieder und dachte weiter nach. Was wäre der beste Wetteinsatz? Sie könnte sich wünschen, dass er sie für die Dauer ihres Aufenthalts in Ruhe ließ. Aber sie würde etwas höher setzen. Niemals würde er erwarten, dass sie ihn besiegen würde. Sie hatte ihren Djinn genutzt, um sich zu schützen und dieser hatte Eindruck hinterlassen. Hinter ihm sah sie aus, wie ein schmähliches kleines Mädchen. Also sollte sie sich etwas mehr herausnehmen. Sie könnte sich überlegen, ob es Informationen gab, die sie von ihm bekommen könnte. Aber so, wie die Beziehung zwischen ihm und den anderen Mitschülern schien, glaubte sie nicht, dass er ihr etwas geben könnte.

Die Schritte, die sie vernahm, endeten vor der Tür und Etienne drückte sich wieder tiefer in den Sitz, als die Tür geöffnet wurde und wieder ins Schloss fiel. Ihre Gedanken wanderten zu Anaki. Sie unterdrückte ein Seufzen. Es war offensichtlich, nach was sie fragen sollte.

„Na wenn du nicht aussieht, als würdest du eine Lebenskrise durchmachen. Bist du nicht zu alt für einsame Momente in der Dunkelheit?“

Ihr Kopf fuhr herum und sie sah Raffael, welcher auf sie zuging. Sie konnte es nicht fassen, dass er hier war. War er wegen ihr hier? Und wenn ja, woher wusste er, wo er sie zu finden hatte?

Er hob eine Braue, während er sich eine Reihe unter ihr setzte und seinen Rucksack auf den Boden warf, „Das ist ein neuer Gesichtsausdruck. Was überrascht dich so?“

Sie sah ihn einen Moment sprachlos an. Wann immer sie überrascht wurde, weiteten sich ihre Sinne und ihr Kopf fing an, Informationen sehr schnell zu verarbeiten. Besonders hilfreich, wenn sie in gefährlichen Situationen war. Sie war sich nicht sicher, ob das eine war, denn während sie sich in ihrer ruhigen Dunkelheit sicher gefühlt hatte, war er auf einmal aufgetaucht.

Etienne stellte fest, dass er dunkle Ringe unter den Augen hatte. Er sah sehr müde aus und sie konnte sich gut vorstellen, dass er seit ihrem Abenteuer in der Villa nicht viel Ruhe bekommen hatte. Seine Jacke war etwas nass. Wahrscheinlich nieselte es draußen.

„Was machst du hier?“, fragte sie ihn und ihre Stimme hörte sich zum Glück ruhiger an, als sie sich fühlte. Sollte er reden, während sie sich von der Überraschung erholte und sich überlegte, wie sie sich am besten diesem Gespräch stellen sollte.

Er sah sie prüfend an und dann breitete sich ein verstehendes Lächeln in seinem müden Gesicht aus. Anscheinend schien er Gefallen daran gefunden zu haben, sie vom Kopf zu stoßen.

„Ich hab vermutet, dass ich dich hier finde“, sagte er. Sie wartete ab, dass er weiter redete, doch er sagte nichts. Er erklärte ihr nicht, wie er auf diese Schlussfolgerung gekommen war. Oder was genau er davon hielt, dass das Erste, was sie am nächsten Tag nach ihrem Gespräch getan hatte, es war sich mit jemanden anzulegen. Sie starrten sich an, bis sie schließlich nachgab und das Wort ergriff, „Muss ich noch mehr Fragen stellen, um eine verständliche Antwort zu bekommen?“

„Versuchs. Vielleicht beantworte ich ein paar. Oder auch nicht. Mir ist gerade nicht wirklich danach, Fragen zu beantworten.“

Sie hörte einen wütenden Unterton in seiner Stimme. Es hörte sich beinahe schon bedrohlich an. Und aus einem ihr unbekannten Grund, fühlte sie sich tatsächlich unwohl. Sie unterdrückte das Bedürfnis, sich unter seinem Blick nervös zu winden. Bei O’Donnel hatte sie sich nicht so gefühlt.

„Dann sollten wir besser zurück in die Klasse“, sagte sie und versuchte durch ein Lächeln zu überdecken, dass sie sich eingeschüchtert fühlte. Und die beste Art und Weise dieser Situation zu entkommen, war es nicht mehr allein mit ihm zu sein.

„Cruz hat die ersten Stunden heute. Und er ist morgens nie da. Außer er muss“, sagte er, „Von unserer ganzen Klasse, bist du aktuell alleine da. Leichte Beute für Halil.“

Sie behielt ihr Lächeln aufrecht, als er mit solch einer Betonung den letzten Satz sagte, dass sie sich allein dadurch von Halil bedroht fühlte.

„Dann werde ich mich wohl auch verabschieden. Etwas Ruhe würde mir bei den furchtbaren Wunden guttun, die ich nach der Villa erhalten habe.“

Er verschränkte die Arme über die Lehne, „Das kann ich mir vorstellen. Muss furchtbar wehtun, oder?“

Sie nickte, „Fürchterlich.“

„Dann sollten wir wohl zur Krankenstation. Sie könnten sich noch mal alles anschauen und sichergehen, dass nichts übersehen wurde.“

Sie starrte ihn an und er erwiderte abwartend ihren Blick. Dann lächelte er, „Nur zu. Was hast du noch zu bieten? Ich haben den ganzen Tag Zeit.“

Sie lächelte ihm entgegen und sagte nichts. Verflucht sei er und sie auch, weil sie sich wirklich von ihm in die Ecke drängen ließ. Sie könnte einfach aufstehen und gehen, aber sie hatte nicht das Gefühl, dass sie damit durchkommen würde. Auch diese Gefühle überforderten sie, denn bis vor zwei Tagen, hätte sie nicht viel auf seine Wut gegeben.

„Was willst du von mir“, fragte sie dann säuerlich und verschränkte die Arme vor der Brust.

Er hob belustigt eine Braue, „Was, sind wir schon fertig? Keine Fluchtversuche mehr?“

Sie hob das Kinn, während sie ihn trotzig ansah, und weigerte sich, ihm darauf eine Antwort zu geben. Wenn er sie den ganzen Morgen über schweigend anstarren wollte, nur zu. Sie würde sich schon zu beschäftigen wissen.

Er nahm sich noch einen Moment und es schien ihr, als wollte er sie länger in ihrer Unruhe winden lassen. Dann sprach er und sie hörte wieder die Wut in seiner Stimme, „Ich weiß ehrlich gesagt nicht, wo ich anfangen soll.“

Sie lehnte sich lächelnd nach vorne und probierte es noch mal, „Dann lass es uns einfach vergessen und es für heute sein lassen.“

Diesmal erwiderte er ihr Lächeln nicht. Er sah sie einen Moment genervt an und sagte dann wütend, „Ich habe dir genau zwei Ratschläge gegeben und es hat nicht mal einen Morgen gebraucht, bis du gegen beide gehandelt hast. Obwohl du mir dein Wort gegeben hast.“

Sie lehnte sich zurück in ihren Sitz und wandte den Blick ab.

„Ich hab gesagt ich gebe mein Bestes, nicht mein Wort“, dann zögerte sie und sah wieder zu ihm, „Was meinst du mit zwei?“

Sie bereute es direkt, als sie sein grimmiges Gesicht sah. Die Müdigkeit ließ ihn noch düsterer aussehen.

„Wieso musstest du dich mit der einzigen Lehrerin anlegen, welche es sich zur leidenschaftlichen Aufgabe machen wird, dich aus der Klasse zu werfen?“

Für einen Moment verstand sie nicht, was er meinte. Dann erinnerte sie sich an das andere Gespräch mit ihm und all die Informationen, die er ihr über O’Donnel gegeben hatte.

„Wieso geht es jetzt darum?“, fragte sie verständnislos, „Wolltest du dich nicht über Halil beschweren? Was nebenbei nicht meine Schuld ist.“

„Keine Sorge, darüber reden wir gleich noch“, sagte er, „Aber dir sollte doch eigentlich bewusst sein, wie dumm das war. Und das aus mehreren Gründen. Wieso musstest du sie so unnötig provozieren?“

Etienne weigerte sich, bei dieser Frau auch nur einen Moment nachzugeben, „Dann soll sie nicht so mit mir sprechen.“

Er gab ein lachendes Schnauben von sich, „Und? Ist das der einzige Grund? Eine einzige gute Leistung hätte gereicht, damit sie nachsichtiger mit dir wäre. Aber du sprengst das komplett. Was hast du jetzt damit gewonnen?“

„Lass mich dich daran erinnern, dass der einzige Grund, weshalb ich überhaupt an dieser Schule bin, der ist, dass du mich bestohlen hast“, verteidigte sie sich, „Mir ist es herzlichst egal, ob ich heruntergestuft werde oder nicht. Denn ich habe nicht vor, hier zu bleiben.“

Sie merkte, wie sein Kiefer sich anspannte, „Gut. Sagen wir, es ist egal, ob du dir O’Donnel zum Feind machst oder nicht. Aber ist dir klar, dass wenn sie dich herunterstufen lässt, du niemanden in der Klasse haben wirst, der Halil davon abhält, dir einen Besuch abzustatten? Der einzige Grund weshalb er gestern aufgetaucht war, war der, dass jeder von den Provinzherrschern nicht anwesend war. Und nun hast du ihn dir nicht nur zum Feind gemacht, sondern auch dafür gesorgt, dass er sich bald leichter mit dir anlegen kann. Hast du so weit nachgedacht?“

„Zu dem Zeitpunkt war mir nicht bewusst, dass ein Halil zum Problem werden könnte“, sagte sie. Aber selbst nach dem Konflikt hatte sie diese Möglichkeit nicht betrachtet. Sie hatte nur daran gedacht, wie sie weiterhin den leichtesten Kontakt zu Elias und Meng schaffen konnte. Nichtsdestotrotz. Nur weil ihr diese Option entfallen war, hieß es nicht, dass es dazu kommen würde. Das Problem mit Halil würde bald gelöst werden.

Er seufzte schwer und rieb sich mit der Hand die Augen, „Ganz ehrlich. Du suchst dir den Ärger doch freiwillig aus. Was ist es? Ein tief verankertes Bedürfnis nach Lebensgefahr?“

„Das stimmt nicht“, sagte sie empört, „Außerdem habe ich bisher alles wunderbar lösen können.“

Er hob eine Braue und sah sie herausfordernd an, „Ah ja? Als ich dich im Château de la Fortune getroffen habe, hattest du nicht mal einen Fluchtplan. Und in der Villa der McClains wusstest du nicht mal, was auf dich dort wartet. Und nun das.“

„Ich bin in beiden Fällen perfekt klar gekommen“, sagte sie stur und versuchte ihre Unruhe zu überdecken, versuchte, ihr Gesicht wieder in den Griff zu bekommen.

„Und das soll ich dir glauben?“

Sie grinste, „Du musst nicht. Aber du kannst. Immerhin bin ich noch am Leben. Und das mit Halil wird auch kein Problem darstellen.“

Sie sah ihm im Gesicht an, dass er wenig von ihren Worten hielt. Bis zu einem gewissen Punkt konnte sie es ihm nicht verübeln, denn die Einwände waren nicht vollkommen haltlos. Im Château wollte sie nicht ihre Fähigkeiten nicht vor einem Publikum zur Schau stellen. Und sie hatte nicht so viel Wissen über den Ort zur Verfügung gehabt, wie er. Und bei der Villa der McClains hatte sie eindeutig zu voreilig gehandelt. Und auch wenn das nicht ihre Glanzmomente waren, sie hatte bekommen was sie wollte und es hatte keine Tote gegeben. Das war nach ihrer Definition eindeutig erfolgreich.

„Ausgerechnet mit Halil“, sagte er leise und fuhr dann in einer ruhigen Tonlage, „Du hast gesagt, es ist nicht deine Schuld. Erzähle mir was passiert ist. Vielleicht kann ich was finden, um ihn dir vom Hals zu halten.“

Sie zögerte. Das hätte sie nicht sagen sollen. Er blickte wieder misstrauisch zu ihr und sie spürte, wie sie die Unruhe erneut packte, „War es deine Schuld oder nicht?“

„Er ist in Catjill gelaufen, der nur seine Aufgabe mir gegenüber erfüllt und mich beschützt hat“, sagte sie.

„Wie ist er gegen ihn gelaufen?“

Sie verschränkte die Arme und sah weg, „Ich stand zufällig zur falschen Zeit am falschen Ort.“

„Ah, war es zufällig zwischen Halil und Anaki?“

„Unter Umständen“, bestätigte sie säuerlich. Er würde wieder wütend werden. Sie wollte das nicht, machte sich jedoch innerlich darauf bereit.

„Und wie bist du dahin gekommen?“, fragte er und sie hörte seiner Stimme an, dass diese Frage überflüssig war. Er wusste es und wollte nur noch bestätigt haben, dass sie sich aktiv eingemischt hat.

Sie fuhr zu ihm herum und sie sah trotzig in sein Gesicht. Seine Augenringe stachen heraus und seine Mundwinkel waren heruntergezogen. Er sah nicht aus, als wäre er wütend, eher resigniert.

„Hast du nicht deine zwei kleine Untergebene, die dir sowieso schon alles berichtet haben.“

„Ich lasse dich nicht überwachen“, sagte er empört, „Und das sind auch nicht meine Untergeben, das sind meine Freunde.“

Sie zuckte mit den Schultern, „Du bist Herrscher, da hat man keine Freunde.“

Als er ihr nicht direkt etwas daraufhin erwiderte, bereute sie ihre Worte. Sie beobachtete wie sein Gesichtsausdruck sich wandelte. Von Überraschung zur Nachdenklichkeit, bis hin zu einem Verstehen, von dem sie sich sicher war, dass es auf Grundlage falscher Schlüsse zustande kam.

„Ist es das was du übers Herrschen denkst? Denn ich kann dir versichern, dass es sicherlich nicht der Fall ist.“

Sie verdrehte die Augen, „Oh bitte. Interpretiere nicht zu viel in diese Aussage hinein. Mal abgesehen davon, woher sonst weißt du das alles, wenn dir nicht alles direkt erzählt wird?“

„Das mit Halil ging mittlerweile durch die ganze Schule. Dafür muss mir niemand was erzählen. Keyen hat mich aber vorgewarnt. Und Scarlett hat es sich nicht nehmen lassen, sich über O’Donnel auszulassen. Sie fand die Situation zu komisch.“

„Hört sich nach Überwachen an“, meinte Etienne trocken. Angriff war die beste Verteidigung. Vielleicht würde er ja ablassen.

Doch Raffael verdrehte nur die Augen, „Wenn du Sachen machst, die jeder mitbekommt, dann brauchst du dich nicht zu wundern, wenn das auch jeder hört.“

„Ich weiß ja nicht…“, meinte sie und stand auf, „Ich muss da mal in Ruhe darüber nachdenken.“

Er packte ihr Handgelenk und sah sie eindringlich an. Sie gab sich Mühe, nicht eingeschüchtert zu sein. Es funktionierte nicht wirklich und sie wusste nicht, woran das lag. Vielleicht an dieser dunklen Ecke.

„Lass uns fertig reden“, sagte er ruhig und ließ sie los, als sie sich nach kurzem Zögern wieder setzte. Sie verschränkte die Arme wieder vor der Brust, sah ihn diesmal aber auffordernd an. Was auch immer noch kommen sollte, sie würde das einfach anhören und sich vorerst fügen. So hatte sie das früher immer gemacht und die Situation ging am schnellsten vorbei, wenn sie sich nicht wehrte.

Nach einem Moment des Schweigens wandte er den Blick ab und seufzte wieder. Sie hörte das Klingeln der Schulglocke. Er machte keine Anstalt aufzustehen und sie vermutete, dass das mit Cruz stimmen musste. Was bedeutete, dass wenn sie ihn nicht bald loswerden würde, sie ihn für die nächsten Stunden am Hals hätte.

Als er wieder zu ihr sah, war keine Wut mehr in seinem Blick zu sehen. Er rieb sich erneut über die Augen und sah ihr dann direkt in die Augen, „Unabhängig von dem, was wir untereinander ausgemacht haben. Danke, dass du Anaki geholfen hast. Ich hätte wissen müssen, dass das passiert und mir vorher etwas überlegen sollen. Die Situation ist teilweise meine Schuld.“

Ungläubigkeit bereitete sich in ihr aus und dann folgte dieser der Ärger, „Was genau willst du eigentlich? Du bist sauer, weil ich mich eingemischt habe und bedankst dich dann dafür. Was soll ich damit anfangen?“

Ein müdes Lächeln breitete sich in seinem Gesicht aus und er legte dann seinen Kopf in die Arme, „Aktuell will ich nur etwas schlafen. Was bis heute Abend wohl nicht passieren wird. Was dich angeht: Wie hast du vor mit Halil umzugehen?“

Sie blickte seine braunen Haare an. Erst vor einigen Minuten hatte er herausgefunden wo sie war und sich beinahe an sie angeschlichen. Und im nächsten Moment zeigte er eine solch wehrlose Seite und es war, als wäre der Ärger vergessen. Sie wusste nicht, was sie mit dieser Dynamik umgehen sollte. Wichtiger wäre jedoch herauszufinden, ob er ihr das Ganze später noch vorhalten würde. Welches Nachspiel würde die Situation haben und wie würde er es gegen sie auslegen?

„Ich bekomme das schon hin“, sagte sie.

„Hoffentlich nicht wieder überstürzt.“

„Was meinst du, wieso ich hier im Dunkeln sitze.“

Er sah hoch und grinste sie an, „Lebenskrise.“

„Definitiv nicht davon“, sagte sie schnaubend und wechselte dann das Thema, „Du redest wirres Zeug. Vielleicht solltest du nach Hause gehen.“

„Nein“, sagte er sofort und legte den Kopf wieder in die Arme, „Zuerst finden wir eine Lösung auf das Problem. Und bis dahin schauen wir, dass Halil dir fernbleibt.“

Sie lachte zum ersten Mal an diesem Morgen, „Hast du dich mal angesehen? Was willst du heute leisten können?“

„Meine Anwesenheit wird schon reichen“, sagte er, „Auch wenn Halil das vielleicht anfechten wird. Bleib einfach den Tag über in meiner Nähe und er wird ruhig verlaufen. Du hast sowieso Aufgaben für den Unterricht zu erledigen. Ich werde dich nicht stören.“

Sie seufzte und legte den Kopf in den Nacken, „Nur so lange kein Unterricht stattfindet. In der Klasse lässt du mich in Ruhe.“

Er lachte, „Einverstanden.“

Draußen hörte sie noch immer ab und zu Schritte. Mittlerweile sollten aber alle in den Klassen sein, somit schloss Etienne, dass es Mitarbeiter der Schule sein mussten. Oder weitere Schüler, die den Unterricht nicht besuchten. Sie blickte zu der Halle und sah wieder den Mann, welcher dabei war seine Sachen zu packen. Vielleicht hatte er mitbekommen, dass sie hier waren. Das Gespräch war sicherlich nicht zu überhören gewesen. Doch nun war es still. Sie sah wieder zu Raffael, der sich kaum rührte. Etienne beobachtete ihn einen Moment, merkte, wie sich seine Schultern leicht hoben und sanken.

Dann stand sie leise auf und nahm ihre Tasche. Sicherlich würde er es ihr verzeihen, wenn sie sich jetzt wieder um ihr kleines Problem kümmern würde. Und er war so müde. Bestimmt war es besser, wenn sie ihn in Ruhe ließ. Dann zögerte sie. Er würde wütend werden, wenn sie ihm schon wieder das eine sagte und dann das andere tat. Doch dann zwang sie sich dazu, sich wieder zusammen zu reißen. Sie vertraute ihm nicht. Und sie war ihm nichts schuldig. Erst recht keine Aufrichtigkeit, immerhin hatte er sie beklaut. Also würde sie jetzt gehen und sich später überlegen, wie sie sich bei ihm entschuldigen würde. Und wenn sie das Problem lösen würde, bevor sie wieder auf Raffael traf, dann würde er sicherlich nicht so sauer werden.

Sie drehte sich herum und war bereit zu gehen und musste dann schon wieder innehalten. Sie erinnerte sich daran, was er über Angriffe auf Provinzherrscher gesagt hatte. Wenn sie ihn hier schlafend allein lassen würde, dann gab es keine Garantie dafür, dass er aufwacht, wenn ihn jemand schlafend und allein entdecken würde. Sie fühlte sich zwiegespalten und während sie versuchte herauszufinden, was sie tun sollte, passierten auf einmal mehrere Sachen auf einmal. Zunächst hörte sie einen lauten Knall von Holz aus der Halle heraus, gefolgt von einem Fluch, der durch den ganzen Raum hallte. Zu gleichem Moment wie sie zusammenzuckte, merkte sie auch, wie Raffael den Kopf ruckartig hochhob und erschrocken zu ihr blickte. Sofort packte er sie erneut an der Hand und blinzelte sie verschlafen an. Etienne warf dem Mann, welcher seinen Besen fluchend aufhob, einen bösen Blick zu. Dann schielte sie zu Raffael, welcher immer noch nicht die Situation erfasst hatte.

„Ich musste mir nur kurz die Beine vertreten.“

Er blinzelte ein paar Mal und sah sie weiterhin verständnislos an.

Die Tür wurde aufgerissen und sie blickten beide zu den zwei Menschen, welche hineintreten wollten. Auch diese entdeckten sie direkt und eine von ihnen schnappte nach Luft und zog den anderen wieder hinaus. Die Tür fiel wieder zu und Etienne vernahm von der anderen Seite die aufgeregte Stimme, welche sich geschwind wieder entfernte. Sie hatte jedoch noch mithören können, wie das junge Mädchen etwas von Raffael und seinem neuen Skandal erzählte. Langsam sah sie wieder zu ihm. Sie konnte sich schon denken, was das bedeuten würde. So viel zum Thema, in seiner Nähe zu bleiben.

Raffael starrte noch immer zur Tür. Er schien etwas langsam das Geschehene zu verarbeiten und Etienne konnte beobachten, wie ihm von dem einen Moment auf den anderen klar wurde. Er sprang auf und machte Anstalt ihnen zu folgen, was Etienne nicht gutheißen konnte.

„Stopp“, rief sie aus und diesmal packte sie seine Hand fester, bevor er sie loslassen konnte, „Was hast du vor?“

Er sah zu ihr und versuchte sich loszumachen, „Ich kann sie noch einholen, bevor sie zu Bianca oder Dia geht und sie anfangen Gerüchte zu streuen und uns zu belästigen. Ich brauche nur einen Moment.“

„Auf gar keinen Fall“, sagte Etienne, „Wenn du sie jetzt versuchst aufzuhalten, wird es sie nur in dem bestätigen, was sie sich ausmalt. Und dann wird das nur schlimmer.“

Etienne hatte es schon mal mitbekommen, wie Gerüchte dazu genutzt wurden, um gezielt einzelne Personen unter Druck zu setzen. Desto ungeschickter sie sich wehrten, desto schlimmer wurden sie gegen sie genutzt. Und bei solch einem Fall wäre es einfacher zu zeigen, dass sie falsch lagen und sich der Tratsch von alleine als unwahr herausstellte. Sie würden sowieso schnell gelangweilt werden, wenn es keine Reaktion gäbe.

Raffael sah sie prüfend an. Dann ging sein Blick wieder zu der Tür und sie konnte sehen, wie unentschlossen er war.

„Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist. Bist du sicher, dass du das so willst?“, fragte er dann nach, „Denn sie sind nicht sehr zimperlich, wenn sie erst loslegen.“

Sein Griff wurde so fest, dass es wehtat und die Sorge war ihm ins Gesicht geschrieben.

Sie setzte sich wieder hin und zog ihre Hand zurück, „Ja. Alles andere würde es nur zu dramatisch machen.“

Er seufzte schwer, schwerer als sonst und legte sich nach einem letzten kurzen Zögern in die Sitze, „Das wird anstrengend.“

Etienne konnte sich nicht vorstellen, dass es so schlimm werden würde. Aber er hingegen schien überhaupt nicht glücklich zu sein.

„Für dich oder für mich?“, fragte sie.

Er schwieg einen Moment und dann hörte sie noch ein Seufzen, „Das hängt davon ab, wie du mit Gerüchten klarkommst.“

„Sie werden keinen Einfluss auf mein Leben haben. Stören sie dich?“

„Meistens nicht“, sagte er säuerlich. Etwas an der Art, wie er ihr die Fragen beantwortete, ließ sie aufhorchen. Es war, als läge dort keine richtige Antwort drin. Irgendwas schien ihm zu schaffen zu machen. Aber sie hörte keine Lüge heraus, also waren das schon mal nicht die Gerüchte.

„Wer war das?“, fragte sie.

„Das war Mallory. Sie ist erst in der Neunten, du solltest sie also eigentlich kaum sehen, außer sie ist mit Bianca unterwegs. Was sehr häufig passiert. Sie verehrt sie regelrecht.“

Seine Stimme hörte sich ernüchternd an. Und auf einmal kam ihr der Gedanke, dass die Situation vielleicht für ihn belastender war, als für sie. Sie wusste nichts über seine Dynamik mit den anderen Schülern außerhalb ihrer Klasse. Aber er war sehr zugänglich und ging auch auf andere zu. Wahrscheinlich kannte er viele. Tatinne hatte ihr erzählt, dass er sehr beliebt in seiner Provinz war. Sie hatte ihr auch erzählt, dass viele Geschichten über ihn mit anderen Frauen herumgingen und er sie teilweise mit Absicht zu beflügeln schien, bis das vor einigen Monaten schlagartig etwas ruhiger wurde. Doch seine Reaktion machte es ihr schwer, das zu glauben. Für jemanden der sich in dem Image des geliebten Provinzherrschers zu sonnen schien, war das nicht das, was sie erwartet hätte. Eher, dass er einen schlechten Witz reißen würde und die Annahme der jungen Frau umso eher bestätigen würde, nur um Etienne zu ärgern.

Sie lehnte sich über die Rücklehne und sah zu ihm. Er starrte die Decke an und schien in Gedanken zu sein.

„Hey“, sagte sie und seine Augen wanderten zu ihr. Sie wollte ihn fragen, was genau ihm zu schaffen machte. Dann huschte ihr der Gedanke durch den Kopf, dass es sie eigentlich nichts anging, „Egal.“

„Was ist?“, fragte er nach.

„Geht weiter schlafen“, sagte sie und lehnte sich zurück in ihren Sitz.

„Jetzt wo du das ansprichst“, sagte er langsam, „Du hast vorhin versucht mich hier sitzen zu lassen, nicht?“

„Ich weiß nicht was du meinst und ich muss jetzt wichtigere Sachen machen“, sagte sie und holte das Buch heraus, dass Warlen ihr empfohlen hatte. Ihr wäre es lieber, er würde das glauben, als dass er herausfinden würde, dass sie kurz davor war, ihn doch nicht sitzen zu lassen.

Er lachte und richtete sich wieder auf, bedachte, was sie tat und fragte, „Soll ich dir dabei helfen?“

Warlen hatte Etienne am Vortag aufgefunden, bevor die Schule geendet hatte und ihr eine Projektaufgabe und zwei Bücher gegeben, an welchen sie arbeiten sollte. Dies würde ihr die besten Chancen geben, eine gute Note zu bekommen und auch wenn Etienne diese nicht brauchte, ihr Ehrgeiz war geweckt und sie wollte die bestmögliche Leistung erbringen. Und es gab ihr eine gute Ablenkung, sich nicht mit seiner Frage zu beschäftigen.

„Nein“, sagte sie setzte sich gemütlicher hin, „Ich bekomme das schon hin.“

 

Er hatte sie in Ruhe ihre Aufgaben machen lassen, wie er es ihr gesagt hatte. Aber er war nicht wieder eingeschlafen. Stattdessen hatte er eigene Bücher gelesen. Bevor es zur nächsten Pause klingelte, hatte er ihr vorgeschlagen, in die Bibliothek zu gehen. Als sie ihn nach dem Grund fragte, hatte er ihr gesagt, dass höchst wahrscheinlich nun einige Leute wussten, dass sie hier waren und er vermeiden wollte, dass die nervigen es ausnutzen. Damit hatte er explizit Halil gemeint, dennoch drangen sich weitere Namen in seinen Kopf, mit welchen er sich in seinem jetzigen Zustand nicht befassen wollte. Er wusste aber, dass er es unweigerlich tun musste.

Zu seiner Überraschung war Etienne ihm ohne Widerstand durch die Flure gefolgt. Er hatte ihr einen Sitzplatz in den oberen Reihen der Bibliothek gezeigt, von wo der ganze innere Bereich gesehen werden konnte. Und auch dieser Ort war im Schatten der Regale versteckt. Er hatte ihr erzählt, dass er hier immer hinging, wenn er seine Ruhe haben wollte und auch wenn es ihm widerstrebte, ihr sein Versteck zu zeigen, so hatte er das Gefühl, dass sie das nicht herumerzählen würde. Und es war ein ausgezeichnetes Versteck. Es gab mehrere Wege dorthin und alle waren klar zu sehen. Weiterhin hatte man einen Blick auf die zwei Eingangsbereiche. Sie würden niemanden übersehen, der versuchen würde zu ihnen zu kommen. Keiner würde sich an sie anschleichen können und wenn sie jemand entdecken sollten, dann gab es genug Fluchtwege, die sie nutzen konnten. Er fühlte sich fast schon wieder so, wie vor ein paar Jahren, wo er sich Leichtsinnigkeit erlauben konnte.

Es hatte geklingelt, als sie die Bibliothek betreten hatten und er konnte davon ausgehen, dass sie wahrscheinlich weiterhin die letzten Besucher für die Pause wären.

„Ich bin ehrlich, es scheint mir zu gut um wahr zu sein, als dass es einfach so zufällig konstruiert wurde“, sagte sie.

„Den hat Dustin heimlich gemacht. Adelle weiß auch davon“, antwortete er ihr. Dustin hatte sich seiner angenommen, als er an die Schule gekommen war. Sie hatten nur ein Jahr gemeinsam hier verbracht, aber er hatte ihm alles gezeigt, was wichtig war. Das war noch lange bevor er zum Provinzherrscher wurde.

„Ich weiß nicht, wer Dustin ist“, sagte sie trocken und er musste lächeln. Es lag nicht in seinem Interesse sie zu überfordern, zeitgleich wünschte er sich aber, dass sie schnell sich an alles gewöhnen würde. Es würde ihn noch einige Überzeugungsarbeit kosten, sie in der Stadt zu behalten, aber er hatte schon eine Idee, wie er es am morgigen Abend anfangen würde.

„Er ist ein Alumni dieser Schule. Ich hab ihn gestern erst wiedergesehen. Seine Leistungen waren extrem gut, er hätte überall hin gekonnt. Aber er ist in Calisteo geblieben und leitet eine Sicherheitsabteilung in meinem Provinz.“

„Ermittelt er wegen der Explosion?“, fragte Etienne und es überraschte ihn nicht, dass sie es mitbekommen hatte. Am Vortag hatte er sich gesorgt, ob sie mit ihrem Djinn in der Nähe war. War aber erleichtert gewesen von Scarlett zu hören, dass dem wohl nicht so war. Es gab einige Verletzte, zum Glück aber keine Tote.

„Ja“, sagte Raffael, „Er ist die beste Person dafür. Mal abgesehen davon, dass er seine Arbeit sehr gut macht, ist er charismatisch genug, um sich Freunde in anderen Provinzen zu machen. Mit ihm weiß man, dass alles getan wird, um die Schuldigen zu finden und das in Zusammenarbeit mit Gilgians und vielleicht sogar Elias’ Sicherheitsrevieren.“

Elias’ Namen auszusprechen versetzte ihm noch immer einen verletzenden Stich. Er fragte sich, ob er je über den Verrat von ihm hinwegkommen würde.

Er beobachtete Etienne dabei, wie sie sich umsah. Ihr Blick wanderte von einer Ecke zu der anderen und langsam bestätigte sich sein Verdacht, dass sie durchaus aufmerksamer und systematischer war, als er sie zunächst eingeschätzt hatte. Der Verdacht war ihm gekommen, als er die Wunden des Crawlings zu seinen Füßen gesehen hatte, welche, mit Ausnahme von einer, alle gezielt gesetzt worden schienen. Damit konfrontiert zu sein war, als hätte man ihm einen Schleier vom Gesicht gerissen, welcher ihn davon abgehalten hat, klar zu sehen. Und er überlegte sich nun, wie genau er seine Vermutung weiter bestätigen konnte.

„Sollen wir die Pause hier ausharren?“, fragte sie ihn. Er spannte sich etwas an. Am Morgen hatte er vorgehabt, sie bei Tatinne abzufangen und dafür zu sorgen, dass sie sicher in der Schule ankam. Nachdem diese ihm erzählt hatte, dass sie schon länger weg war, hatte er auf dem Hinweg sich Gedanken darüber gemacht, wo sie hingegangen sein konnte und der Gedanke an den Crawling hatte ihn nicht losgelassen. Also war er, nachdem er einen Abstecher bei Warlen gemacht hatte, seinem Instinkt gefolgt.

Als sie sich langsam zu ihm umwandte und ihn wachsam betrachtete, fiel ihm auf, dass er zu lange geschwiegen hatte. Das lag daran, dass er so müde war. Selbst das Denken fiel ihm schwerer. Sein Kopf pochte immer wieder und er wünschte sich nichts sehnlicher, als in sein Bett zu kriechen und dieses für eine lange Zeit nicht zu verlassen. Er wusste, dass es ihm bei diesem Wetter zum Verhängnis werden würde, wenn er seinen Körper so strapazierte. Er tendierte dazu, schnell krank zu werden, vor allem in diesem Monat.

„Ich habe Warlen darum geben, die Klasse für heute zur selbstständigen Arbeit anzuleiten“, sagte er und merkte, wie ihr Blick sich verdüsterte. Er unterdrückte noch einen Seufzer. Es lag nicht in seiner Absicht sie hinters Licht zu führen, aktuell wusste er jedoch nicht, wie er anders Handeln sollte, vor allem weil sie scheinbar nicht vorhatte sich an das zu halten, was sie ihm kommunizierte.

Ein Lächeln erschien auf ihrem Gesicht und er grinste zurück. Er konnte sehr gut die Wut in ihren Augen sehen. Wenn sie dachte, sie könnte ihn damit hinters Licht führen, dann wünschte er ihr viel Erfolg. Er selbst hatte im letzten Jahr es perfektioniert, seine Emotionen zu verbergen. Dennoch hatte es etwas Tröstliches zu wissen, dass sie sich in diesem Punkt sehr ähnlich waren.

„Und du hattest nicht vor es mir früher zu sagen?“, fragte sie.

Er zuckte mit den Schultern und fing an seine Sachen auszupacken, „Wenn du nicht so unkooperativ wärst, hätte ich es dir viel früher gesagt.“

„Du bist unerträglich“, sagte sie drehte sich wieder zu der Bibliothek um.

„Gleichfalls“, erwiderte er. Raffael selbst war immer noch wütend auf sie. Sie hatte ihm zwar nicht direkt ihr Wort gegeben, aber sie nutzte es nur zu gerne aus, ihn in dem Glauben zu lassen und dann, sobald er nicht hinschaute, direkt etwas anders zu tun. Und es war teilweise seine Schuld. Er hatte die Situation zu Anfang falsch eingeschätzt und nun musste er zusehen, wie er die Wogen wieder glätten konnte. Denn wenn sie die Herrschaft übernehmen sollte, konnte er es sich nicht leisten, ein schlechtes Verhältnis mit ihr zu haben. Also musste irgendeine Vertrauensbasis her, was momentan unmöglich schien.

„Du könntest weiter an deinem Projekt arbeiten“, sagte er und hoffte, dass sie sich hinsetzen würde. Die letzten zwei Stunden waren ruhig gewesen. Es war ihm schwer gefallen, nicht einzuschlafen. Aber sie vor sich arbeiten zu sehen, würde ihn davon ablenken. Er war neugierig, welche Aufgaben Warlen ihr gegeben hatte. Aber selbst in diesem Thema schien sie keine Informationen teilen zu wollen. Er hätte wissen müssen, dass sie schwer zugänglich wäre. Immerhin wollte sie lieber aus dem Fenster springen, als drei Fremden zu vertrauen. Und auch wenn er ihr Misstrauen in dieser Situation verstehen konnte, war das doch etwas übertrieben gewesen.

Etienne antwortete ihm nicht und machte auch keine Anstalt, sich hinzusetzen. Er sah frustriert zu ihr. Ihm war klar, dass sie wütend werden würde, dennoch kam der Gedanke, ihr nichts dazu zu sagen, schneller. Sie beide schafften es einfach nicht, auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen, der für sie funktionierte. Dabei fand er, dass sie in der Villa der McClains gut zusammengearbeitet hatten und das trotz dem ganzen Misstrauens.

Er stand auf und trat zu ihr, „Es tut mir Leid. Ich habe es mehr aus Impuls nicht gesagt, als das ich es geplant habe. Und wenn ich ehrlich bin, aktuell sind meine Planungsfähigkeiten nicht sehr gut.“

Sie blickte weiter in die Bibliothek, „Ist in Ordnung. Ich hätte damit rechnen sollen.“

Er spannte sich an und das sorgte dafür, dass erneut ein unangenehmes Pochen durch seine Schläfen ging. Das war keine Antwort, die er haben wollte. Aber er konnte es ihr auch nicht verübeln.

„Eigentlich wünsche ich mir, dass wir solch einen Umgang nicht miteinander führen müssten. Vielleicht könnten wir beide Anfangen, etwas nachgiebiger miteinander umzugehen?“, fragte er und folgte ihrem Blick. Er entdeckte Meta in der Halle mit Adelle sprechen. Sie hatte ihre Uniform nicht an, also ging er davon aus, dass sie nur kurz vorbeigekommen war. Sowohl sie, als auch Gilgian, hatten sich für ein paar Tage von ihrer Anwesenheit freigesprochen. Würden zur Theaterprobe aber wieder anwesend sein.

„Du kannst ja anfangen“, sagte sie und er musste unweigerlich lächeln.

„Und mich von dir herumschubsen lassen?“

Sie zuckte grinsend mit den Schultern, „Ich finde, das hättest du für eine Weile verdient. Du kannst mir natürlich auch den Stein einfach wiedergeben. Dann könnten wir das mit dem Umgang auch gleich lassen.“

Sie ließ aber auch nicht locker, „Das kann ich nicht und das werde ich nicht. Vorerst.“

„Weißt du, wenn ich wirklich Herrscher werden würde, dann würde ich es dir heimzahlen, dass du mich beklaut hast.“

„Deswegen hoffe ich auch, dass wir besser miteinander umgehen könnten. Es wäre wirklich tragisch, wenn jemand so talentiertes wie ich in den Abgründen von Nexims Gefängniskeller verschwinden würde. Stell dir vor: Ich, hinter Gittern, in diesen dreckigen Zellen.“

Sie kicherte und er war sehr zufrieden damit, das geschafft zu haben.

„Gibst du dir deswegen so viel Mühe Halil von mir fernzuhalten? Ich kann mir vorstellen, du hättest jetzt besseres zu tun, als mit mir hier herumzulungern.“

Er presste unzufrieden die Lippen zusammen und sobald er es merkte, versuchte er sich wieder zu entspannten. Eigentlich wollte er diese Frage nicht beantworten, denn er hatte das dumpfe Gefühl, dass sie die Antwort früher oder später gegen ihn nutzen würde. Aber wenn er ihr nicht antworten würde, dann würden sie nur wieder in diesem elenden Kreislauf enden, wo sie einander alles verschwiegen und an Ort und Stelle traten. Sie war erstaunlich stur. Er war es auch, war aber bereit dynamischer in der Ausführung seiner Sturheit zu sein.

„Ich finde, dass ich Teil der Schuld trage, dass du an ihn geraten bist. Mal abgesehen davon, dass ich gestern Vorkehrungen hätte treffen können und daran gescheitert bin, bist du an dieser Schule, weil du wegen mir dazu gedrängt wurdest. Das Problem mit Halil wäre ohne mein Zutun gar nicht erst entstanden. Das tut mir leid.“

Sie gab ein nachdenkliches Geräusch von sich und er sah in ihrem Gesicht, wie sie etwas ausheckte.

„Wenn ich so genau darüber nachdenke“, sagte sie langsam, „Dann wäre die beste Art und Weise mich zu schützen, mir einfach den Stein zu übergeben und von dem Besuch dieser gefährlichen Bildungsstätte zu befreien. Nicht?“

Er musste lächeln. Er hatte gewusst, dass irgendwas in dieser Form als Antwort kommen würde. Freches Biest.

„Oh, du kannst gerne den Mist ausbaden, den du verzapft hast. Wenn du so große Angst vor Halil hast, dann wechsel die Provinz. Das wäre die einfachste Art. Aber ich will wetten, das wirst du nicht tun.“

Sie grinste weiterhin, während sie nach unten sah, „Ich hab mich schon gewundert, wieso dieser Vorschlag nicht früher von dir kam.“

„Es ist kein Vorschlag“, sagte er, „Aber wenn das als Option stehen würde, dann hätte ich dich schon längst dazu überredet, in meine Provinz zu kommen.“

Sie schnaubte lächelnd und ausnahmsweise fühlte es sich gut an, solch ein Gespräch mit ihr zu führen, ohne dass einer von ihnen beiden aus irgendeinem Grund wütend oder verärgert mit dem Anderen war.

Das hatte er gedacht, bis ihr Blick sich auf einmal verdüsterte. Zunächst dachte er, es würde an ihm liegen. Doch dann hatte er gemerkt, dass ihr Blick fest in eine Ecke des Raumes gerichtet war. Er folgte ihm und entdeckte ein Gesicht, dass er eher selten an der Schule, aber schon häufiger im letzten Jahr bei Veranstaltungen der wohlhabenden Familien in Calisteo gesehen hatte. Er versteckte sich hinter den Regalen und es war auf den ersten Blick zu erkennen, dass er Meta beobachtete, während diese mit der Bibliothekarin sprach. Er hatte sein Handy in der Hand und hatte es auf sie gerichtet. Raffael brauchte einen Moment, bis er verstanden hatte, was vor sich ging und runzelte irritiert die Stirn.

„Er ist da schon eine Weile“, sagte Etienne und er bemerkte, dass sie ihn ansah, „Wer ist das?“

Er versuchte sein Gesichtsausdruck zu bewahren und sah wieder zu ihm, „Das ist Braad. Er ist nicht häufig an der Schule. Und er ist nicht gerade gesellig.“

„Weißt du, wieso er das macht?“, fragte sie.

„Keine Ahnung. Ich habe nicht so viel mit ihm zu tun, um ihn gut einschätzen zu können. Vielleicht ist er in sie verknallt und malt sich Chancen aus. Meta ist genauso sehr ein Außenseiter wie er.“

„Wusste gar nicht, dass man so seine Liebe gesteht“, sagte sie und er hörte die Missbilligung heraus.

„Hast du vor dich einzumischen?“, fragte er. Das war die Frage, die ihn wirklich interessierte. Braad war nicht kompliziert, aber er war es auch nicht Wert, sich mit seiner Familie anzulegen. Diese waren auch nicht kompliziert, aber könnten nervig werden.

„Sollte ich?“, fragte sie zurück, „Sag du es mir, da du scheinbar sowieso alles besser weißt.“

Er warf ihr einen säuerlichen Blick zu, doch sie grinste einfach nur vor sich hin.

„Wenn wir es Gilgian sagen, wird er ihn zusammenschlagen“, sagte Raffael, „Er ist in Elias’ Provinz. Das wird Konsequenzen haben. Und wahrscheinlich einen Toten. Ehrlich gesagt möchte ich es Gilgian gar nicht wissen lassen.“

„Was tun wir dann?“, fragte sie und es fühlte sich wie ein Test an.

Er legte seinen Kopf auf seine Arme und sah von unten zu ihr herauf. Ihre grünen Augen stachen in dem dumpfen Licht besonders unter den schwarzen Haaren hervor. Sein Blick fiel auf ihre blasse Narbe und er wunderte sich, woher sie diese hatte, doch dann verschwand die Frage aus seinem Kopf, als er ihren herausfordernden Blick sah. Und er weigerte sich bei ihr einen Rückzieher zu machen.

„Sollen wir etwas tun?“, fragte er.

„Du hast gesagt, ich soll zu dir rennen, wenn etwas passiert. Zeig was du kannst.“

Ihre Augen blitzten auf, als sie den Blick wieder von ihm abwandte und zu dem Geschehen unter ihnen blickte.

„Lass uns sein Handy klauen“, sagte er.

Sie lachte, „Schon wieder Diebstahl? Wieso wundert mich das nicht.“

„Es ist nicht so, als würden aktuell viele produziert werden“, erklärte er, ohne darauf einzugehen, „Er wird mächtig Ärger bekommen, wenn er es verliert. So viel kann sich seine Familie auch nicht leisten. Und wenn er ein zweites bekommt, tun wir dasselbe. Und dann wird er fürs erste keines mehr haben. Und es wird keine Tote geben.“

Sie lächelte zufrieden, „Und wie willst du das anstellen?“

„Einer von uns lenkt ihn ab, der andere holt es sich. Er wird uns gleich sowieso zeigen, wo er es verstaut. Mich hasst er leidenschaftlich und zeigt das auch sehr gerne. Also werde ich ihn damit gut ablenken können, wenn ich mich einfach vor ihn stelle. Dich kennt er noch nicht, aber ich will wetten, wenn die hübsche Neue ihn anspricht, wird er ganz hin und weg sein.“

Sie blinzelte überraschte und er verspürte Genugtuung, an ihrem nichtssagendem Lächeln gerüttelt zu haben.

„Ich will nicht, dass er mich sieht.“

Und wenn er bedachte, wie Braad gerade mit Meta umging, wollte er es auch nicht.

„Dann werde ich ihn ansprechen. Und du erledigst den Rest“, sagte er und beobachtete ihn dabei, wie er das Handy in eine hintere kleine Tasche seines Rucksacks steckte, „Und nachdem wir unseren Plan erfolgreich hinter uns gebracht haben, was hältst du davon, wenn wir danach über einen zu Halil sprechen?“

Auf einmal drehte sie sich zu ihm um und sah ihn direkt an, „Ich mache dir ein Angebot.“

„Ah ja?“, fragte er überrascht.

„Gib mir Zeit bis morgen Abend und ich werde dir einen guten Plan zu Halil präsentieren. Du wirst sehr überrascht sein.“

„Werde ich das?“, fragte er und richtete sich auf, „Und wenn nicht?“

Sie grinste, „Ich versichere dir, du wirst sprachlos sein, wie einfach ich dir eine Lösung präsentieren werde. Und nachdem du mir deine zu diesem Problem gezeigt hast, ist es nicht fair mir dieses hier zu lassen?“

Sie hatte bereits etwas ausgeheckt. Sein Instinkt sagte es ihm. Und er vertraute ihr keinen Moment, dass sie ihm morgen Abend etwas präsentieren würde. Blieb nur für ihn zu klären, ob er bereit war ihr das in die Hand zu geben oder nicht. Das Bild des Crawlings schoss ihm durch den Kopf und er wurde nur zu neugierig, wie sie das Problem angehen würde. Und seine Neugierde war groß genug, dass er bereit war sich von ihr in diesem einen Fall zum Narren halten zu lassen.

„Gut“, sagte er, „Aber dann will ich morgen Abend alles dazu hören.“

Sie strahlte ihn an und er kaufte es ihr nicht ab, „Einverstanden.“

„Und wir werden über Verbesserungsmöglichkeiten sprechen. Uns austauschen und das Beste daraus machen.“

Sie nickte feierlich,. „Natürlich.“

Er schnaubte und sah dann wieder hinunter. Meta machte sich auf den Rückweg mit einem Haufen Bücher, welche sie sich ausgeliehen hatte. Sie war immer so ernst, was das Lernen anging und sie war nicht schlecht darin. Wenn sie nicht mit Gilgian verwandt wäre, würde er versuchen sie ihm abzuwerben.

Braad duckte sich hinter den Regalen und Raffael seufzte, als er das sah. Unmöglich, das Meta ihn nicht merkte. Aber sie tat es wirklich nicht.

„Sollen wir bis nach der Pause warten?“, fragt er

Etienne nickte grinsend. Er merkte, das sie es zu genießen schien, aktiv zu sein. Kein Wunder, dass sie sich mit Halil angelegt hatte. Mittlerweile glaubte er, dass sie sich selten wirklich zurückhalten konnte oder es wollte. Nicht das, was er in diesem Maß von einem Herrscher wollen würde.

Sie warteten, bis es geklingelt hatte und er hatte sich in der Zeit ein Buch als Alibi herausgesucht. Meta schien auch die Pause abzuwarten, denn sie ging erst durch die Tür nach draußen, nachdem einige Minuten vergangen waren. Kurz bekam Raffael Mitleid. Er wusste, dass sie es nicht einfach an der Schule hatte, aber ihm war nicht bewusst, wie sehr sie die anderen Menschen zu mieden schien. Er hatte es auch nie wirklich mitbekommen, nur Geschichten gehört. Nachdem Gilgian Herrscher wurde, wurde es etwas leiser um sie und er hatte es dann nach all den Ereignissen, welche in seinem Leben stattgefunden haben, vergessen.

Sie beobachteten kurz, ob Braad Meta folgen würde, doch er tat dies nicht. Stattdessen setzte er sich an einen hinteren Tisch in der Bibliothek. Raffael sah sie auffordernd an und Etienne nickte ihm zu. Sie hatten sich kaum darüber ausgetauscht, was sie jeweils vorhatten zu tun. Es fühlt sich sonderbar für ihn an, denn normalerweise plante er mit seinen Leuten jeden Schritt akribisch und ging dann in Aktion, wenn er wusste, wer wo stehen und was derjenige tun würde.

Er sah zu ihr, wie sie zwischen den Regalen ging und musste grinsen. Das erinnerte ihn so sehr an ihr Abenteuer von vorgestern. Und irgendwie zweifelte er nicht daran, dass es funktionieren würde. Er wandte sich an Braad, welcher auf sein Handy starrte und unterdrückte es, ein missbilligendes Geräusch von sich zu geben, welches auf ihn aufmerksam machen würde.

Raffael atmete noch einmal tief durch. Und dann trat er vor Braad, zog ohne ihn zu fragen den Stuhl zurück und setzte sich vor ihm hin, „Guten Morgen. Bin ich froh noch ein bekanntes Gesicht hier zu sehen.“

Braad zuckte zusammen und ließ sein Handy auf den Tisch fallen. Er blickte panisch zu ihm und seine Wangen färbten sich rot. Schnell schnappte er sich dieses und schaltete den Bildschirm aus. Um Misstrauen zu vermeiden, blickte Raffael weg davon und öffnete sein Buch, „Ich hoffe es stört dich nicht, wenn ich mich dazu setze. Es ist den ganzen Morgen einfach viel zu ruhig hier. Es ist so langweilig, ich könnte einschlafen.“

„Heute kein Schwarm von Menschen um dich herum?“, fragte er und Raffael fiel schon wieder dieser gehässige Ton in seiner Stimme auf, welchen er immer aufsetzte, sobald er mit Raffael sprach. Raffael wusste nicht, wieso er ihn so sehr hasste, aber es war seit der ersten Begegnung so gewesen und es hatte nie aufgehört.

„Alle sind mit ihren Aufgaben beschäftigt. Warlen hat besonders viel ausgeteilt. Wie läuft’s bei dir? Ich hab dich schon lange nicht mehr gesehen. Ist deine Familie noch beim ‚Traum der Meere‘ zu Besuch? Wie geht’s deiner Mutter? Ich hab gehört sie hat einen neuen Vertrag in Goldavail geschlossen. Scarlett hat sie erst vor kurzem wieder gesehen und mir davon erzählt. Sie kann es kaum erwarten mit den ganzen Stoffen zu arbeiten, welche mit der nächsten Lieferung ankommen.“

„Ihr geht es gut, glaube ich“, sagte Braad unsicher und schien Schwierigkeiten dabei zu haben, den ganzen Fragen zu folgen, „Wieso willst du über den neuen Handelsvertrag sprechen?“

Er blinzelte verwirrt und schien von einem Moment auf den anderen entschlossen zu haben, dass Raffael ihn scheinbar aushorchen wollte. Er schien jedoch dabei den Fehlschluss getroffen zu haben, dass er etwas haben würde, was es sich zum aushorchen lohnen würde zu hören. Raffael bezweifelte es sehr stark, dass seine Familie mit ihm wichtige Inhalte ihrer Geschäfte teilen würde. Es war eher seine ältere Schwester, welche sich leidenschaftlich an der Arbeit der Familie beteiligte und es würde sehr wahrscheinlich der Fall sein, dass sie das Familiengeschäft übernehmen würde.

„Oh, ich muss nichts dazu wissen. Ich hab aber gehört, dass sie echt eine schöne Zeit in Goldvail hatte.“

Er merkte, wie Etienne ihn hinter Braad abwartend ansah und stellte fest, dass Braad noch immer sein Handy fest in der Hand hatte. Er wusste aber schon, wie er darauf das Thema wechseln konnte.

„Nebenbei, Tatinne hat mir davon erzählt, dass sie in der Nähe von Vheruna einige Minen zurückerlangt haben. Auch eine mit Kupfervorkommen soll dabei gewesen sein. Sie hat sich direkt einen Vertrag für kleine Mengen gesichert. Ich frage mich, woher sie die ganzen Leute kennt. Aber unabhängig dessen, sicherlich können wir bald mehr Elektronisches produzieren.“

Er deutet auf sein Handy, dass er noch immer in der Hand hielt, „Du weißt schon, falls es dir abgenommen werden sollte, weil du es in der Schule hast.“

Braad sah ihn erschrocken an und blickte dann panisch zu Adelle, „Willst du es ihr erzählen?“

Raffael lachte, „Nein, ich will dich nur vorwarnen. Du weist wie Merlian ist. Tatsächlich ist er noch strenger geworden in den letzten Wochen. Du hast sicherlich davon gehört, was passiert ist. Er ist ganz schön ausgerastet.“

Braad blinzelte verwirrt und nickte verunsichert. Raffael unterdrückte ein Schnauben, denn es war gar nichts passiert. Aber Braad würde das nicht wissen, denn er war sowieso selten da und hatte beinahe nie eine Ahnung davon, was in der Schule vor sich ging.

„Er lässt sie neuerdings auch durchsuchen. Pass also auf, dass du es künftig nicht mitnimmst.“

Raffael beobachtete ihn dabei, wie er es eher ungeschickt in seine Tasche stopfte und sah kurz zu Etienne, welche noch immer an der Wand einige Schritte hinter Braad stand. Ihr grünen Augen beobachteten jede seiner Bewegungen und Raffael hatte nicht das Gefühl, dass ihr etwas entging. Ob sie auch andere auf diese Art beobachtete? Welche Schlüsse zog sie dabei?

Er sah schnell wieder lächelnd zu Braad.

„Was machst du heute eigentlich hier?“, fragte Raffael und beobachtete, wie Braads Blick noch abweisender wurde, als zuvor. Raffael spürte, dass es da wohl etwas gab, was Braad nicht gerne teilen würde und fragte sich, ob es mit Meta zusammenhing. Aber das bezweifelte er, denn Meta hätte heute theoretisch gar nicht hier sein sollte.

„Wieso willst du das wissen?“, fragte er zurück. Raffael merkte, wie Etienne sich hinter ihm hinhockte und sich an seiner Tasche zu schaffen machte. Beinahe erschreckte ihn diese Handlung. Braad war groß und sie war klein. Sie wurde komplett von ihm verdeckt und wenn Raffael nicht gewusst hätte, dass sie da war, hätte er sie vielleicht nicht mitbekommen.

„Ich hab dich schon lange nicht mehr hier gesehen. Wie kommt’s? Familienangelegenheiten?“

Seine Wangen wurden erneut rot, doch diesmal war sein Gesicht vor Wut verzogen. Und Raffael war sich nicht ganz sicher, wieso.

„Das geht dich gar nichts an“, er spuckte ihm die Worte regelrecht ins Gesicht, „Ich werde ja wohl ab und zu noch hier hin kommen dürfen?“

Raffael blinzelte verwirrt, überrascht von der Wut, die ihm entgegen schlug. Aber es war nichts, was er nicht schon kannte. Die meisten Gespräche mit ihm waren so abgelaufen.

„Ich wollte nur mal nachfragen. Immerhin waren wir eine Weile in der selben Klasse und deine Schwester hat uns mit Dustin Anweisungen zum Umgang mit O’Donnel gegeben.“

Braad schlug mit der Faust auf den Tisch, „Du meinst, sie haben dir alles hinterhergeworfen und mich dir Arbeit machen lassen.“

Raffael sah abschätzend zu seiner Faust. Es war das erste Mal, dass er in seiner Anwesenheit Gewalt ausübte, selbst wenn das nur gegen einen Gegenstand war. Raffael blickte prüfend in sein Gesicht, „Ist etwas vorgefallen?“

„Kannst du einfach verschwinden?“, fragte Braad gehässig, „In erster Linie wäre ich dir dankbar, wenn du nicht deine Nase in alle möglichen Angelegenheiten anderer Leute stecken würdest.“

Raffael entschloss sich, sich zurück zu ziehen. Etienne entfernte sich bereits zwischen den Regalen und er vermutete, dass sie das Handy hatte. Und Braad war offensichtlich fürchterlich auf ihn zu sprechen. Was auch immer ihm zu schaffen machte, er ließ es an ihm aus und Raffael sah keinen Grund, in den Streit einzusteigen. Er war sowieso nicht in der Position, sich das leisten zu dürfen. Es würden nur schlechte Gerüchte entstehen, dass er, ein Provinzsherrscher, sich auf Schulstreitereien einließ.

„Ok“, sagte Raffael und hob lächelnd die Hände, „Lass mich dich nicht weiter stören. Du hast sicherlich ganz wichtige Dinge zu erledigen.“

„Wichtiger, als hier herumzulungern und so zu tun, als würde ich etwas in der Schule lernen“, erwiderte er, als Raffael aufstand. Er verschränkte grinsend die Arme in der Brust und sah zu ihm, als hätte er einen Kampf gewonnen. Raffael würde ihn in dem Glauben lassen. Er zwinkerte ihm zu, „Dann lass dich bei diesen ganz wichtigen Angelegenheiten nicht stören.“

Er schob den Stuhl zurück und war bereit zurück zu gehen, als er erneut Braads Stimme vernahm, „Lass mich dir mal einen Tipp gehen. So vom Älterem zu Jüngerem. Du solltest dich nicht so herumschubsen lassen.“

Raffael verdrehte die Augen. Er wollte weiter gehen. Es wäre es nicht Wert, sich diesen Schwachsinn anzuhören. Er wusste, dass Braad sich das nur herausnahm, weil Raffael zurücktrat. Doch es gab eine Grenze von dem, was anderen durchgehen lasen konnte. Früher wäre er lachend weggegangen. Und eigentlich war niemand hier, der ihm dieses Gespräch zum Nachteil auslegen konnte, außer vielleicht Etienne, die er aus den Augen verloren hatte. Auf der anderen Seite jedoch, würde Braad vielleicht herumposaunen, dass Raffael, der Provinzsherrscher, vor ihm davonlief. Und so leid es ihm tat, er hielt ihn tatsächlich für so blöd, dass er das tun würde. Also drehte er sich zu ihm und stützte sich leicht lächelnd am Tisch ab, „Und wer denkst du, schubst mich herum? Du? Weil ich so nett war zur Seite zu treten?“

Er bemerkte befriedigt, wie Braad den Blick abwandte. Doch es hielt ihn nicht davon ab, weiter zu sprechen, „Ich meine ja nur. Du bist viel zu weichherzig. Wenn du etwas weniger Nachgiebiger wärst, dann würden sich die Leute nicht so viel bei dir erlauben. Das kann wirklich ein Problem werden. So wie mit damals mit Josef-“

„Nimm einen tiefen Atemzug und denk nach“, sagte Raffael, kaum in der Lage die Wut zu bändigen, die sich in seiner Brust aufstaute. Aber er würde sich dazu zwingen es zu tun, denn er konnte nicht eine Prügelei anfangen, wie er es vor einem Jahr noch getan hätte. Und das, worauf Braad anspielte, war es wert ihn windelweich zu schlagen, „Denk jetzt genau darüber nach, was du sagen willst. Bevor es wirklich zu einem Problem wird.“

Er beobachtete, wie Braad bleich im Gesicht wurde und sein Blick wanderte kurz zu ihm, nur um dann auf den Tisch zu fallen. Raffael merkte, wie es in seinem Kopf ratterte und er nach und nach zu verstehen schien, was er da von sich gab.

„Es tut mir leid“, sagte er mit zittriger Stimme.

Raffael schwieg. Nicht, weil er ihn zappeln lassen wollte, sondern weil er wirklich Sorge hatte, dass er ihn am Kragen packen und schlagen würde. Er atmete durch. Und dann dachte er an Etienne und daran, dass er ihr ein Vorbild sein musste. Wenn sie die Herrschaft übernehmen würde, musst sie besonnen sein. Sich nicht aus der Ruhe bringen lassen. Nicht so, wie er gerade. Aber es war nicht mal ein Jahr her, seit seine Mutter gestorben war und dieser Mistkerl wagte es, ihm die Schuld dafür zu geben. Er merkte, wie seine Hände zu zittern anfingen und griff stärker nach dem Tisch, „Jetzt, wo du darüber nachgedacht hast. Solltest du schnell verschwinden. Und am besten für eine Weile außerhalb meines Blickfeldes bleiben.“

Er beobachtete Braad dabei, wie er hastig seine Tasche packte und mit hochrotem Kopf aus der Bibliothek rannte. Die Tür fiel ins Schloss und Raffael senkte den Kopf, versuchte an etwas anders zu denken, nur um ihm nicht hinterher zu laufen und doch in sein Gesicht zu schlagen. Er versuchte die Vernunft einsetzen zu lassen. Was würde passieren, wenn er das tat? Er würde für einen Moment sehr zufrieden sein. Und dann würde er sich mit Braads Familie auseinandersetzen müssen und damit zwangsläufig mit Elias, den er unter diesen Umständen wirklich nicht sehen wollte. Weiterhin würde das Einfluss auf Scarlett und Alberto haben, welche erst kürzlich einen Vertrag mit seiner Familie geschlossen haben. Das würde auch Einfluss auf seine Provinzsmitglieder haben, denn die Spannungen zwischen den Provinzen könnte stärker werden. Die Zeitungen würden ihn auseinander nehmen, vor allem in Elias’ Provinz. Raffael atmete tief durch und fühlte sich nicht besser. Er vermisste seine Mutter. Sie würde mit einem einfachen Spruch dafür sorgen, dass er sich besser fühlen würde.

Er richtete sich auf und fing an, sich langsam Richtung Treppe zu bewegen. Die Wut war dem Schmerz gewichen, als er an das strahlende Lächeln seiner Mutter dachte. Er zwang den Gedanken an sie jedoch beiseite. Er würde sich jetzt mit Etienne beschäftigen müssen. Dann mit Halil. Dann am Abend mit Dustin, der ihm hoffentlich gute Nachrichten überbringen würde. Dann würde er sich um eine weitere Provinzsangelegenheit kümmern und anschließend Eldan fragen, ob er für heute allein Arbeiten könnte. Er brauchte wirklich dringend den Schlaf. Aber wie seine Familie immer schön zu sagen pflegt: eines nach dem anderen. Er hoffte nur, dass Etienne dieses blöde Handy sich geschnappt hatte, denn sonst wäre das Ganze umsonst gewesen.

Er ging die Treppen hinauf und sah aus dem Augenwinkel eine Bewegung. Als er seinen Blick dorthin wandte, entdeckte er Braad an der Tür herumlungern. Als dieser seinen Blick sah, rannte er erneut davon. Raffael seufzte und ging weiter hinauf. Er hatte keine Energie für ihn. Als er oben ankam, sah er Etienne im Schatten der Regale am Tisch sitzen. Erleichterung durchströmte ihn, denn er hätte beinahe damit gerechnet, einen leeren Tisch ohne ihre Tasche vorzufinden. Er spielte wirklich nicht gerne ihren Babysitter, aber er musste sie überzeugen in Calisteo zu bleiben und herausfinden, wie sie an die Macht kommen würde. Hierfür wäre es nicht produktiv, wenn sie von Provinzsmitgliedern zusammengeschlagen werden würde. Sei es ein Gilgian oder ein Halil.

Er setzte sich zurück an den Tisch und schloss die Augen, bevor er ihrem Blick begegnen konnte. Eigentlich hatte er vorgehabt, dass nachdem er sie öffnen würde, er wieder sein Lächeln aufsetzen konnte, doch er schaffte es nicht sie zu öffnen. Raffael spürte ihren Blick auf sich. Würde sie das ausnutzen?

„Erzähle mir was“, forderte er auf. Er brauchte eine Ablenkung und sie war im Moment die einzige, die hier war.

„Was willst du hören?“, fragte sie zurück.

„Ist mir egal“, sagte er.

„Wie viel weißt du über Magie?“

„Nicht viel“, erwiderte er. Das war einfach nicht Calisteos Schwerpunkt. Die Stadt bildete keine Magori aus oder Priester, welche Segen sprechen konnten. Es gab Leiter, die den einzelnen Individuen dabei halfen, ihre Fähigkeiten zu kontrollieren. Aber mit Ausnahme der Grundausbildung machte kaum jemand viel dazu. Ob und wie die Menschen ihre Fähigkeiten weiter ausbildeten, lag in ihrer eigenen Verantwortung. Raffael wollte das irgendwann mal ändern, aber noch war das nicht auf seiner Prioritätenliste.

„Das habe ich mir schon gedacht“, sagte sie, „Als ich den Stundenplan gesehen habe, ist mir direkt aufgefallen, dass hier ziemlich viel an alten Wissenschaften gelehrt wird. Nicht, dass daran etwas verkehrt wäre, aber wenn alte Gesetze nicht mehr ganz so funktionieren, wie sie sollten, dann ist es teilweise etwas zweitrangig.“

Er schnaubte, „Willst du sagen, wir verschwenden hier unsere Zeit? Lustig, bedenkt man, wie begehrt unsere Menschen in anderen Städten sind.“

Sie lachte, „Keineswegs. Genau genommen ist es so, dass um Magie zu praktizieren genau die alten Wissenschaften einen perfekten Ankerpunkt liefern. Wenn man versteht, wie etwas funktioniert, dann kann man es umso besser nach seinem Willen bändigen. So zumindest die eine Art von Magie. Beispielsweise kommt mir das hier zugute. Ich hab vollen Zugriff auf sein Handy, ohne den Code eingeben zu müssen. Er hat interessante Inhalte drauf.“

Er öffnete überrascht die Augen und sah auf den Tisch. Das Handy lag auf einem weißen Blatt Papier. Er blickte zu ihr hoch und sie grinste ihn schelmisch an, „Ich will wetten, dass du das nicht kannst.“

Er lachte, „Wie hast du das gemacht?“

Sie schob das Handy beiseite, dessen Bildschirm direkt ausging, und deutete auf das Papier, auf welchem ein Dreieckssymbol abgebildet war, in welchem weitere Symbole verarbeitet waren, „Das ist Magie, welche eher im Handwerklichen angelegt ist. Und das ist ein echt altes Modell von einem Handy. Wenn du weißt, wie diese funktionieren und eine Vermutung hast, welche Materialien drin verbaut sind, dann kannst du den entsprechenden Zauber schreiben, welcher bestimmte Sicherheitslücken ausnutzt, um hineinzukommen. Ich kenne jetzt zwar sein Passwort nicht, aber so lange es auf dem Symbol liegt, brauche ich dieses nur aktiviert zu halten und wird es das Passwort nicht abfragen. Es gäbe auch andere Möglichkeiten, aber diese scheint mir unter diesen Umständen die einfachste zu sein.“

Er bedachte das Symbol, welches sie gezeichnet hatte, „Funktioniert das bei jedem Gerät so?“

„Bei vielen Geräten auf die gleiche Art und Weise. Manche Metalle haben auch Einfluss. Aber das ist keine hochkomplexe Magie. Das Symbol ist meistens immer dasselbe. Nur bestimmte Einzelheiten müssen geändert werden. Und ab da an, ist es einfach nur ausprobieren, bis es funktioniert.“

Sie schob die Hand beiseite und zeigte ihm zwei andere Symbole, von denen er ausging, dass sie mit diesen zuvor probiert hatte, den Code zu umgehen.

Neugierig sah er sie an, verglich sie miteinander und entdeckte die Unterschiede, die sie angesprochen hatte.

„Dreieckssymbole halten immer nur für eine kurze Zeit. Oder?“, fragte er nach. Einige Grundlagen kannte er. Es gab Zauber, welche in sich ewig halten konnten, aber dazu zählten nicht diese. Diesen müsste immer wieder neue Magie zugeführt werden.

„Sein Handy ist fast voll aufgeladen und das ist auch eine Art von Energie. Ich hab den Zauber darauf angepasst, deswegen siehst du da ein kleines Viereck drin. Das wird so lange daran ziehen, bis der Akku leer ist.“

„Beeindruckend“, sagte er. Er wusste, dass Magie mit Vierecken als Grundbaustein, hauptsächlich für Flüche genutzt wurde, da diese stetig aus der Umgebung Energie zogen. Zu betrachten, wie das ineinander kombiniert wurde, beeindruckte ihn, „Beinahe bereue ich es, das nicht gelernt zu haben.“

„Ehrlich gesagt kann ich das nicht so ganz nachvollziehen. Diese Magie ist nicht kompliziert. Und mittlerweile ist sie so vielfältig, dass es keinen Beruf gibt, wo sie nicht aushelfen könnte. Verstehe mich nicht falsch. Alberto hat beeindruckendes Talent, mit welchem er fantastische Arbeit leistet. Aber damit würde er deutlich weiter kommen.“

Raffael lachte, „Er ist sehr stur. Wahrscheinlich weiß er davon, aber wird nur so arbeiten, wie er es als richtig betrachtet. Bis vor einer Weile wollte er nicht mal einen Schüler.“

Sie legte das Handy wieder auf das Symbol und tippte es mit dem Finger an. Raffael war sich sicher, dass wenn er den Blick in die zweite Ebene wechseln würde, würde er ihre Magie sehen, welche den Zauber aktivierte. Das Handy leuchtete auf und Etienne betrachtete erneut die Bilder da drauf.

„Ist es in Ordnung für dich, wenn ich es an mich nehme?“, fragte sie ihn.

Er zuckte mit den Schultern, „Du warst diejenige, die es haben wollte.“

Das Handy interessierte ihn nicht. Am liebsten würde er die ganze Konfrontation mit Braad vergessen. Bis ihm erneut aufgefallen war, dass sie beide durchaus in der Lage waren etwas gemeinsam zustande zu bringen. Das war vielleicht etwas Positives, was er aus der Situation ziehen konnte.

Er beobachtete sie dabei, wie sie ein Bild nach dem anderen betrachtete. Ihr Gesicht sagte mal wieder nicht viel aus, bis er ganz kurz eine Regung entdeckte, die ihn neugierig machte.

„Was ist?“, fragte er nach. Sie sagte ihm nichts und die Regung war verschwunden. Ihre Finger wischten schnell über den Bildschirm. Sein Blick fiel auf das Handy. Er legte die Hand auf das Papier und zog es zu sich. Sie hielt es fest und sah ihn warnend an. Er ignorierte ihren Blick jedoch und versuchte auszumachen, was auf dem Bildschirm zu sehen war. Nach einem Moment entdeckte er auf diesem lange braune Haare, die zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden waren.

Er versteifte sich und zog noch mal am Papier. Etienne seufzte und ließ los. Raffael drehte das Handy zu sich, achtete darauf, dass es weiterhin auf dem Symbol lag, welches Etienne gezeichnet hatte. Dann sah er sich die Reihe von Bildern an, welche alle von Scarlett waren. Sie alle zeigten sie von weiter weg, aber es war unmissverständlich sie. Danach gab es wieder Bilder von Meta und ab und zu von einigen anderen Frauen.

„Bleib ruhig“, sagte Etienne und er hob den Blick und begegnete diesen grünen Augen, welche ihn wachsam ansahen.

„Ich bin es“, erwiderte und merkte dann, wie angespannt sich seine Stimme anhörte. Nun bereute er es, dass er ihm nicht hinterhergelaufen war. Aber das könnte er noch ändern. Die Schule war groß. Raffael war fit, Braad nicht. Er könnte ihn noch einholen.

„Du hast das vorhin sehr gut gemacht“, sagte Etienne und er sah sie an, beobachtete sie, wie sie ihre Hände mit der Handfläche nach unten auf den Tisch legte.

Er musste grinsen, als ihm klar wurde, dass sie bereit war aufzuspringen. Sie war kleiner als er, was würde sie schon anrichten können, um ihn aufzuhalten? Aber er wollte sie auch nicht verletzen, also atmete er tief durch.

„Was meinst du?“, fragte er nach und versucht sich erneut von der Wut abzulenken.

„Als du die Fassung bewahrt hast. Ich mag vielleicht nicht wissen, was genau an seinen Worten dich so wütend gemacht hat. Aber du bist ruhig geblieben. Das ist gut. Und wichtig.“

„Das musst du mir nicht sagen“, presst er hervor und warf sich in den Stuhl zurück. Er legte die Hand über seine Augen. Eigentlich sollte es andersherum sein. Er sollte ihr zeigen, wie man ein guter Herrscher war. Doch diese Situation zeigte ihm sehr deutlich, dass er bei weitem noch nicht so weit war. Das frustrierte ihn noch mehr.

„Raffael“, sagte Etienne und er spürte ihre Hand auf seiner, „Es sind nur Bilder. Und sie sind alle aus weiter Entfernung. Und sie werden es wahrscheinlich auch sein, denn in diesen wenigen Minuten, in denen ich ihn kennengelernt habe, hat er sich als ein Feigling geoutet. Dein Plan war gut. Lass es uns ein paar Tage beobachten. Sollte er ein neues bekommen, dann nehmen wir es ihm weg, bevor er neue machen kann.“

„Nein“, sagte er, „Wir sollten das dem Direktor übergeben.“

„Ich widerspreche“, sagte sie entscheidend und er sah erneut zu ihr.

„Warum?“, fragte er.

„Es gibt viele Gründe. Ich kenne eure Regeln nicht, aber wenn das zum Thema wird, könnten andere darauf aufmerksam werden und sich wundern, was da alles drauf ist. Es könnten Gerüchte herumgehen. Was wenn Gilgian davon erfährt? Wolltest du das nicht vermeiden?“

„Ehrlich gesagt wäre ich doch bereit ihm zu helfen, wenn er ihn… zur Rechenschaft ziehen wird.“

„Und was ist mit den Gerüchten?“, fragte sie.

„Es wird schon keiner herausfinden, wer auf den Bildern drauf war.“
Sie sah ihn einen Moment schweigen an, dann seufzte sie, „Du hast gesagt, es gehört mir.“

Er lehnte sich wütend zu ihr vor, „Sag mir, wo das wahre Problem liegt, es dem Direktor zu übergeben?“

Sie erwiderte ruhig seinen Blick. Er konnte nicht durchschauen, an was sie dachte.

Dann ließ sie die Schultern hängen, „Weil da auch Bilder von mir drauf sind. Ich werde das vernichten. Nicht an jemand anderen abgeben.“

„Ein Grund mehr es an den Direktor zu übergeben“, sagte er aufgebracht.

Sie drehte das Papier zu sich, dass zwischen ihnen lag und redete weiter, „Ich muss zugeben, ich bin erschrocken und beeindruckend. Er hatte sie zwar aus einem guten Abstand aufgenommen, aber dennoch hätte ich es merken müssen. Und so ungeschickt wie er sich vorhin angestellt hat, wundert es mich wirklich, wieso ich ihn übersehen habe.“

Nachdenklich sah sie zu ihm auf, „Vielleicht hat er eine angeborene Fähigkeit. Oder er nutzt Magie. Aber ich habe keine bei ihm ausmachen können. Was glaubst du, woran liegt das?“

Er seufzte frustriert und wandte sich ab. Er hätte es ihr nicht übergeben sollen. Aber wenn er es ihr jetzt wegnehmen würde, würde es sie beide wieder auf Null setzen. Und unabhängig von dem, was er hier als richtig empfand, er konnte es sich nicht leisten sie noch mehr gegen sich auszubringen.

„Mach, was du für richtig hältst“, sagte er und konnte nicht umhin beschämt festzustellen, dass er sich wie ein beleidigtes Kind anhörte. Sie erwiderte nichts und nach einem weiteren Moment merkte er aus dem Augenwinkel, dass sie ihn anstarrte. Er blickte wieder zu ihr und merkte, wie irritiert sie aussah. Ihre Augen wanderten über sein Gesicht, als würde sie ihn analysieren, wie ein fremdes Wesen.

„Was?“, fragte er und nahm sich vor, die nächsten Worte nicht so schroff auszusprechen.

Sie zögerte und er atmete durch und sagte sanfter, „Es tut mir Leid. Ich will es nicht an dir auslassen. Sag mir bitte, was dich beschäftigt.“

„Ich verstehe nicht, wieso du so wütend bist. Es sind nur Bilder. Und das nicht mal wirklich skandalöse.“

„Wie geht es dir eigentlich damit, dass da auch welche von dir drauf sind? Macht dich das nicht wütend?“

Sie zuckte mit den Schultern, „Das einzige was es in mir auslöst, ist Neugierde. Ich will wissen, wie er das ohne mein Wissen angestellt hat. Das herauszufinden könnte auch den Vorteil beinhalten, dass ich ihn davon abhalten kann das künftig noch mal zu machen.“

Er grinste, „Da gibt es einen einfacheren Weg zu und der führt zum Direktor.“

„Als du gemerkt hast, dass er Bilder von Meta macht, warst du nicht bereit zum Direktor zu rennen.“

Er schwieg dazu. Scham setzte ein, als ihm klar wurde, dass es stimmte. Er war so sehr versessen darauf, Etienne zu zeigen, dass sie sich auf ihn verlassen konnte und so sehr darauf fokussiert, einen Kampf zu vermeiden, dass er bereit war, Meta als Opfer hinzunehmen.

Etienne verdrehte die Augen, „Oh bitte. Das war kein Vorwurf. Es gibt nur so viele Menschen, um die man sich kümmern kann. Aber da du vorhin erst eine andere Einstellung zu dem Ganzen hattest, kannst du doch sicherlich nachvollziehen, wieso ich lieber diesen Weg wähle.“

„Es war aber nicht richtig von mir“, wandte er ein und schämte sich umso mehr.

Sie zuckte mit den Schultern, „In meinen Augen ist das der richtige.“

„Was machst du damit?“, fragt er und deutete aufs Handy.

„Ich werde es zu Hause vernichten. Nachdem ich mir ganz genau angeschaut habe, was seine kürzeste Entfernung zu jemanden war.“

Er lächelte. Ein Indiz mehr zu seiner Vermutung zu ihr. Aber er war nicht zufrieden mit der Situation. Er hatte sich nun zum zweiten Mal als unreif und unfähig erwiesen. So konnte es nicht weitergehen. Er würde später Dustin um Rat fragen. Aber erst in den nächsten Tagen. Er musste seine Liste abarbeiten.

„Wirst du Scarlett davon erzählen?“, fragte sie ihn.

„Wahrscheinlich“, erwiderte er und wusste auf Anhieb, wie ihre Reaktion ausfallen würde, „Sie würde ihn in der Luft zerfetzen.“

Etienne lächelte, „Würdest du dich da anschließen, wie bei Gilgian?“

„Ich würde gerne, aber so wie ich sie kenne, wird sie mir nicht viel übrig lassen.“

Sie lächelte ihm entgegen und er erwiderte es. Er fühlte sich nicht wirklich besser, aber er konnte die Situation akzeptieren für das, was sie war. Vielleicht würde er aber Warlen davon erzählen und sie bitten, einen zusätzlichen Blick auf Braad und Meta zu werfen. Er würde Etienne aber nicht davon erzählen. Darüber lohnte es sich nicht zu streiten.

 

Der Tag ging ruhig und ereignislos voran. Als sie die Bibliothek verlassen hatten, machten sie sich auf den Weg in die Klasse. Betrübt hatte sie festgestellt, dass noch immer einige Schüler fehlten. Neben Gilgian und Meta, waren, Anaki, Elias und Meng nicht anwesend. Vor allem im Hinblick auf die letzten beiden störte es Etienne, denn auch wenn sie aktuell keine Zeit hatte den Kontakt richtig aufzunehmen, wollte sie doch wenigstens die Chance dazu haben können. Wenn sie jedoch nicht da waren, war ihr selbst das verwehrt.

Doch obwohl der Tag ziemlich ereignislos war, hatte sie dennoch eine Veränderung gespürt. Als sie mit Raffael in ihre Klasse gegangen war, hatte sie Halil gemerkt, welcher sie misstrauisch aus der Entfernung betrachtet hatte. Seinen Blick hatte sie sofort gespürt, denn er war gefüllt mit Misstrauen und Verachtung, anders als scheinbar bei Braad, welchen sie nicht hat entdecken können. Sie hatte eine Gruppe von wunderschönen Frauen in einem der Gänge ausmachen können, welche in ihre Richtung getuschelt haben. Mallory war ebenfalls dort anwesend und schien im Gegensatz zu ihnen wie ein junges unreifes Mädchen.

Die anderen Schüler, schienen Etienne jedoch dieselbe Beachtung zu schenken, wie die Tage zuvor. Ab und zu neugierige Blicke auf die Neue, aber nichts, was besorgniserregend war. Scarlett war mit Crom auf sie zugegangen und Raffael einen Mitleidigen, aber dennoch belustigten Blick geschenkt.

Etienne hatte O’Donnel ausgehalten und wie Raffael es vorhergesagt hatte, war sie darauf aus, Etienne ihren Aufenthalt in der Klasse so schlimm wie nur möglich zu gestalten. Sie hatte es aber ausgehalten und noch besser, sie hatte ihr kooperativ einige Aufgaben richtig beantwortet. Es schien jedoch nicht der Fall zu sein, dass es sie besänftigen würde.

Etienne hatte sie letzten zwei Stunden damit verbracht, dem langweiligen Lehrer zuzuhören. Sie hatte ihn in den letzten Tagen schon schnell zu ignorieren gelernt. So schien es auch der Rest der Klasse machen und es schien ihm auch nichts auszumachen. Er ignorierte die Klasse ebenfalls und so schien es, als würde er über zwei Stunden hinweg einen Monolog halten.

Etienne blickte aus dem Fenster und spürte erneut ein dringliches Gefühl nach Handlung. Beinahe alles an diesem Tag hatte sich wie eine Zeitverschwendung angefühlt. Aber sie konnte die Zeit nutzen, um ihre Gedanken zu sortieren und einen Plan zu entwickeln, wie sie morgen in der Frühe mit Halil umgehen würde. Ziel war es nur noch, dass sie für heute Abend und für morgen früh keinen Raffael oder Scarlett oder sonst jemanden um sich herum hatte, der ihr zu viele Fragen stellen würde. Und als die letzten Stunden vergingen, wusste sie, wie sie vorgehen würde.

Während alle verschwanden, schlenderte Scarlett zu ihr. Raffael blieb noch etwas sitzen und schrieb etwas in sein Handy.

„Du hast den Lack bereits entfernt“, stellte Scarlett belustigt fest.

Etienne lächelte zu ihr hinauf, „Tatinne hat es nicht gutheißen können, dass es nur eine Hand war.“

Es war nicht ganz die Wahrheit, aber auch nicht gelogen.

Scarlett lachte und Raffael trat seufzend zu ihnen, „Lasst und gehen. Ich kanns kaum erwarten nach Hause zu kommen.“

„Wenn wir noch eine Stunde warten, könnte Crom dazu kommen“, sagte Scarlett strahlend und Etienne wunderte sich kurz über die Aussage, bis ihr klar wurde, dass er wahrscheinlich an einer AG teilnehmen musste.

Sie legte ihre Materialien zusammen und blickte zu den beiden. Scarlett strahlte, während sie das sagte und betrachtete ihre Nägel, welche heute eine andere Farbe hatten, als am Vortag. Ganz anders, als Raffael, welcher komplett ausgelaugt schien. Doch sie bemerkte, wie ein sonderbarer Blick von ihm in ihre Richtung fiel und wusste nicht so recht, wie sie ihn deuten sollte.

„Sicherlich wirst du einen Abend auf ihn verzichten können“, sagte er und Etienne hörte, dass er etwas genervt war.

„Du bist nur neidisch auf mich“, erwiderte Scarlett.

Er schnaubte grinsend und sah dann zu Etienne, „Ich hoffe du hast nicht auch vor, weiter hier herumzulungern.“

Etienne blickte wieder auf ihre Unterlagen und hoffte, dass ihre neue Taktik funktionieren würde. Sie wusste nun, dass sie ihn mit Halbwahrheiten und Ablenkungen nicht loswerden würde. Und eigentlich wollte sie ihm nicht ihre ernste Seite zeigen, denn das würde bedeutet, dass er es sie künftig etwas besser kennen würde. Dennoch, schien es nicht der Fall zu sein, dass sie hier eine andere Wahl haben würde.

„Ich habe gleich etwas vor. Wir werden hier wohl auseinander gehen.“

Sowohl Scarlett als auch Raffael schnaubten und Etienne musste beinahe lächeln. Diese beinahe gleiche Reaktion von den beiden belustigte sie mehr, als dass es sie beleidige. Und das störte sie wiederum, denn es zeigte ihr, dass sie diese beiden Plagen zu mögen anfing.

„Was für einen Ärger hast du diesmal vor?“, fragte Scarlett.

„Ich habe nie vor Ärger zu machen.“

„Das glaube ich dir, aber vielleicht solltest du, um zu vermeiden in noch mehr hineinzuschlittern, einfach nach Hause gehen“, sagte Raffael.

Etienne behielt ihr Lächeln aufrecht und vermied es, zu Raffael zu blicken, von dem sie ganz genau wusste, dass er sie vorsichtig beobachten würde, um seine eigenen Schlüsse von der Situation ziehen zu können. Damit würde sie nun jedoch eher umgehen können. Sie brauchte nur noch einen Moment, um sich zu wappnen. Also legte sie ihre Unterlagen in die Tasche und verschloss diese. Dann legte sie ihre Hände übereinander auf den Tisch und blickte lächelnd in ihre Gesichter, „Ist das ein Befehl?“

„Was?“, fragte Scarlett verwirrt.

Raffael verdrehte die Augen, „Fang jetzt nicht so an.“

Etienne ignorierte seine Worte, „Wenn das ein Befehl ist, dann müsst ihr mit Tatinne vorher besprechen, inwiefern das auf mich zutrifft. Soweit ich aber weiß, könnt ihr niemanden aus dem neutralen Provinz befehligen, also schulde ich euch keine Antwort.“

„Oh um Himmels Willen“, rief Scarlett aus, und setzte sich an einen Tisch weiter hinten, „Macht das unter euch aus.“

Etienne sah zu Raffael, „Also?“

Sein Blick war zunächst müde und schien kurz genauso resigniert zu sein, wie am Morgen, als sie ihm von ihrer Konfrontation mit Halil erzählt hatte. Doch dann bekam es etwas herausforderndes und sie war kurz wirklich in Versuchung darauf einzugehen.

„Keine Befehle. Aber ich könnte zufällig dasselbe vorhaben.“
Sie zwang sich, nicht darauf einzugehen. Diesmal durfte sie das nicht, auch wenn die Versuchung noch so groß war.

„Nein“, sagte sie. Bis hierhin und nicht weiter, für ihn und für sich. Sie hatte jedoch nicht das Gefühl, dass sie das aussprechen musste. Sie merkte, wie sich sein Ausdruck änderte, als er registrierte, dass sie seine Herausforderung nicht annahm und stattdessen klar eine Grenze zog. Er erwiderte stur ihren Blick und schien nachzudenken. Oder sich mit der Situation abzufinden. Oder vielleicht überlegte er sich auch, wie er damit durchkommen könnte, diese Grenze zu übertreten? Sie wünschte sich beinahe, dass es letzteres wäre, denn dann würde es ihr jede Berechtigung geben, rücksichtsloser mit ihm umzugehen. Vielleicht würde sie auch kein Mitleid mehr für ihn zu empfinden, obwohl sie gar nichts über die Situation wusste, die ihm zu schaffen gemacht hatte.

„Also wenn Mallory euch mit diesem Blick erwischt hat, wundert es mich nicht, dass sie flennend zu Bianca gerannt ist“, meldete sich Scarlett zu Wort.

Etienne blickte verwirrt zu ihr, überrascht von der Störung, die sie nicht erwartet hatte. Sie hatte Scarlett bereits ausgeblendet gehabt, „Was meinst du damit?“

Raffael ignorierte Scarlett und seufzte, „Gut. Erledige, was du erledigen musst. Ich brauche dich aber noch für einen Moment.“

Sie sah wider zu ihm, „Was brauchst du?“

Er nickte in Scarletts Richtung, welche daraufhin misstrauisch wieder aufstand, „Was?“

Etienne war unglücklich mit seiner Bitte. Sie wollte Scarlett nicht die Bilder zeigen. Am liebsten wäre es ihr, wenn diese nichts über die Existenz von dem Handy wusste. Aber sie hatte bereits vermutet, dass es darauf hinauslaufen würde.

„Na gut“, sagte sie seufzend und holte ein Blatt Papier und einen Stift hervor, „Aber nur, wenn ich mich darauf verlassen kann, dass es nicht weitererzählt wird.“

Sie sah zu Scarlett, welche trotzig das Kinn hob.

„Ich kümmere mich darum“, sagte Raffael und sah dann ebenfalls zu ihr, „Ich werde dir später alles genau erklären.“

Scarlett zögerte, nickte dann und Etienne machte sich an die Arbeit.

Raffael erzählte Scarlett währenddessen, was in der Bibliothek vorgefallen war und Etienne hatte ihren Unglauben gespürt, der sich dann in Wut gewandelt hatte.

Als Etienne das Handy auf das Blatt Papier legte, stürmte Scarlett regelrecht auf sie zu und sah sich den Inhalt an.

„Ich kann’s nicht fassen“, sagte sie, „was für eine schmierige kleine Ratte.“

Etienne sah sie abschätzend an und wunderte sich, ob sie eingreifen musste, wie sie es bei Raffael bereit war zu tun, als er die Bilder von Scarlett entdeckt hatte. Etienne hatte sie selbst zunächst gar nicht richtig registriert gehabt. Sie hatte nur versucht die Bilder von sich schnell loszuwerden und auf einmal war Scarlett auf dem Bildschirm abgebildet und Raffaels Blick war fest darauf gerichtet gewesen. Doch Scarlett schien ruhiger zu sein als er. Bis sie ihnen zu erzählen anfing, wie sie vorhatte ihn auseinanderzunehmen. Besorgt sah Etienne zu Raffael, welcher einfach nur schulterzuckend ihren Blick erwidert hatte.

„Wir würden das fürs erste unter uns behalten“, sagte er zu ihr, „Wenn es dich stört, streite dich mit Etienne darum, ich würde damit anders umgehen.“

Scarlett richtete sich wieder auf und verschränkte die Arme vor der Brust. Dann atmete sie einmal tief durch und sah wachsam von einem zum anderen. Misstrauisch betrachtete sie dann Etienne, „Mir egal, was du vorhast, aber wenn das noch ein Mal vorkommt, werde ich mich nicht zurückhalten.“

Etienne nickte lächelnd. Es würde kein zweites Mal vorkommen, zumindest nicht so lange sie noch in der Stadt war.

„Ich gehe kurz auf die Toilette“, sagte Scarlett und verschwand schnell.

„Ob das wirklich eine gute Idee war?“, fragte Etienne. Es prasselte leichter Regen gegen die Fenster. Es würde heute wieder ein kalter Abend werden und sie zog ihre Jacke schon mal an. Dann stützte sie ihren Kopf an der Hand ab und stellte fest, dass auch sie sich müde fühlte.

„Ich werde das nicht vor ihr geheim halten“, sagte Raffael, „Mal abgesehen davon kommt sie dir entgegen, nicht?“

Etienne tippte mit dem Finger auf den Tisch. Sie war nicht überzeugt davon, dass es so bleiben würde. Immerhin war Raffael selbst auf und dran gewesen, diesem kleinen Feigling hinterherzurennen. Und was gab Etienne die Sicherheit, dass Scarlett das nicht auch tun würde? Sie nahm sich vor, genau zu überlegen, wie sie damit umgehen würde, wenn die Situation doch größere Ausmaße annehmen sollte.

„Pass heute auf dich auf“, sagte Raffael nach einem Moment und blickte sie ernst an.

Sie grinste ihn an und sagte trocken, „Ich werde schon eine Nacht ohne dich überleben.“

Er erwiderte ihr Grinsen diesmal nicht, „Weiß du noch, wo ich gesagt habe, wo ich wohne?“

Sie verdrehte die Augen, „Soll ich weinend zu dir rennen. Die paar Stunden, die es von hier zu dir dauern sollte?“

Er zögerte, als sie die Entfernung ansprach. Tatinnes Zuhause war deutlich näher und er war gerade lächerlich. Sein Zögern wandte sich aber zu einem Lächeln und er legte nachdenklich den Kopf schief, „Hast du das nachgeschaut?“

Etienne tippte weiter mit dem Finger auf den Tisch, in einem passend Rhythmus zu den Tropfen, die gegen die Scheibe fielen. Sie würde ihm nicht erzählen, dass sie bereits in ihrer ersten Nacht in Calisteo Catjills Magie gefolgt war und schnell herausgefunden hatte, wo sein Haus war. Sie hatte nur genauso gut festgestellt, dass es für magische Wesen nicht zu betreten war, ebenso wenig wäre es ihr möglich gewesen, dort einzubrechen. Es war genauso gut geschützt, wie die Villa der McClaines. Und das war Etienne sonderbar vorgekommen, dass in einer kleinen Stadt wie Calisteo, solche Schutzmechanismen aufgebaut worden sind und sie hatte zu einem späteren Zeitpunkt Tatinne gefragt, was das auf sich hatte. Diese hatte ihr erzählt, dass das Ganze noch von Nexim stammte. Letztendlich war es vielleicht doch nicht so verwunderlich. Mächtige Menschen schützten ihr Hab und Gut durch mächtige Zauber.

„Offensichtlich muss ich wissen, wo sich mein Eigentum befindet“, erwiderte sie.

„Und was genau soll das sein?“, fragte eine liebevolle Stimme und sie blickte zur Tür. Sie hatte die sanften Schritte vernommen und vermutet, dass es sich um Scarlett handeln würde, doch stattdessen war eine hübsche junge Frau vor ihnen, welche freundlich lächelnd durch die Tür trat. Ihr Blick bedachte Etienne kurz und wanderte dann zu Raffael und sie rief erschrocken aus, „Um Himmels Willen, du siehst ja furchtbar aus! War es gestern so schlimm?“

Etienne sah wieder zu Raffael und entdeckte ein Lächeln in seinem Gesicht, von dem sie überrascht feststellte, dass sie sich nicht sicher war, wann sie es das letzte Mal gesehen hatte. War es, als sie ihn am Morgen ihres ersten Tages in Tatinnes Küche angetroffen hatte? Und dann in der Schule am Tag danach? Aber nicht mehr in der Villa der McClaines. Und danach auch nicht mehr. Ihr war das gar nicht aufgefallen, wie die undurchdringliche Mimik und das immerwährende Lächeln ausgewechselt wurden durch etwas, was Emotionen zeigte. Und das Schlimmste daran war, dass sie die Beobachtung über ihn bereits von sich her kannte. Sie waren ähnlich in diesem Vorgehen. Würde dies bedeuten, dass es bei ihr auch so war?

„Bianca Liebes. Was machst du so spät noch hier?“, sagte er in der typisch fröhlichen Stimme, die sie von ihm kannte. Nur noch die Augenringe zeigten seine Müdigkeit.

Etienne blieb still sitzen und versuchte keine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Diese Situation fühlte sich sonderbar an. Sie musste herausfinden, was Bianca wollte und wer genau sie war.

„Das könnte ich dich auch fragen. Musst du nicht dringend in dein geliebtes Provinz zurück?“

„Mach dir keine Sorgen darum. Die kommen auch sehr gut klar, wenn ich mal nicht da bin.“

„Dann könntest du ja zurück treten und endlich ein freies Leben wieder genießen“, sagte sie strahlend.

„Ich denke, für eine Weile bin ich dort noch ganz gut aufgehoben“, erwiderte er.

Bianca seufzte schwermütig, „Das ist so verschwenderisch. Wir hatten so viel Spaß, bevor du zum Provinzsherrscher wurdest. Du meldest dich auch nicht mehr so oft, obwohl du dir nun sogar ein Handy leisten kannst. Vielleicht hätte ich dir damals eines besorgen sollen.“

Etienne versteifte sich und schielte zu dem Handy auf dem Tisch, welches noch immer mit einem hellen Bildschirm das Bild zeigte, bei welchem Scarlett aufgehört hatte zu schauen. Sie musste es einpacken, bevor Bianca darauf aufmerksam wurde. Und als hätte Bianca dies gespürte, drehte sie sich zu Etienne und sprach weiter zu Raffael, „Wieso hast du dein Handy überhaupt herausgeholt? Du weißt doch, dass es selbst dir weggenommen wird, wenn du es offen herumliegen lässt.“ Dann wanderte ihr neugieriger Blick zu dem Bildschirm, „Habt ihr Bilder miteinander gemacht?“

Etienne schlug ihre Hand schneller auf den Bildschirm, als sie es beabsichtigt hatte. Sie war aber nicht bereit es an sich zu nehmen, weil sie nicht wollte, dass Bianca das Blatt mit dem Symbol sehen würde. Es war unwahrscheinlich, dass sie etwas Näheres über das Symbol wissen würde. Aber Etienne konnte die Chance nicht ausschließen, dass sie es vielleicht doch kannte und dann würde sie Verdacht schöpfen.

„Das ist meins“, sagte sie ihr. Wenn sie sich aufdrängen würde, die Bilder zu sehen, dann würde das Raffael in ein furchtbares Licht rücken, erst recht wenn sie davon ausging, dass es seines war. Und Etienne wusste nicht, ob er sich wehren würde oder nicht. Aber wenn er es würde, dann würde der Druck steigen, es abzugeben. Und wenn nicht, dann müsste er unter Umständen für die Tat eines Anderen geradestehen. Und bei dem Blick, den Bianca in ihren Augen hatte, hatte Etienne das Gefühl, dass sie nicht darüber schweigen würde.

Die dunkelgrünen Augen von Bianca wanderten abschätzend zu ihr. Das Lächeln verschwand nicht.

„Das gehört dir?“, ihre Augen wanderten nun zum ersten Mal richtig über sie, „Wie kannst du dir eins leisten?“

Sie sah sie von oben bis unten an, sah zu der Jacke und zu der Tasche, welche sie alle von Tatinne bekommen hatte. Sie waren in gutem Zustand, sahen gut aus, waren aber alt.

„Das ist eine unhöfliche Frage, Liebes“, sagte Raffael, noch immer mit einem Lachen in der Stimme. Etienne wandte den Blick nicht von Bianca ab, sah ihn aber in ihrem Blickfeld eintreten, als er hinter sie trat und eine Hand auf ihre Schulter legte. Sie konnte aus seiner Mimik nicht herauslesen, was er fühlte oder dachte und das gab ihr genug, um ihre eigenen Schlüsse zu ziehen. Sie hatte nicht das Gefühl, dass diese beiden Freunde waren. Aber es schien auch nicht der Fall zu sein, als wäre Bianca ihm gegenüber feindselig. Aber es gab irgendetwas, was sich bedrohlich anfühlte.

„Es war ein Geschenk“, antwortete Etienne ihr und entschloss sich, Tatinne als ihr kleines Schutzschild zu nutzen, „Meine Tante ist sehr wohlhabend. Und sie unterstützt sehr gerne ihre einzige Nichte.“

Bianca sah sie weiterhin ruhig an, während sie langsam ihre Hand auf die von Raffael legte, „Von deiner Tante?“

Sie schwieg einen Moment, schien jedoch keine Antwort auf die Frage haben wollen. Dann sprach sie weiter, „Du bist neu in der Stadt, nicht? Wie war dein Name noch gleich?“

Etienne entschloss sich, es Raffael gleich zu machen und setzte ihr bestes Lächeln auf, „Ich bin Etienne. Gerade erst ein paar Tage hier. Nett dich kennen zu lernen.“

Normalerweise würde sie nach Freundschaft fragen. Dies hatte sich bisher immer als ganz gut erwiesen, um sich als offen und zugänglich zu zeigen. Diesmal jedoch, wollte Etienne nicht, dass es angenommen werden würde. Es fühlte sich an, als würde sie ihr eine Schwachstelle zum Ausnutzen geben.

„Warlen hat uns gebeten etwas acht auf sie zu geben“, hörte sie Raffael sagen, „Sie hat sich den einen oder anderen Fauxpas erlaubt.“

Etienne vermied es, das Gesicht zu verziehen. War das wirklich der Fall? Sie brauchte keinen Bewacher, weder ihn, noch sonst wen. Und es war ihr auch egal ob er sich selbst zu diesem ernannt hat, aber erst recht wollte sie es nicht, wenn ein Lehrer dies in Auftrag stellte. Ihr fiel ein, dass Halil etwas davon gesagt hatte, dass Warlen in Raffaels Provinz war. War das nicht praktisch?

„So schlimm bin ich nicht“, sagte Etienne lachend, „Nun meint jedoch die halbe Klasse mich unter Bewachung zu stellen.“

„Unter Bewachung?“, fragte sie verwundert nach, „Das ist eine exzessive Reaktion bei jemanden so kleinem, der erst nur wenige Tage hier ist.“

Etienne bemerkte, wie Raffaels Gesicht sich versteifte, dann schien er mehr Druck auf ihre Schulter auszuüben, sodass sie den Kopf zu ihm wandte.

„Mach dir nicht so viele Gedanken, Bianca. Es gibt wichtigeres, worüber sich Leute, wie du und ich, Sorgen müssen. Das ist nur ein kleines Klassendrama.“

Sie lächelte strahlend zu ihm, „Das stimmt. Beispielsweise wie wir dafür sorgen, dass du endlich abgelöst wirst. Wäre Eldan nicht endlich bereit dazu, den Provinz zu übernehmen?“

Er lachte ihr entgegen, „Wenn du so drum bittest, werde ich sehen, was sich machen lässt. Wie immer ist das nicht so einfach.“

Sie lachte wieder und umarmte ihn dann. Etienne beobachtete, wie sein Gesicht versteinerte. Dann suchten seine Augen ihre, als er die Umarmung erwiderte und ihr mit der einen Hand beruhigend über den Rücken strich. Er deutete auf das Handy am Tisch. Etienne packte es leise weg und versuchte das Papier leise wegzustecken, während er sprach, „Na komm. Es ist Zeit nach Hause zu gehen. Vor allem für dich ist es nicht ganz ungefährlich zu dieser Zeit. Wirst du abgeholt?“

Sie lachte erneut in seinen Hals hinein, dann richtete sie sich auf ihre Zehenspitzen auf, zog ihn zu sich und küsste ihn. Etienne fühlte sich unwohl bei der Darstellung und sie merkte auch, dass seine Augen nicht den Ausdruck hatten, denn sie von jemandem erwarten würde, der den Ruf von einem Frauenliebling hatte. Der Ausdruck verschwand jedoch, als sie sich zurück zog und er lächelte ihr entgegen, während sie ihm die Wange tätschelte.

„Es ist süß, dass du dir Sorgen machst, aber ich kann besser auf mich aufpassen, als du auf dich. Ein Grund mehr, dass du dich schnell darum kümmerst, deine Provinz von jemand anderem übernehmen zu lassen“, sagte sie in einer liebevollen Stimme und ging dann zur Tür. Etienne atmete beinahe erleichtert auf, denn sie beachtete sie nicht beim Hinausgehen und das beruhigte sie.

„Und keine alten Frauen, während ich nicht hinschaue“, rief sie über die Schulter zu ihm herüber.

„Was soll diese Aussage?“, hörte Etienne dann Scarlett im Gang zu ihr sagen. Sie tauchte vor der geöffneten Tür und schien missbilligend Bianca hinterher zu blicken, dessen Stimme sich langsam entfernte, „Versuch bitte nicht so ein schlechter Einfluss auf ihn zu sein, Scarlett.“

Scarletts Gesicht wurde rot vor Wut, doch entgegen Etiennes Vermutung, griff Scarlett nach dem Türgriff und sah ihr wütend hinterher, anstatt in einem Streit auf sie loszugehen. Dann wandte ihr Blick sich langsam zu Raffael und Etienne, „Was wollte diese Verrückte hier?“

Raffael zuckte mit den Schultern und sagte in einer unbeschwerten Stimme, „Wahrscheinlich nur schauen, ob was auch immer Mallory ihr erzählt hat, stimmt.“

Scarlett bedachte ihn mit einem prüfenden Blick. Dann ging ihr Blick zu Etienne, „Er wird’s mir nicht erzählen, also leg los. Was hat sie gemacht? Soll ich ihr morgen am Hof vor der ganzen Schule die Augen auskratzen?“

„Da gibt es nichts zu erzählen und erst rechts nichts auszukratzen“, sagte er und sie hörte den warnenden Unterton in seiner Stimme. Es war derselbe, der mitgeschwungen hatte, als er sie davor gewarnt hatte, sich unnötig in Schwierigkeiten mit anderen Schülern zu bringen. Etienne hatte aber auch nicht vor, sich in diese Angelegenheit einzumischen. Sie hatte sich schon lange nicht mehr so unwohl gefühlt und sie konnte nicht benennen, was an dieser Situation so verstörend schien, dass es sie innerlich aus der Bahn warf. Was auch immer hier zwischen den Beteiligten lief, das war nicht ihre Angelegenheit und sie hatte kein Interesse, da hineingezogen zu werden, „Ich muss jetzt leider wirklich gehen.“

„Mach das“, sagte er und Scarlett schnaubte.

„Ich werde morgen noch mal nachfragen“, sagte sie wütend, „Ich hab mich schon bei Braad zurückgehalten, glaube ja nicht, dass ich bei ihr schweigen werde.“

Als Etienne bemerkte, dass diese Aussage mehr an Raffael ging, als an sie, packte sie ihre Sachen und trat schnell hinaus.

„Komm gut nach Hause“, hörte sie Scarletts wütende Stimme in ihrem Rücken und Etienne stellte beeindruckt fest, dass sie ihre Wirkung bei ihr erreichte.

10.

Etienne blickte in den Spiegel und zog vorsichtig das Pflaster an ihrem Gesicht ab. Die Salbe von Tatinne hatte ihre Arbeit gut gemacht. Die Stelle war noch stark gerötet und die neue Haut sah fein und fragil aus, aber zumindest die anderen Kratzer drum herum waren verschwunden. Es sah so aus, als wäre die Heilung sehr gut fortgeschritten und es sollte keine Narbe zurückbleiben. Anders sah es jedoch bei ihrer Schulter aus. Diese war noch immer blau und wenn sie zu abrupte Bewegungen tat, dann stach ein unangenehmer Schmerz durch ihren Körper. Sie seufzte schwer und versuchte noch mal ihre Schulter zu bewegen. Es war unangenehm. Also blieb ihr zu entscheiden, ob sie ein Schmerzmittel nehmen sollte oder nicht. Sie konnte natürlich auch die Zähne zusammenbeißen.

„Und?“, fragte Tatinne, welche hinter ihr stand und ihre Schulter betrachtete.

„Es ist noch nicht wirklich soweit“, erwiderte Etienne.

„Und der Rest? Was ist mit deinem Bein?“

Etienne sprang einige Male hoch und streckte ihr Bein. Mit Ausnahme eines unangenehmen Ziehens an der Haut, war sie hier wieder fit. Die Wunden des Crawlings waren nur Oberflächlich geblieben und um die ganzen Bakterien hatte sich Tatinne gekümmert, sodass es keine Infektionen gab.

Tatinne konnte viele Medikamente herstellen, vor allem welche, die Fleischwunden gut reinigten und die Heilung beschleunigten. Gegen Verstauchungen waren sie jedoch nicht hilfreich.

„Ist gut soweit. Noch ein, zwei Tage, dann sollte das meiste durch sein. Bei der Schulter wird es länger dauern.“

Tatinne trat zu ihr und betastete ihre Schulter. Sie war nicht wirklich sanft und Etienne unterdrückte eine Beschwerde.

„Ich kann dir etwas gegen den Schmerz geben. Nimm es einfach vor dem Kampf und die Nebenwirkungen werden dir erst später zu schaffen machen.“

Etienne nickte und zog ihre Schuluniform an. Sie würde weitere Kleidung mitnehmen und sich in der Turnhalle schnell umziehen. So wie sie das plante, sollte niemand außer ihr und ihm in der Halle sein und das für mindestens eine Stunde. So lange würde sie dort aber auch nicht bleiben. Sie rechnete damit, dass der Kampf nach wenigen Minuten vorbei sein sollte. Und entweder würde er sie auf eine furchtbare Art treffen und sie würde es nicht schaffen ihren Plan umzusetzen oder sie würde ihn schnell überwältigen und dann ging es nur darum, abzuwarten.

„Hier“, sagte Tatinne und legte ihr eine kleine Tüte hin. Etienne blickte hinein und zog eine Flache Parfüm und eine kleines Fläschchen einer farblosen Flüssigkeit heraus.

„Das ist das Gegenmittel“, sagte Tatinne und deutet auf die farblose Flüssigkeit, „Siehe zu, dass du es nimmst, bevor du das Parfüm aufträgst. Und gib ihm nach dem Kampf auch was, ich will kein gelähmtes Kind nach dieser Auseinandersetzung zu bejammern haben.“

Etienne erwiderte nichts, denn sie wusste, dass Tatinne nichts dazu weiter hören wollen würde. Sie vertraute darauf, dass Etienne ihrer Anweisung folgen würde und unter diesen Umständen gab es für Etienne keinen Grund, es nicht zu tun.

„Und sorge dafür, dass du das alles abwischst, bevor du in die Klasse gehst. Ich hab dir feuchte Tücher hierfür vorbereitet. Werfe sie aber nicht weg und bring sie mir wieder zurück.“

Etienne nickte, was Tatinne jedoch nicht beachtete.

„Wo ist eigentlich dein kleiner Kater?“, fragte Tatinne sie.

„Er schläft noch oben. Du müsstest heute noch einmal auf ihn aufpassen.“

Tatinne verdrehte die Augen, packte einige Handtücher zusammen und ging hinaus, „Ich hab es nicht anders erwartet.“

Etienne packte die Sachen in die Baumwolltasche, wickelte diese vorsichtig um das Glas und packte es dann in ihre Tasche zu den Büchern.

Sie ging in die Küche, in welcher Tatinne ihr Frühstück vorbereitete. Etienne nahm sich etwas leichtes, was ihr für die nächsten Stunden den Hunger nehmen würde, und eine Flasche Wasser mit. Dann machte sie sich auf den Weg.

Sie war etwas früher losgegangen, als sonst. Zu groß war die Sorge, dass Raffael auftauchen und ihr folgen würde. Sie würde sich nicht von ihrem Plan abbringen lassen, aber von allen Leuten, die anwesend sein könnten, wollte sie ihn am wenigsten anwesend haben.

Sie lief die leeren Straßen entlang. Heute sollte das Wetter nicht so bedrückend sein, wie die letzten Tage. Kein Regen, welcher den Streit und die Bedrohung begleiten würde. Stattdessen sollte die Sonne scheinen, doch dafür war es noch viel zu früh. Es würde wahrscheinlich nicht mal ein Sonnenstrahl fallen, wenn Etienne mit Halil fertig werden würde. Und bis dahin ging sie ein Risiko ein, nur um die Situation friedlicher zu lösen, als sie es eigentlich musste. Selbst Tatinne hatte die Augen bei ihrem Plan verdreht und Etienne hatte sich unwohl gefühlt und hinterfragt, ob es nicht einen anderen Weg gab, den sie übersah. Doch damit würde sie sich nun nicht weiter beschäftigen. Sie hatte sich für einen Weg entschieden. Den würde sie bis zum Schluss gehen.

Also schlich sie erneut in die Halle, diesmal schneller als am Vortag. Sie hatte sich am Abend noch einmal hineinbegeben und Halil dabei zugeschaut, wie er seine Abendroutine beendet hatte. Nachdem er weg war, hatte sie sich angeschaut, wie die Umkleiden aufgebaut waren, welche Versteckmöglichkeiten es gab und wo Halils Schließfach war. Sie hatte auch dafür gesorgt, dass die Tür sich nicht richtig verschließen ließ, sodass sie diesmal einfach hinein ging, ihre kleine Sabotage korrigierte und die Tür hinter sich zufallen ließ. Sie war jedoch nicht gänzlich eingesperrt in der Halle, denn sie hatte die Türen an den oberen Sitzplätzen ebenfalls behandelt, sodass sie notfalls dort hinauslaufen konnte.

Als sie in die dunkle Umkleide hineinging, nutzte sie ihr Talisman für mattes Licht, um sich etwas besser orientieren zu können.

Sie ging in die Ecke bei den Duschen, welche sie sich am Vortag herausgesucht hatte und wartete ab. Sie hatte Halil mit einer Wasserflasche aus dem Gebäude gehen sehen, aber diese nicht in der Halle ausmachen können. Also würde er sie wahrscheinlich in der Umkleide lassen. Sie zog sich schnell in ihre gewohnte Kleidung um. Sie wäre nicht so bequem, wie sein Karateanzug oder wie die einfachen Sportsachen, aber sie hatte nichts anderes, was sie nutzen konnte. Also stopfte sie die Uniform in ihre Tasche und bewegte noch einmal etwas ihre Schulter, im Versuch sie etwas zu lockern und nahm nach einem kurzen Blick auf die Uhr die Schmerztablette, die Tatinne ihr gegeben hatte. Und sobald sie hörte, wie die schwere Tür im Gang zufiel und energische Schritte in die Umkleide führten, zog sich sich zurück und blieb so still, wie man es ihr beigebracht hatte.

Sie hörte, wie die Tür aufgerissen wurde und anschließend ein Schließfach. Weitere Geräusche folgten, wie sich jemand Umzog und wie die Tür des Schließfaches wieder zugeworfen wurde. Als die Person den Raum verließ, vermutete Etienne, dass sie in die Halle gegangen war. Sie wartete noch einige Momente ab und als sie vernahm, wie in der Halle Matten ausgelegt wurden, trat sie aus den Duschen und ging zu dem halb geöffneten Schließfach. Als sie an dieses trat, öffnete sie vorsichtig die Tür und suchte nach dem Ausweis der Person. Und es handelte sich, wie sie vermutet hatte, tatsächlich um Halil. Sie legte sein Portemonnaie wieder in seinen Rucksack und nahm die Wasserflasche, welche er in seiner Sporttasche liegen hatte. Etienne füllte einige Tropfen der farblosen Flüssigkeit in sein Wasser. Tatinne hatte gemeint, dass es keine Überdosis bei diesem Gegengift geben könnte. Es war eine einfache Substanz die leicht vom Körper abgebaut werden konnte. Anders war es bei dem Parfüm. Tatinne nannte jede Frau, die es trug, eine Schlange. Und das lag daran, dass es sich langsam um sein Oper wand, ihm die Luft ausdrückte und in die Bewusstlosigkeit trieb. Die Frauen machten dann den Rest. Etienne hatte heute nicht vor, so weit zu gehen.

Sie trank etwas von der Flüssigkeit, bevor sie alles wieder einpackte und spritze sich dann einige Spritzer des Parfüms an den Hals, an den linken Oberarm und in die Armbeuge. Wenn sie das so plante, wie sie es vorhatte, waren das die richtigen Stellen. Sie war zwar mit dem anderen Arm stärker, aber der Schmerz in ihren Schultern würde gegen sie arbeiten.

Etienne nahm ihre Tasche mit sich und trat leise durch die Umkleidetür in die Halle. Halil stand still auf einer Matte, die Hände zu Fäusten geballt. Seine Augen waren geschlossen und er hatte den Kopf in den Nacken gelegt. Sie merkte, wie er kontrolliert atmete. Kurz wunderte sie sich darüber, ob sie sich ankündigen sollte oder nicht. Dann entschloss sie sich, dies nicht zu tun. Er würde sich erschrecken, wenn er sie still sitzend an den Bänken ausmachen würde. Das würde jeden normalen Menschen aus der Bahn werfen und verunsichern. Zusätzlich zu seiner Wut, welche ihn immer impulsiv machte, war es genau das was sie brauchte, um einen Vorteil zu erhalten. Und falls nicht, dann war es nicht allzu schlimm. Nur ein Bonus, zu ihrem ohnehin sicheren Plan.

Also setzte sie sich auf die Bank und legte den Kopf in die Hände. Sie blickte zu der Uhr und nahm sich ein Zeitfenster, in welchem sie ihn spätestens auf sich aufmerksam machen würde. Sie wollte das Ganze erledigt haben, bevor die Clubmitglieder hinzukommen würden.

Halil fing an, sich zu bewegen. Diesmal wärmte er sich nicht auf, indem er Runden lief, sondern vollführte einige lockere Übungen. Etiennes Gedanken wanderten zum Vortag zurück. Und erneut zwang sie sich, nicht an das Bild im Klassenzimmer zu denken und die Ambivalenz von Raffaels strahlend-bedrücktem Gesicht. Die Situation hatte sie genug verwundert, dass sie Tatinne danach fragen wollte, doch sie hatte sich dagegen entschieden, mit genau demselben Eifer, mit dem sie sich zwang sich von diesen Gedanken abzuwenden. Sie konnte es sich nicht leisten innerlich unausgeglichen zu sein. Diese Rolle hatte sie bereits Halil zugesprochen. Also sprach sie ihr Mantra im Kopf, schöpfte die innere Ruhe und Sicherheit aus diesem, welches sie brauchte und beobachtete dann erneut Halil. Überprüfte noch einmal seine Bewegungen, nur um sicherzugehen, dass sie am Vortag nichts übersehen hatte. Er führte weiterhin die stumpfen Bewegungen aus. Weiterhin schnell und zielstrebig, mit so viel Energie, dass sie sich wirklich Sorgen machte, dass ihre Schulter einen Schlag von ihm nicht überleben würde. Sie machte sich schon mal darauf gefasst, dass es wirklich weh tun würde.

Er bewegte sich weiter, immer wieder, bis er erneut an einer Figur hängen bleib, welche er nicht schaffte richtig auszuführen. Es waren nur Kleinigkeiten, aber das zeigte ihr, was für ein Perfektionist er zu sein schien. Dann sah sie ihm dabei zu, wie er beinahe ausrutschte, als die Wut, es nicht zu schaffen ihn übermannte. Kurz blieb er stehen, starrte wütend und schwer atmend in die Leere und seufzte dann resigniert. Heute war seine Stimmung etwas anders, als am Vortag.

Er fuhr sich mit der Hand durch die ungewöhnlich blonden Haare und drehte sich dann zur Seite. Es dauerte einen Moment, aber dann sah er sie. Blinzelte verwirrt, schien nicht so recht zu wissen, was er mit der Beobachtung anfangen sollte.

„Das sah sehr misslungen aus“, kommentierte sie seine Leistung nach einem kurzen Moment, in welchem sie ihre Anwesenheit auf ihn Wirken lassen wollte. Dann betrachtete sie zufrieden, wie die Wut in seinen Augen erneut aufleuchtete. Genau das, was sie bewirken wollte. Wie wollte er ein guter Kämpfer werden, wenn er innerlich so unausgeglichen war?

„Mir wurde gesagt, dass du lebensmüde bist. Ich habe gestern angezweifelt, ob das stimmt. Aber ich schätze die Einschätzung war gar nicht so falsch.“

Sie lachte und erwiderte, „Das kann nicht sein. Ich kann überhaupt nicht nachvollziehen, womit ich diese Beschreibung meiner Person verdient haben sollte.“

„Dir ist bewusst, dass nun, wo du hier bist, ich dich definitiv nicht einfach heraus spazieren lassen werden“, sagte er bedrohlich und Etienne beobachtete verschiedene Emotionen in seinem Gesicht. Eine, die besonders hervorstach, war Vorfreude. Sie konnte sich gut vorstellen, wie diese zustande kam. Sicherlich konnte er es kaum erwarten, etwas Dampf abzulassen.

Sie klopfte sich auf die Schenkel und stand unbeschwerlich auf, „Dann lass mich direkt mein Anliegen formulieren. Ich bin mir noch nicht ganz sicher, wie das hier in Calisteo abläuft, aber ich will dich herausfordern.“

Tatinne hatte ihr die Regeln erklärt und Etienne hatte sich überlegt, wie sie vorgehen würde. Schritt für Schritt. Das Erste war, dass sie die Herausforderung aussprechen musste. Somit konnte sie den Preis festlegen, den er annehmen oder ablehnen konnte. Wenn er ablehnte, musste er einen Gegenpreis vorschlagen. Bis sie sich geeinigt hätten, dürfte kein Kampf stattfinden. Etienne war sehr in Versuchung gewesen, es auf ein ewiges Hin und Her ankommen zu lassen. Aber sie würde ihn lieber schnell loswerden wollen, anstatt ihn für die Dauer ihres Aufenthalts in Calisteo um sich herumschwirren zu lassen.

Er grinste sie breit an und verschränkte die Arme vor der Brust, „Hätte nicht gedacht, dass das von dir kommen würde.“

Sie zuckte mit den Schultern und spürte den Schmerz durchzucken. Vorsichtig hob sie die Hand und massierte leicht die Stelle, damit sich die Muskeln lockern würden.

„Wie gesagt, es gibt so manche Einschätzungen zu mir, die komplett falsch sind. Eigentlich bin ich ein Opfer von Missverständnissen.“

Sein Grinsen wurde breiter, „Das sorgt beinahe dafür, dass ich bereit wäre dir dein Einmischen zu verzeihen. Zu schade, dass ich der fürchterlichste Mensch bin, dem du hier hättest begegnen können.“

Sie behielt ihr Lächeln aufrecht. Lieber wäre es ihr, aber sie ging nicht davon aus, dass er es wirklich tun würde.

„Also“, sagte er in einer feierlichen Stimme, legte kurz den Kopf schief und dachte nach.

„Etienne. Etienne…“, er runzelte kurz verwirrt die Stirn und sagte dann, „Aus der Klasse A-3. Nervigste Neue, die ich je gesehen habe. Was kämpfen wir, wie sind die Siegesbedingungen und was willst du haben?“

Ihr Herz pochte etwas bei seiner Ansprache. Zu ihrer Überraschung hatte er ihr aber alle Dinge genannt, die Tatinne ihr genannt hatte. Das überraschte sie, denn es schien, als würde er ihr Halbwissen ausnutzen wollen, um ihr im Kampf gegenüber einen Vorteil zu gewinnen. Dies konnte natürlich daran liegen, dass er sie als eine sehr geringe Gefahr einschätzte. Das verwunderte sie nicht, denn es gab keine Möglichkeit für ihn zu wissen, dass sie gegen einen Crawling im Haus der McClains gekämpft hatte oder gegen Wächter im Château de la Fortune. Auf der anderen Seite musste sie aber auch daran denken, wie er Anaki mit Vorwarnung geradeaus von vorne angegriffen hatte. Das gab ihr das Gefühl, dass er sehr direkt war. Vielleicht war er sogar ehrenhaft und fair, wenn es um einen Wettkampf ging. Sie hatte aber in der kurzen Zeit keine Möglichkeit gehabt, das zu überprüfen.

„Ich kann kein Karate. Also wäre ich dankbar, wenn von mir nicht abverlangt werden würde, nach dieser Kampfkunst zu kämpfen.“
Er nickte grinsend, „Gut. Nutze, was auch immer du nutzen kannst. Ich versuche nicht zu hart mit dir umzugehen.“

Sie lächelte zufrieden, „Die Siegesbedingungen werden sein, dass wer zuerst aufgibt, der verliert.“

„Nein“, sagte er direkt, „Ich will einen Kampf und nicht ein direktes Aufgeben in den ersten Sekunden.“

„Oh“, meinte sie in gespielter Verwunderung, „Mir war nicht bewusst, dass ihr in Calisteo das so macht. Oder ist es deine Art mit Herausforderungen umzugehen?“

Sein Grinsen wurde etwas kleiner, verschwand aber nicht gänzlich, während er seine Aussage etwas präzisierte, „Ich will nicht, dass du direkt aufgibst.“

„Ah“, sagte sie strahlend, „Dann lass es mich folgendermaßen umformulieren. Der Kampf hat eine Mindestdauer von fünf Minuten. Danach kann aufgegeben werden, wenn eindeutig ist, dass er für eine Person nicht zu gewinnen ist.“

Er dachte kurz über ihre Worte nach, aber es gab keinen Grund für ihn, das nicht anzunehmen. Er könnte diese Bedingung großzügig auslegen und ihr das Aufgeben verweigern und ihre Siegeschancen immer wieder durch bestimmte Handlungen neu auslegen. Es gab keinen Grund anzunehmen, dass für sie der Kampf aussichtslos wäre, wenn er ab und zu etwas nachgiebiger wäre.

Zu dem Schluss schien er auch zu kommen, denn er nickte zufrieden, „Einverstanden. Kneife nicht zu schnell, nach den fünf Minuten. Weiter.“

„Der Preis. Eigentlich gibt es nicht wirklich viel was ich will, außer, dass mein Aufenthalt hier nicht mit zu viel Ärger verbunden ist. Da scheinbar Anaki derjenige ist, der den Ärger mit dir anzieht, gibt es folgende Sachen, die ich will: Du wirst weder mit ihm, noch mit mir, einen weiteren Kampf anfangen. Du wirst auch niemandem zu uns schicken, um einen Kampf mit uns anzufangen und du wirst keine Geschichten erfinden, sodass du indirekt der Grund bist, weshalb jemand ein Kampf mit uns anfängt. Oh und du und ich werden den Morgen heute unter uns behalten. Du wirst das an niemanden weitererzählen.“

Während er bei den ersten Worten sehr genervt schien, erst recht, als sie Anakis Namen genannt hatte, brach er bei den letzten in Gelächter aus.

„Hast du Angst einen schlechten Ruf in der Schule zu bekommen? Keine Sorge, die Meisten werden dich bemitleiden.“

„Nimmst du an?“, sie lächelte ihm entgegen und ignorierte seinen Einwand.

Sein Grinsen verschwand kurz, während er nachdachte. Das verunsicherte sie etwas, denn sie hätte gedacht, dass er sie so sehr unterschätzen würde, dass er locker auf alles eingehen würde, was sie ihm vorschlug. Kurz hatte sie Sorge, dass sie mit ihm darüber diskutieren müsste und die wertvolle Zeit voranschreiten würde. Doch zu ihrer Erleichterung nickte er.

„Sehr schön. Ja“, er bedachte sie mit einem wachsamen Blick und lächelte dann, „Los geht’s.“

Bevor sie etwas dazu sagen konnte, griff er sie an. Sie sprang zur Seite, erneut überrascht von seiner unglaublichen Geschwindigkeit. Sie hatte jedoch nicht vergessen, wie schnell er sich im Klassenzimmer bewegt hatte. Also lief sie die ganze Zeit zurück, spürte irgendwann die weichen Matten unter ihren Schuhen, welche sie anbehalten hatte, und wartete auf den Moment, an welchem er den Schlag ausführen würde, mit dem er nicht so sicher war. Es dauerte auch nicht lange und er zielte genau auf ihre Schulter. Sie ließ es darauf ankommen, dass er sie dort traf, schlug aber im selben Moment zurück, um ihn noch mehr aus dem Gleichgewicht zu bringen. Etienne biss die Zähne zusammen, als die Schulter zu brennen anfing und zwang sich dazu, sich weiter zu bewegen. Als er leicht nach hinten stolperte nutzte sie den Moment, sich schnell hinter ihn zu stehlen und sein Bein, welches er nutzen wollte, um das Gleichgewicht wieder zu finden, mit ihrem Fuß zu treten. Dann sprang sie auf seinen Rücken und nahm ihn in den Würgegriff, achtete darauf, dass der Oberarm mit den Parfümspritzern um seinen Hals geschlungen war und dann warf sie sich nach hinten und unterdrückte ein Keuchen, als sie sein schweres Gewicht auf ihr spürte. Etienne schlag die Beine um ihn und hielt ihn fest. Jetzt musste sie nur noch durchhalten, bis das Parfüm seine Wirkung erzielte.

Er bewegte sich nicht und sie vermutete, dass er überrascht davon war, sich in dieser Position wiederzufinden. Daran zweifelte sie nicht, da sie noch bis vor kurzem komplett in der Defensive war. Seine nervigen Haare hingen ihr ins Gesicht und kitzelten ihre Nase, aber sie war so sehr darauf konzentriert ihre Körperspannung aufrecht zu erhalten, dass sie es nur am Rande merkte. Ihre Schulter tat furchtbar weh. Aber das würde vorbei gehen. Sie musste nur ein paar Minuten durchhalten.

„Nicht schlecht“, sagte er mit Anerkennung in seiner Stimme und rührte sich kaum, „Was genau hast du nach dieser Darstellung aber vor? Du bist wohl kaum stark genug, mich in die Bewusstlosigkeit zu würgen. Und ich werde nicht aufgeben.“

Sie atmete selbst schwer. Sie musste in paar Minuten Zeit schinden.

„Ich dachte mir“, sagte sie und ließ ihrer Kreativität freien lauf, „dass du dich vielleicht von meiner Weiblichkeit überzeugen lässt.“

Er lachte, „Ist das der Grund, weshalb du dich in Lavendel eingesprüht hast?“

Sie lächelte zufrieden. Er atmete es ein. Das, was an ihrem Hals und an ihrem Arm war. Selbst wenn sie es nicht schaffen sollte, ihn bis zum Schluss im Griff zu haben, sie musste ihn nur lange genug halten, dass er genug eingeatmet hatte, um Nebenwirkungen zu zeigen. Spätestens mit diesen würde sie ihn problemlos besiegen können und den Sieg auf das Parfüm schieben.

„Meine Tante hat es mir gegeben. Ist es nicht reizend?“

Sie merkte, wie er sich etwas bewegte. Langsam testete er, wie sicher ihr Griff um ihn war.

„Du wirst mir schon weh tun müssen, wenn du hier raus willst“, sagte sie.

„Bist du sicher, dass du das mit deinen Wunden aushältst?“, fragte er belustigt.

„Klar doch“, meinte sie, „ Und nur damit das klar ist, die Schulter habe ich dir mit Absicht gezeigt.“

Sie hatte überlegt, es für sich zu behalten, dass sie ihn damit geködert hatte, dort gezielt anzugreifen. Aber nachdem nahezu jeder immer wieder ihre Fähigkeiten infrage stellte, was sie den Personen wirklich nicht verübeln konnte, wollte sie sich wenigstens in einigen Bereichen einen kleinen zufriedenstellenden Sieg anerkennen lassen.

„Ist das so? Was denkst du aber, wie lange du es mit dieser aushältst?“, fragte er und legte seine Hand an ihren Arm, übte Druck aus und schien auch hier einzuschätzen, wie fest sie zuhielt, „Vielleicht ein paar Minuten? Du magst es mir gezeigt haben, aber deinem Gesichtsausdruck nach, muss es furchtbar wehgetan haben.“

„Eigentlich brauche ich auch nur ein paar Minuten“, sagte sie in sein Ohr und versuchte diese verfluchten Haare aus ihrem Mund zu halten. Ihr Blick huschte wieder zur Uhr und sie entschloss sich, in den Kampf erneut einzusteigen. Desto energischer er wurde, desto mehr würde er sich wehren und desto mehr er sich wehren würde, desto mehr würde er einatmen und das Zeug in seinen Kreislauf bekommen. Außerdem wurde es Zeit, dass er panisch wurde. Aktuell war er ihr noch viel zu ruhig

„Weißt du“, sagte sie langsam und nahm sich Zeit, ihre Worte zu sprechen, „meine Tante ist sehr versiert darin, verschiedenste Sachen zu kochen. Und sie hat ein Parfüm in die Hände bekommen, an welchen sie seit ein paar Jahren gefeilt hat. Frauen nutzen es meistens, um aufdringliche Männer sich vom Leib zu halten. Wenn sie zu nahe kommen, und das für eine Weile einatmen, dann hat es ein paar Nebenwirkung. Ich werde mir jetzt die Zeit sparen zu erklären welche das sind. Das wirst du in… ah, in zwei Minuten herausfinden.“

Er schwieg für einen Moment. Sie wünschte sich, sie könnte sein Gesichtsausdruck sehen. Dann hob er eine Hand, schloss sie zur Faust und öffnete sie wieder und Etienne war sich sicher, dass er sich darauf vorbereitete gleich zuzuschlagen.

„Du vergiftest mich?“, fragt er bedrohlich.

„Hättest nicht sagen sollen, dass ich nutzen kann, was ich kann“, erinnerte sie ihn an seine leichtsinnige Zusage zu ihrer vereinbarten Kampfart. Sie hatte nicht einmal darauf beharren müssen. Er hatte es ihr einfach so gegeben.

Seine Hand wanderte blitzschnell zu ihrer Schulter und er drückte fest zu. Etienne unterdrückte ein Schmerzenslaut und verstärkte ihren Griff. Sie musste nur etwas durchhalten.

Das ist es wert, sagte sie sich.

Er schlug mit dem Ellenbogen in ihre Seite, etwas, was sie erwartet hatte und Vorkehrungen getroffen hatte. Es tat dennoch weh. Er hatte eine unglaubliche Kraft und Geschwindigkeit. Nur seine Technik und Konzentration ließen zu wünschen übrig. Der letzte Schlag war nicht so gut gesetzt, wie er es hätte sein können.

Nach einigen Momenten merkte sie, wie sein Energie etwas nachließ. Nicht viel, aber genug, dass sie den Unterschied spüren konnte. Sehr schön. Das bedeutete, dass er genug davon eingeatmet hatte. Nun war es egal, ob sie ihn festhalten konnte oder nicht, die Zeit war auf ihrer Seite. Sie hörte ihn fluchen und nahm diesen Moment zum Anlass schnell zu sagen, „Pass gut auf, denn das wird jetzt wichtig für dich. Du merkst sicherlich bereits, wie dein Blick langsam an Schärfe verliert. Das wird schlimmer werden.“

Er hörte kurz auf sich zu wehren und bestärkt von der Reaktion sprach Etienne schnell weiter, „Nach einer Weile wirst du das Bewusstsein verlieren. Da endet es jedoch nicht, denn meine Tante hat mit eine etwas stärkere Version gegeben. Wie dir sicherlich auffällt, bin ich davon nicht betroffen. Das liegt daran, dass ich das Gegengift bereits zu mir genommen habe. Du solltest deine Portion schnell nehmen, bevor du das Bewusstsein verlierst. Denn weitere Nebenwirkungen sind Nervenschäden. Es könnte sein, dass das dein letzter Kampf sein wird.“

Sie bluffte hart, aber er konnte ihr Gesicht nicht sehen, seine Sinne müssten etwas gedämpft sein und sie waren beide von der Anstrengung schwer am atmen. Er würde es sicherlich nicht merken. Und dieser Sport schien ihm wichtig zu sein, er würde es nicht riskieren, zumindest nicht nach ihrer Einschätzung. Sie musste nur dafür sorgen, dass er aufgab und ihre kleine Lüge über den Einfluss des Giftes auf die Nerven würde den nötigen Druck weiter ausüben.

Sie hörte ein wütendes Knurren, welches sie überraschender Weise an Gilgian erinnerte und fing an sie auszuschimpfen.

„Spar dir den Atem, du brauchst ihn“, sagte sie und fügte dann hinzu, „Wenn du aufgibst, gebe ich dir das Gegenmittel.“

Er schlug ihr noch einmal in die Seite, viel schwächer diesmal und dann hielt er Still. Sie bemerkte seinen schnellen Atem und hoffte inständig, dass er aufgeben würde. Sie wollte nicht einen bewusstlosen Körper an der Schule melden und dann erklären, wie es dazu kam.

„Es ist es nicht Wert den Sport aufzugeben, nur um einen Streit zu gewinnen“, sagte sie und hoffte, dass diese Worte ihn noch näher dazu bewegen würden, aufzugeben. Sicherlich war das etwas sehr wichtiges für ihn.

„Ich gebe auf“, sagte er dann und schlug mit der Faust auf die Matte unter ihnen. Sie ließ ihn los und er sprang auf. Während er jedoch taumelte und sich wieder hinsetzte, sprang sie selbst auf die Beine und ging auf etwas Abstand. Sie betrachtete ihn wachsam und ging dann in die Umkleide, hörte dabei seinen schwachen Protest, ließ sich jedoch nicht beirren. Sie holte seine Wasserflasche und ging wieder zurück. Eigentlich hatte sie noch vorgehabt, ihn etwas damit zu bedrohen. Ihm zeigen, wie leicht sie an seine Sachen kommen konnte, da sonst noch was reinzumachen, aber sie entschied sich dagegen. Ihn noch mehr zu bedrohen könnte zu noch mehr Problemen führen. Sie wollte das Risiko nicht unnötig eingehen, wenn die Chance bestand, dass er ab jetzt Ruhe geben würde. Und wenn nicht, dann würde sie ihn das nächste Mal etwas stärker unter Druck setzen.

Sie füllte vor seinen Augen das Gegengift in seine Wasserflasche. Dann hielt sie ihm diese hin. Er nahm sie misstrauisch entgegen und roch zunächst dran. Etienne verdrehte die Augen.

„Schau“, sagte sie und trank vor ihm einige Tropfen von dem Gegengift.

Er sah sie misstrauisch an, dann trank er sein Wasser und für einen kleinen Moment durchströmte sie die Erleichterung. Dann erinnerte sie der pochende Schmerz ihrer Schulter daran, dass sie heute einen sehr langen Tag vor sich haben würde. Aber immerhin. Dieser Teil war geschafft. Vorausgesetzt, er hielt sich an die Abmachung.

Sie ging zu ihrer Tasche, behielt ihn aber im Auge. Sie würde noch einige Momente hier verbringen, bevor sie gehen würde. Tatinne hatte sie gebeten darauf zu achten, dass es nicht zu schlimmeren Zwischenfällen kommen würde, also würde Etienne so lange abwarten, bis sie sich sicher war, dass es ihm gut genug ging, um allein gelassen zu werden.

„Ihr Frauen seid absolut verrückt“, sagte er, „Wie kommt deine Tante auf so etwas Verrücktes? Mal abgesehen davon, dass es so hinterhältig ist.“

Sie verdrehte erneut die Augen, „Selbst schuld.“

Er hätte ihr nicht sagen sollen, dass sie alles nutzen durfte. Und wenn er es nicht gesagt hätte, dann hätte sie ihm nichts davon erzählt und versucht dafür zu sorgen, dass er glauben würde, sie hätte ihm die Luft lang genug abgedrückt, dass ihm schwindlig wurde. Dann hätte sie ihm einfach sein Wasser gegeben und bedacht, dass er genug davon getrunken hätte, dass das Gift nicht mehr wirken würde. Entgegen dem, was Raffael ihr vorwarf, war sie nicht vollkommen schlecht darin, so zu planen, dass sie ein bestimmtes Ergebnis erzielen würde. Und sie würde es ihm heute Abends stecken. Sie freute sich darauf.

„Weißt du, ich hatte nicht vor dich komplett auseinander zu nehmen“, sagte er und warf ihr einen empörten Blick zu, „Aber du bist direkt losgegangen und hast versucht mich zu ermorden.“
„Das hätte dich nicht getötet“, sagte sie, „Mal abgesehen davon, hast du die erstbeste Chance genutzt, meine Schulter noch schlimmer zu verunstalten, als sie das sowieso schon war. Tue nicht so, als wolltest du gnädig mit mir sein.“

Er stand auf und schien etwas unsicher auf den Beinen. Dennoch deutlich besser, als zuvor, „Dann hättest du dich mir nicht in den Weg stellen sollen. Außerdem tun das sowieso nur die, die es sich leisten können. Demnach bin ich davon ausgegangen, dass du etwas kannst. Wenn nicht, dann wärst du einfach nur dumm und eine kleine Prügel, hätte dich schon zurechtgewiesen.“

Sie blickte zu ihm hinauf, genervt von diesen Worten und dem Schmerz, der ihr bis in die Knochen ging, „Ich kann hoffentlich davon ausgehen, dass ich mich dir nicht mehr in den Weg stellen muss?“

Seine Miene wechselte erneut zu diesem genervten Blick, welchen er beinahe die ganze Zeit drauf hatte, außer, wenn er mit seinen Clubmitgliedern zusammenarbeitete.

„Willst du mir vorwerfen, ich würde mich nicht an die Abmachung halten?“

Etienne blinzelte verwirrt, überrascht von dieser Aussage. Sie hatte erwartet, dass er widersprechen würde.

„Nein, ich will nur deine Bestätigung, dass ich mich darauf verlassen kann. Und fang jetzt nicht an daraus noch einen Streit zu provozieren. Eine Bestätigung, dass wir hier durch sind, steht mir zu.“

„Na gut“, sagte er langsam, „Du hast gewonnen, nach den Bedingungen, die ich akzeptiert habe. Also werde ich keinen Kampf mehr mit dir anfangen. Und keinen mit Anaki. Und ich werde niemanden auf irgendeine Art und Weise dazu anstiften. Und ich werde auch niemandem von unserem kleinen Treffen hier erzählen. Aber ich werde dir das Leben an dieser Schule so schwer wie möglich machen.“

Etienne hörte ihm still zu und ließ sich etwas Zeit, auf die letzten Worte zu reagieren. Dann fragte sie lächelnd, „Können wir den Streit nicht einfach begraben und Freunde sein?“

Er grinste böswillig und trank noch Mal aus der Flasche. Dann sagte er, „Dann hättest du deinen Preis anders wählen sollen.“

Und sie wusste, er sagte es nur, weil sie es zuvor zu ihm gesagt hatte.

 

„Guten Morgen … Etienne?“, fragte Bianca nach und Etienne vermied es, sich bei dieser Stimme zu versteifen. Da war noch immer etwas so unglaublich Seltsames in ihren Augen, etwas an der Art und Weise, wie sie Etienne ansah. Es irritierte sie und sie konnte nicht anders, als hellwach zu werden und ihre Schmerzen zu vergessen. Ihr Instinkt setzte ein. Und das war kein gutes Zeichen.

Sie war noch die Einzige aus ihrer Klasse, welche den Weg ins Klassenzimmer eingeschlagen hatte und lieber wäre sie unter diesen Umständen Halil begegnet, als ihr.

Der Kampf mit Halil hatte nicht so lange gedauert, wie sie vermutet hatte und sie hatte mehr als genug Zeit gehabt, sich das Parfüm abzuwischen und sich wieder umzuziehen. Sie hatte eigentlich vorgehabt, die restliche Zeit des Morgens an ihrem Tisch zu verbringen und sich die Aufgaben anzuschauen, welche für die nächsten Stunden relevant waren. Doch nun bereute sie es, dass sie das Parfüm nicht anbehalten hatte. Eine gezielte Umarmung und Bianca würde sich um andere Sachen kümmern müssen, als ihren Blick auf Etienne zu haften und sie so seltsam anzusehen. Es lag keine Feindseligkeit in ihrem Blick. Und das war einer der Gründe, wieso es Etienne so irritierte.

„Das ist richtig… Bianca?“, fragte sie mit dem freundlichsten Lächeln, dass sie zustande bringen konnte. Ihr Name hatte sich jedoch bereits in ihrem Kopf eingespeichert gehabt.

Bianca betrachtete sie von oben bis unten. Eine weitere Frau stand hinter ihr und tat es ihr gleich. Im Gegensatz zu Bianca jedoch, konnte Etienne ihren Blick sehr gut einschätzen. Es war klare Feindseligkeit. Damit konnte sie besser umgehen, als mit dem, was Bianca ihr bot.

„Du bist ganz schön früh hier“, kommentierte Bianca, „Bist du fleißig am Lernen?“

Etienne kam nicht umhin festzustellen, dass das nicht der Ort war, an dem Bianca sein sollte. Dieser Korridor war nur der A-3 Klasse vorbehalten. Grund dafür lag an den Provinzherrschern. Sie wurden von den anderen Schülern getrennt, sodass sie mehrere Räume haben konnten, ohne von zu vielen Schülern umgeben zu sein. Eine Schutzmaßnahmen für die Herrscher sowie die Schüler. Demnach hatten diese beiden hier nichts zu suchen. Und das weckte in Etienne die Alarmglocken.

„Ich bin heute ausnahmsweise etwas früher raus“, sagte Etienne lächelnd und wahrheitsgemäß. Sie würde sich künftig in diesem Bereich jedoch ändern. Nur um sicherzugehen, dass sie am Morgen in der Frühe Bianca künftig dabei zusehen konnte, wenn sie etwas in diesem Korridor ausheckte. Etienne wurde von ihr überrascht, als sie in den Gang zu ihrem Klassenzimmer getreten war. Und so schien es auch bei diesen beiden der Fall gewesen zu sein. Keiner hat den anderen erwartet.

„Du solltest besser auf deinen Schlaf achten. Manche Menschen brauchen mehr davon, als andere“, sagte sie und hörte sich nicht böswillig an. Die Frau hinter ihr kicherte jedoch und auch Etienne verstand die versteckte Beleidigung.

Sie entschied sich, so zu tun, als hätte sie diese jedoch nicht gehört. Bianca würde ihr Interesse an ihr verlieren, wenn sie feststellte, dass es an Etienne nichts Besonderes gab, was es wert wäre, ihre Aufmerksamkeit zu erhalten.

„Ist notiert“, sagte sie.

„Aber der Unterricht hier muss so schwer sein“, sagte die andere, „Sie muss sich reinhängen, wenn sie mithalten will.“

„Aber sie ist in die Klasse reingekommen“, wandte Bianca ein und betrachtete Etienne noch einmal, „Immerhin schlau.“

Etienne seufzte schwermütig und legte eine Hand auf ihr Herz, „Ich glaube ehrlich gesagt, dass ich mich übernommen habe. Der Unterricht ist so chaotisch und ich verliere immer den Faden. Vielleicht wird O’Donnel mich schon bald herunterstufen.“

Und wenn das passieren würde, würde Etienne weit weg sein. Ihr wurde klar, dass wenn sie in eine tiefere Klasse käme, sie unter Bianca sein würde. Und wenn sie bedachte, welch eine Rolle Autorität an dieser Schule bisher eingenommen hatte, wollte sie nicht herausfinden, welche Autorität Bianca über sie bekommen würde.

Bianca und die andere Frau sahen sich kurz an und kicherten dann erneut. Bianca blickte zu ihr und legte ihr die Hände auf die Schultern und Etienne zwang sich, sich nicht anzuspannen, „Mach dir nichts draus. Du kannst mich jederzeit um Hilfe fragen, wenn du nicht weiter weißt. Weißt du was, weil du so niedlich bist, gebe ich dir einen kostenlosen Ratschlag. Es ist sehr leicht in dieser Klasse, sich in einem Machtkampf zu verlieren. Wenn du schon Schwierigkeiten hast, dem Unterricht zu folgen, solltest du dir überlegen, ob du dich nicht eher von diesen Menschen fernhalten solltest.“

Ihre dunkelgrünen Augen sahen sie unverwandt an. Sie blinzelte sanft mit ihren langen Wimpern und Etienne musste auf einmal an die Puppe denken, welche sie im Haus von Meta gesehen hatte. Sie hatte so friedlich und unschuldig ausgesehen und kurz danach hatte sie Etienne angegriffen.

„Dabei scheinen alle so furchtbar nett zu sein“, sagte Etienne lächelnd.

Sie hörte, wie die Frau hinter Bianca ihr Lachen unterdrückte.

Biancas wandte den Blick nicht ab, ihr Griff auf Etiennes Schultern verstärkte sich, „Sie alle können in dein Gesicht lächeln, während sie im Hintergrund deinen Fall planen. Die Konkurrenz hier ist sehr groß, nicht nur zwischen den Provinzen, sondern auch um die Noten innerhalb der Schule. Immerhin gibt es einem die Möglichkeit, seinen Wert zu steigern. Du kannst ihn natürlich auch steigern, wenn du an Macht kommst, wie Raffael es getan hat. Aber das musst du alleine machen. Keiner wird sich um dich kümmern, wenn du fällst. Und sie mögen zwar so tun, als würden sie sich sorgen, aber keiner sorgt sich. Das haben wir bereits vor einigen Monaten beobachtet. Frag Elias, wie es war, als Raffael ihm in den Rücken gefallen ist.“

„Oh nein“, sagte Etienne lachend, „Das wäre zu anmaßend von mir.“

Bianca kicherte erneut und trat zurück. Sie tätschelte Etienne sanft die Wange, „Immerhin kennst du deinen Platz. Belasse es dabei. Aber falls es dir mal wirklich schlecht gehen sollte, ich werde mir ein Ohr für dich offen halten. Du kannst natürlich auch zu Raffael gehen. Aber so, wie er mit dem Stein vor deinem Auge wedelt, würde ich dir davon abraten. Bis bald, Etienne.“

Sie gingen an ihr vorbei und verschwanden an der Treppe. Etienne bewegte sich selbst langsam zur Klassentür, bedachte die beiden jedoch weiter aus dem Augenwinkel und ging erst in ihre Klasse hinein, nachdem sie sich sicher war, dass die beiden weg waren. Sie schloss die Tür hinter sich, atmete tief durch und ließ den Gedanken freien Lauf. Woher wusste Bianca von dem Stein? Sie musste mit jemandem kommuniziert haben, der von der Situation wusste und das konnten nicht allzu viele Menschen sein. Und die Warnung brauchte sie von ihr nicht, sie vertraute Raffael nicht, generell niemandem in dieser Stadt. Es würde nicht passieren, dass ihr jemand in den Rücken fallen würde. Sie würde aber vielleicht nicht alle Angriffe kommen sehen. Erneut dachte sie an Biancas Lächeln und ihren sonderbaren Ausdruck im Gesicht, welches sie in alarmierte Stimmung versetzte. Etienne versuchte die Anspannung in ihren Schultern zu lösen und versuchte nachzuvollziehen, weshalb sie sich so bedroht fühlte. Sie hat sich nicht mal gegenüber Gilgian so gefühlt.

Dann kam ihr ein weiterer Gedanke. Wenn Bianca von dem Stein wusste, dann wusste sie wahrscheinlich auch von der Vorhersehung. Sie seufzte schwer. Eine Person mehr vom Gegenteil zu überzeugen.

Etienne sah sich um und war sich nicht sicher, wo sie hinschauen sollte. Also ging sie zu ihrem Platz und hielt dann ruckartig inne. Sie stand einen Moment vor ihrem Stuhl und betrachtete diesen ausgiebig. Irgendetwas daran störte sie massiv.

Der Stuhl sah normal aus, wie die Tage davor auch. Also hockte sie sich hin und legte ihn seitlich auf den Boden. An der Unterseite entdeckte sie in schwarzer Farbe einen Viereck abgebildet, welcher so groß war, wie ihre Handfläche. In seinem Inneren waren komplizierte Muster der Seiten nach abgebildet und einige Wörter, welche sie genauer analysieren und übersetzen musste, um zu bestimmten, was sie sagten.

Für einen Moment legte sie sich besorgt eine Hand über den Mund. Das war ein gut verarbeiteter Fluch. Und so klein wie die Stadt war und so wenig Ahnung die Leute zu haben schienen, wie Magie funktionierte, empfand sie diese Entdeckung als besonders besorgniserregend. Der Fluch war bei Weitem nicht der komplizierteste, dem sie begegnet war. Aber er war gut genug, dass sie davon ausgehen konnte, dass hier jemand mit Ahnung am Werken war. Schlagartig dachte sie an Bianca und ihre Begleitung.

Etienne blickte schnell zur Uhr. Es war noch Zeit, bevor andere auftauchen würden. Also packte sie schnell etwas Papier aus und zeichnete den Fluch ab. Sie nutzte dies oft als Taktik um nachzuvollziehen, in welchen Schritten ein Zauber Ebene für Ebene gezeichnet werden musste, um zu funktionieren. Besonders bei Flüchen und Schutzzaubern war es hilfreich, da diese mit zusätzlichen Mustern und Symbolen versehen wurden, die jeden anderen über die Funktion und Absicht des Fluches in Irre führen sollten. Bei diesem hier war das jedoch nicht allzu kompliziert. Es gab eine Kombination an Symbolen, welche im Gesamtmuster keine Wirkung haben konnte. Und nachdem sie diese identifiziert hatte, dauerte es nicht lange, bis sie sich über die Symbole, welche den Fluch aktivierten, sicher war.

Bei den Worten hingegen blieb ihre Unsicherheit. Aber sie entdeckte welche, die für bestimmte Gefühle standen, wie Angst, Unruhe und Verärgerung. Sie waren typisch bei Flüchen. Einige Worte kannte sie nicht. Dafür aber alle Worte, welche für die Aktionen des Fluches standen. Eines dieser Worte war ein ganz typisches, nämlich ‚Fühlen‘.

Und auch wenn sie nicht alles übersetzen konnte, war es dennoch eindeutig, worauf das hinauslaufen sollte. Jemand hatte vor, sie innerlich aus dem Gleichgewicht zu bringen. Über die Zeit, in welcher sie an diesem Stuhl sitzen würde, würde der Fluch immer mehr und mehr Energie von ihr ziehen und sie ihr zurückgeben in Form von negativen Gefühlen. Es war eine Kombination die öfters zusammen genutzt wurde. Meistens diente die Auslösung von negativen Gefühlen dazu, dass der Fluch schneller an noch mehr Energie kommen konnte, da der Mensch durch das erschaffene Ungleichgewicht leichter seiner Energie zu berauben war. Vor allem Müdigkeit und somit die Knüpfung an schlechte Träume ermöglichte es, den Menschen leicht zugänglich für den Raub zu machen. Hier schien jedoch das Hauptziel das zu sein, dass eben diese Gefühle das Opfer in ihren Bann hielten. Und das Opfer sollte sie sein.

Direkt leuchteten Biancas dunkelgrünen Augen vor ihrem inneren Auge auf. Ihr kalter und abschätzender Blick, welcher hinter dem liebevollen Lächeln lag, hatte in ihr Instinkte geweckt sich zu schützen. Dann wurde Etienne auf einmal eine Sache klar, welche sie so sehr irritiert hatte. Bianca hatte sie angesehen, wie einen Gegenstand. Genauso war es auch bei Raffael gewesen. Eine Möglichkeit, ihren Blick zu interpretieren, jedoch gab es noch viel mehr, was Etienne irritierte. Aber kein normaler Mensch würde einfach so einen Fluch an jemanden richten. Erst recht nicht wegen einem Gerücht, welches jemand anderes in die Welt gesetzt hatte. Das machte keinen Sinn. Wusste Raffael davon? War das der Grund, weshalb es so missmutig schien? Sie konnte es sich nicht vorstellen. Aber wenn doch, dann hätte er sie davor warnen müssen. Erneut schlich das Misstrauen in ihr hoch. War das vielleicht seine Art, sie unter seine Kontrolle zu bringen? Sie würde angegriffen werden und er würde ihr helfen?

Sie seufzte und fuhr sich über das Gesicht. Um wirklich konkret zu verstehen, was passiert war und ihre Vermutung zu bestätigen, musste sie mehr Nachforschungen anstellen. Sie hatte noch nicht so viele Menschen verärgert, dass sie direkt mit Flüchen in ihre Richtung werfen sollten. Und schon gar nicht so sehr, dass sie am Morgen danach direkt vor der Klassenzimmertür stehen sollten. Etienne war sich sicher, dass am gestrigen Tag kein Fluch unter ihrem Stuhl war. Aber es gab noch weitere Dinge, die für Bianca sprechen konnten. Beispielsweise, dass sie wohlhabend schien. Das nahm sie aus der gestrigen Konversation und an der Tatsache, dass ein Fluch eine bestimmte Tinte brauchte.

Die Farbe für Flüche war teuer. Diese sollte die Eigenschaft haben, so wenig Licht zu reflektiere, wie nur möglich. Es gab einige sehr gute Farben dafür, diese waren jedoch ziemlich teuer. Ein einfacher Bürger würde sich das nicht einfach so mal leisten können. Es war unwahrscheinlich, aber wenn, dann würde es sicherlich irgendwo eine Aufzeichnung darüber geben, wer in Calisteo es in welchen Mengen leisten konnte. Ein Grund mehr, wieso wohlhabende Familien immer die eine oder andere Verbindung zu Magie hatten.

Also war Bianca ihre beste Vermutung. Oder Bianca und ein weiteres Individuum. Ihre Worte über die Machtkämpfe klangen erneut in ihrem Kopf auf. Raffael wusste, wer Etienne laut diese dummen Vorhersehung sein sollte. Das würde auch auf andere zutreffen. Jeder, der irgendeine Art an Macht in der Stadt hatte und dies als solche behalten wollte, würde Etienne als eine Gefahr betrachten. Würde Tatinne ausreichen, um sich zu schützen? Zum ersten Mal fühlte Etienne ihr Herz pochen. Sorge drang in ihr hervor. Sie würde deutlich wachsamer werden müssen.

Bevor sie sich jedoch weiter überlegen würde, wie sie mit dieser Situation umgehen sollte, nahm sie sich ihr Messer, welches sie in die Innenseite ihrer Tasche hinter ein zusätzlich eingenähtes Stück Stoff versteckte, und kratzte vorsichtig an einem der Symbole. Dabei blickte sie in die zweite Ebene und die schwarze Farbe der Muster wurde matt, als Etienne eine Verbindung brach. Sie bemerkte, wie die Luft etwas kälter in der Nähe des Symbols wurde und war zufrieden mit ihrer Arbeit. Die Kälte bedeutete, dass der Energiemangel nicht mehr künstlich durch die Symbole aufrecht erhalten wurde. Stattdessen wurde er schnell durch die Umgebung ausgeglichen, welche ihrer Energie in Form von Wärme beraubt wurde. Der Fluch selber war somit inaktiv, da es nun nichts mehr gab, was einen stetigen Ausgleichen brauchte.

Etienne bedachte ihre Arbeit. Sie hatte sich Mühe gegeben, den Kratzer durch die Farbe so dünn wie nur möglich zu halten. Wenn jemand überprüfen würde, ob der Fluch noch aktiv war, dann würde er ganz genau hinschauen müssen. Vielleicht konnte sie das ausnutzen, um die Person anzulocken? Oder sollte sie eher so tun, als würde der Zauber Einfluss auf sie ausüben und zu Bianca gehen, nachdem diese ihr dieses Angebot unterbreiten hatte?

Als sie Schritte im Gang vernahm, stellte sie den Stuhl wieder hin und setzte sich vorsichtig drauf. Diesmal gab es keinen Schauder, welcher sie vor der Magie warnte. Sie packte schnell ihr Messer ein, verstaute das Papier in einem Buch und holte die Bücher hervor, welche sie in den nächsten Stunden brauchen würde.

Als die Tür sich öffnete, erblickte sie Anaki. Er sah nicht aus, als würde es ihm gut gehen, aber besser, als sie ihn das letzte mal beim Arzt gesehen hatte.

„Guten Morgen“, sagte sie lächelnd zu ihm. Er erwiderte ihr Lächeln und im Vergleich zu Bianca war seines wirklich liebevoll und aufrichtig. Der Kontrast zu Bianca fiel ihr umso deutlicher auf und zu wissen, wie unecht ihr Ausdruck gewesen war, versetzte ihr Gänsehaut.

„Guten Morgen, du Schelm.“

Sie blinzelte und fragte lachend, „Was? Womit hab ich das verdient?“

Auch hinter ihm erklang Gelächter und Raffael trat hinter ihm in den Raum. Er hatte Anakis Tasche in der Hand. Nach ihm folgte Keyen, welcher angestrengt gähnte. Scarlett war nirgendwo zu sehen und Etienne wunderte sich, wieso sie nicht Teil dieser Gruppe an diesem frühen Morgen war.

„Wir haben uns gerade darüber unterhalten, wie gut du mit O’Donnel zurechtgekommen bist.“

Raffael sah deutlich besser aus, als am Vortag. Es war, als hätte er seine ganze Energie wieder zurück gewonnen und anders als sie, schien er wirklich ausgelassen. Sie rief sich noch mal ins Gedächtnis, dass sie die nächsten Stunden aufpassen sollte. Etienne hatte ein Schmerzmittel gegen die Schmerzen in der Schulter genommen und auch wenn das sich zu einem leichten Pochen reduziert hatte, schien ihr auch etwas schwummrig von der Tablette zu sein. Oder vielleicht war ihr schwummrig von der Begegnung und den ganzen Gefühlen, die sie in der letzten Stunde aushalten musste. Sie würde sich gut zusammenreißen müssen, um keine Fehler zu begehen.

„Bekomme ich meine Tasche wieder?“, fragte Anaki an Raffael gewandt, welcher ihm diese an den Tisch legte. Anaki setzte sich schwer neben Etienne an seinen Platz. Es war offensichtlich, dass er Schmerzen hatte. Sie waren beide Mitglieder der neutralen Provinz. Wie kam es also, dass ausgerechnet sie beide so angeschlagen waren?

„Ist etwas gebrochen?“, fragte Etienne ihn.

„Nein, nur geprellt“, erwiderte er, hielt dann inne und sah sie erneut tadelnd an, „Ich kanns immer noch nicht fassen, dass du das gemacht hast.“

Etienne lächelte, als er langsam seine Sachen herausholte. Raffael ging an seinen Platz und warf seine Tasche auf den Tisch. Keyen folgte ihm, warf sich auf seinen Sitzplatz und legte den Kopf in seine Arme. Etienne fragte sich, ob bei ihnen auch Flüche unter den Stühlen waren. Raffael bedachte Etienne mit einem wachsamen Blick und sie wusste, dass er etwas ausmachte, was ihn Fragen stellen ließ. Sie hatte sich entschlossen bei einer Nachfrage von ihm, ihren leicht benommen Zustand einfach auf eine schlaflose Nacht zu schieben.

„Können wir das Thema langsam vergessen. Ich durfte mir das schon ausgiebig anhören.“

Anaki lächelte sie an, „Davon habe ich auch schon gehört. Was ist der Plan? Wie willst du die Situation lösen?“

Etienne warf ihm einen mürrischen Blick zu und sah dann kurz zu Raffael, „Wirst du jetzt von ihm ausgenutzt, um mich auszuhorchen?“

Raffael lachte und drehte sich zu ihnen um, „Diese Frage interessiert viele Leute. Keine Sorge, ich hetze schon niemanden auf dich.“

„Ich werde später noch mal versuchen mit ihm zu reden“, sagte Anaki und sie bemerkte seinen Blick, welcher etwas schuldbewusstes hatte. Er war die erste Person in dieser Stadt, die wirklich nett zu ihr war und das ohne eine Gegenleistung zu verlangen. Wenn es nach Etienne ginge, dann waren sie jetzt quitt. Es fühlte sich dennoch furchtbar an, dass er ihr gegenüber ein schlechtes Gewissen hatte.

„Nicht nötig“, sagte Etienne, bevor er weiter sprechen konnte, „Ich hab mich schon darum gekümmert.“

Dann versteifte sie sich etwas, als sie bemerkte, wie Raffael sich erneut zu ihnen umdrehte. Eigentlich hatte sie nicht vor gehabt, das so schnell zu beichten. Er bedachte sie mit einem wissenden Blick und sie konnte den Ärger in seinen Augen aufblitzen sehen.

Auch Keyen sah nun neugierig zu ihr, seine Müdigkeit schien vergessen zu sein.

„Was hast du gemacht?“, fragte Anaki stöhnend.

Sie verzog das Gesicht, „Du tust so, als hätte ich die Schule in die Luft gejagt.“

Anaki sah zu Raffael und deutete auf sie, „Kannst du ihr erklären, dass es eine furchtbare Idee ist, solche Sachen im Alleingang zu machen?“

Raffael grinste breit und sah triumphierenden zu ihr, „Sieht du. Den Eindruck eines leichtsinnigen Chaoten machst du nicht nur auf mich.“

„Was hast du gemacht?“, fragte Anaki noch einmal. Etienne verzog das Gesicht. Die beiden waren fürchterlich frech.

„Ich hab ihn herausgefordert“, sagte sie zu ihm und entschloss sich, dieses Ereignis doch zu teilen. Der Fluch unter ihrem Stuhl hatte ihr gezeigt, dass es vielleicht doch keine allzu gute Sache war, nur als schwächlich angesehen zu werden. Sie würde ihnen nicht erzählen, wie dieser Kampf stattgefunden hatte oder ob sie überhaupt gekämpft hatten. Halil würde das auch nicht erzählen. Sollten die Leute sich selbst was ausdenken.

„Nicht schlecht. Das hätte ich auch gemacht, wenn ich dürfte“, sagte Keyen.

Raffael warf ihm einen kritischen Blick zu, „Das ist der Grund, weshalb ich immer Scarlett bei dir lasse.“

„Ich dachte, ich passe auf sie auf“, meinte Keyen verwirrt.

Raffael lächelte warmherzig und schlug ihm auf die Schulter, „Bitte fordere niemanden heraus. Es reicht schon, dass diese hier das macht.“

Anaki starrte Etienne unverwandt an, seine Augen wurden groß vor Sorge.

„Oh Gott. Wann findet es statt?“, fragte er und sie sah die Panik in seinem Gesicht. Dann machte er Anstalt aufzustehen, „Ich rede einfach jetzt mit ihm.“

Sie packte seinen Arm und zog ihn wieder hinunter, „Beruhige dich. Ich habe bereits gewonnen. Das Thema ist erledigt.“

Anaki sah sie ungläubig an.

„Niemals“, sagte er, „Auf keinen Fall wurde er von dir besiegt.“

„Wie lief das ab?“, fragte Keyen neugierig und bedachte sie von oben bis unten, „Du sieht dafür aber ganz schön fit aus.“

Etienne blickte beleidigt von einem zum anderen. Dann wandte sie sich Anaki zu, „Eigentlich wollte ich dir erzählen, was ich gewonnen habe und ich bin mir sicher, du hättest dich darüber gefreut. Aber nach dieser Aussage werde ich dir gar nichts mehr erzählen.“

Sie stand auf und ging hinaus.

„Sei nicht sauer“, hörte sie noch Raffael ihr belustigt hinterherrufen und das ließ die Wut in ihrer Brust noch stärker auflodern. Sie fühlte sich in ihrem Stolz verletzt.

Sie wusste zunächst nicht, wo sie hingehen sollte, also steuerte sie die Toiletten an, um sich etwas kaltes Wasser über die Handflächen laufen zu lassen. Als sie an der Treppe vorbei lief, entdeckte sie Scarlett diese gerade hinauflaufen. Sie blickten sich kurz einen Moment schweigen an, dann grüßte Etienne sie mit einem Lächeln.

Scarlett fing langsam an zu lächeln und ihr Gesichtsausdruck nahm etwas bedrohliches an, „Guten Morgen Etienne. Wo gehst du hin?“

Etienne drehte sich auf dem Absatz um, „In die Klasse.“

Raffael würde Scarlett ihr vom Leib halten. Doch eher sie weit kam, spürte sie Scarletts festen Griff an ihrem Handgelenk und unterdrückte ein Stöhnen, als sie das Ziehen von Scarletts Hand bis in ihre Schulter spürte.

„Es ist so schön dich hier zu treffen. Begleite mich doch auf die Toilette. Ich gehe nicht gerne alleine hin. Nicht, dass dort ein schmieriger kleiner Mistkerl mit einer Kamera auf mich wartet.“

Sie zog an ihrem Arm und Etienne folgte ihr. Scarletts Wut war so deutlich, dass das lächelnde Gesicht Etienne einen Schauer über den Rücken laufen ließ.

„Erzähle mir doch, was gestern passiert ist“, sagte Scarlett, als sie die Tür zufallen ließ.

11.

Etienne saß am Wohnzimmertisch und beobachtete vorsichtig Tatinne, welche immer wieder auf die hübsch verzierte Uhr an ihrem Arm blickte. Sie war sich sicher, dass Tatinne nicht ebenfalls auf Raffael wartete. Aber sie schien selten so unruhig zu sein. Sie so zu sehen, erfüllte Etienne ebenfalls mit Unruhe.

„Wartest du auf etwas?“, fragte Etienne. Catjill lag auf ihrem Schoß. Er war die Abende über sehr anhänglich gewesen, während er ihr zeitgleich zu zeigen versuchte, wie froh er war, Etienne für den Tag über los zu sein. Sie streichelte seinen Kopf und er blieb ruhig liegen. Als sie ihm gesagt hatte, dass er auch den Abend über allein bleiben würde, schien er nicht sehr glücklich gewesen zu sein. Aber erstaunlicherweise verstand er sich sehr gut mit Tatinne und hatte dies leichter akzeptiert, als die Tage zuvor.

„Ja“, sagte Tatinne und blätterte weiter in der Zeitschrift. Es schien ihr nichts auszumachen, dass sie ihre Nervosität vor Etienne zeigte.

„Ein Besucher?“, fragte Etienne weiter nach.

„So etwas in der Art.“

Sie gab ihr noch immer nichts, was ihr Einsicht geben würde.

Etienne lehnte sich zurück. Die Titelseite der Zeitung, in welcher Tatinne blätterte, hatte eine Stellungnahme von verschiedenen Menschen aus den Provinzen. Etienne kannte sie nicht, aber der Name ‚Eldan‘ kam ihr von den Vortagen bekannt vor. Bianca hatte ihn genannt. Eine weitere Person hatte ‚Levine‘ als Nachnamen, also ging sie davon aus, dass es ein Verwandter von Elias war. Ihre Gedanken kreisten schon eine Weile um ihn. Er und Meng waren den Tag über absolut nicht zugänglich gewesen. Sie waren in den Pausen verschwunden, begleitet von ihren Verbündeten und genauso war es am Abend gewesen, als sie erneut schnell verschwunden waren. Etienne hatte daraufhin beschlossen, Catjill in der nächsten Woche wieder einzuschalten. Die vergangenen paar Tage ohne seine Präsenz sollten genug sein, dass seine Magie wieder in den Vordergrund rücken und die Zeugen seiner Macht sich an die Darbietung kaum erinnern würden. Und da er verpflichtet war ihr bei der Suche nach den Steinen zu helfen, würde sie ihn dazu nutzen, ihr eine Chance zu geben, mit den entsprechenden Menschen in Kontakt zu treten.

Des Weiteren freute Etienne sich auf das Wochenende. Sie würde die Zeit nutzen, um sich auszuruhen, die Wunden verheilen zu lassen und sich neu zu sortieren. Sie konnte es kaum erwarten, etwas durchzuatmen. Und nun, wo die Pause in Sicht war, spürte sie die Müdigkeit sich in ihr ausbreiten.

Als eine tiefe Glocke die Ankunft eines Besuchers ankündigte, sprang Tatinne auf und ging hinunter. Etienne blieb sitzen und sah ihr hinterher. Es konnte sich nicht um Raffael handeln, denn dieser würde einfach eintreten.

Sie war neugierig, was es war, auf das Tatinne wartete. Oder wer. Sie konnte sich aber nicht vorstellen, dass eine Person Tatinne so nervös machen würde. Etienne blieb jedoch sitzen. Sie wollte noch etwas Kraft schöpfen, bevor es in den nächsten Kampf gehen würde. Biancas Worte über Raffael und Elias hingen ihr noch im Kopf und sie war fest entschlossen herauszufinden, was da vorgefallen war und ob sie irgendwas davon als Starthilfe für die Suche nach dem nächsten Stein nutzen konnte. Sie musste auch herausfinden, ob Raffael oder einer seiner Verbündete Bianca von dem Stein erzählt hat. Und wenn ja, dann musste sie herausfinden, ob sie auch mit dem Fluch etwas zu tun hatten. Dieser war das deutlich größere Problem. Die Hemmschwelle, einen zu nutzen, der deutlich schlimmer war, war nie sonderlich groß. Und Etienne musste für ihre Sicherheit herausfinden, wer alles an ihm beteiligt war. Dass Bianca und ihre Kameradin zu den Personen gehört, daran zweifelte sie nicht. Aber wenn noch andere dahintersteckten, von denen sie nichts wusste, dann musste sie das herausfinden und sich entsprechend zur Wehr setzen.

Das Wissen über den Fluch, das Problem mit beiden Steinen, die Schmerzen in der Schulter und die Aufmerksamkeit, die ihr Djinn bekommen hat. Sie wusste gar nicht, an was sie zuerst denken sollte. Die Pause am nächsten Tag würde ihr helfen.

Als sie Schritte vernahm, welche die Treppe nach oben gingen, war sie überrascht Raffael zu sehen.

Er sah neugierig zu ihr, „Was geht hier vor sich?“

Sie unterdrückte den Impuls, mit den Schultern zu zucken. Die Schmerzmittel hatten schon lange nachgelassen.

Er hatte etwas unschuldiges an seinem Auftreten, wie er in der Küche stand und neugierig zurück zu der Treppe blickte. Doch schlagartig dachte sie wieder an den ersten Tag in Calisteo und Wut auf sich selbst stieg in ihr auf. Sie durfte ihn nicht unterschätzen, nur weil er sich in den Tagen danach als hilfsbereit und entgegenkommend gezeigt hat.

„Ich habe keine Ahnung“, antwortete sie ihm wahrheitsgemäß und betrachtete seine Erscheinung. Sie wollte schauen, ob sie an ihm Waffen ausmachen konnte, doch sobald ihr Blick auf seinen Pullover fiel, welcher durch seine offene Jacke zu sehen war, wurde sie abgelenkt.

Etienne hatte keine Ahnung von Kleidung, auch wenn es sie manchmal interessierte, wie Menschen dazu kamen, bestimmte Muster und Motive zu kreieren, welche andere so sehr liebten, dass sie bereit waren, ihren ganzen Kleiderschrank damit zu füllen. Sie wusste, dass Tatinne mit ihrer Kleidung Schlachten austragen konnte und in jeder sozialer Interaktion ihr Aussehen zu nutzen wusste, um das zu bekommen, was sie wollte. Etienne wusste, dass Kleidung in sozialen Kreisen immer eine taktische Überlegung war. Sie wurde jedoch nicht in diesem Bereich ausgebildet, also blieb ihr nur ihre Neugierde, für die sie nie Zeit hatte, sie zu befriedigen.

Doch das, was sie an Raffaels Pullover ausmachen konnte, irritierte sie. Sie starrte es einen Moment an. Dann wanderte ihr Blick hoch und sie sah sein gerötetes Gesicht. Es war ihm sichtlich unangenehm, doch er wandte den Blick nicht ab, was sie noch mehr irritierte. Es musste doch irgendetwas geben, was ihn dazu verleiten würde, wegzuschauen. Scham schien es nicht zu sein. Vielleicht sollte sie es mit Einschüchterung versuchen?

„Scarlett hat das besorgt“, sagte er.

„Ich urteile nicht“, sagte sie und meinte es auch so. Es war nur verwirrend, weil es nicht zu ihrem Bild von ihm passte.

„Sie meinte, es sieht gut an mir aus. Dann ist sie losgegangen und hat sich genau dasselbe Ding besorgt“, erzählte er weiter, „Aber sie trägt es nicht. Ich glaube sie wartet nur darauf es mir zu geben, sollte ich das hier loswerden und behaupten, es wäre beschädigt oder so. Das macht sie immer, wenn sie sauer auf mich ist. Was sie heute im besonderen Maße war, nachdem du ihr alles gepetzt hast.“

Hinter ihm kam Tatinne wieder zum Vorschein. Etienne hörte in der unteren Etage Gerumpel und ächzende Stimmen.

„Guten Abend Raffael“, sagte Tatinne desinteressiert, „ich habe gar keinen Brief von dir bekommen.“

Raffael gab ein enttäuschtes Geräusch von sich, von dem Etienne sich sicher war, dass es gespielt war.

„Das tut mir so leid. Ich bin sicher du konntest es kaum erwarten von mir zu hören, aber irgendwie hatte ich da so eine Ahnung, dass ich meine Zeit verschwenden würde.“

Etienne bedachte Tatinne mit einem vorsichtigen Blick, während die Frau die Augen verdrehte. Sie sah dann zu Etienne, „Ich hab dir etwas besorgt, was dir sicherlich gefallen wird. Es wird gerade unten hineingetragen. Wir werden nicht wirklich Platz hier oben haben, also kommt es nach unten.“

Misstrauen schlich in Etienne hoch und sie fragte sich, was ihre Tante nun für sie ausgebrütet hatte. Raffael blickte neugierig zwischen ihr und Tatinne.

„Und was genau ist es?“, fragte Etienne.

„Schau auf dem Weg nach draußen.“

Dann wandte Tatinne sich ab und ging in ihr Zimmer. Catjill folgte ihr still. Das verunsicherte Etienne. Es war, als würde Tatinne auf Abstand gehen und Etienne wurde klar, was auch immer da unten war, sie würde es nicht mögen.

„Sollen wir?“, fragte Raffael und sah sie erwartungsvoll an. Sie wappnete sich innerlich und hoffte, dass selbst wenn sie an diesem Abend keine nützlichen Informationen von ihm bekommen sollte, die Jacke es wenigstens Wert war. Sie musste auch dafür sorgen, dass er ihr die alte wiedergab. Und sie war einfach noch nicht bereit sie zu verlieren.

Etienne stand auf und unterdrückte es, das Gesicht zu verziehen. Sie hatte so lange gesessen, dass ihre Schulter sich wieder versteift hatte. Aber etwas Bewegung würde gut tun. Etienne deutet ihm, vorzugehen und zog etwas mühevoll Tatinnes Jacke an, als sie ihm nach unten folgte. Dann hörte sie sein Pfeifen, als er anerkennend in die Ecke blickte. Etienne folgte seinem Blick und entdeckte ein Klavier, welches von den Männern in der hinteren Ecke des großen Raumes aufgestellt wurde. Ihr schien das Blut zu gefrieren, als sie es sah.

„Tatinne!“, rief sie beschwerend nach oben.

Sie vernahm die Stimme ihrer Tante, „Stell dich nicht so an. Du warst fabelhaft vor … zwölf Jahren? Das wird lustig.“

Etienne wandte sich wütend ab und sah wieder zu diesem verfluchten Gerät. Sie würde es nicht mal mit Handschuhen anfassen, wenn sie es musste. Aber später. Darum musste sie sich später kümmern. Auch wenn das Bild dieses Klaviers sich nun ihrem Kopf eingespeichert hat, wie eine unangenehme Erinnerung, welche ihr höhnisch entgegen lächelte.

Ihr Blick fiel auf Raffael, welcher belustigt schien. Er machte Anstalt etwas zu sagen, doch bevor es dazu kam, überwand sie den Abstand zwischen ihnen und sah bedrohlich zu ihm herauf, „Wenn du es wagst das in irgendeiner Art und Weise zum Thema zu machen, werde ich dafür sorgen, dass das der schlimmste Abend ist, den du je erlebt hast.“

Er hob beschwichtigend die Arme, grinste jedoch noch mehr, „Ich schweige.“

Sie bedachte ihn noch mal mit einem warnenden Blick und ging dann hinaus. Verflucht sei ihre Tante. Etienne wusste nicht, was sie vorhatte, aber nichts würde sie dazu bewegen, freiwillig dieses Ding anzufassen. Tatinne musste das wissen, ansonsten hätte sie sich nicht in ihrem Zimmer versteckt, als Etienne es gesehen hatte. Aber das erklärte nun auch, wieso sie so nervös gewesen war. Tatinne liebte das Klavier, sie fasste es nur aus anderen Gründen nicht mehr an.

Als sie am Eingangstor zu Tatinnes Haus ankam, drehte sie sich nach Raffael um. Sie wusste nicht, wo es hingehen sollte.

Er kam ihr hinterher und zog die Kapuze seiner Jacke über den Kopf. Dann bedachte er den Ring an seinem Finger. Dieser schien ähnlich den Anderen zu sein, die sie bisher bei ihm gesehen hatte, doch die Magie, die sie von ihm verspürte, fühlte sich etwas anders an. Und der kleine grau glänzende Stein, mit dem kleinen Muster sagte ihr auch wieso.

„Wohin gehen wir?“, fragte sie ihn misstrauisch.

Er blickte zu ihr auf, „In die Stadt.“

„Und dafür brauchst du das?“, fragte sie und deutete auf den Ring.

Er blickte kurz zu diesem und sah dann wieder zu ihr, „Der ist nur für etwas Privatsphäre da. Was glaubst du denn, wofür ich ihn brauche?“

Sie gab ein, gleichgültiges Geräusch von sich und ging weiter. Er war in letzter Zeit dazu übergegangen, ihr Fragen zu stellen und dabei so zu tun, als würde sie ganz genau wissen, worum es ging. Sie wusste, dass er damit eine Antwort aus ihr herauslocken wollte und ihr somit die Möglichkeit nicht gab, so zu tun, als würde sie keine Ahnung haben. Etienne hatte nur noch nicht entschieden, ob sie dennoch so tun sollte oder ob sie ihm einfach keine Antwort geben sollte.

Das, was sie aber wusste war, dass auch dieses Artefakt sehr teuer war. Und mittlerweile wollte sie wirklich wissen, woher er sie hatte. Er musste jemanden haben, der sie ihm herstellte. Und es würde sich lohnen herauszufinden, wer das war.

„Woher hast du sie?“

Er lachte, „Sicherlich glaubst du nicht, dass ich das beantworte?“

„Nein, das tue ich nicht“, sagte sie. Aber sie würde es anders herausfinden. Als Wissen, welches scheinbar nicht allgemein bekannt war oder aus Gerüchten stammte, würde Tatinne einen Preis verlangen, um das mit ihr zu teilen. Aber vielleicht würde sie Etienne einen Tipp geben, immerhin waren sie Familie. Herauszufinden, welch eine Fülle an magischen Gegenständen Raffael hatte, würde ihr helfen einen Plan zu entwickeln, mit welchem sie ihm den Stein abnehmen konnte. Und hierfür würde sie sich der Quelle widmen.

Er zog an Tatinnes Jacke, „Hier lang.“

„Wann bekomme ich meine Jacke wieder?“, fragte sie.

„Frierst du?“, fragte er zurück.

„Noch nicht.“

Er bedachte ihre Kleidung mit einem prüfenden Blick und Etienne unterdrückte es, sich unwohl zu winden. Er hatte bisher noch nicht darauf geachtet, doch nun hatte sie ihn darauf aufmerksam gemacht.

„Die sieht nicht aus, als wäre sie für diese Jahreszeit.“

„Tatinne ist der Meinung, dass sie gut ist.“

„In welchem Sinne?“, fragte er zurück.

Sie verzog das Gesicht, weil er ihre ausweichende Antwort nicht akzeptierte und ignorierte seine Frage. Er drängte sie auch nicht zu einer Antwort.

Als sie durch die Straßen gingen, stellte Etienne fest, dass hier viel gebaut wurde. An der breiten Hauptstraße, wo nur Fußgängern der Zutritt erlaubt war, wurden hölzerne Stände aufgebaut. Sie waren bei weitem noch nicht fertig und es schien, als würden die Menschen langsam Feierabend machen und die restliche Arbeit auf die anderen Tage verschieben.

„Wenn wir uns jetzt beeilen, kommen wir vielleicht noch pünktlich an“, sagte Raffael und beschleunigte seinen Schritt.

Etienne bedachte neugierig die vorbeiziehenden Stände. Die Straßen waren noch beleuchtet vom sanften Licht der Abendsonne, doch es sollte nicht mehr lange so sein. Es wurde durch das Radio durchgesagt, dass erneut Regen in der Nacht die Stadt treffen sollte. Es war gar nicht so ungewöhnlich für diese Gegend. Vor allem über das Meer wurden viele Wolken über Calisteo geweht. Etienne hoffte nur, bis dahin besser ausgerüstet zu sein.

„Hoffentlich zu meiner Jacke, weil es bald regnet und du sicherlich nicht willst, dass ich im Regen stehe“, sagte sie.

Er grinste unter seiner Kapuze, „Noch nicht, aber keine Sorge, ich habe die Zeit gut verplant.“

Etienne unterdrückte ein Seufzen. Sie hatte geahnt, dass er andere Pläne haben würde.

Sie folgte ihm durch die Straßen. Zunächst schienen sie voller zu werden, doch desto mehr sie sich von dem Inneren der Innenstadt entfernten, desto weniger Menschen begegneten ihnen.

„Wohin gehen wir?“, fragte sie ihn misstrauisch, während sie über die große, breite Brücke gingen. Die hohen Wände der inneren Stadtmauer erhoben sich langsam über ihnen. Das schien das Ziel zu sein.

„Da hoch“, sagte er und zeigte auf einen kleinen Turm, einer von vielen, die in einem regelmäßigen Abstand an der Wehrmauer entlanggingen. Soweit Etienne wusste, waren auch alle Häuser der Provinzherrscher ein Teil dieser Mauer. Der zweite Schutz, der anfiel, sollte Calisteo angegriffen werden. So haben es die Stadtgründer geplant und auch wenn es von den Herrschern nach ihnen nicht immer gewürdigt wurde, blieben die mächtigen Häuser immer ein kaum zu überbrückender Teil der Mauer. Ein sicherer Zuflucht und unüberwindbare Festung.

Es gab insgesamt zwei, welche Calisteo umgaben. Die innere war zum Schutz der dicht besiedelten Wohngegend gedacht. Sie war deutlich höher, als die äußere. Die äußere wurde, soweit sie es wusste, kaum noch genutzt. Sie war nicht so hoch und alt und mehr dazu gedacht, eine Grenze darzustellen.

„Was sollen wir da oben?“, fragte sie und konnte nicht anders, als sich jammernd anzuhören.

Er lachte laut und deutete dann auf ein Haus am Ende der Straße, „Vorher gehen wir dort vorbei.“

Das Haus sah nach nichts besonderem aus. Die Wandfarbe war teilweise abgeblättert. Die Fassade sah an manchen Stellen etwas schwarz aus.

Etienne sah sich misstrauisch um. Sie waren wahrscheinlich eine halbe Stunde gelaufen. Das neutrale Bezirk war nicht sehr groß. Es sollte immer kleiner sein, als die Provinzen der drei Herrscher, da es der Kern von Calisteo war und als dieser von den anderen geschützt werden sollte. Somit hatte es nicht lange gedauert, bis sie an die Grenze dieses gekommen waren. Nun waren sie in der Nähe der zweiten Mauer und in Raffaels Bezirk. Es war nicht ungewöhnlich, dass sie hier gelandet waren. Aber sie rechnete dennoch damit, dass seine Untergeben sie zu überwältigen versuchen würden. Deswegen hatte sie Catjill zu Hause gelassen. Wenn das passieren würde, dann würde sie sich darum kümmern und Catjill würde außerhalb eines möglichen Einflusses von ihm sein. Sie konnte es nicht riskieren, Catjill an Raffael zu verlieren und bevor sie ihm diesen Gedanken geben würde, würde sie Catjill möglichst aus seinem Blickfeld halten.

Sie traten zu dem Haus. Die Lichter schienen aus zu sein. Es gab Menschen, die an ihnen vorbei liefen. Niemand schien besorgniserregend zu sein.

Raffaels abruptes lautes Klopfen an der Tür erschreckte sie.

„Warte hier“, sagte er zu ihr. Dann klopfte er erneut sehr stark und nach einem kurzen Moment hörte Etienne Gerümpel und lautes Fluchen aus dem kleinen Haus. Die Tür wurde aufgerissen und ein älterer Mann trat ihm entgegen.

„Aus welchem Grund nervst du mich schon wieder?“, fragte er in einer barschen Stimme.

Raffaels Stimmte war fest und eindringlich, wenn auch noch immer mit dem belustigten Unterton, der ihn stetig begleitete, „Guten Abend. Ich hab dich auch vermisst. Lass uns nicht all zu lange hier aufhalten.“

Er trat hinein und die Tür fiel zu. Etienne blieb draußen stehen und sah sich um, während sie im Haus die Stimmen vernahm. Der Mann war nicht glücklich über den Besuch und seine barsche Art mit Raffael umzugehen überraschte sie.

Sie lehnte sich in den Schatten der Wand. Die Steine fühlten sich kalt durch Tatinnes Jacke an und es war beinahe schon erleichternd gegen den Schmerz in der Schulter. Bis die Kälte unangenehm wurde und ihre Muskeln sich wieder anspannten.

Die Wand war bewachsen mit Flechten und die Farben des Ziegels gaben mit dem Grün der Pflanzen einen friedlichen Eindruck. Es roch nach nassem Stein, was wahrscheinlich auf das leichte Nieseln am Mittag zurück zu führen war. Der Geruch vermischte sich mit dem von feuchtem Staub unter ihren Füßen. Für einen kurzen Moment war es friedlich und Etienne wünschte sich, sie könnte wieder durch die Berge reisen, das nasse Gras riechen, die Stille des Waldes hören und den Ausblick genießen.

Die Tür wurde wieder geöffnet und Raffael trat hinaus. Er sah etwas genervt aus und verzog kurz das Gesicht, als die Tür fest hinter ihm ins Schloss fiel.

„Und das ist der Grund, weshalb dich keiner besucht!“, rief er zu ihm durch.

„Ha!“, hörte sie von der anderen Seite und dann Schritte, welche sich entfernten.

Unsicher, was sie aus dieser Beobachtung machen sollte, wartete sie ab, bis er sich wieder an sie wandte.

Raffael sah zum Horizont und fluchte.

„Lass uns gehen.“

Überrascht beeilte sie sich ihm zu folgen, als er schnellen Schrittes voranging. Sie sah, dass er eine große Tasche in der Hand hatte. So gezielt wie er die Stadtmauer anzielte, hoffte sie inständig, dass ihre Jacke in der Tasche war. Sicherlich würde er sie nicht in der Kälte herumlaufen lassen.

„Ich dachte du hättest gesagt, es gäbe Wachen an der Mauer“, meinte sie, als sie ihn aufholte.

„Die gibt es, aber wir sind an dieser schon vorbei“, sagte er.

„Wirklich?“, fragte sie überrascht und rief sich die letzten Momente in den Kopf, „Der Mann im Haus?“

Er grinste sie an und holte dann einen Schlüssel aus seiner Jackentasche hervor, „Natürlich kann ich dir das nicht beantworten. Ich muss meine Menschen schützen. So ätzend manche von denen auch sind.“

Sie traten in die Schatten der Mauer. Die Temperatur schien direkt zu sinken.

„Was wollen wir dort oben?“, fragte sie dann. Diese Frage konnte er ihr beantworten.

„Du hattest noch nicht die Chance viel von der Stadt zu sehen“, sagte er, während er den Schlüssel in das Schloss einer Tür neben einem Gittertor steckte und ihn drehte, „Also werde ich dir eine kleine Einführung geben.“

„Es gibt nicht wirklich etwas, was mich interessiert“, sagte sie und folgte ihm durch die Tür. War das sein Plan? Ihr etwas zu erzählen und davon auszugehen, dass sie die Stadt schlagartig gut genug mögen würde, um in ihr zu leben? Dann soll es so sein. Desto mehr er ihr erzählte, desto eher würde sie es für sich zu nutzten wissen.

Tatsächlich hatte sie nie wirklich die Zeit gehabt, sich der Stadt zu widmen. Sie war anders als die, die sie bisher kennengelernt hatte. Nicht so atemberaubend, wie manch andere. Aber in ihrer eigenen Art und Weise reizend. Vielleicht war es tatsächlich gar nicht so verkehrt, sich etwas mehr zeigen zu lassen. Sie könnte es als eine Erinnerung behalten, für die Zeit, wenn sie nicht mehr hier sein würde.

Sie trat hinter ihm hinein und sie mochte es direkt nicht. Die Gänge waren eng und eine Treppe ging direkt nach oben in die nächste Etage. Es war dunkel. Etienne griff schneller zu ihrem Talisman, als sie es sonst tun würde. Die innere Unruhe in ihr verstärkte sich und das Misstrauen gegenüber Raffael stieg.

Es leuchtete in einem hellen weißen Licht auf. Raffael sah zu ihr. Sie entdeckte eine Lampe in seiner Hand, welcher er wohl gerade anmachen wollte.

„Das geht natürlich auch“, sagte er und stellte sie wieder weg.

„Wieso sieht es hier so kaputt aus?“, fragte sie, nachdem sie sich kurz umgeschaut hatte. Sie folgte ihm die Treppen hinauf und immer wieder schien es viele Risse und Lücken im Gestein zu geben, welche sie umgehen musste.

„Vor einem Jahr ist ein Teil dieser Seite der Mauer eingestürzt“, sagte er, „Sie ist wirklich lang und in den letzten Jahren gab es viele Machtwechsel. Und nachdem andere Probleme sich in den Vordergrund gedrängt hatten, wurden einige Prüfungen übersprungen, um an Menschen und Zeit zu sparen. Das hat sich dann so gerächt.“

„Ihr habt an eurem effektivsten Schutz gegen Feinde gespart?“, fragte sie nach.

Er zuckte mit den Schultern, „Es würde nichts zum schützen bleiben, wenn die Menschen innerhalb der Mauer verhungern.“

„Hunger?“, fragte sie überrascht, „Ihr hab wahrscheinlich das fruchtbarste Land in der gesamten Region und einen Zugang zum Meer. Wir habt ihr es geschafft euch in den Hunger zu treiben?“

„Eine Verkettung aus wirklich unglücklichen Ereignissen“, sagte er.

„Dennoch, eine furchtbare Idee euren Schutz zu vernachlässigen. Und das ausgerechnet diese Stelle. Sie zeigt genau ins Landesinnere. Ich könnte es verstehen, wenn es die Seite zum Meer wäre.“

Er drehte sich kurz zu ihr um und sie blieb stehen. Er schien etwas schwer zu atmen und ihr ging es genauso. Das Gespräch machte den Aufstieg deutlich schwerer.

„Willst du es ändern“, fragte er und sie entdeckte den belustigten Funken in seinem Auge.

„Willst du dich mit mir streiten?“, fragte sie zurück, gereizter, als sie es wollte.

Sein Grinsen wurde etwas breiter doch sie entdeckte eine sich langsam entwickelnde Wachsamkeit in seinem Gesicht.

„Du scheinst heute besonders gereizt zu sein“, stellte er fest und sah sie weiterhin forschend an.

„Das liegt wahrscheinlich daran, dass ich diesen Aufstieg hier machen muss, anstatt meine Jacken zu bekommen.“

Die Wachsamkeit verschwand wieder und er lächelte ein unbeschwertes Lächeln, welches in dem Licht ihres Talismans sich besonders von der Dunkelheit abhob. Es stand ihm mehr zu lächeln, als so verloren auszusehen, wie an dem Tag seiner Konfrontation mit Braad und Bianca.

Er drehte sich wieder um und ging weiter, „Dann habe ich gute Nachrichten für dich. Du kannst sie oben anprobieren und dabei einen fantastischen Ausblick auf Calisteo und ihre Provinzen genießen. Es gibt nichts besseres, als einen Blick auf diese Stadt.“

Sie glaubte ihm, dass er das ernst meinte. Erneut schwang dieser zuneigende, liebevolle Unterton in seiner Stimme, als er von der Stadt sprach.

Sie folgte ihm still hinauf, bis sie so weit oben waren, dass ein Blick aus den wenigen, kleinen Fenstern zum Ausguck auf eine beachtliche Höhe deuteten. Sie liebte den Blick auf das nun kleine Land unter ihnen. Und unabhängig dessen, ob er herausgefunden hatte, dass sie das mochte oder ob er einfach einen Glücksfall hatte, sie freute sich langsam tatsächlich darauf ganz oben zu sein und den Blick auf die Welt unter ihr zu erhaschen. Wie damals, als sie mit ihrem Vater in den Bergen war. Jedes Mal hat sich ihre Existenz dabei als so klein und unwichtig angefühlt, dass eine wohltuende Erleichterung sie durchströmt hatte. Dann erinnerte sie sich wieder daran, dass Raffael vielleicht von ihr wollte, dass sie die Herrschaft über die Stadt übernahm. Den Teufel würde sie tun, diese Verantwortung zu übernehmen.

„Lass mich hier etwas vorgehen“, sagte er und sie blieb stehen. Sie beobachtete ihn dabei, wie er über ein Loch in der Treppe kletterte. Es war nicht sehr groß, aber es bot ihr einen guten Blick nach Unten. Es ging wirklich tief hinab.

„Ist das nicht zu gefährlich für jemanden wie dich?“, fragte sie und konnte nicht anders als belustigt darüber zu sein, dass ausgerechnet er, der so sehr auf Sicherheit pochte, sich diesen Aufstieg ausgesucht hatte.

Er grinste zu ihr hinunter, „Keine Sorge, es ist sicher. Für jemanden, der den Ort kennt. Außerdem kann ich mir vorstellen, dass dir das gefallen könnte.“

Er hielt ihr die Hand entgegen. Etienne hielt inne. Wenn sie seine Hand in einem sicheren Griff ergreifen wollte, müsste sie ihre verletzten Schulter nutzen. Und das dumpfe Pochen sagte ihr, dass es keine gute Idee war. Also nahm sie den Talisman in die andere Hand und ergriff mit ihrer unverletzten Seite seine Hand. Während sie sich über die Lücke im Boden bewegte, sah sie kurz zu ihm hinauf und entdeckte einen irritierten Blick auf ihre Hände. Direkt bereute sie ihr Vorgehen. Anstatt sich Gedanken darüber zu machen, wie sie seine Hilfe annehmen sollte, hätte sie diese gar nicht erst annehmen sollen. Er war kein Verbündeter und das durfte sie trotz ihres Müdigkeit und Vorfreude nicht vergessen. Und als sein Blick auf ihre andere Seite wanderte, wusste sie, dass sie ihm eine Schwäche offenbart hatte. Zwar keine, welche lange gegeben sein würde, aber allein das es passiert war, ließ sie verstimmt werden. Der Misstrauen schlug schlagartig wieder ein, als sie seinem grimmigen Blick begegnete.

„Priorisierst du wieder deine Jacke?“, fragte er und sie hörte einen Unterton heraus, den sie nun kannte und von dem sie sicherlich nicht mochte, dass er gegen sie gerichtet war.

„Ich stehe nicht gerne mit dem Rücken vor einem Abgrund“, sagte sie. Kurz huschte ihr der Gedanke durch den Kopf, wie er sie schubsen würde. Auch wenn sie auf der Hut war, verwarf sie ihn wieder. Es gab keinen Grund für ihn, das jetzt zu tun. Sie mochte das Bild dennoch nicht.

Mit einem gemischten Gesichtsausdruck wandte er sich ab und ging weiter.

Sie redeten nicht mehr und Etienne vermutete, dass es eher am Aufstieg lag, als daran, dass er sauer war. Sie musste sich nun auch auf ihre Atmung konzentrieren, als sie höher und höher stiegen. Dann konnte sie die Decke näher kommen sehen und eine Luke tauchte auf. Raffael holte den Schlüsselbund wieder hervor, öffnete die Luke über ihnen und ging hindurch. Das Licht des Abends schien so hell in den dunklen Gang hinein, dass es sich fast schon wie eine andere Tageszeit anfühlte.

Raffael hielt ihr erneut die Hand entgegen, diesmal die andere. Wollte er entgegenkommend sein oder sich über sie lustig machen? Sie konnte es nicht sagen. Aber sie würde sich nicht anmerken lassen, dass es sie verunsicherte. Also nahm sie seine Hilfe an und ließ sich hochziehen.

Das Licht umfing sie und sie deaktivierte ihren Talisman. Sie war in einem Raum mit hohen Decken und zu ihrer Linken und Rechten ging es hinaus zum Wehrgang. Innerhalb des Raumes gab es alte Möbel und einen Tisch. Abgebrannte Kerzen standen drauf und Etienne entdeckte hier und da eine Spielkarte am Boden liegen.

Raffael warf die Tasche auf einen der Sitzplätze und setzte sich dann etwas weiter weg zum Fenster Richtung Stadt, „Die Stadt sieht am besten aus, wenn die Sonne noch auf sie scheint. Den Moment haben wir verpasst. Aber du solltest dir dennoch einen Blick verschaffen, so lange es noch hell ist.“

Er hörte sich genauso an, wie einige Momente zuvor, doch da war dieser eine harte Unterton in seiner Stimme und sie wusste, was er bedeutete.

Sie trat schweigend zu den Fenstern. Calisteo tat sich vor ihr auf. Als erstes sah sie die Schule. Es war das mächtigste Gebäude des neutralen Stadtteils. Und es hob sich wunderschön von dem blauen Abendhimmel ab. Es war einst das zentrale Gebäude der Stadt. In ihren Anfängen war es ein Rathaus. Die Anlaufstelle für Versammlungen, Organisationen und ein Zufluchtsort für die geflüchtete, die in der Stadt Schutz gesucht hatten.

Dann konnte sie Tatinnes Haus ausmachen. Es stand in einem kleinen Fleck aus Grün, welches in dem sonst so dicht besiedeltem Stadtteil nicht häufig zu sehen war. Das Blau des Flusses hob sich besonders von dem Rot der Ziegel hervor. Es war eine bunte, ordentlich Stadt.

Gilgians Bezirk tat sich hinter dem neutralen Stadtteil auf. Sie konnte den Park entdecken, welchen sie mit Meta aufgesucht hatte. Dann ging es leicht nach oben zum Haus, welches sie mit ihr aufgesucht hatte. Es verschwand fast vollständig hinter den ganzen Bäumen. Auch bei Raffaels Provinz und Elias’ sah es ähnlich aus. Desto weiter sie von dem neutralen Boden weggingen, desto weniger dicht besiedelt war die Gegend. Hinter der ersten Mauer war es wahrscheinlich noch karger. Etienne erinnerte sich, von Tatinne gelernt zu haben, dass es immer das Ziel war, dass die Provinzen auf ihre eigene Art und Weise die Menschen im Kern schützen sollten. So sollten sie für verschiedene Aufgaben zuständig sein und die Menschen wurden nach diesen in die Provinzen eingeteilt. Am Ende des Tages sollten sie aber alle in den neutralen Teil zurückkehren, als Mitglieder einer Gemeinde zu dessen Schutz und Wohlstand jeder etwas beigetragen hatte. Nun war das nicht mehr so. Desto mehr sich die Menschen über die Generationen hinweg ihrer Provinz zugehörig gefühlt haben, desto mehr waren die Mitglieder der verschiedenen Provinzen auseinander gegangen.

„Und nun?“, fragte sie an ihn gewandt.

„Du kannst deine Jacke auspacken“, sagte er. Bei seinem Tonfall freute sie sich nicht darauf. Sie bedachte die Tasche mit einem misstrauischen Blick. Er hatte keinen Grund ihr etwas zu geben, was ihr schaden würde. Und obwohl sie das wusste, ließ sein Tonfall, gemischt mit der Konfrontation mit Bianca, ein sehr unangenehmes Gefühl in ihr zurück.

Sie sah kurz zu ihm und versuchte seinen Ausdruck einzuschätzen. Er erwiderte fragend ihren Blick, wunderte sich wahrscheinlich über ihr Zögern. Etienne wollte ihm nicht sagen wieso, also setzte sie wieder ihr Lächeln auf. Er lächelte zurück, schien ihren Ausdruck zu imitieren und abzuwarten, was sie tun würde.

Etienne öffnete vorsichtig die Tasche. Nichts sprang ihr entgegen, außer der schwarze Stoff, der sorgfältig zusammengelegt wurde.

„Dir ist schon bewusst, dass ich nichts davon habe, dir zu schaden?“, hörte sie Raffael hinter sich sagen, „Und mal abgesehen davon: ich halte mich sorgfältig an das, was ich verspreche. Nicht wie ein gewisser Jemand, der nur so tut.“

Sie sah genervt zu ihm und er sah genauso aus, „Ich habe dir nie was versprochen. Außerdem bist du gar nicht so unschuldig Zunächst sah er beleidigt aus, dann nahm er einen herausfordernden Ausdruck an, „Willst du wetten? Ich habe mich bisher immer an alles gehalten, dem ich zugestimmt hatte. Du hingegen drehst es nur so herum, wie es dir am liebsten ist.“

Sie sah wieder zu der Jacke und betrachtete sie eingehend. Es hatte die passende Größe. Sie sah vom Schnitt und Material ihrer alten sehr ähnlich. Letzteres müsste sie aber noch überprüfen. Sie würde sich nicht mit weniger zufriedengeben, als mit dem, was ihre alte Jacke ihr gegeben hatte. Ihr alte Jacke, die sie jetzt schon vermisste. Sie war noch nicht bereit, sie auszutauschen.

„Du willst mir also sagen, dass du das nicht tust? Lass mich nachdenken, ah ja. Da war doch so ein Fall an meinem ersten Morgen in Calisteo. Wo du mit meinem Eigentum vor meiner Nase herumgewedelt hast und mir ein Angebot vorgeschlagen hast, nur um mir dann zu sagen, dass ich ihn nie bekommen werde.“

„Du hast das Angebot nicht angenommen“, erwiderte er.

„Und wenn ich es getan hätte, dann hätte ich ihn auch nicht bekommen. Damit hättest du dich nicht an dein Wort gehalten.“

„Ich habe dir nie versprochen, ihn wiederzugeben“, verteidigte er sich.

„Korrekt“, sagte sie und sah mit einem siegreichen Blick zu ihm, „So wie ich dir bisher ebenfalls nie etwas versprochen habe.“

Er verzog das Gesicht und antwortete nicht. Zufrieden sah sie wieder zu der neuen Jacke. Das Material schien zu stimmen. Es schien robust und dicht. Etienne vermutete, dass es sie gut vor Kälte schützen würde, auch vor tieferen Temperaturen, als denen, die in Calisteo herrschten. Sie wollte sie anprobieren, doch nicht bevor sie diese auf verborgene Zauber und Flüche überprüft hatte. Erst recht, nachdem sie jemand am Morgen zu verfluchen versucht hatte. Raffael konnte noch so sehr auf seine Vertrauenswürdigkeit pochen, sie würde nicht den Fehler begehen, leichtsinnig zu sein.

„Erzähle mir, was du mit Halil gemacht hast. Wie wir es vereinbart haben“, sagt er in einer ruhigen Stimme. Sie warf ihm noch einen letzten, triumphierten Blick zu und genoss es, dass es ihm gar nicht gefiel.

Etienne bedachte weiter die neue Jacke. Betastete die Fütterung mit ihren Fingern und ließ etwas Magie in diesen sammeln, nur um zu überprüfen, ob es eine Stelle gab, welche mit ihrer Energie interagierte.

„Ich hab Tatinne gebeten, mir etwas von ihrem Parfüm auszuleihen und er ist beinahe bewusstlos davon geworden“, sagte sie.

Er prustete, „Das soll ich dir glauben?“

„Tatinne ist die beste Köchin, die ich kenne. Das werden auch viele andere behaupten, die sie kennen. Jeder möchte ihre Produkte ausprobieren. Und viele wollen was zum Mitnehmen haben“, erzählte sie ihm.

„Und sie hat dir ein Parfüm gekocht?“, fragte er amüsiert.

„Nicht mir, eher sich selbst“, sagte sie, „Es diente ursprünglich dazu, Menschen zu vergiften, die einem zu Nahe kamen. Und Tatinne ist eine wirklich schöne Frau. Sie hat es öfters erlebt, dass Menschen ihr gegenüber aufdringlich wurden. Aus verschiedenen Gründen. Die aktuelle Version des Parfüms ist nicht ganz so schlimm, wie die alte.“

Als sie keine Antwort hörte, sah sie noch mal zu ihm. Er sah sie schweigend, mit großen Augen, an. Etienne probierte die Jacke an. Direkt spürte sie, wie die kalte Luft verschwand. Es fühlte sich gut an, dieser nicht mehr ausgesetzt zu sein.

„Du hast ihn vergiftet?“, fragte Raffael dann fassungslos. Schien, als hätte er akzeptiert, dass sie die Wahrheit sagte.

„So schlimm war es nicht. Und auch nicht für lange. Nur bis er aufgegeben hat. Dann habe ich ihm das Gegenmittel gegeben.“

„Ah“, sagte er und Verständnis malte sich in seinem Blick aus, „War die Siegesbedingung das Aufgeben des Anderen?“

Sie nickte.

„Erzähl mir mehr“, forderte er auf.

„Was willst du hören?“

Er stellte ihr ein paar Fragen und sie beantwortete alle ehrlich. Es gab sowieso nichts Interessanteres, als das, was sie zu Tatinne erzählt hatte.

„Ist das von ihm?“, fragte er dann nach und sie sah ihn verständnislos an. Er deutete auf ihre Schulter.

Etienne verdrehte die Augen, „Vielleicht ein kleines Bisschen.“

„Von was dann?“

„Hauptsächlich von dem Crawling“, antwortete sie.

Er seufzte schwer und lehnte sich zurück. Sein Blick verweilte einen Moment auf ihrer Schulter und hob sich dann zu ihrem Gesicht, „Was soll ich tun, damit du aufhörst dich in die Situationen zu begeben, welche dich so verwundet zurück lassen?“

Sie setzte zur Antwort an doch er hob die Hand, „Nein, ich nehme die Frage zurück.“

Er schwieg unzufrieden. Dann deutete er auf die Tasche, „Deine Jacke ist auch noch dabei. Sie war nicht so schlimm zugerichtete, als dass sie nicht zu retten wäre.“

Etienne blinzelte überrascht und sah dann wieder in die Tasche. Sie griff hinein und schob den schwarzen Stoff beiseite, was den Blick auf vertraute Muster freigab, welche sie in und auswendig kannte, weil sie diese in den ersten Wochen so häufig angestarrt hatte. Sie hob sie heraus und ihr Herz setzte für einen Moment aus, als sie den sorgfältig geflickten Stoff sah und dann breitete sich Erleichterung und zufriedenes, ruhiges Glücksgefühl in ihr aus. Es war nicht so, als würde sie viel auf Gegenstände geben, aber ihr wurde zum ersten mal wirklich bewusst, wie sehr sie an dieser Jacke hing. Es war ein Traum, als sie diese bekommen hatte und sie zu verlieren wäre nur zu traurig gewesen.

„Danke“, sagte sie leise.

„Gern geschehen“, sagte Raffael, so zögerlich und leise, dass sie verwirrt zu ihm blickte. Er sah sie ebenfalls verwirrt an, diesmal jedoch nicht mit Missbilligung und Ärger.

„Was ist?“, fragte sie nach. Sie wollte wissen, an was er dachte. Und sie wollte wissen, wieso er das hat machen lassen. Ihre alte Jacke zu flicken war nicht Teil ihrer Abmachung. Schuldete sie ihm jetzt was?

Er sah sie noch einen weiteren Moment an, schien sich irgendwie unwohl zu fühlen und nicht recht zu wissen, was er sagen sollte. Dann konnte sie beobachten, wie er sich zusammenriss und dann auf die Jacke deutete, „Wieso ist sie dir so wichtig? Wichtiger als sich um dich selbst zu kümmern.“

Wenn sie ihm diese Frage beantworten wollte, dann musste sie ihm erzählen, dass es der erste Gegenstand war, den sie sich je von ihrem eigenen Geld hat leisten können. Diese Jacke gehörte wahrhaftig ihr. Ihr erster, eigener, aufrichtiger Besitz. Aber wenn sie ihm das erzählen würde, dann würde er fragen wie es dazu kam. Und das war sie nicht bereit mit ihm zu teilen.

Also sah sie ihn schweigend an und wusste nicht, was sie auf seine Frage erwidern sollte.

Er sah einige Moment schweigend zurück und seufzte dann schwer, „Ist gut, ich frage nicht weiter nach.“

Ein unangenehmes Gefühl setzte in ihr ein. Sie wollte ihm etwas erzählen. Irgendetwas, nur um sich nicht mehr so verletzlich zu fühlen, weil er ihr etwas, für sie wertvolles, zurück gegeben hatte. Doch sie wusste nicht, was sie sagen sollte.

„Etienne“, sagte Raffael dann, „Ich will mit dir befreundet sein.“

„Was?“, sie sah ihn überrascht an. Das kam aus dem Nichts und es machte keinen Sinn. Er musste doch wissen, dass so lange er den Stein in seiner Hand hatte, dies unmöglich war. Eigentlich war es das sowieso und sie wusste nicht, was sie damit anfangen sollte. Normalerweise war sie immer diejenige, welche das Angebot aussprach, aber sie erwartete auch nie eine ernsthafte Zusage.

„Ich weiß“, sagte er und hob Hand, schien ein Grinsen zu unterdrücken, „Aber lass es mich erklären.“

Sie sah ihn erwartungsvoll an. Ihre Hände kribbelten.

„Prinzipiell ist es noch immer genau das, was ich schon damals wollte.“

„Ich werde mich nicht an diese Stadt binden lassen“, sagte sie ihm geradeaus. Sie hat sich genug über einen möglichen Vertrag mit ihm ausgemalt, um zu wissen, dass er genau das versuchen würde.

„Das habe ich nicht vor“, sagte er, „Aber es ist auch nicht so, als wäre die Vorhersehung in dieser Hinsicht gnädig dir gegenüber.“

„Sie trifft nicht auf mich zu“, erwiderte sie.

Er seufzte, „Etienne, das was Tatinne gesagt hat und das, was bisher passiert ist, deutet aber ziemlich direkt darauf hin.“

„Glaub mir einfach“, sagte sie, „Du wirst es in einigen Wochen selbst feststellen. Und bis dahin wirst du die Zeit an mir verschwendet haben. Ich bin mir ziemlich sicher, dass du das nicht gutheißen kannst.“

„Das reicht mir nicht“, sagte er, „Ich kann nicht wochenlang warten, nur um dann festzustellen, dass es doch auf dich zutreffen wird. Wenn du dir so sicher bist, kannst du es mir beweisen?“

Etienne schwieg auf seine Frage hin. Sie konnte ihm Catjill nicht ausliefern. Zumindest jetzt noch nicht. Catjill zu verlieren würde dafür sorgen, dass sie die Steine nicht rechtzeitig bekommen würde. Das wäre ein Katastrophe, welche sie nicht wieder geradebiegen können würde. Und nach all der Arbeit, die sie hineingesteckt hatte einen Djinn zu erhalten, würde sie sich mit allem wehren, was ihr zur Verfügung stand, um ihn so lange zu behalten, wie sie ihn brauchte. Sie hatte ihr Leben riskiert. Und wenn Raffael ihn haben wollte, dann würde sie dasselbe von ihm erwarten.

„Was spricht dagegen, ein paar Wochen zu warten. Wenn die Vorhersehung wirklich stimmt, was du in meinen Augen nebenbei angemerkt als viel zu sicher ansiehst, dann ist es sowieso nicht eindeutig, wann du und die anderen von der Herrschaft abgelöst werden solltet. Das könnte Jahre dauern.“

„Das habe ich mir auch gedacht. Aber ein ‚Könnte‘ ist nicht gut genug.“

„Also was ist der Plan? Mich dazu zu bringen, das Ganze zu akzeptieren und eine ordentliche Ablösung zu ermöglichen? Wer soll das akzeptieren? Ich nicht. Die Menschen hier aber sicherlich auch nicht. Werden deine Mitglieder nicht fürchterlich enttäuscht von dir sein, wenn du einfach zurück trittst?“

Die Abwesenheit seines Lächelns zeigte ihr, wie ernst ihm dieses Gespräch war. Sie hatte sich ebenfalls nicht gerührt, stand noch immer mit ihrer Jacke in ihren kribbelnden Händen und hatte das Gefühl, ihr würde vor Anspannung die Luft weggedrückt werden. Wenn er ihr sagen würde, dass sie den Stein nur unter den Bedingungen einer Herrschaft unter seiner Führung bekommen würde, dann würde es zwischen ihnen beiden früher oder später zu einer Konfrontation kommen. Sie hatte nun die Möglichkeit zu entscheiden, ob sie daraus ein Früher oder Später macht. Er hatte ihr noch immer die Hilfe für den letzten Stein in Aussicht gestellt. Würde es sich lohnen, es in Anspruch zu nehmen?

Er lehnte sich nach vorne, „Die meisten Menschen haben es satt die stetigen Konflikte aushalten zu müssen. Vor allem Gilgians und meine Provinz sind gerade dabei sich anzunähern und es fällt den meisten nicht einfach, da das Misstrauen noch viel zu tief verankert ist. Aber Jemand von außerhalb, der nicht viel mit diesen Konflikten zu tun hat und noch dazu von Tatinne unterstützt wird, könnte zusammen mit einer richtig dargestellten Vorhersehung etwas Hoffnung in die Sache reinbringen.“

Als ihre Fingerkuppen zu schmerzen anfingen und ein Schauer ihren Rücken hinunter wanderte, spürte sie, wie ihre Gliedmaßen sich im kalten Schock versteiften. Raffael redete weiter, erzählte ihr etwas von seinen Plänen, die letztendlich nur darauf hinauslaufen würden, dass er sagen würde was sie tun sollte und von ihr erwarten würde, dass sie ihm gehorchte.

Sie ließ Magie in ihre Fingerspitzen gleiten und das Brennen verstärkte sich zu einem schmerzenden Wissen. Er hätte ihr genauso gut ins Gesicht spucken können.

Etienne warf die Jacke wieder in die Tasche, weg von sich, aber nicht weit genug, da sie es nicht übers Herz brachte. Sie spürte, wie die Wut sich zusammenzog zu einer ihr nur zu vertrauten kleinen, kalten Kugel, umgeben von Ruhe, welche sie kontrollierte. Sie war bereit für einen Kampf, aber nicht, wenn sie dabei den Kopf verlor.

„Etienne?“, hörte sie ihn misstrauisch fragen. Sie war sich nicht sicher, ob er wusste, dass sie den Fluch bemerkt hatte. Aber das würde keinen Unterschied machen. Er hatte zuerst die Waffe gezückt. Das war alles, was für sie zählte und das war alles, was sie brauchte.

„Du willst also, dass ich deine Provinz übernehme?“, fragte sie, trat zu ihm und setzte sich vor ihm in die Hocke. Etienne lächelte zu ihm hinauf, betrachtete seinen irritierten Blick.

„Es ist nicht, dass ich es will“, sagte er widerstrebend, „Aber ich werde nicht Kraft daran verschwenden, gegen eine Vorhersehung anzukämpfen, wenn das Hauptziel sein soll, die Sicherheit und den Wohlstand der Menschen zu sichern.“

„Ah“, sagte Etienne verständnisvoll, „Es ist dir egal, wer die Stadt leitet, Hauptsache derjenige macht es richtig.“

Seine warmen Augen bedachten wachsam ihr Gesicht. Auf einmal empfand sie Dankbarkeit. Er hatte ihr die ganze Situation mit einem Schlag um so viel leichter gemacht. Etienne hatte sich nie wohl damit gefühlt, Menschen als Gegner zu haben, die innerlich gut waren. Und desto mehr sie ihn kennengelernt hatte, desto mehr schien er zu dieser Sorte zu gehören. Sie war nicht gerne der Bösewicht. Und nun war sie es nicht allein.

„Vielleicht lasse ich mich doch überzeugen, das zu machen. Nirgendwo ist der Blick schöner, als ganz oben. Das wolltest du mir sicherlich mit dem heutigen kleinen Ausflug zeigen.“

„Nein!“, sagte er vehement.

Sie sprach weiter, ignorierte ihn, „Was soll ich als erstes machen? Ich könnte ein paar nervige Verträge mit den anderen Städten aufheben. Es ist nie gut, abhängig von anderen zu sein. Vor allem der Düngerimport aus Vheruna ist eine Schwachstelle von Calisteo. Was wollt ihr nur machen, wenn die Stadt nicht mehr neutral ist und die Loyalität nicht mehr Vherunas König gilt. Dann würden wir zwangsläufig Vasallen von denjenigen werden, die über Vheruna herrschen.“

Er runzelte erneut die Stirn, „Was? Etienne, das ist eine furchtbare Idee.“

„Nein, nein“, sagte sie, „Ich glaube das ist eine fantastische Idee. Natürlich nicht für die Menschen, die Hungern werden, weil die Ernte ausfällt. Diese müssen dann schauen, wo sie bleiben. Aber das ist nicht so schlimm. Ich hab gehört, es sei sowieso etwas überbevölkert hier.“

Sie genoss jeden Moment, in welchem sein Gesicht von Verwirrung zu Unglaube zu Wut wechselte. Diese funkelte in seinen Augen auf und die Wärme verschwand. Er wandte den Blick nicht ab und diesmal genoss sie es, ihm entgegen zu blicken.

Er atmete tief durch, schien sich zu beruhigen zu versuchen. Aber sie würde es ihm nicht erlauben. Etienne hatte fest vor, ihn die Fassung verlieren zu lassen.

„Ich bin nicht hier hoch gekommen, um mich mit dir zu streiten“, sagte er. Eine vernünftige Aussage, wie sie es von einer Person erwartete, welche sich so sehr Mühe gab das zu sein, was seine Menschen brauchten.

„Nein, du hast dir ganz bestimmt vorgestellt, dass das hier ganz anders laufen würde“, stimmte sie ihm zu, „Und vielleicht hätte ich es dir sogar gegönnt. Aber letztendlich sind wir nur zwei Fremde. Wir werden es immer bleiben. Und ich kann dir versichern, dass wir beide nicht miteinander befreundet sein werden.“

Sein Kiefer spannte sich an. Er starrte sie an, schien zu überlegen, was er als nächsten sagen sollte. Doch nun lag eine Härte in seinen Augen. Er mochte zwar den Stein haben, aber er hatte bei Weitem nicht die Oberhand. Raffael wusste nicht, wie dringen Etienne sie brauchte und er wusste nicht, dass sie unter Zeitdruck stand. Und so lange er das nicht herausfand, konnte sie sie sich weit herauslehnen.

War es sein Plan, sie in die Ecke zu treiben? Er hatte keine Ahnung, wie weit sie gehen konnte.

„Aber das bedeutet nicht, dass ich nicht mit anderen Freundschaften schließen könnte. Es gibt hier so viele interessante Menschen in der Stadt.“

Er schnaubte, „Ah, weht daher der Wind? Hat dir jemand etwas eingeredet, als ich einen Moment nicht darauf geachtet habe? Wer hat dich in seine Hand bekommen?“

Sie lächelte seinem Versuch entgegen, sich zu erklären, wie er in diese Situation geraten war. Bestimmt hat er gedacht, dass sie ein ruhiges Gespräch führen würden.

„Niemand. Es gibt niemanden in dieser Stadt, der das könnte. Auch du nicht. Und wenn du denkst, dass es ausreicht, den Stein zu haben, dann täuschst du dich. Egal was du probierst. Du wirst mich nicht kontrollieren.“

„Es war nie meine Absicht, das zu tun“, verteidigte er sich, noch immer mit dieser kontrollierten Stimme, welche jedoch nicht das Toben in seinen Augen bedecken konnte, „Und wenn es hier um unser erstes Gespräch geht: Ich wollte nur Zeit gewinnen. Du hast mich damit überrascht, dass du bei Tatinne warst.“

„Keine Sorge, das werde ich dir noch im vollen Maße heimzahlen“, sagte sie ehrlich. Sie hatte es nicht vergessen und sie vergab nicht. Wenn sie es tat, würden sie alle nur auf ihr herumtrampeln.

„Ich will nicht dein Feind sein“, sagte er.

Sie grinste zu ihm hinauf, „Der einzige Weg, nicht mein Feind zu sein, wäre der, mir den Stein zu geben. Aber nicht nur, dass du ihn mir genommen hast, du hast mich auch beleidigt.“

Und das mehrmals. Sie hatte über den ersten Morgen hinweggesehen, weil es noch nicht verlangt hatte zu handeln. Aber das mit der Jacke würde sie ihm nicht verzeihen. Er war der einzige, der davon wusste. Und der Schneider. Wenn der Schneider Alberto war, dann war es naheliegend, dass auch Scarlett davon wusste, dass er an Etiennes Jacke arbeitete. Meta und Gilgian könnten auch Wind davon bekommen haben, doch Gilgian war nicht gerissen genug, um einen Fluch zu organisieren und Meta war zu leicht einzuschüchtern, um sich an diese Arbeit zu machen. Sie hatte nicht das Rückgrat, sich den Flüchen zu widmen. Und somit war die Liste an Menschen, welche sich in dieser kurzen Zeit an ihrer Jacke zu schaffen machen konnten sehr gering. Und nahezu alle gehörten zu Raffael.

„Es war nicht meine Absicht, dich zu beleidigen“, sagte er. Vor ein paar Stunden hätte sie furchtbar viel Spaß damit, ihn so in der defensive zu sehen. Es musste fürchterlich verwirrend für ihn sein, wie sich das Gespräch dahin gewendet hat, dass er von ihr bedroht wurde.

„Natürlich nicht“, sagte sie, „Du tust nur das, was du für deine Provinz als richtig ansiehst. Also lass mich dir einen Ratschlag geben, der dir dabei helfen wird zu entscheiden, was wirklich das Beste für sie sein wird. Wenn ich jemals an die Macht kommen sollte, werde ich deine Provinz langsam dem Boden gleich machen. Aber nur deine. Und du wirst daran schuld sein, weil du mich in die Machtposition gedrängt hast.“

Er schwieg. Sah sie nur wütend an. Atmete langsam und kontrolliert.

„Bin ich nicht nett?“, fragte Etienne und stand auf, „Ich warne dich vor, bevor ich loslege. Immerhin weißt du jetzt, was passieren wird.“

Sie ging zurück zu der Tasche, ihre Jacke noch immer offen auf dieser liegend. Sie war sich sicher, dass wenn sie den Stoff öffnen würde, der hässliche Fluch ihr entgegenspringen würde. Sie wurde die Jacke aufschneiden müssen, um ihn zu sehen und anschließend bestimmen zu können, was genau er gegen sie ausrichten sollte. Und wenn sie an die Schmerzen in ihren Fingern dachte, dann war das kein schwacher Fluch. Er war wenigstens einige Stunden und höchsten zwei Tage an ihrer Jacke. Wenn er früher aktiviert worden wäre, dann könnte er sich schon mit Energie vollgesogen haben. Wenn sie Pech hatte, würde sie die ganze Jacke vernichten müssen. Ihr war zum Heulen zumute.

„Du bluffst“, sagte Raffael in ihren Rücken und als sie seine Stimme hörte, hätte sie ihn am liebsten geschlagen.

Etienne packte ihre Jacke zusammen, ließ Magie in ihre Hände fließen, um sie vor der Energie des Fluches zu schützen.

„Du denkst, ich würde das nicht machen?“, fragte sie.

„Nein“, sagte er, „ich glaube nicht, dass du das machen würdest. Dafür springst du zu schnell anderen zu Hilfe, wenn es darauf ankommt. Aber das ist nicht das, was ich meine. Ich glaube nämlich nicht, dass du es darauf anlegen wirst, an die Macht zu kommen, nur um danach daran zu arbeiten, viel Schaden anzurichten. Ich glaube, dass du gar nicht die Zeit hast, diesen Weg einzuschlagen.“

Etienne schnaubte, „Und aus was genau entnimmst du das?“

„Weil du mir nur ein paar Wochen vorgeschlagen hast. Du hast vor, so schnell es geht von hier zu verschwinden. Was nebenbei der Grund ist, weshalb ich dir den Stein nicht hergebe. Ich kann es mir nicht leisten, dass du mit Chaos zurückkehrst und die Macht an dich nimmst, während alle möglichen Menschen aus Calisteo unter der Machtübernahme leiden müssen.“

Sie musste wieder lachen, „Egal ob mit oder ohne, sie werde sowieso leiden. Du kannst dir gerne den Weg aussuchen. Aber wenn du den nimmst, dass du mir den Stein vorenthältst, dann kann ich dir versichern, dass du dir keine Gedanken über eine chaotische Machtübernahme machen brauchst, sondern eher um das, was danach kommt. Und so wie ich die Verhältnisse hier einschätze, gibt es mindestens eine Familie, welche wirklich glücklich darüber sein wird, wenn ich mir deine Provinz vornehme. Oder die von Gilgian. Diese wird auch drunter leiden, wenn eure so hart erarbeitete Verträge zum Waffenstillstand aufgehoben werden.“

„Du willst also gemeinsame Sache mit den Levines machen?“, fragte er mit einem bitteren Ton in der Stimme, „Sie werden dir in den Rücken fallen, sobald sie die Chance bekommen.“

„Vielleicht. Aber bis dahin werde ich alles haben, weswegen ich hier bin. Und zusätzlich würde ich die Chance bekommen dir alles heimzuzahlen. Ich schulde dir noch einiges.“

„Etienne!“, rief er aus und sie hörte, wie der Frust durchbrach, „Das ist solch ein Schwachsinn. Wenn du mir etwas heimzahlen willst, dann gibt es andere, weniger aufwendigere Wege. Und unser beider Konflikt wird nichts daran ändern, dass es eine Vorhersehung gibt, mit welcher du dich auseinandersetzen musst.“

Sie lächelte zu ihm, froh darüber, dass er ihr die Chance gab, noch einmal zuzuschlagen, „Das ist so nett von dir, dass du das ansprichst. Willst du mir dabei helfen, ein weniger aufwendigeren Weg zu finden?“

„Rache an mir zu üben?“, fragte er schnaubend, sichtlich unzufrieden. Was sie jedoch beinahe schon verwirrte, war die Tatsache, dass er es tatsächlich in Erwägung zog.

„Wenn du dadurch aufhörst so widerspenstig zu sein“, sagte er.

Etienne musste es unterdrücken, noch breiter zu lächeln. Er unterschätzte sie noch immer.

„Gut. Wer ist Josef?“, fragte sie.

Raffael brauchte einen Moment und als die Klarheit durchdrang, wurde er blass. Dann sprang er auf, machte jedoch keine Anstalt zu ihr zu treten.

„Übertreibe es nicht“, sagte er flüsternd. Sie hatte ihn noch nie so wütend gesehen. Und zu ihrer Zufriedenheit, war sie nicht mehr so eingeschüchtert, wie die letzten Male. Sie sah ihn wahrhaftig als Feind an. Und sie dankte ihm innerlich, dass er ihr das ermöglicht hat.

„Ich bin nicht Braad“, sagte sie leise, „Ich schulde dir gar nichts. Ich unterstehe dir nicht.“

Er sah so furchtbar wütend aus und das freute sie, denn sein Gesicht trug dasselbe Gefühl, welches sie tief in ihrer Brust spürte. Seine Hände waren zu Fäusten geballt und sie hoffte, er würde Anstalt machen, sie zu schlagen. Wenn er sie angreifen würde, konnte sie ohne schlechtes Gewissen zurückschlagen. Doch er tat es nicht. Stattdessen schlich sich ein kaltes Lächeln auf sein Gesicht und sie hatte die Befürchtung, dass sie es nicht schaffen würde ihn so wütend zu machen, dass er sich verlieren würde.

„Ich hoffe dir ist bewusst, dass ich bisher sehr rücksichtsvoll mit dir umgegangen bin“, sagte er leise, „Willst du wetten, dass ich nicht mal einen Tag brauchen werde, um dich unter meine Führung zu bekommen.“

Sie lachte, „Es gibt keinen Grund für mich, solch eine Wette einzugehen.“
Er hob leicht den Kopf und seine Augen forderten sie heraus. Und sie konnte nicht anders, als die Herausforderung anzunehmen, „Was bekomme ich, wenn du versagst.“

„Ich gebe dir eine Möglichkeit den Stein wieder zu bekommen.“

Sie prustete, „Was für ein fürchterlicher Preis.“

„Ich werde ihn dir am nächsten Tag mitbringen und dir die Chance geben, ihn zurück zu stehlen. Natürlich werde ich ihn dir nicht einfach in die Hände legen. Außer du traust es dir nicht zu, ihn dir zurück zu holen. Was mich nicht wundern würde, wenn ich bedenke wie furchtbar inkompetent deine Abenteuer bisher waren.“

Etienne spürte, wie die Wut stärker wurde. Dass er an ihren Fähigkeiten zweifelte war eine Sache. Sie als unfähig betiteln schlug gegen ihren Stolz, „Ich werde keine Mühe brauchen, ihn dir wegzunehmen.“

„Dann sollte der Einsatz kein Problem darstellen. Wenn ich es morgen nicht schaffe, dass du das tust, was ich dir sage, dann werde ich ihn dir am nächsten Tag vorbeibringen und du bekommst für einen ganzen Tag die Chance, ihn dir zurück zu holen.“

Sie standen sich nicht nahe, dennoch konnte sie jede Regung in seinen Augen ausmachen. Sie spiegelten dieselbe Feindseligkeit und Wut wieder, die sie in sich spürte. Sie würde noch einige Wochen in der Stadt verbringen müssen und Etienne spürte die Verlockung. Es war besser, er würde den Stein außerhalb seines Hauses haben, damit sie sich Gedanken um die ganzen Sicherheitsmechanismen machen musste. Catjill würde sie mit Vorbereitung rein bringen können, aber er schützte sie nur vor Menschen, nicht vor magischen Gestalten. Und wenn sie sich nicht geirrt hatte, dann gab es ein Anzeichen, für mindestens ein weiteres Wesen in Raffaels Haus. Etienne würde ohne Catjill gegen dieses antreten müssen, genauso, wie sie ohne seine Hilfe gegen den Wächter bestehen musste. Den Stein aus Raffaels Haus herauszuholen, würde ihr tatsächlich eine große Chance bieten. Sie konnte Raffael besiegen. Sie war sich nicht sich, ob ihm das bewusst war. Sicherlich dachte er, dass wenn er einen seiner Ringe aktivieren würde, sie nicht an ihn herankommen würde. Und auf einmal war sie wirklich glücklich darüber, dass sie ihren Djinn nicht mitgenommen hatte. Raffael hatte ihn nicht vor Augen. Und die Magie des Djinns hielt Catjill bedeckt vor der Aufmerksamkeit anderer. Raffael hatte keine Ahnung, dass so lange sie den Djinn hatte, es keinen Ring gab, der funktionieren würde. Catjill musste ihr nur einen Moment geben und da es den Stein involvierte, würde er ihr gehorschen.

„Was willst du haben?“

Sein Grinsen wurde breiter, „Ich will einen offenen Gefallen.“

„Das ist mir zu vage“, erwiderte sie.

„Dann grenze es ein“, gab er zurück.

Unter normalen Umständen würde sie nicht auf einen offenen Preis eingehen. Er könnte alles von ihr verlangen. Und sie wusste, dass sie es nicht tun sollte, erst recht in ihrer Wut, welche noch immer tief in ihrem Inneren zu spüren war. Dennoch, bei dieser Verlockung nach dem Stein und seiner Herausforderung, konnte sie nicht anders.

„Es wird etwas sein, was mich weniger als 5 Minuten Arbeit kostet und es werden keine Versprechen sein. Nur eine einfache, körperliche Arbeit ohne Einfluss auf langfristige Zukunft.“

Er nickte leicht mehrmals mit dem Kopf, als würde er ihre ihre Worte in seinem Kopf auskosten und testen.

„Das ist eine ziemliche Einschränkung. Fünf Minuten sind mir zu wenig.“

„Mehr als genug dafür, dass es regelrecht alles sein könnte.“

Er schnaubte lachend. Betrachtete sie einen Moment und nickte dann, „Gut, ich brauche sowieso nichts.“

„Ah nein? Was soll dann der Sinn dieser Wette sein.“

„Ich will dir nur zeigen, wie großzügig ich bis jetzt zu dir war.“

Sie schnaubte. Dann packte sie die Tasche und ging zur Luke hinunter. Es gab keinen Grund mehr hier oben zu bleiben.

„Ich bekomme noch etwas von dir“, sagte er.

Natürlich, der Ring. Sie holte ihn aus ihrer Hosentasche und warf ihm diesen zu. Er fing ihn auf. Sein grimmiger Blick traf den ihren.

„Bis morgen dann“, sagte er, „Ich hoffe du bist pünktlich da und kneifst nicht.“

Sie zögerte kurz. Etwas entging ihr. Auch ihm fiel es auf, denn nach einem kurzen Moment schlich sich ein wissendes, hämisches Lächeln auf sein Gesicht, „Unvorbereitet und leichtsinnig. Wie ich es bereits von dir kenne. Ich hole dich morgen um neun ab. Du hast sicherlich gehört, was wir alle am Wochenende machen. Falls du dich nicht erinnerst, nimm dir etwas Zeit darüber nachzudenken. Ich werde es dir nicht sagen.“

Sie bedachte ihn noch einen Moment, wie er ihr entgegen grinste und es zu genießen schien, dass sie scheinbar schon in einem Nachteil war, den sie nicht erahnen konnte. Aber die Tatsache, dass sie sich jetzt um die Jacke kümmern wollte, ließ sie dieses Problem zur Seite schieben. Sie würde sich morgen darum kümmern. Sie drehte sich um und ging nach Hause.

12

 

Als Etienne am nächsten Tag wach wurde, war es, weil ihr Djinn sie geweckt hatte, wie er es ihr am Vorabend zugesichert hatte. Seit sie heim gekommen war, war er so ruhig und gehorsam, dass sie sich zwingen musste, ihren Unmut zu unterdrücken. Sie konnte ihre schlechte Laune nicht an ihm auslassen. Obwohl sie die Konfrontation mit Raffael sehr deutlich daran erinnert hatte, dass Beziehung nur in Machtverhältnissen existieren konnten. Es war ein stetiger Kampf um die Oberhand. Und die einzigen Wesen, die Etienne in ihre Nähe erlauben sollte, waren die, die keine Gefahr darstellten.

Sie sprang aus dem Bett und machte sich schweigend fertig. Der Djinn wollte ihr etwas erzählen, doch sie merkte, wie er sich zurückhielt. Ihr war auch nicht nach reden zumute. Ihre alte Jacke lag im Bad, getränkt in Salzwasser. Der Fluch war noch immer nicht außer Kraft gesetzt und Etienne vermutete, dass sie die Stelle komplett herausschneiden musste. Sie wollte es vermeiden, aber es schien unausweichlich. Die ganze Arbeit die sie hineingesteckt hatte, diese Jacke zu bekommen und dieses Glücksgefühl, als sie diese endlich in der Hand hielt. Alles umsonst, nur weil sie den Fehler begangen hatte, sie an jemand anderen abzugeben. Und nachdem sie den Abend drüber gebrütet und ihre Wut sich etwas gelegt hatte, hat Etienne verstanden, was sie so wütend gemacht hatte. Sie hatte Raffael nach und nach als jemand fürsorglichen und aufmerksamen kennengelernt. Als jemanden, der sich viel Mühe gab, anderen zu helfen. Ihr war nicht aufgefallen, dass er dieses Image von ihm als Waffe nutzte. Etienne war irritiert davon gewesen, dass er diese fürsorgliche Art auch ihr gegenüber gezeigt hatte und das obwohl sie sich nicht einmal richtig gekannt hatten. Nun verstand sie wieso und ihre Naivität nervte sie so sehr, dass die Wut beinahe im gleichen Maße wieder zurück kam. Sie war sauer auf Raffael, aber nicht so sehr, wie auf sich selbst. Sie wusste es doch eigentlich besser.

Etienne packte die Tasche, welche Tatinne ihr besorgt hatte. Es gab wohl kaum etwas, was sie an dem Tag machen können würde, also packte sie das Buch ein, welches sie von Warlen bekommen hatte. Welche Raffael unterstand. Als Etienne dieses am Vorabend entdeckt hatte, hatte sie es sofort auf Flüche untersucht, aber nichts gefunden. Also entschied sie sich dazu, es mitzunehmen. Sie würde nicht zu tief in die Paranoia eintauchen. Noch hatte Warlen nichts gemacht, was ihr Misstrauen entfachen sollte. Aber sie würde im Hinterkopf behalten, zu wem sie gehörte.

Etienne packte das Messer ein und nahm auch ihre kleine Tasche mit den Ampullen mit. Sie spannte sie in ihrem Gürtel und zog einen weiteren Pullover über, welcher sie bedecken würde. Dann überprüfte sie, ob der Zauber der Tasche noch hielt. Er würde den Inhalt davor schützen, durch einen Stoß kaputt zu gehen.

Etienne trat hinunter in die Küche. Tatinne saß am Tisch. Wie jeden Morgen, hatte sie ihre Zeitung bei sich, las sich diese durch. Etienne wunderte sich, wie viele von den Ereignissen, die dort beschrieben wurden, tatsächlich neu für sie waren und wie viele sie bereits vorhergesehen hatte, sei es durch ihre Fähigkeiten oder ihr Wissen.

„Du bleibst heute den ganzen Tag bei mir“, sagte Etienne zu Catjill.

„Brauchst du mit irgendetwas Hilfe heute?“, fragte Tatinne. Etienne unterdrückte ein Seufzen. Nachdem Etienne Tatinne von dem gestrigen Abend erzählt hatte, hat Tatinne sie darüber informiert, was an den freien Tagen stattfand. Es war ein Theaterstück, an dem alle Mitglieder der A-Klasse teilnahmen. Sie hatte am Rande immer wieder etwas davon mitbekommen. Wenn sie sich recht erinnerte, hat Miss Arvon ihr sogar das Bühnenbild gezeigt. Raffael war scheinbar davon ausgegangen, dass sie darüber Bescheid wusste und als dem nicht so war, musste er sich furchtbar darüber gefreut gehabt haben.

Als Etienne seine Wette angenommen hatte, hat sie sich noch keine Gedanken darüber gemacht, wie sie gewinnen konnte. Das wollte sie auf den Abend verschieben, wenn sie wieder bei Tatinne wäre. Doch nun stellte sie fest, dass sie bereits im Nachteil war. Raffael würde das Theaterstück in irgendeiner Art und Weise ausnutzen. Sie wusste jedoch nicht, was seine Rolle dort war, wie die Verhältnisse zwischen den Menschen waren und inwiefern er das Sagen hatte. Sie musste herausfinden, wer die Führung hatte und sich an diese Person klammern. Wenn er es war, dann würde sie ein Problem haben. Kurz überlegte sie sich, ob sie Catjill nicht einfach die Bühne in Flammen aufgehen lassen sollte. Wenn sie das Projekt verschieben musste, gab es sicherlich niemandem, der ihr sagen würde, was sie zu tun hatte. Aber Etienne war sich sicher, dass Raffael dennoch einen Moment finden würde, das zu schaffen.

„Nein“, antwortete Etienne Tatinne, „Außer du hast vor, dieses Ding aus dem Haus zu schaffen.“

Das Klavier hatte sie am Abend gehässig begrüßt. Etienne hatte ein paar Momente gebraucht, um es nicht einfach zu zertrümmern.

„Du wirst mir sehr bald dafür danken, dass ich es besorgt habe“, sagte Tatinne trocken. Etiennes Laune schien sie überhaupt nicht zu stören, auch wenn Etienne das Gefühl hatte, dass sie weniger kalt war, als sonst.

„Er ist bald hier, Etienne“, sagte Catjill kleinlaut. Sie blickte zu ihm herüber. Er war nervös. Die Wut verpuffte und sie trat zu ihm. Sie streichelte seinen Kopf und er lehnte sich ihrer Berührung entgegen.

„Ich werde heute wahrscheinlich den ganzen Tag über wütend sein. Denke immer daran, dass das nicht wegen dir ist. Versuch das nicht zu nahe an dich zu lassen“, sagte sie. Sie fühlte sich furchtbar, dass er ihre Stimmung immer abbekam. Etienne wunderte sich, ob er die Gefühle von Menschen auf irgendeiner Art und Weise besonders intensiv spürte. Anders, als ein Mensch. Denn sonst konnte sie sich nicht erklären, wieso er bei ihrer Wut, von der sie sich sicher war, dass sie diese gut verbarg, sich kleinlaut zusammenzog zu einem verletzlichen kleinen, ängstlichen Flauschball wurde.

„Du wirst mir heute helfen müssen“, sagte sie ihm, „Es geht um den Stein.“

„Um zwei meinst du“, korrigierte er sie und Etienne zögerte kurz. Elias und Meng würden auch da sein. Sie hatte an diese nicht gedacht.

„Das stimmt. Aber eins nach dem anderen. Ich muss die Wette gegen Raffael gewinnen, damit ich die Chance bekomme, in die Nähe des Steines zu kommen.

„Er ist am Tor“, sagte Catjill. Etiennes Herzschlag beschleunigte sich. Sie war immer noch so müde, sie fühlte sich nicht bereit. Aber sie hatte nicht wirklich eine Wahl.

„Weißt du, du könntest in dieser ganzen Situation mich mehr nutzen“, sagte Tatinne, „Du hast dich bisher nicht wirklich an all deinen Ressourcen bedient und ich bin mir ziemlich sicher, dass dir da wichtige Informationen abhanden kommen.“

Etienne warf ihr einen abschätzenden Blick zu, „Ich werde darauf zurück kommen. Noch ist es nicht notwendig.“

Tatinne seufzte, „Wieso habe ich das Gefühl, dass wenn du darauf zurück kommst, ich das ganze Nachspiel ausbaden muss.“

Etienne hörte, wie die Tür unten geöffnet wurde und ging zum Waschbecken. Sie befüllte sich eine Flasche Wasser, stand mit dem Rücken zur Tür und hörte den Schritten zu, die hinaufgingen.

„Guten Morgen, Raffael“, hörte sie Tatinne in ihrem üblichen gelangweilten Tonfall sagen, „Ich weiß nicht, ob ich das begrüßen kann, dass du nun beinahe schon jeden Tag hier hereinschneist.“

„Oh keine Sorge, Tatinne. Ich werde dafür sorgen, dass in naher Zukunft du bei uns vorbeikommen kannst. Bei uns gibt es deutlich bessere Gesellschaft.“

„Ah“, meinte Tatinne und Etienne blickte zu ihr. Sie hatte die Braue gehoben und sah Raffael forschend an, „Und wieso sollte ich das tun?“

Etienne atmete leise durch und drehte sich dann ebenfalls in den Raum. Diesmal hatte er einfache Kleidung an, keinen verwirrenden Pullover, welcher sie davon ablenkte, nach seinen Waffen zu schauen. Keine Uniform, also musste sie auch keine anziehen. Das erleichterte sie. Die Kleidung die sie nun anhatte würde ihr eher dabei helfen in einem Kampf zu bestehen. Seine dunkelblaue Jacke war etwas nass. Er lehnte sich am Eingang der Tür, hatte die Arme verschränkt und von der gestrigen Wut war keine Spur mehr.

„Weil deine Nichte bald dort sein wird. Du weißt schon, ganz zuverlässig und engagiert dabei ihre neue Rolle anzunehmen.“

Sie spürte, wie ihr Gesicht sich verdüsterte. Er sah sie nicht an, doch sein Lächeln wurde etwas breiter. Er musste ihre Reaktion registriert haben und Etienne war sich sicher, diese Aussage diente mehr dazu, sie zu nerven, als das es wirklich eine echte Drohung war. Außer er hatte einen Weg gefunden, die Wette sicher zu gewinnen und den offenen Gefallen so zu formulieren, dass ihr keine Chance blieb. Aber sie glaubte nicht daran.

Tatinne gab ein langes nachdenkliches Geräusch von sich, während sie Raffael betrachtete. Dann blickte sie wieder zu ihr Zeitung und blätterte um, „Ich sehe, Etienne hat da zugeschlagen, wo es weh getan hat.“

„War sicherlich nicht schwer, wenn ihr eine Informationsgewalt zur Verfügung steht.“

Ein stolzes Lächeln schlich sich langsam auf Tatinnes Gesicht, „Ich hatte damit nichts zu tun. Meine Nichte ist sehr kompetent, sie schafft das auch allein.“

Raffael schnaubte und ausnahmsweise war es Etienne egal. Stolz breitete sich in ihr aus. Ihre Tante vertraute auf ihre Fähigkeiten. Etienne zweifelte ebenfalls nicht an diesen, aber das gesagt zu bekommen war ein schönes Gefühl.

„Lass uns gehen, Kompetenzbolzen“, sagte er.

Er drehte sich um und ging hinunter.

„Nicht schlecht, Etienne“, meinte Tatinne anerkennend, Etienne fühlte sich jedoch nicht gut dabei. Sie ignorierte ihre Gefühlte, schob sie zurück und deutete Catjill auf ihre Schulter zu fliegen. Sie würde sich später um diese kümmern, wenn sie sich nicht mit wütenden Menschen auseinandersetzen musste oder damit, an eine Stadt gebunden zu werden, um die sie sich nicht kümmert. Es erschloss sich ihr nicht, dass Raffael nicht sah, wie fürchterlich diese Idee war. Der Fluch, der auf ihrer alten Jacke lastete, war nicht tödlich, aber auch nicht gerade harmlos. Er würde sie also nicht loswerden wollen und diese Beobachtung deckte sich damit, dass er ihr den Stein nicht gab, damit sie auf Nimmerwiedersehen verschwand.

„Ich werde später vorbeikommen und dir etwas zu essen mitbringen“, rief Tatinne ihr zu und Etienne drehte sich verwirrt zu ihr um. Tatinne winkte sie jedoch weg und schien nicht erläutern zu wollen, was genau sie vorhatte zu tun. Etienne glaubte ihr nicht, dass es wirklich nur zum Vorbeibringen vom Essen wäre.

Als sie sich wieder in den Gang drehte, sah sie auch Raffaels wachsamen Blick. Dann trafen seine Augen auf die ihre und sie starrten sich einen Moment abschätzend an. Etienne konnte keine Wut in diesen sehen, eher etwas anders, was sie nicht genau benennen konnte. Aber er war dennoch noch immer verärgert. Seine Kommentare machten das nur zu deutlich.

„Geh“, sagte sie zu ihm, „Oder willst du willst aufgeben.“

Sein Grinsen kehrte wieder zurück, „Du hast keine Ahnung, was auf dich zukommt.“

Er drehte sich erneut um und ging weiter voran. Etienne verlor den Blick auf ihn, als er hinaustrat und sobald er die Tür öffnete, hörte sie die leisen Regentropfen auf den Boden fallen. Catjills Krallen bohrten sich nervös in ihre Schulter. Sie streichelte seinen Kopf, „Keine Sorge, du wirst nicht nass.“

Sie ging zur Garderobe und holte die Jacke heraus, welche Raffael ihr gegeben hatte. Es kostete sie einen Moment Überwindung, sie anzuziehen. Zu sehr verband sie diese mit den schlechten Ereignissen des letzten Tages. Etienne seufzte, als sie ihren innerlichen Widerstand überwand und sie sich überzog. Die eine Jacke war befleckt mit einem Fluch, die andere mit einem schlechten Beigeschmack.

Als sie hinaustrat, zog sie die Kapuze über Catjill und ihren Kopf. Der kleine Kater versteckte sich tief in dieser, murmelte sich in ihren Haaren ein.

Raffael hatte ebenfalls seine Kapuze über den Kopf gezogen und betrachtete ihre Erscheinung, „Ich bin überrascht, dass du diese gewählt hast. Ich will wetten, dass du dich in der anderen viel wohler fühlen würdest.“

Sie spürte, wie erneut die Wut in ihr aufloderte und unterdrückte sie.

„Geh einfach“, sagte sie zu ihm. Sie hatte kein Interesse daran, seine Andeutungen aushalten zu müssen.

Er sah ihr forschend ins Gesicht, „Weißt du, ich wundere mich wirklich, woher diese Feindseligkeit auf einmal kommt.“

„Oh, sie war schon immer da. Vielleicht würde sie aber abklingen, wenn ich mir nicht deine Fragen antun muss und du stattdessen losgehst. Ich weiß nicht, wo genau das ganze Spektakel heute stattfindet.“

Er seufzte und verdrehte langsam die Augen, während er sich umdrehte, „Natürlich tust du das nicht. Woher nimmst du mit deiner Organisation dieses ganze Selbstvertrauen her? Mal wieder blind ins Geschehen.“

„Und nun stell dir vor, wie du dagegen verlierst“, sagte sie und er lachte. Sie folgte ihm durch das leichte Nieseln durch die Stadt. Es war anders, als am gestrigen Abend. Es gab so viele Pfützen auf den Straßen, welche alle von dem Sturm am gestrigen Abend stammen und sie spiegelten die Wolken im Himmel wieder. Und zwischen diesen gab es bunte Pflastersteine, welche durch die ihr nun vertraute Hauptstraße zu der Schule führten. Etienne bedachte die Menschen, welche erneut dabei waren die Stände aufzubauen. Sie waren nun weiter, als am Vortag.

Der Wachmann am Eingang des Gebäudes begrüßte sie. Er tauschte ein paar nette Worte mit Raffael aus, sie witzelten über irgendein Ereignis in Calisteo, von dem sie nichts wusste. Von Raffaels Wut war nichts mehr zu sehen. Er führte sie durch die Gänge der Schule, diesmal steuerten sie direkt den Gang zu ihrer Linken an, gingen durch die Tür hindurch, welche zu einem langen Gang mit vielen Fenstern führte.

Auf der anderen Seite der Fensterfront waren viele Portraits und Bilder an der Wand angebracht.

„Das ist der Kunstbereich unserer Schule. Alles was mit Musik und Bildern und Skulpturen und was auch immer den Leuten sonst noch kreatives Einfällt, ist hier zu finden. Dazu gehört auch das Theater. Sicherlich fragst du dich, wieso wir Theater machen müssen oder?“

Er schielte zu ihr herüber und sie antwortete ihm nicht. Tatsächlich hatte sie sich diese Frage gestellt. Noch mehr Zeitverschwendung, welche sie sich nicht leisten wollte und konnte. Aber sie wollte auch keine Informationen von ihm annehmen. Nun, wo ihre Beziehung offensichtlich feindselig war, konnte sie ihm sowieso nichts glauben.

Er presste die Lippen zusammen und entschloss sich zu schweigen. Als sie durch die große Tür traten, bemerkte Etienne reges Menschentreiben. Es war ein bescheidener Theatersaal. Eine tief legende Bühne war ausgestattet mit verschiedenen Reliquien. Bühnenbilder wurden aufgestellt.

„Guten Morgen!“, rief Raffael gut gelaunt in den Raum, ein Schauspiel, passend zur Kulisse. Er wurde nicht gegrüßt. Es waren noch nicht so viele dort. Elias und seine Gruppe waren da. Saßen etwas

„Guten Morgen!“, trällerte eine Frau in bunten Kleidern. Sie sprang zu ihnen die Treppen hinauf und ihre wunderschönen blauen Augen fixierten sich auf sie. Etienne wusste nicht, wie sie diese Frau beschreiben sollte, aber sie erinnerte an eine flauschige Sommerwolke.

„Du bist die neue Schülerin von der ich gehört habe. Wie schön dich kennen zu lernen! Ich bin Mila Mirtin. Du kannst mich Mimi nennen, das tun hier alle.“

„Das tut niemand“, warf Raffael ein, doch die Frau ignorierte ihn.

„Lass mich dir alles zeigen, so lange noch nicht alle hier sind!“, sie packte Etienne an der Hand und zog sie hinunter. Überrumpelte ließ sie sich mitziehen und versuchte den aufflammenden Schmerz in ihrer Schulter zu ignorieren. Etienne musste dringend dafür sorgen, bald etwas Ruhe zu bekommen.

Die Frau erzählte ihr etwas über die Bühnenbilder, welche soeben von Meng und Colin bearbeitet wurden. Meng sah aus, wie eine Künstlerin. Sie hatte eine Latzhose an, welche mit den verschiedensten Farben befleckt war. Sie grüßte Etienne freundlich und widmete sich dann wieder ihrer Arbeit. Zum ersten Mal fiel Etienne jedoch auf, das in ihren Augen ein wachsamer, aber zurückhaltender Funke war. Ihre Augen waren schnell über sie herübergefahren und Etienne wunderte sich, nach was sie Ausschaue gehalten hatte.

Dann wurde sie weiter gezogen und entdeckte Halil, welcher sichtlich genervt schien, sie zu sehen. Er wandte sich ab, als Mirtin ihn grüßte. Zu Etiennes Überraschung, wurde er ihr als Choreograph vorgestellt.

Nach einigen Momenten richtete Catjill sich auf und flog davon. Etienne entdeckte ihn zu Meta fliegen, welche in den oberen Rängen alleine das Geschehen unter sich beobachtet. Sie erschreckte sich, als Catjill auf ihrem Kopf landete, verscheuchte ihn aber nicht. Als Meta Etiennes Blick bemerkte, grüßte sie diese und Etienne grüßte zurück. Am liebsten würde Etienne zu ihr hinaufgehen. Dort würde sie sicherlich für einen Moment Ruhe bekommen von der stetigen Wachsamkeit, welche sie inmitten all dieser bekannten und unbekannten Menschen an den Tag legen musste.

Frau Mirtin zog sie weiter hinter die dunkelroten Vorhänge. Raffael folgte ihnen schweigend und Etienne konnte nicht anders, als sich seiner Anwesenheit nur zu bewusst zu sein. Und dann vergaß sie diese für einen Moment, als sie eine Person ausmachte, von der sie niemals gedacht hätte, dass sie diese wiedersehen würde.

Die braunen, schulterlangen Locken wirbelten zu ihnen herum, als Mirtin sie an der Schulter anstupste und dann strahlte ein freundliches, liebevolles Lächeln ihnen entgegen. Etiennes Herz schien zu gefrieren, als Angst es fest umklammerte. Also ließ sie sich in ihre Gewohnheiten fallen, in vertraute Handlungen, welche ihr Körper in und auswendig kannte, sodass es nicht ihrer Anweisungen brauchte, um diese auszuführen. Etienne lächelte ihr entgegen und Mirtin stellte die beiden einander vor, „Das ist Katelin. Sie kann nicht sprechen, aber sie versteht bestens, was wir sagen. Katelin ist für unsere Kostüme zuständig. Wie geht es dir, Liebes?“

Katelin strahlte sie an und nickte freundlich. Dann holte sie einen Block hervor und zeigte eine Seite, welche bereits einen vorgeschriebenen Satz hatte.

Gut.

„Das ist Etienne“, sagte Mirtin und stelle Etienne der jungen Frau vor, „Sie ist, ich glaube es ist eine Woche… Sie ist seit einer Woche bei uns an der Schule.“

„Und hat schon für viel Ärger gesorgt“, sagte Raffael hinter ihnen. Etienne hörte, den Ton in seiner Stimme doch diesmal kümmerte sie sich nicht darum. Er hinter ihr, Katelin vor ihr, Mirtin, welche noch immer ihre Hand mit der verletzten Schulter hielt. Sie wollte aus dieser Situation schnell raus.

Wie erwartet, erkannte Katelin sie nicht. Das war gut. Dennoch wunderte sich Etienne, wie sie es vergessen haben konnte, dass Katelin in dieser Stadt war, immerhin hatte sie dafür gesorgt, dass sie hierhin kam. Dann rasten ihre Gedanken wieder zu Raffael. Sie durfte ihn nicht herausfinden lassen, dass sie Katelin kannte. Und mit einem Mal fühlte sie sich erdrückt von all den Vorhaben, die sie sich an diesem Tag gesetzt hatte.

Katelin holte einen Stift hervor und schrieb etwas in den Block. Sie hielt es Etienne entgegen.

Willkommen!

Etienne nickte ihr lächelnd zu. Dann fragte sie, „Wird jeder Schüler in eine Rolle eingeteilt?“

Mirtin lächelte, „Je nachdem, wer was kann. Wir lassen die Schüler das selbst entscheiden. Normalerweise lassen wir zu Schuljahresanfang eine Abstimmung abhalten, welches Theaterstück gespielt wird und wer der Direktor sein darf. Dieser organisiert dann alles weitere. Dieses mal war es unsere geliebte Anjelika.“

„Anjelika?“, fragte Etienne nach. Sie hatte den Namen noch nicht gehört und ihr wurde auch noch niemand vorgestellt, der so hieß.

„Sie hat heute etwas Verspätung“, sagte Raffael langsam hinter ihr. Sie konnte sein Gesicht nicht sehen, doch sie hörte den zufriedenen, schadenfrohen Ton in seiner Stimme, während er ausführte, „In meiner Provinz gab es heute etwas Stau, aufgrund der Vorbereitungen für das Winterfest. So wie ich sie kenne, wird sie so sehr in die Planung versunken sein, dass sie vergessen hat, es einzukalkulieren. Aber ihr könnt in ungefähr zwei Stunden mit ihr rechnen.“

Etienne atmete leise durch, während Mirtin mit der Zunge schnalzte und ihren Unmut über Anjelikas Unachtsamkeit kund tat.

Anjelika gehört Raffaels Bezirk an. Und sie war die Direktorin des Stücks. Etienne konnte sehr gut verstehen, wieso er so schadenfroh war. Dennoch, er war so überzeugt davon, dass sie verlieren würde, dass er den Fehler begangen hatte, ihr davon zu erzählen. Anjelika war noch nicht hier und Etienne würde nun dafür sorgen, dass sie am besten gar nicht ankam.

„Das Stück findet in einer Woche statt. Von einem Direktor erwarte ich besseres. Aber sei es drum. Die anderen können sich bestimmt schon mal in ihre Rollen einspielen, bis sie da ist.“

Katelin schrieb wieder etwas auf ihren Block und hielt es Etienne entgegen, während die Lehrerin laut überlegte, in wie weit sie vorhatte beim Projekt der Schüler behilflich zu sein.

Frag mich, wenn du Hilfe bei etwas brauchst.

„Was machen wir mit dir, Etienne?“, fragte Mirtin. Etienne lächelte Katelin zu und wandte sich dann an die Lehrerin. Mirtin bedachte sie von oben bis unten und schien nachzudenken, „Eine Woche ist etwas knapp, um dir eine tragende Rolle zu geben. Vielleicht sollten wir dich zu dem Aufräumtrupp für die Abende zuordnen?“

„Sie hätte wohl kaum etwas davon gelernt, wenn sie eine Woche nur zum Aufräumen da wäre“, erwiderte Raffael.

Nun bereute sie es, dass sie sein Angebot, ihr etwas über den Sinn des Projektes zu erzählen, nicht angenommen hatte. Etwas mehr Informationen über die Ziele von diesem würden ihr helfen sich so vor Mirtin zu positionieren, dass sie die Position bekam, die sie haben wollte.

„Ich wäre dankbar über eine keine allzu anspruchsvolle Aufgabe“, sagte sie, „Ich bin gut im Beobachten. Für mich stellt Aufräumen kein Problem dar.“

Mirtin gab ein nachdenkliches Geräusch von sich. Katelin schrieb wieder etwas in ihr Block und hielt es ihnen entgegen.

Sie kann gerne bei mir dazu kommen.

„Bist du mit den Aufgaben eines Kostümbildners vertraut?“, fragte Mirtin sie. Etienne schüttelte den Kopf.

„Dann macht das genauso wenig Sinn, wie das Aufräumen. Wir müssen etwas finden, was zu deinen Fähigkeiten passt. Wenn nicht, nun dann bleibt leider nicht viel übrig.“

Sie seufzte schwer und dachte wieder nach. Etienne spürte Nervösität in ihr aufsteigen. Sie musste sich etwas überlegen, um bei den Leuten die aufräumten zu landen. Wenn diese wirklich erst am Abend aktiv wären, dann würde sie den Tag über die meiste Freiheit haben, um sich mit Raffael auseinander zu setzen. Abgesehen davon wäre es eine Rolle in den hinteren Reihen. Keiner würde groß auf sie achten.

„Ich habe in jedem Bereich die beratende Rolle. Die eine Woche wäre für sie am effektivsten verbracht, wenn sie sich an mich hängt“, sagte Raffael und sie musste überrascht blinzeln. Dann setzte ein Schrecken durch ihre Glieder ein, als sie verstand, dass er direkt loslegte. Er wartete gar nicht auf Anjelika, durch welche er die Wette sicher gewinnen konnte.

Mirtin gab wieder ein nachdenkliches Geräusch von sich, schien diese Idee abzuwägen. Etienne spürte, wie ihre Gedanken sich überschlug, bis sie bei einem Bild landeten, welches sie nicht mochte. Sie verwarf es, ließ weitere Ideen durch ihren Kopf blitzen, bis sie erneut frustriert feststellte, dass sie beim selben Bild hängen blieb. Etienne wollte nicht, dass ausgerechnet das ihr Weg aus der Situation war.

Mirtin seufzte unglücklich und Etienne sah es ihr an, dass sie bereit war seinen Vorschlag als Kompromiss anzunehmen.

„Ich kann etwas Klavier spielen. Es ist lange her, seit ich es das letzte mal gespielt habe, aber die Grundlagen sitzen“, sagte sie, eher Mirtin ihm zustimmen konnte, „Wenn es darum geht meine Fähigkeiten in einem Bereich intensiver auszubilden, dann wäre das für mich die beste Option.“

Etienne hasste das Klavier. Und für einen Moment hatte sie sich überlegt, das Verlieren in Kauf zu nehmen, nur um nicht diesen Ausweg zu wählen. Bis sie Raffaels siegesgewisses, faules Lächeln gesehen hatte. Er war so überzeugt davon, dass sie in nur wenigen Minuten das Ganze verlieren würde, dass er nicht einmal abwartete, was Mirtin zu sagen hatte. Nun war dieses Lächeln verschwunden und ein überraschter, zweifelnder Blick fiel auf sie. Sicherlich musste er an ihren Unmut denken, als sie das Klavier in Tatinnes Haus entdeckt hatte. Ihm musste aufgefallen sein, dass sie es nicht mochte.

„Ist das so?“, fragte Mirtin sie interessiert, „Hast du viel gespielt?“

„Ein paar Jahre“, sagte Etienne lächelnd, „Ich habe angefangen, als ich sehr jung war. Und wenn ich mir über eins sicher sein kann, dann ist es, dass sich das Wissen über das Klavier in meine Hände eingebrannt hat.“

Mirtin klatschte in die Hände und ein strahlendes Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht, „Elias ist Korrepetitor in unserem Stück. Und er ist in deiner Klasse. Du hast ihn bestimmt schon kennengelernt.“

Etienne blinzelte überrascht und dann fing ihr Herz schneller zu schlagen an. Das war eine Wendung, die sie nicht erwartet hatte. Und dann huschte ihr der Gedanke von dem Klavier in Tatinnes Zuhause durch den Kopf. Verflucht sei ihre Tante. Sie wusste, wohin das Ganze gehen würde und hat es nicht als notwendig befunden, sie vorzuwarnen. Vielleicht hätte Etienne sie stärker ausfragen sollen.

„Elias mag es nicht, wenn sich jemand in seine Arbeit einmischt“, sagte Raffael und bei seinem Tonfall musste sie unweigerlich zu ihm schauen. Er sah nicht glücklich aus, bis er ihren Blick bemerkte. Dann war wieder das nichtssagende Lächeln auf seinem Gesicht. Etienne erinnerte sich an Biancas Aussagen, die vermuten ließen, dass Raffael und Elias keine gute Beziehung zueinander hatten.

Perfekt, dachte sie. Der Ort, an dem sie heute sein sollte, war der, wo Elias war. Ein anderer Bezirksherrscher, welcher sich nichts von Raffael sagen lassen würde.

„Elias muss lernen, mehr mit anderen Menschen zusammen zu arbeiten. Er hat es bisher nicht sehr erfolgreich gemeistert, seine Fähigkeiten in der Musik so anzuwenden, dass sie die Schauspieler unterstützen. Was denkst du, Etienne? Würde ein Schützling ihm dabei helfen, sich mehr an den Bedürfnissen anderer zu orientieren?“

Etienne hatte keine Ahnung. Definitiv war sie nicht diejenige, welche ihm dabei helfen konnte. Sie hatte selbst keine Ahnung von dem Thema.

Raffael schnaubte lachend, „Die zwei zusammen werden es wahrscheinlich noch schlimmer machen, als er allein. Das ist ein Projekt, an dessen Gelingen vielen Menschen etwas liegt. Es macht keinen Sinn jemand neues in einen bereits problematischen Bereich einzuteilen. Ich kann ihr deutlich mehr in diesem Zeitraum zeigen.“

Etienne ignorierte ihn und sprach, bevor er Mirtin auf andere Gedanken bringen konnte, „Wenn er mir alles verständlich erklären muss, dann wird er vielleicht mehr darauf achten, wie er anderen was erklärt?“

Mirtin nickte zufrieden, „Das denke ich auch. Er muss an seiner Kommunikation arbeiten. Hier geht es darum, dass ihr eure Probleme gezielt angeht und löst, Raffael. Es wäre zu leicht für sie, sich von dir alles vorkauen zu lassen. Sehr schön. Katelin Liebes, sei so lieb und hole Elias zu uns herunter. Wahrscheinlich lungert er schon wieder im Klavierzimmer herum.“

Katelin nickte lächelnd und ging schnell los. Etienne bemerkte, wie weitere Menschen den Saal betraten. Sie entdeckte Keyen und Scarlett unter ihnen, auch Crome war dabei, was sie verwunderte. Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass die Zeit langsam aber sicher voranging und sie sich Gedanken machen sollte, wie sie Anjelikas Ankunft verhindern sollte. Sie wollte Catjill noch nicht einsetzen. Aber während eine Idee sich in ihrem Kopf formte, stellte sie fest, dass sie es vielleicht nun musste.

„Ah, unsere Schauspieler trudeln langsam ein. Ich hab noch ein Wörtchen mit diesen zu reden. Sei so lieb, Etienne, und warte hier, bis Elias dich abholt.“

Sie ging davon und als Scarlett und einige andere sie erblickten, war Etienne sich sicher, dass deren Gesichter keine Freude zeigten.

„Glück gehabt“, sagte Raffael leise zu ihr. Er lächelte noch immer. Ihm schien dieser Rückschlag nichts auszumachen.

„Das war kein Glück. Dein Versuch war furchtbar“, erwiderte sie.

„Ich glaube nicht“, sagte er leicht lachend, „Das war bestimmt nicht leicht für dich, dich ins Klavierspielen zu retten.“

Sie hasste es, dass er das verstanden hatte.

„Ich hab gehört, du und Elias versteht euch blendend“, erwiderte sie. Etienne würde sich von ihm nicht in die Verteidigungsposition drängen zu lassen. Sie hatte bereits die Erfahrung gemacht, wie das enden würde.

Sein Lächeln erlosch und er bedachte sie mit einem wachsamen Blick, „Und woher hast du das?“

„Das werde ich dir selbstverständlich nicht verraten“, sagte sie.

Er schnaubte und das Lächeln kehrte wieder auf sein Gesicht zurück, „Das macht nichts. Ich habe mir noch nicht wirklich Mühe gegeben. Aber du musstest bereits etwas gutes liefern, um das abzuwehren. Der Tag ist noch lang und ich kann es kaum erwarten zu sehen, an welchen Ressourcen du dich bedienen wirst. Und wenn ich mit dir fertig bin, werde ich den Rest rausfinden.“

Als Mirtin laut in die Hände klatschte und die Anwesenden Schüler bei sich versammelte, ließ Raffael sie stehen und trat zu den Anderen.

Etienne stellte sich etwas Abseits in den Schatten der Bühne hin. Immerhin hatte Mirtin ihr gesagt, sie sollte dort warten. Dann holte sie einen Stift hervor und zeichnete ein Symbol auf ihre Fingerkuppe. Es dauerte nicht lange, bis sie es gezeichnet hatte, während Mirtin die Abwesenheit von Anjelika ankündigte und ihre Erwartungen an die Schüler aussprach. Als sie auf Etienne deutete und die neue den Schülern der anderen Klasse vorstellte, war Etienne schon längst fertig mit ihrer Vorbereitung. Sie würde nur einen Moment brauchen und das Problem mit Anjelika würde sich für den Anfang gelöst haben.

Nachdem die Aufmerksamkeit der Menschen nicht mehr auf sie gerichtet war, blickte sie erwartungsvoll zu Catjill und entschloss sich, ihn für dieses Unterfangen einzuschalten. Er flog zu ihr und setzte sich aufgeregt auf ihre Schulter. Etienne bemerkte Raffaels misstrauischen Blick in ihre Richtung.

„Ich brauche eine kleine Ablenkung, wenn ich in seiner Nähe bin“, sagte sie zu ihm, „und zwar bei der nächstbesten Chance.“

„Was willst du machen?“, fragte Catjill.

„Das wirst du schon sehen. Lass uns nicht jetzt darüber reden“, sagte sie zu ihm. Sie grinste Raffael entgegen, welcher weiterhin die Interaktion zwischen ihr und ihrem Djinn beobachtete.

Nachdem Mirtin ihre Rede gehalten hatte, setzte sich Etienne an die seitlichen Plätze neben der Bühne, weiter weg von all den Schülern, welche gerade dabei waren ihre Arbeit aufzunehmen.

Bevor sie Elias ausmachen konnte, war es Scarlett, welche zu ihr herüberschlenderte.

„Ich habe schon gehört, dass du ziemlich verstimmt sein solltest, aber bei diesem Blick hat Raffael eindeutig untertrieben.“

Sie schien belustigt über sie zu sein und das machte Etienne wütend. Scarlett war die zweite Person, die für den Fluch in Frage kam. Und Alberto, aber Etienne konnte sich diesen Mann als Täter einfach nicht vorstellen.

Sie entschloss sich, diesen Moment zu nutzen, um sich die Information zu beschaffen, „Hast du mit Alberto an den Jacken gearbeitet?“

Scarlett hob überrascht die Brauen und dann grinste sie Etienne an, „Ja. Ich hab alles gegeben, definitiv meine beste Leistung bisher. Ich hoffe du magst es.“

Etienne erwiderte nichts, aber sie spürte die Wut erneut in ihr hochsteigen. Hatte sich Scarlett so gefühlt, als sie damit gedroht hatte, Bianca die Augen auszukratzen? Dieser Gedanke ließ sie jedoch etwas ruhiger werden. Etienne war sich ziemlich sicher, dass der Fluch unter ihrem Stuhl von Bianca kam. Oder von ihrer Begleitung. Scarlett konnte sie sich nicht als jemanden vorstellen, der mit Flüchen spielte. Dafür waren ihre Emotionen noch zu rein. Und wenn sie nicht zusammengearbeitet hatten, was ihr unwahrscheinlich schien, dann müsste es noch einen anderen Fluchweber in der Stadt geben, den Raffael nutzen musste. Aber unabhängig dessen, war Scarlett diejenige von den beiden, welche neben Alberto am meisten Kontakt zu der Jacke hatte. Sie musst auf irgendeine Art und Weise damit zu tun haben.

„Ich mag es sehr“, sagte Etienne, „so sehr, dass ich es dir im gleichen Maße wiedergeben werde.“

Scarlett hob belustigt die Braue, „Wieso hört sich das wie eine Drohung an?“

Etienne verspürte kurz das Bedürfnis, sich mit Scarlett anzulegen. Sie wusste ganz genau was sie sagen musste, um sie auf die Palme zu bringen. Aber im Gegensatz zu Raffael würde Scarlett wahrscheinlich auf volle Konfrontation gehen und das vor all den Anwesenden. Etienne war sich nicht sicher, ob sie ein Publikum wollte, wenn sie diese beiden auseinander nehmen wollte.

„Geh auf deinen Platz“, sagte Raffael und trat zwischen die beiden, verhinderte Etiennes Blick auf sie.

Scarlett seufzte genervt, „Wieso behältst du den ganzen Spaß immer für dich?“

Etienne stand auf und trat um ihn herum. Catjills sanfte Magie trieb ihr die Gänsehaut den Rücken hinunter.

„Mirtin wird sich dich schon wieder herauspicken, wenn du dich heute nicht anstrengst.“

„Das liegt nur daran, dass du mich letzte Woche in dieses blöde Château geschleppt hast.“

Die Schüler kümmerten sich kaum um sie, aber Etienne konnte Mirtin ausmachen, welche mit einem scharfen Auge alles beobachtete. Etienne war bisher nicht aufgefallen, dass in diesen eine Strenge lag, welche der von O’Donnel glich.

Etienne wartete. Ihr Herz schlug ruhig, genau so wie es sein musste, wenn sie handelte.

Doch es passierte nichts, während sie darauf wartete, dass Catjills Magie sich manifestierte.

Die Schüler zogen ein Bühnenbild nach oben. Lichter wurden angemacht und die Leuchte über ihnen ausgeschaltet. Sie konnte nie wissen, wie Catjill ihr helfen würde.

„Ist gut, ist gut“, meinte Scarlett und seufzte theatralisch, „Streitet euch nicht zu sehr, wenn ich nicht anwesend bin. Ich würde das Drama gerne direkt sich vor mir entfalten sehen. Vielleicht kann ich etwas daraus lernen.“

Scarlett verschwand und Crom half ihr die Bühne hoch. Sein wachsamer Blick traf auf Etienne und Raffael. Etienne fragte sich, in was er eingeweiht war.

„Ich wäre dir dankbar, wenn du sie hier raus lässt“, sagte Raffael.

Etienne schnaubte, „Ich bitte dich. Sie ist zu mir gekommen, nicht ich zu ihr.“

Und mal abgesehen davon, konnte er wohl kaum erwarten, dass Etienne nicht alles nutzte, was ihr zu Verfügung stand. Eine beinahe schon lächerliche Bitte.

„Ich meine es ernst“, sagte er, „außer du gehörst zu den Menschen, die sich die Schwächeren herausnehmen, weil sie mit dem wahren Gegner nicht zurecht kommen. Du weißt schon, wie Braad, mit dem du scheinbar mehr und mehr Gemeinsamkeiten hast.“

Beinahe wäre sie bereit gewesen, auf seine Provokation einzugehen. Aber sie verstand nur zu gut, dass er versuchte sie von Scarlett abzulenken.

„Hast du Scarlett schwach genannt? Das erzähle ich ihr“, erwiderte sie, „Vielleicht wird sie dich dann wieder einkleiden.“

Etienne spürte Catjills Magie sich verstärken und machte sich bereit. Sie ging um Raffael herum und bedachte ihn wachsam, „Was mich zu der Frage führt, wo dieser wunderschöne Pullover von gestern hin ist? Sie hatte recht. Es passt perfekt zu dir.“

Er rührte sich nicht, bedachte sie aber wachsam, während sie um ihn herum ging. Raffael setzte zu einer Antwort an, als das Bühnenbild, welches mühsam nach oben gezogen wurde mit einem lauten Krach auf der Bühne landete. Erschrockene Schreie drangen zu ihr hindurch, doch Etienne ignorierte sie und nutze Raffaels Unachtsamkeit um sein Handy aus seiner Hosentasche zu ziehen. Er war so sehr zusammengezuckt, dass sie es als sehr unwahrscheinlich ansah, dass er es gemerkt haben konnte. Und dann sah er besorgt aus.

Sie wandte sich wieder der Bühne zu. Keiner war verletzt.

„Also wenn ihr so weiter macht, wird das nichts mit eurem Stück.“

Kurz fühlte sie sich furchtbar, dass die Arbeit der Schüler Opfer ihrer Fehde mit Raffael war. Aber sie sah die Schuld bei ihm. Er hat die Waffe zuerst gezückt.

„Oh, keine Sorge. Ich werde schon dafür sorgen, dass das funktionieren wird. Und ich werde dich besonders dafür ackern lassen.“

„Nimm dir nicht zu viel vor“, sagte sie lachend und fragte dann, „Also, was genau ist das Ziel von dem Ganzen hier?“

Sie war so zufrieden mit sich selbst, dass es ihr kurz egal war, ob sie sich vor ihm eine Blöße gab. Sein Handy lag nun ihrer Jackentasche und es war nun eindeutig, dass er es nicht gemerkt hatte. Ein zentraler Unterschied zwischen ihnen beiden, der für sie nun sehr deutlich wurde. Raffael war viel zu sehr der vorsichtige Planer, der sich im Hintergrund hielt. Sie hingegen war schon immer inmitten der wildesten Situationen gewesen, immer ein einflussreicher Teil des Geschehens.

Er gab ein lachendes Geräusch von sich, „Oh nein, Schatz. Du wolltest die Hilfe nicht annehmen, als ich sie dir angeboten habe und ich werde sie dir nicht geben, nur weil du plötzlich deine Meinung geändert hast.“

„Das ist kein Problem“, sagte sie lächelnd, „Ich frage einfach Elias. Er wird mir die Frage sicherlich ganz ehrlich und ausführlich beantworten.“

Raffael schnaubte und ein verärgerte Funke leuchtete in seinen Augen auf. Etienne war froh darüber, einen Weg gefunden zu haben, ihn stetig aufzuziehen. Ihn aus der Bahn zu werfen würde es ihr leichter machen zuzuschlagen, wenn sie es musste. Wie bei Halil. Sie musste nur darauf achten, dass er keinen Weg fand, ihr unter die Haut zu gehen.

Katelin tauchte auf. Sie trat durch die Tür zum Haupteingang und nach einem besorgten Blick zur Bühne, machte sie dann Etienne aus und trat zu ihr. Sie holte ihr Notizblock hervor und zeigte eine Nachricht, welche sie bereits zuvor geschrieben hatte. Laut dieser erwartete Elias sie im Klavierzimmer im oberen Stockwerk.

Etienne lächelte Katelin an, „Welche Raumnummer ist es?“

Katelin machte Anstalt es aufzuschreiben, doch Raffael kam ihr zuvor, „Die 102. Geh dich nur verstecken. Mir kommt das zugute.“

Misstrauisch sah sie zu ihm. Doch er lächelte nur Katelins alarmiertem Blick entgegen und ging dann zur Bühne und half den anderen.

Katelin schrieb erneut etwas in ihren Block.

Ist bei euch alles in Ordnung?

Etienne wollte sich nicht zu viel mit ihr unterhalten. Sie konnte sich noch zu gut daran erinnern, wie sensibel Katelin war. Dennoch schenkte sie ihr ein beruhigendes Lächeln, „Es ist alles gut. Ich mache mich auf den Weg. Vielleicht kannst du mir irgendwann später die Kostüme zeigen, ja?“

Katelin strahlte sie mit ihrem breiten Lächeln an und nickte ihr zu. Etienne beeilte sich dann, von ihr weg zu kommen. Sie würde die Distanz zu ihr waren.

Als die große Tür hinter ihr zufiel, machte sie sich direkt auf dem Weg zur Treppe.

„Ist jemand in der Nähe?“, fragte sie Catjill.

„Nein“, sagte er mit einem zufriedenen Enthusiasmus. Er musst sehr stolz mit seiner Leistung sein.

„Warne mich, bevor ich in das Sichtfeld von jemandem komme“, sagte sie und holte das Handy hervor. Sie legte ihren Finger an die Rückseite und sah es hell aufleuchten. Sie hatte Raffael es schon einige Male nutzen sehen und kannte das Modell. Vielleicht würde sie noch mal ein anderes Symbol ausprobieren müssen, aber dann würde sie sich schnell auf die Toilette stehlen und es korrigieren. Doch ihre Sorge, ein anderes Symbol ausprobieren zu müssen, legte sich, als der Sicherheitsmechanismus umgangen wurde und sie sein Display sehen konnte. Wie Catjill, war auch sie sehr zufrieden mit sich. Etienne suchte nach dem Icon für die Nachrichten und öffnete dieses. Sie musste lächeln, als sie die ganzen Nachrichtenverläufe sah. Wenn Raffael es zu spät merken würde, dann würde sie die Chance nutzen, sie alle durchzuschauen. Aktuell interessierte sie jedoch nur eine Person. Sie gab in die Suchfunktion den Namen Anjelika ein. Direkt bei den ersten beiden Buchstaben fand sie Verlauf und las ihn kurz durch. Die letzte Nachricht handelte von dem Theaterstück und darum, dass sie scheinbar sauer auf Raffael und Scarlett war, weil diese am Wochenende zuvor nicht auftauchen konnten. Etienne erinnerte sich, dass dies der Tag sein musste, an welchem sie Raffael und seine Begleiter im Château kennengelernt hatte.

Bevor sie Anjelika eine Nachricht schrieb, versuchte sie auszumachen, wie Raffaels Schreibweise war. Er hielt sich immer kurz. Gab nicht zu viele Informationen preis und wenn er etwas brauchte, dann schrieb er das direkt. Zu ihrer Freude entdeckte sie eine Nachricht an Anjelika gerichtet, welche sie vor mehr als drei Monaten in einer Dringlichkeit in das zentrale Haus der zweiten Provinz rief, welches das von Raffael war. Sie kopierte die Nachricht, fügte sie noch mal ein und änderte sie minimal, damit es nicht zu auffällig wurde. Kaum eine Minute später hat Anjelika ihr geantwortet. Dann folgten drei weitere Nachrichten, welche Besorgnis durchsickern ließen. Etienne beteuerte noch einmal die Dringlichkeit von Anjelikas Anwesenheit in der zweiten Provinz und nach einer Bestätigung von ihr, fing sie an, die Energie aus Raffaels Handy zu ziehen. Sie würde es leer laufen lassen, damit er die Nachricht nicht zu früh sah. Währenddessen überschlug sie die Zahlen im Kopf. Wenn Anjelika bereits unterwegs war, dann musste sie nun wieder zurück in die Provinz. Bis sie bei Raffaels Haus angekommen war, müsste einiges an Zeit vergangen sein, dann zusätzlich der Rückweg und sie würde insgesamt sehr spät ankommen. Aber nicht spät genug, um nicht am Theaterstück teilzunehmen. Etienne hielt inne und dachte nach. Dann entschloss sie sich, das Handy nicht komplett leer laufen zu lassen. Raffael würde es wiederhaben wollen. Das konnte sie nutzen. Sie würde es ihm aber erst in der Pause wiedergeben und nur unter dem Versprechen, dass er Anjelika nicht nutzen würde. Sie wusste, er würde sich daran halten. Denn trotz allem, hat er sich bisher daran gehalten, nicht den Stein gegen sie zu nutzen.

Diese Realisation versetzt ihr einen Stich. Bevor sie ihre Jacke in den Händen gehalten hatte, hatte sie für eine kurze Zeit das Gefühl gehabt, dass sie vielleicht mit ihm reden können würde. Sie hatte tatsächlich nicht erwartet, dass er zu solch drastischen Mitteln greifen würde. Was ein Glück, dass sie so Magieempfindlich war, denn sonst würde sie jetzt sehr anfällig für seine Worte sein.

Sie gab es Catjill, „Kannst du es für mich verwahren?“

„Ja!“, sagte Catjill und das Handy verschwand in einem dunkelblauen Rauch.

Etienne lief die Treppe hinauf und machte schnell das Zimmer aus, in welchem Elias sein musste. Es war das erste Mal, dass sie richtig auf ihn treffen würde. Als sie die Tür öffnete, sah sie ihn im Zimmer sitzen. Neben ihm war jedoch einer seiner stetigen Begleiter. Sein Name war Valtin.

 

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Tag der Veröffentlichung: 27.10.2012

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