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1. Prolog: Tatinnes Vorhersehung

Wenn die erbrachten Opfer eines anderen Menschen einen selbst schmerzen, sind es dann auch eigen erbrachte Opfer? Und wenn die erbrachten Leiden eine neue Welt schöpfen, ist man dann ein Leidtragender oder ein Schöpfer?

Tatinne, auch genannt die Spinne, die inoffizielle Herrscherin des neutralen Stadtteils von Calisteo, saß noch immer am Küchentisch ihrer Küche und wunderte sich aufs Neue. Die dunkle Marmoroberfläche der Tischplatte spiegelte das durch das Fenster einfallende Mondlicht und ihre grünen Augen wider, welche gelangweilt zurückstarrten. Ein Ausdruck, der schon lange nicht von ihrem Gesicht wich. Tatinne fuhr mit dem Finger über die kalte, glatte Oberfläche, versuchte ihre Augen wegzuwischen, aber es gelang ihr nicht. Sie nippte dann an ihrem Kaffee, ein Luxus, den sich nahezu niemand leisten konnte und den sie nicht mehr würdigte. Dabei hatte sie die schokoladige Note einst geliebt. Die Zeit nahm jegliche Freude.

Und die nächsten Generationen müssen die Freude noch früher abgeben.

Eine Ahnung regte sich in ihr wie eine Vorwarnung, welche sie zum Handeln drängte. Ein Besucher kam.

Ein Schauer lief ihr den Rücken hinunter und sie verzog das Gesicht, denn sie wusste, worauf das hinauslief. Es konnte sich nur um einen von den Dreien handeln, welche es sich erlauben konnten, ohne Vorwarnung bei ihr aufzutauchen. Einer von den jungen Herrschern. Ein schwerer Seufzer verließ ihren mit rotem Lippenstift perfekt verzierten Mund.

Tatinne kippte den Kaffee ins Spülbecken. Dann sah sie noch einmal auf die Fotographie von ihr und ihrer Nichte, legte eine Hand auf ihr Herz und versuchte den schmerzenden Stich auszuatmen. Der hölzerne Bilderrahmen fühlte sich kalt auf ihren brennenden Fingern an. Ihr war nicht aufgefallen, dass sie sich an der Tasse verbrannt hatte. Weder sie noch das kleine Mädchen lächelten in die Kamera. Sie sahen reich und mächtig aus und Tatinne presste die Lippen zusammen, als sie an ihre glorreiche Familie dachte. Mit einem Klacken lag der Bilderrahmen wieder am Tisch.

Tatinne ging hinunter, bereit ihn unten abzufangen.

Sie öffnete die schwere Tür zu ihrem dramatisch dekorierten Empfangszimmer. Der Raum war eine Mischung aus roten Möbeln mit dunklem Ebenholz und vergoldeten Verzierungen. Es war kein echtes Gold, das war zu wertvoll, selbst für sie. Messing tat sein Bestes. Die Wände waren schwarz und doch sorgten die im Raum verteilten kleinen Lampen für angenehmes Licht. Es war eine Theaterbühne, ausgestattet mit allem, was nötig war, um die Besucher zu beeindrucken. Oder um sie einzuschüchtern, wie auch dieses Kind es vor einem Jahr gewesen war, als es verloren und verunsichert an ihrer Türschwelle gestanden hatte.

Leidtragender oder Schöpfer? Oder Anstifter eines weiteren Kampfes?, fragte sie sich, als ihre Abneigung ihm gegenüber in ihr hochstieg. Von allen drei Herrschern der drei Provinzen von Calisteo, war er der mit Abstand nervigste.

Und obwohl sie ihn unausstehlich fand, gab es diesen leisen Funken von Anerkennung und Respekt in ihr. Es war sonderbar gewesen, eines Morgens aufzuwachsen und festzustellen, dass die Zweite der drei Provinzen der Stadt Calisteo in die Hände eines siebzehnjährigen Kindes gefallen war. Das hatte sie damals nicht vorhergesehen. Und dieses Kind hatte sich seit über einem Jahr bewährt und war nicht gestorben, als andere versucht haben, ihm seine Macht über die zweite Provinz zu stehlen.

Leidtragender oder Schöpfer? Und wieso musste sie den Preis tragen?

„Was ist passiert“, fragte er lachend, als er die Tür öffnete und sie entdeckte, „dass ausgerechnet du freiwillig hier herunterkommst? Bin ich kurz vor Ende wichtig genug geworden, um von dir empfangen zu werden?“

Raffael fuhr sich mit der Hand über die leicht nassen, langen Haarsträhnen, wischte sie von seinem Gesicht und zeigte ihr sein freches Grinsen. Ein Schauspiel, welches er in den letzten Monaten verinnerlicht hat. Tatinne konnte dabei nur die Augen verdrehen, denn sie sah zu deutlich, wie die Nervosität in seinen Augen sich verriet.

Tatinne zog ihre Pfeife hervor und setzte sich hin. Ihr schweres Kleid schützte sie vor dem Schwall frischer, nasser Herbstluft, welche ihn bei seinem Eintreten begleitet hatte. Der Geruch vom frischen Laub und Regen vermischte sich mit der herben Note ihres Tabaks, welchen sie selbst gemischt hatte.

„Was willst du hier? War das Gespräch vor einem Tag nicht genug?“

Sie hatte alle drei Kinder aushalten müssen. Jeden der drei Provinzherrscher, welche im letzten Jahr durch ihre jeweiligen sonderbaren Umstände an die Macht gekommen waren. Ein Geschehen, welches einer Kettenreaktion glich, nachdem der erste von ihnen seinen Onkel getötet hat. Doch es hatte sich nicht viel geändert. Es gab durchaus den einen oder anderen Tyrannen weniger, aber weiterhin Streit und Misstrauen zwischen den Mitgliedern der Provinzen. Für sie war das alles gleich geblieben und wie die Herrscher in ihren Provinzen regierten, war ihr egal, solange die vereinbarten Verpflichtungen an Calisteo erfüllt wurden. Jede Provinz hatte ihre eigene Aufgabe. Und sie nicht zu erfüllen, glich einer Kriegserklärung an die anderen Provinzen.

Raffael zog seine vom Regen glänzende Jacke aus und es störte sie. Er sollte sie anbehalten, um gleich wieder zu verschwinden.

„Ich habe über das nachgedacht, was du uns gestern erzählt hast. Und ich habe ein paar Fragen“, sagte er.

„Dann los“, forderte sie gelangweilt, folgte der uralten Abmachung, welche sie vor über einem Jahrzehnt mit den alten Herrschern der Provinzen ausgemacht hatte. Tatinne die Spinne, die Person, welche über nahezu alles Bescheid wusste, ausgestattet mit der Gabe der Vorhersehung, würde ihnen allen dabei helfen, sich zu informieren und ihr Wissen mit ihnen zu teilen. Sie würde sie beraten und für Gleichgewicht sorgen. Vorausgesetzt, sie ließen sie in ihrem Haus in Ruhe. Wie gut es war, dass Wissen kein materielles Gut war. Keiner von ihnen wusste, was sie wusste. Keiner konnte ihr vorwerfen, nicht ehrlich gewesen zu sein.

„Ab wann genau soll der neue Herrscher über Calisteo regieren?“, fing Raffael an.

Sie zuckte mit den Schultern, „Er könnte innerhalb weniger Wochen an die Macht kommen oder erst in ein paar Jahren. Manche Machtwechsel erfolgen schnell, andere eher schleichend.“

„Danke für die Nichtantwort“, sagte Raffael trocken und sie musste lächeln. Damals war er immer einige Tage später wieder aufgetaucht, um vorsichtig noch mal nachzufragen. Heute traute er sich direkt, ihre Antworten zu hinterfragen.

Unter seiner unbeschwerten Fassade musste es brodeln. Ein Machtwechsel war nie mit Frieden verbunden. Und die Vorhersehung sprach ganz klar davon, dass es bald nur noch einen Herrscher geben würde. Einen über eine ganze Stadt und nicht drei über drei Teile der Stadt.

„Wie genau wird er die Provinzen einen?“, fragte Raffael weiter und nun hob sie verwirrt die Braue. Diese Fragen hatten sie am Vortag schon behandelt.

„Hast du mir gestern eigentlich zugehört?“, fragte sie.

„Wenn ich mich richtig erinnere, dann hast du dafür gestern keine Antwort gehabt.“

„Weil ich nur weiß, dass die Zeit gekommen ist, an dem ein Machtwechsel stattfinden wird. Ich kann dir nicht dabei helfen herauszufinden, wie und wo und wann und wer dafür sterben wird. Das ist es doch, was dich besonders interessiert, nicht wahr?“

Er wippte unglücklich vor und zurück. Sie konnte sehen, wie es in seinem kleinen Kopf ratterte. Und erneut war sie überrascht davon, dass er, so jung, in seiner Rolle noch am Leben war.

„Musst du morgen nicht in die Schule?“, fragte sie hinterher, konnte es nicht vermeiden, ihn damit aufzuziehen. Er war so unglücklich damit, dass seine engsten Berater, die ihn unterstützen und beschützen, ihn dazu brachten, das stolze Haus des neutralen Stadtteils aufzusuchen. Calisteo war bekannt dafür, kompetente Menschen hervorzubringen. Sie waren begehrt in anderen Städten. Eine Ressource, welche viel Zeit und Energie zum Gedeihen benötigte.

Raffael runzelte die Stirn, überrascht von ihrer Frage, und dann verschwand diese Regung unter dem freundlichen Lächeln.

„Langsam glaube ich, dass es diesen Herrscher gar nicht gibt“, sagte er ihr, „Auf die Frage hin, wer das ist, wo die Person herkommt, welche Vorstellung sie vom gemeinsamen Leben, welche Werte sie hat... auf all das hast du nie eine Antwort.“

Normalerweise würde sie sich darin sonnen, ihm dabei zuzusehen, wie er sie hinterfragte, nur um dann von der Realität eingeholt zu werden. Nur um ihm sagen zu können, dass sie ihn doch gewarnt hatte. Doch nun, kurz vor dem Ende von allem, entschloss sich etwas in ihr, sehr unglücklich zu werden. Wie ein Schalter legte sich etwas um, was ihr die Augen öffnete und die Welt noch grauer erscheinen ließ.

„Derjenige wird ab heute in drei Tagen im Château de la Fortune auftauchen. Danach wird er hierherkommen. Finde selbst die Antworten auf diese Fragen. Und nun verschwinde doch bitte aus meinem Haus“, sagte sie und fühlte sich auf einen Schlag so müde. Der Stoff ihres Kleides raschelte, als sie aufstand und zurück in die obere Etage ging.

Zunächst hörte sie nichts von ihm. Doch dann folgten seine Schritte ihr die Treppe hinauf und sie seufzte erneut. Das Gespräch war scheinbar noch nicht vorbei und sie wunderte sich, wann sie ihn herauswerfen würde. Er konnte zwar kommen, wann er wollte und es stand ihm zu, dass sie ihm zuhörte. Aber das bedeutete nicht, dass sie sich alles bieten lassen würde, erst recht nicht, weil er immer wieder versuchte, zu schnüffeln.

„Was will er im Château? Dieses Gebäude ist am äußersten Rand des Gebietes, es dauert Stunden, dorthin zu kommen und da war schon seit Jahrzehnten keiner mehr.“

„Das stimmt nicht ganz“, erwiderte sie ihm. Ein früherer Herrscher war dort. Um etwas abzugeben und verwahren zu lassen.

„Ist das deine Verwandte?“, fragte er und ihre roten Locken wirbelten herum, als ihr Kopf zu dem Bild zuckte, welches er hochhob. Sie schloss die Augen. Vielleicht würde sie dem kommenden Herrscher einen Gefallen tun und diese Plage sofort beseitigen. Sie hatte das Bild erst vor wenigen Tagen beim Aufräumen ihrer Kisten entdeckt. Es war ganz schön alt.

„Halt dich aus meinen Familienangelegenheiten raus“, sagte sie und nahm es ihm weg. Er wehrte sich nicht und seine Augen wanderten weiter durch das Zimmer, auf der Suche nach neuen Dingen, die er herausfinden konnte. Das tat er immer. Deswegen warf sie ihn auch immer raus.

„Wie wird er sein?“, fragte Raffael dann und sie bemerkte, wie diese nervige kleine Plage sich an ihren Küchentresen zurücklehnte und mit dem Finger gegen die Einrichtung tippte. Er konnte noch so sehr unbeschwert tun, aber in diesem jungen kleinen Bengel steckte einiges an Nervosität. Er nahm seine Arbeit als Provinzherrscher sehr ernst, auch wenn er aktuell weniger tat als sein engster Berater, welcher lange vor ihm die zweite Provinz verwaltet hat. Ein alter, mutiger Mann, welcher trotz der fürchterlichen Bedingungen, welche der alte Herrscher hervorgebracht hatte, alles Mögliche getan hat, um den Menschen in der zweiten Provinz das Leben zu ermöglichen.

„Finde es selbst heraus“, sagte sie, „Du könntest das Château besuchen gehen.“

„Solltest du nicht etwas entgegenkommender sein? Die Vorhersehung trifft auch dich, oder habe ich da was falsch verstanden?“

Tatinne zuckte mit den Schultern, „Wer auch immer die Provinzen regiert, mir kann das herzlichst egal sein. Im Gegenteil, wenn eine nervige kleine Plage wie du nicht mehr in meinem Hab und Gut herumschnüffeln würde, dann wäre ich sehr froh darüber.“

Er verschränkte die Arme vor der Brust und grinste sie an, „Ganz schön nachlässig von jemandem, der so besitzergreifend von seinem Zuhause ist, welches sich auch schon bald nicht mehr in deinem Besitz befinden könnte. Vielleicht hast du ja mehr Angst, als du zugeben magst?“

Tatinne verdrehte beinahe die Augen bei diesem schwachen Versuch, sie aus der Reserve zu locken. Und dann bemerkte sie, dass sein Finger noch immer am Tippen war.

„Da ist jemand ganz schön nervös“, sagte sie und lehnte sich lächelnd über den Tisch, dessen Schultern sich angespannt hoben. Er war viel zu jung, um sich mit ihr anzulegen. Sie war schon über fünfzig, ihre Haut noch so rein und glatt wie vor zwanzig Jahren. Und sie hatte sich in ihrem langen Leben mit deutlich Schlimmerem abgeben müssen, als mit einem zu neugierigen Kind, welches die Situation bei Weitem nicht so sehr im Griff hatte, wie es das gerne vorgab.

„Also“, meinte Tatinne, „Deine Frage war, wie er so sein sollte. Lass mich überlegen. Chaos wird ihm folgen, wo auch immer er hingeht. Die Menschen werden ihm egal sein, denn er kennt keinen von ihnen. Er hat nicht dieselbe Bindung zu der Stadt wie du, wieso sollte er sich also um sie kümmern, wie du es tust? Es wird egal sein, wie viele Menschen hinter dir stehen. Im Gegenteil, das könnte zum Problem werden. Denn er wird regieren. Und alle, die sich dagegen stellen, werden verlieren. Und du wirst viel Arbeit leisten müssen, wenn du die Kontrolle behalten willst. Nein, eher noch schlimmer. Du wirst gar keine Kontrolle haben. Aber viel Glück beim Versuch. Hoffentlich wird er nicht so grausam wie Nexim. Wäre wirklich schade, wenn du nach all deinen Opfern den Platz räumen musst, für jemanden, der genauso grausam war wie er.“

„Meinst du das ernst?“, fragte er und runzelte bei ihren Worten die Stirn. Er ließ sich nicht so leicht übers Ohr hauen, aber sie wusste, dass sie ihn dennoch verunsichern würde. Und allein dass sie Nexim angesprochen hatte, würde ausreichen, um ihn aus der Bahn zu werfen. Der ehemalige Herrscher der zweiten Provinz würde für immer in seinem Schatten sitzen und darauf lauern, ihn anzuspringen. Ob Raffael Albträume von ihm hatte? Von den Geschehnissen seiner Machtübernahme?

„Wer weiß. Ich habe das nicht in der Vorhersehung gesehen. Aber ich habe da so ein Gefühl. Und du weißt, wie das mit meinen Gefühlen ist. Sie könnten etwas bedeuten. Oder auch nicht.“

Zufrieden beobachtete sie, wie sein so zuversichtlicher Blick dem Ärger wich. Er würde ihr nicht glauben, aber der Zweifel würde ihn in den Wahnsinn treiben.

2. Das Château de la Fortune: Etienne und Catjill

Drei Tage später…

 

Keiner wusste so genau, welches Gebäude das Château de la Fortune einst gewesen war. Oder wie es dazu kam, dass ausgerechnet dieses Fleckchen der neuen Welt ein aufgeblühtes Paradies sonderbarer Flora und Fauna geworden ist. Durch dieses führte ein kleiner Pfad direkt zum Château. Es wäre nicht die erste Gegend der neuen Welt, welche in den letzten Jahrzehnten die skurrilsten Wesen hervorgebracht hatte.

Aber zu Etiennes Missmut war er auch noch nicht so gut dokumentiert. Ihre Recherche hatte ihr nicht dabei geholfen die Gefahren einzuschätzen, die hier auf sie warten würden. Und dass es welche geben würde, stand genauso fest, wie das Vorhaben ihrer Wanderung.

Noch war ihr nichts anderes in diesem Wald begegnet, als sonderbare Pflanzen und Insekten, von denen sie jedoch nicht wusste, welche giftig waren und welche nicht. Sie näherten sich ihr nicht, mieden den Fremdkörper, der sie war.

Dennoch hatte sich nach und nach ein Gefühl in ihrem Nacken eingeschlichen, als würden viele Augen auf ihren Rücken gerichtet werden. Deren Besitzer waren sich nur noch unschlüssig darüber, ob sie Etienne weiter nur neugierig betrachten oder ob sie näher herantreten wollten. Etienne hatte sich sorgsam nach ihnen umgeschaut, aber nichts gefunden, außer dem Schatten, welcher ihr seit Monaten folgte und sie aus immer der gleichen Entfernung beobachtete. In der Wüste außerhalb des kleinen, dichten Waldes, hatte sie seine Silhouette manchmal am Horizont erblicken können. Er stand immer still da und hatte sie mit seinen großen weißen Augen angeschaut. Nun lehnte er sich manchmal hinter den Bäumen hervor und sah sie weiter an. Etienne hatte noch nicht herausgefunden, was es war, aber der Djinn hatte ihr versichert, dass er nur eine Gefahr darstellen würde, wenn sie es zuließ.

Sie war über einen ganzen Tag diesen steinigen Weg hier hoch gewandert. Die dichten Bäume mit den hellgrünen Blättern hatten sie vor der Sonne geschützt, welche sie an den Vortagen geplagt hatte. Die Luft war dennoch gesättigt mit einer warmen Feuchtigkeit und das trotz des kalten, späten Herbstes. Ihre Ausdauer hatte daran gelitten und ihre Kleidung klebte an ihr. Die ganze Zeit über war sie dabei diesem Pfad gefolgt, bei welchem ihre Familie sie gewarnt hatte, dass sie ihn unter solch sonderbaren Umständen niemals verlassen durfte. Der Djinn hingegen meinte, dass es kein Problem darstellen sollte. Sie hatte ihm geglaubt, aber nicht vertraut, denn er war ein Djinn und nur darauf aus, sie reinzulegen.

„Kann ich das überleben?“, fragte sie ihren Djinn zum zweiten Mal, als sie erneut zu dem düsteren Schloss blickt und dem Zweig auswich, welcher sich so frei in ihren Weg drängte.

„Was genau? Das Universum? Das Leben? Mich? Nichts davon.“

Sie seufzte, „So weit brauchst du nicht auszuholen. Ich meine dieses kleine Abenteuer hier.“

„Mach dir nichts ins Hemd, Etienne“, meinte der Djinn lachend. Seine Gestalt war die eines Katers. Die sonderbare Magie, die ihn wie das schwere Parfüm eines alten Familienangehörens umhüllte, gab ihn jedoch als etwas Anderes preis. Die schwarzen Augen mit den weißen, kreuzförmigen Pupillen richteten sich auf sie, „Aber keine Sorge. Selbst wenn du stirbst, werde ich glücklich und zufrieden weiterleben.“

Etiennes Lächeln verrutschte, „Ich verstehe schon, für dich bin ich nur eine flüchtige Existenz.“

Sie trat um die Pfütze herum, in welchem eine sonderbare Libelle saß und sich nicht um sie scherte. Sie hatte nur zwei Flügel, welche unter den grünlichen Sonnenstrahlen in bunten Farben leuchteten. Der Wald um sie herum war in solch einem ungewöhnlich gesättigten Grün getaucht, dass sie eine Weile für die Eingewöhnung ihrer Augen gebraucht hatte. Im Gegensatz zu der Wüste, aus der sie kam, sah der Wald weich und einladend aus. Das helle Moos war bestückt mit bunten Blumen und schien sie einzuladen, sich auszuruhen. Ein Grund mehr, weshalb sie sich nie getraut hatte, den Pfad zu verlassen. Immer wieder hatte sie fließendes Wasser gehört, als würde irgendwo hinter den ganzen Pflanzen ein Bach verlaufen. Sie hat ihn aber nie ausmachen können.

Der wuschelige Schwanz des dunkelblauen Katers zuckte und er schwebte auf ihre Schulter, „Du hast dich vor drei Wochen zu einer lausigen Exorzistin ernannt, also benimm dich gefälligst wie diese furchtlosen, mächtigen, planlos umherirrenden Idioten.“

Etiennes Augen wanderten wieder zu dem Schloss, in dessen Schatten sie nun langsam hineintrat. Innerhalb dieses Flecks aus dem hellsten Grün ragte es bedrohlich über ihr empor. Im unteren Teil waren die Pflanzen hinauf gewachsen, als würden sie versuchen ein weiteres Stück der alten Zivilisation sich zu eigen zu machen. Sie hatten jedoch nie das Tor erreicht, genauso wenig die Fenster. Und die Türme, welche emporragten, waren frei von jeglicher Natur. Das Gestein war dunkel, verfärbt von der Zeit und den Naturgewalten. Die Spitzen waren verziert mit alter Kunst, welche nach und nach von den Menschen der heutigen Zeit wiederbelebt wurde. Dort oben müssten die Wächter herrschen, welche ihr Eigentum beschützten, sei es von der Natur oder von den Menschen oder von den anderen Geschöpfen, von denen sicherlich noch einige nicht dokumentiert waren. Und wie viele von diesen wohl in dem Château herumlungerten und ihr den Weg zu den Schätzen verwehrten, nach denen sie suchte?

Sie seufzte schwer. Es sah groß aus und Etienne hatte kaum Wissen über diesen Ort. Sie hatte sich in einer Bibliothek in einer anderen Stadt heimlich alte Pläne von dem Schloss angeschaut. Es gab auch neue Aufzeichnung, da bereits Menschen diesen Ort aufgesucht hatten. Aber nichts davon hatte ihr viele Informationen gegeben. Sie wusste nur aus weit entfernten Erzählungen, wieso dies ein besonderer Ort war und was dort wahrscheinlich auf sie warten würde. Das Gute war, dass sie ihren Djinn hatte. Mit ihm allein sollte das machbar sein. Aber dies wäre das erste große Abenteuer mit ihm und sie wusste noch nicht, wie gut sie sich auf ihn verlassen konnte.

Djinns warten nur darauf, dich hereinzulegen. Ihnen zu vertrauen, ist wie dem Feuer zu vertrauen, dass es dich nicht verbrennt, wenn du die Hand hineinhältst.

„Ich bin nur am Überlegen, ob ich nicht zuerst die anderen Steine holen soll. Du meintest, hier sei nur einer? Dieses Unterfangen würde sich deutlich mehr lohnen, wenn es mehrere wären.“

Die Krallen des Katers bohrten sich in ihre Jacke, welche sie trotz der warmen, feuchten Luft des Waldes nicht ausziehen wollte, und Etienne sah warnend zu ihm. Sofort hörte er auf, nahm es sich aber nicht, weiter in seiner schroffen Stimme zu sprechen, „Jedes Artefakt hat seinen Preis. Arbeite, wenn du es haben willst.“

„Arbeite...“, wiederholte sie leise und genervt, als wäre sie nicht gerade mehrere Stunden hier hoch gewandert, an diesen Fleck der alten Welt, umgeben von nichts, als sonderbarer Natur, welche sie langsam auslaugte. Alles, für diese verfluchten Steine von Expulsio. Komme was wolle, Etienne musste sie erlangen. Ihr Bruder brauchte sie.

Und das war der Grund, wieso sie tief durchatmete und sich innerlich in ihren gut eingeübten Handelszustand versetzte.

Kontrollierte ihre Waffen, ein Messer und weiteres für alle Fälle. Keine Schusswaffen, diese waren zu laut. Ihre Ampullen waren sicher verstaut. Etiennes angeborene Magie war sonderbar. Ohne die Ampullen wirkte sie nicht. Und über die erschaffene Magie an ihrem Körper musste sie sich keine Gedanken machen. Die Male hielten seit Jahren. Segen und Flüche, welche jeweils ihren Zweck erfüllten. Etienne zahlte stetig den Preis.

Kein Mensch würde hier sein. Das hatte verschiedene Gründe. Trotz dessen, dass hier sicherlich Reichtümer versteckt waren, war dieses Schloss sehr weit abgelegen. Es befand sich inoffiziell im neutralen Gebiet der kleinen Stadt Calisteo und auch wenn diese Stadt keine Gefahr für die anderen Städte darstellen würde, in den heutigen Zeiten war sie auch nicht wichtig genug, um sich den Ärger anzutun.

Es fing zu nieseln an. Ein kleiner Regen, der immer wieder spontan auftauchte und wieder verschwand. Die Nässe stresste sie mittlerweile mehr, als ihr bevorstehendes Abenteuer im Schloss. Ihre Socken waren feucht, genauso wie ihr Shirt, ihre Unterwäsche.

„Wunderbar“, meinte sie trocken, „Nass und gegen Monster antreten.“

Sie liefen gemeinsam zum Eingang. Etienne wechselte den Blick in die zweite Ebene. Mittlerweile waren ihre Augen an den Wechsel zu den furchtbar bunten Farben der zweiten Welt gewöhnt. Goldene Schleier der Magie umgaben den Eingangsbereich. Etienne kannte diese Schutzzauber. Sie würden sie nicht davon abhalten können, einzutreten. Und ihren Djinn erst recht nicht.

3. Das Château de la Fortune: Raffaels Sorge

„Und das, meine lieben Freunde, ist der Grund, weshalb ich heute hier stehe“, sagte Raffael mit einem breiten Grinsen im Gesicht, nachdem er seinen Freunden über die Konfrontation mit Tatinne erzählt hatte. Er wusste, dass diese alte Frau ihm unter die Haut fahren wollte. Und sie hatte es geschafft. Drei lange Tage hatte er sich nachts im Bett gewälzt und sich Gedanken gemacht. Nun war er hier, vor den Toren des Châteaus, welches weit außerhalb der Stadt Calisteo und erst recht nicht in seiner Zuständigkeit lag. Und das nur um denjenigen zu sehen, welcher die Vorhersehung erfüllen sollte.

Seine Cousine Scarlett sah nicht glücklich aus, als sie dem düsteren Gebäude hinaufblickte.

„Ich fasse es nicht, dass ich dich hierher begleitet habe.“

Sie wirkte noch immer leicht desorientiert von dem Sprung, aber langsam kehrte Klarheit in ihre Augen zurück. Es war immer ein Genuss zu sehen, wie sie mit all ihrem vorlauten Sein auf einmal wie ein braves Kind ihm auf Schritt und Tritt folgte. Links und rechts, oben und unten, vorne und hinten. Das alles verschwamm für sie, sobald sie ihre angeborenen Fähigkeiten nutzte und von einem Ort zum anderen sprang.

Sein Freund Crom zog ebenfalls seine Schusswaffe und sagte, „Wenn ich sterbe, such ich dich heim.“

„Lass es uns hinter uns bringen. Anjelika wird sich freuen, wenn wir es heute noch schaffen sollten vorbeizukommen, anstatt unsere Zeit hier zu verschwenden“, sagte seine Cousine. Sie war die ganze Zeit über nicht zufrieden mit dem Ausflug gewesen. Ein ganz bestimmter Lehrer an ihrer Schule würde sie das nächste Mal für das heutige Fehlen ausschimpfen und Scarlett würde diejenige sein, welche das Meiste abbekommen wird.

Raffael konnte sich immer auf seine Cousine verlassen. Sie war immer für ihn da, egal ob es war, um ihn zu nerven oder für ihn ins Fadenkreuz zu rennen. Also entschloss er sich, das Ganze schnell über die Bühne zu bringen. Doch seine Cousine hielt ihn plötzlich zurück, „Warte. Hier.“

Raffael nahm die Visitenkarte entgegen, „Was soll ich damit?“

„Keine Ahnung", antwortete Scarlett, „Eine liebenswerte Frau hat es mir in Calisteo in die Hand gedrückt, nachdem sie ihre Kleider abgeholt hat. Da dachte ich mir, ich schenke dir ein schönes Erlebnis.“

Raffael schnaubte, „Die ist für ein Frauensalon, Scarlett. Die werden mich herauswerfen.“

„Wirklich?“, sie sah über seine Schulter, „Tatsächlich.“

„Wieso schiebst du deinen Müll immer zu mir?“, fragte Raffael sie.

„Weil du ihn immer annimmst“, antwortete sie kühl. Und das stimmte.

Raffael seufzte und steckte die Karte ein. Er würde sie an einem anderen Ort wegwerfen. Und nicht dort, wo womöglich irgendeine Bestie auf sie aufmerksam wird und diesen armen Frauenladen dann aufsucht. Nicht, dass die Biester schlau genug dazu wären. Aber er wollte es trotzdem nicht riskieren.

„Genug ihr zwei. Können wir endlich los“, jammerte Crom, „Euer Gezanke könnt ihr auf später verschieben. Zu eurer Information. Wir laufen schon seit einer halben Stunde im Regen und ich bin bis auf die Knochen nass.“

Raffael ignorierte ihn und sie setzten sich in Bewegung. Voller Vorfreude betrat er das Château. Und als er über die Schwelle ging, fühlte er sich sofort anders. Er war bereit für einen Kampf. Raffael hatte alles ganz genau geplant. Sie würden nur so weit gehen, bis sie ihn gefunden haben. Er würde ihn kennenlernen, sich einen ersten Eindruck verschaffen. Einfach sicher gehen, dass es sich nicht um einen Wahnsinnigen handelte.

Es war nicht so, dass Raffael unbedingt gegen ihn kämpfen wollte. Wenn das Schicksal diesen Ablauf der Geschichte wollte, dann sollte es so sein. Aber es war erst ein Jahr her, seit sie einen Tyrannen losgeworden waren und seiner Provinz ging es mittlerweile um so vieles besser. Ein Ergebnis der Arbeit all der Menschen, die sich so bemüht hatten, ihr Zuhause zu einem besseren Ort zu machen. Er konnte das nicht in unwürdige Hände abgeben.

„Zieht die Ringe an“, sagte er zu ihnen und sie gehorchten ihm.

„Bekomme ich noch einen Antrag?“, fragte Crom und Raffael schnaubte belustigt. Auch er zog einen Ring an. Einer der Gründe, weshalb die niederen Wesen dieses Gebietes ihnen nichts anhaben konnten. Raffael würde nicht zulassen, dass er jemanden verlieren würde. Für Sicherheit war so gut es ging gesorgt.

Als sie den dunklen großen Saal betraten, war es bedrückend und still. Nichteinmal die Geräusche des Regens drangen zu ihnen durch. Raffael wusste, dass dieser Raum zum ersten Turm gehörte. Er hatte die letzten drei Tage damit verbracht, sich ausgiebig mit dem Château zu beschäftigen. Er wusste über alle dokumentierten Gänge Bescheid, über alle Geheimgänge und über alle Zimmer, welche je gebaut wurden. Die Gänge der oberen Stockwerke waren so verwirrend, dass er darauf achten musste, keinen seiner Begleiter zu verlieren. Nur ungern würde er sie in diesem Schloss suchen müssen. Scarlett würde allein zurecht kommen. Sie könnte sich einfach raus bewegen. Anders als bei Crom. Er hatte keine angeborenen Fähigkeiten, die ihm helfen würden. Und das Handwerk der Magie beherrschte er auch nicht. Raffael musste besonders auf ihn achten.

Gespannt warteten sie kurz, ob sich etwas regen würde. Doch es tat sich nichts. Raffael sah hinüber zu seinen Begleitern, welche mit großen Augen und vollkommen angespannt die Umgebung beobachteten. Sie waren konzentriert, das war gut.

Er drehte sich wieder weg und ging langsam und wachsam zu der Treppe, wunderte sich mit jedem Schritt, was dieser Mann hier wollte. Und dann kam ihm ein Gedanke.

„Also“, meinte er zu seinen Begleitern, „Was würdet ihr an solch einem Ort verstecken?“

Crom verstand es nicht auf Anhieb, aber Scarlett schon. Kein Wunder, schließlich waren sie beide miteinander aufgewachsen. Sie verstanden sich ohne Worte.

„Du meinst also, dass die Person, auf die du es abgesehen hast, auf der Suche nach etwas ist, was die Wächter bewachen?“

„Das denke ich.“

„Wahrscheinlich ganz oben. Und etwas sehr Wertvolles. Ich würde auf magisch tippen“, führte Scarlett weiter aus.

„Und natürlich etwas Gefährliches, denn es wird ja nicht umsonst an solch einem Ort versteckt“, sagte Raffael.

„Ihr Beltrans seid eine Plage“, beschwerte sich Crom.

Scarlett lachte, „War das zu schnell für dein kleines Hirn.“

„Ich bin nicht dumm“, erwiderte Crom beinahe schon energetisch. Sie zog ihn zu oft damit auf. Aber er genoss ihre Aufmerksamkeit. Zu oft hatte Raffael ihn dabei beobachtet, wie er sich freiwillig in genau diese Position begab, nur damit sie ihn ärgerte. Aber für den Moment war das kein guter Zeitpunkt.

„Hört auf euch zu necken. Ihr könnt eure Liebesschwüre auf später verschieben.“

„Wie bitte?“, rief Scarlett aus und automatisch duckten sich alle drei. Kurz warteten sie, ob sich etwas zeigen würde, doch die Sekunden verflogen und kein Monster kam in Sicht, was ihm sehr sonderbar vorkam. Scarlett steckte ihren spitzen Fingernagel in Croms Wange, „Als ob ich mit diesem Idioten was anfangen würde.“

„Reg dich ab“, sagte Raffael warnend.

„Nimm deine Nägel aus meinem Gesicht“, sagte Crom und schob sie weg.

Sie rafften sich wachsam wieder zusammen und gingen die Treppe hinauf. Raffael musste die Stirn runzeln, als am Treppenende noch immer nichts zu sehen war. Es war seltsam. Nicht, dass er unbedingt einen Kampf wollte. Aber diese Geschöpfe waren nicht dafür bekannt, sich schweigend zurückzuhalten. Sie waren territorial, beschützen ihren Grund und Boden und einander in einer unnachgiebigen, brutalen Weise. Raffael wünschte sich, die Menschen wären auch so loyal zueinander.

Als sie weiter empor stiegen, machte er eine Beobachtung, welche ihm etwas mehr Einblick in ein mögliches Geschehen gab. Anscheinend gab es hier einen Kampf. Es gab aber keine Leichen. Das erinnerte ihn an das Abenteuer von vor fünf Jahren, als er und Scarlett und einige ihrer Freunde eine Höhle neben dem Meer aufgesucht hatten. Gott, war das ein Desaster gewesen. Er war mit vierzehn viel zu jung für diese Sorte der Abenteuer gewesen und einer von ihnen war bis heute verschwunden.

Es war feucht. Die einst roten Tapeten wiesen Schimmel auf. Ebenso wie die umgeworfenen Möbel. Hier und da lag Glas. Mit Bedacht stieg er drüber, versuchte nicht drauf zu treten. Sie gingen leise weiter, diesmal mit mehr Erfahrung, als damals.

Weiterhin passierte nichts. Sie wurde nicht angegriffen. Doch sie bemerkten etwas Interessantes. Ein Glimmer in der Luft, in bunten Farben leuchtend und so surreal, dass ihm schlecht vom Anblick wurde. Es war ein Zeichen für höhere Magie. Er hatte so etwas noch nie gesehen.

„Das bedeutet, jemand hat den Raum gewechselt. Oder?“

„Ja“, sagte Scarlett. Auch sie war mittlerweile viel konzentrierter.

Raffael verstand den Sinn dieser Beobachtung nicht. Die Welt der Geister war nicht immer leicht zu erreichen und es barg immer ein Risiko, in dieser verlorenzugehen. Der zweite Raum lag genau über der Welt der Menschen. Manche behaupteten, es wäre eine Kopie der echten Welt, welche entstanden ist, nachdem die Realität der alten Welt zusammengebrochen war und zu der dunkelsten Stunde der Geschichte der Menschen geführt hatte. Keiner wusste aber so genau, wie der zweite Raum entstanden war. Vielleicht war er schon immer da, aber keiner hatte hineinschauen können.

„Wahrscheinlich hat er gedacht, dass er die Monster so abhängen würde“, sagte Raffael.

„Ist doch eigentlich eine gute Idee?“, erwiderte Crom fragend.

Scarlett schüttelte den Kopf, „Nein. Die Monster im Château sind sowohl Lebewesen als auch Geister. Sie werden der Person überall hin folgen können.“

Immerhin erklärte diese Entdeckung, wo sie alle hin waren. Der Besucher vor ihnen, wahrscheinlich der Mann, von dem Tatinne gesprochen hatte, hatte all die Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Umso besser für Raffael. Vielleicht konnte er das Ganze für ein paar Momente aus der Ferne beobachten und dabei vielleicht eine erste Einschätzung über ihn fällen. War nur die Frage, wie er ihn im anderen Raum ausmachen konnte.

Sie traten gemeinsam durch die Tür zur weiteren Treppe, welche in einem weiten, spiralförmigen Bogen nach oben führte. Die Dunkelheit fühlte sich bedrohlich an und die Kurven des Ganges ließen seine Anspannung steigen. Man wusste nie, ob etwas in den Ecken oder hinter den Abbiegungen lauern würde. Die Eingänge zu den Gängen zwischen den Türmen fingen an, sich zu häufen. Sie blieben jedoch alle an der Wand und folgten der Treppe hinauf, stetig weiter.

Die Luft war feucht, genauso wie die Wand unter seinen Fingern. Manchmal erwischte er schleimigen Moos und es erinnerte ihn an den See, in welchem er früher immer geschwommen war.

Plötzlich hörte Raffael etwas. Er konnte dieses Geräusch nicht genau identifizieren. Er sah zurück, zu einem der Gänge. Sie waren circa elf Schritte davon entfernt. Die anderen wurden wachsamer, als das Geräusch näher kam. Es dauerte einen Moment, aber dann dämmerte es ihm, dass es sich um einen Schrei handelte. Sein Finger wanderte zum Ring, bereit sich und die anderen zu schützen.

Plötzlich schoss aus dem Gang eine Person hervor. Sie lief in einem Moment an ihnen vorbei und glatt durch Scarlett hindurch, welche sich erschrocken versteifte. Die Gestalt zu sehen, löste in ihm einen Schrecken aus und verursachte eine tief sitzende Übelkeit, welche er in seinen Knochen spürte. Es fühlte sich surreal an, nicht normal.

Raffael sah ihr unter Anstrengung hinterher, kniff die Augen zusammen, versuchte durch das Flimmern zu blicken, welches sie umgab. Es war, als würde er versuchen, im Traum ein Gesicht zu erahnen, nur um daran zu scheitern. Aber eine Sache sah er ganz deutlich, nämlich eine seltsame Gestalt mit Krallen an ihrer Jacke hängen, welche sich in unordentlichen langen Haaren zu verheddern schien. Doch als plötzlich die Umgebung leicht bebte, sah er wieder zurück und entdeckte eine Menge sonderbarer Kreaturen aus dem Gang hervorschießen. Er konnte durch die Gestalten hindurchsehen, als hätten sie keinen Körper. Ihre Farben flimmerten, die Umrisse verschwammen, nur um anschließend eine klare Form anzunehmen. Wahr gewordene Gefühle, getränkt von unzähligen Menschen der vergangenen Jahrzehnte, welche das Château aufgesucht hatten. Eine wahr gewordene Fantasie, welche Gestalt, Sinn und Willen erlangt hatte. Deswegen waren es Geister und Lebewesen zugleich. Die einzigen Kreaturen, welche sowohl im ersten als auch im zweiten Raum residieren konnten. In Calisteo wurden sie Idrazeels genannt.

Er fluchte, „Wir rennen auch."

Den Spuren nach, war sie lange vor ihnen im Château gewesen. Wie war diese Person hinter sie gekommen? So hatte er sich das nicht vorgestellt.

4. Das Château de la Fortune: Die Wächter

„Catjill! Du hast es nur schlimmer gemacht! Korrigiere das wieder!“, rief Etienne wütend aus.

Die Luft schmeckte seltsam. Eine Mischung aus trockenem Staub und prickelnder Magie. Sie hätte von Anfang an in den zweiten Raum wechseln sollen, in die Welt der Geister. Catjill hatte darauf beharrt, im Raum der Lebenden zu verweilen. Er meinte, dass es die bessere Option wäre und sie hätte bei ihm nachfragen sollen, inwiefern und für wen. Denn es war keine gute Option für sie gewesen. Verfluchte Djinns. Und nun versuchte er sie mit seiner Magie dazu zu zwingen, zurückzuwechseln, während sie versuchte, sich weiter hier zu verstecken. Sie war nicht sonderlich erfolgreich darin und im Verstecken auch nicht. Zum ersten Mal in ihrem Leben verweilte sie genau in der Mitte der zwei Räumen und es fühlte sich furchtbar an.

Der Kater kletterte auf ihre Schulter und Etienne spürte seine Krallen. Wehe er hatte Löcher in ihre wertvolle Jacke gebohrt.

„Was soll ich denn bitte machen? Es sind keine Menschen. Außerdem bist du in der Lage, dich selbst zu verteidigen.“

Etienne packte den Kater am Fell, blieb stehen, drehte sich um und warf ihn den Monstern entgegen. Catjill gab ein lautes Fauchen von sich. Kurz explodierte es in heller, blauer Magie, welche die sonderbaren Farben der zweiten Ebene aufwirbelte. Ihr würde schwindlig werden, wenn sie das nicht schon öfters beobachtet hätte. Durch die Räume zu wandern war nicht kompliziert. Es war nur Training und stetige Wiederholung notwendig, bis der Körper sich daran gewohnt hatte. Nun konnte sie es genauso natürlich, wie etwas schreiben. Eine einfache Handlung, welche es nicht zu hinterfragen galt.

Dann schellte ihr kleiner Djinn aus der Magiewolke hervor. Die Biester kam nicht direkt hinterher, aber sie brauchten auch nicht lange.

„Das hilft mir nicht gerade“, meinte Etienne, drehte sich wieder um und lief weiter. Das Ziel war ganz oben. Auf dem Weg würde ihr schon etwas einfallen.

„Undankbares Gör! Das wirst du bereuen!“, rief ihr der Kater zu, als er aufholte.

„Spiel dich nicht so auf“, sagte sie zu ihm. Er war unsterblich. Sie hätten ihm nichts tun können.

„Nur weil ich unsterblich bin, heißt es nicht, dass ich keine Schmerzen empfinden kann. Sie hätten mich zerfetzt!“

„Ah, hör doch auf“, meinte Etienne und verdrehte die Augen.

Catjill beende kurz den Streit und sagte, „Du bist gleich an der Tür zum vierten Stockwerk.“

Etienne wechselte den Raum. Die Welt wurde auf einen Schlag weniger bunt. Sie konnte wieder die vermoderten Tapeten riechen und der sonderbare Geschmack verschwand. Catjill beschwerte sich sofort, doch sie ignorierte ihn. Das war eine bescheuerte Idee gewesen, egal was er sagte. Sie hätte niemals den Raum wechseln dürfen.

Sie nutzte ihre Geschwindigkeit, um die Tür aufzutreten. Zu ihrer Überraschung ließ sich das leicht durchführen. Sie drehte sich um und wollte sie schnell verriegeln, als sie plötzlich drei weitere Personen entdeckte, die dies bereits für sie erledigten. Alarmiert wich Etienne mehrere Schritte zurück und versicherte sich, dass ihr Messer in Reichweite war.

Hier sollte es keine Menschen geben.

Die Tür fiel ins Schloss. Es gab ein lautes Krachen und kurz hatte Etienne Sorge, dass sie aus den Angeln gerissen werden würde.

Drei Menschen, scheinbar in ihrem Alter. Die Frau mit braunen und der Mann mit dem schwarzen Haar atmeten schwer und beachteten sie nicht. Stattdessen blickten sie achtsam zur geschlossenen Tür, welche gefährlich laut ächzte.

Ihr dritter Begleiter schien auch außer Atem, doch anstatt besorgt die Tür anzustarren, musterte er Etienne von oben bis unten. Ihm schien nicht zu gefallen, was er sah und das irritierte sie. Die Fremden waren in der Überzahl und bewaffnet. Die Situation war auf ein mal deutlich schlimmer, als zuvor.

„Gehören sie zu denen?“, fragte Etienne den Djinn. Wenn ja, dann wäre dies gut.

Der Kater seufzte schwer, „Es sind Menschen, Etienne.“

„Sicher? Die sehen mir aus, als würden sie sich gleich verwandeln.“

Bitte keine Menschen, dachte sie.

Der braunhaarige brach in Gelächter aus, „Nein, ich versichere dir, wir sind Menschen. Wobei ich bei meiner Cousine manchmal Bedenken habe.“

Dann grinste er sie an und es machte sie nervös. Die Frau hatte einen Degen dabei. Einer von ihnen hatte eine Pistole in seiner Hand und unter seiner Jacke sah Etienne den Griff einer weiteren Waffe, wahrscheinlich ein Messer. Seine Jacke war groß, Etienne würde vorerst nichts weiter ausmachen können. Schwerer fiel es ihr, den braunhaarigen einzuschätzen. Im Gegensatz zu den anderen sah er aus, als würde er Urlaub machen. Er hatte eine einfache Jeans und ein Pullover in Beige an. Einfache Turnschuhe. Überhaupt nicht so gekleidet, wie es eine Expedition an diesen Ort verlangen würde.

„Das überzeugt mich nicht“, meinte sie zu Catjill nach ihrer Musterung.

Die braunen Augen der Frau wanderten zu ihr, „Bist du ein Idiot?“

„Ich glaube nicht.“

„Das ist Antwort genug“, murmelte sie und sah wieder zur Tür.

„Was macht ein so hübsches Mädchen wie du, an solch einem Ort?“, fragte sie plötzlich der braunhaarige.

„Ich suche etwas“, antwortete Etienne und zwang sich, nicht noch weiter zurückzutreten.

„Sicher, dass du dich nicht übernommen hast?“, meinte der andere.

„Ich glaube nicht“, erwiderte Etienne.

Er schnaubte und lachte dann, „Ah komm. Es ist doch offensichtlich.“

„Ich bin allein genauso weit gekommen wie ihr zu dritt.“

„Da hat sie recht“, sagte der braunhaarige zu seinem Kameraden und dann an sie gewandt, „Ich bin Raffael. Das ist meine Cousine Scarlett und unser Freund Crom. Und du bist?“

Etienne schwieg. Dann sagte sie, „Ich weiß nicht, ob ich mich möglichen Monstern vorstellen möchte.“

Ihr Djinn seufzte, „Beharrst du immer noch darauf?“

Etienne spürte seine Aufregung. Sie haben nicht viele Menschen bisher gesehen. Und er war viel zu neugierig. Sie mochte es nicht.

„Selbstverständlich. Halt dich fern von ihnen, sie könnten dich essen.“

„Bitte? Meinst du das ernst?“, fragte Scarlett und Etienne vermied es, noch weiter zurückzutreten, „Was stören dich eigentlich drei Menschen, wenn du mit einem Monster unterwegs bist?“

Etienne setzte zu einer Antwort an, doch Catjill kam ihr zuvor, „Ich bin kein Monster. Ich bin ein Djinn.“

Etienne schloss kurz die Augen. Das hat er gerade nicht gemacht. Wieso plapperte er immer alles aus? Wieso musste er die Aufmerksamkeit auf sich ziehen?

Als sie die Augen wieder öffnete, begegnete sie einem wachsamen Blick und ihr Herz fing von dem neuen Stress zu pochen an. Wenn diese Menschen wüssten, was ein Djinn wert war, dann würden sie vielleicht Versuchen, ihn ihr wegzunehmen. Sie musste die Aufmerksamkeit von ihm lenken.

„Du kommst mir bekannt vor. Sicher, dass wir uns nicht schon einmal begegnet sind?“

Überrascht blinzelte sie. Haben sie ihn vielleicht nicht verstanden? Oder sie wussten nicht, was ein Djinn sein soll? Oder seine Magie war stark genug, dass sie dieser Aussage über ihn nicht genug Aufmerksamkeit schenkten. Was auch immer es war, sie musste dafür sorgen, dass diese Menschen kein Interesse an ihm entwickelten.

Doch bevor sie erneut zum Sprechen kam, spürte sie, wie Catjills Gewicht von ihrer Schulter verschwand. Sie taumelte beinahe.

„Viel Erfolg“, sagte er, „Ich kümmere mich um den Rest.“

Sie blinzelte ihm kurz hinterher. Dann spürte sie Gänsehaut ihren linken Arm hinauf wandern. Sie wich ruckartig zurück, schnell genug, dass etwas Großes nur knapp an ihr vorbeizog. Zu knapp für ihr Wohlempfinden. Dann verschwand es, was sie als eine Klinge identifizierte und tauchte über ihr auf. Etienne sprang zurück und es krachte auf den Boden, zerstörte die glatte, schwarze Marmoroberfläche, welche die Kronleuchter über ihnen widerspiegelte.

In den zweiten Raum schauen, ermahnte sie sich. Es nutzte diesen, um sie zu verwirren. Um zu verschwinden, obwohl es noch da war. Ein Wechsel, dann ein zweiter, hin und her, bis sie den Überblick verlieren sollte. Etienne kannte das schon.

Das Wesen verschwand wieder. Doch ihr Blick in den zweiten Raum ermöglichte ihr, es zu sehen. Sie musste nur genauso oft wechseln, denn auch aus dem zweiten Raum konnte man nicht in den ersten Blicken.

Es hatte eine schwarze Maske auf und war gehüllt in einem zerrissenen schwarzen Umhang, welcher nicht die dürren, grauen Beine verborgen hatte. Im zweiten Raum konnte sie dunklen Dunst unter seinem Umhang hervorkriechen sehen.

Die dürren Beine sprinteten los und kurz bevor er vor ihr auftauchte, wechselte er den Raum und schwang die Klinge. Etienne folgte seinem Wechsel, wich aus, ging auf Abstand. Das musste ein Wächter sein.

Ein kurzer Blick zu den anderen Dreien und die Möglichkeit, dass sie Monster waren, musste nun endgültig begaben werden. Auch sie hatten gerade eine schwere Zeit mit einem von diesen Wesen. Eine Kreatur, welche einem humanoiden Bullen ähnelte. Er schien nicht den Raum zu wechseln.

Und wo war der Dritte? Etienne blickte vom Instinkt geleitet hinauf und sah eine schöne, geisterhafte Gestalt auf die Lage hinunterschauen. Sie war durchsichtig, ihr Körper war schwer zu erahnen. Immer wieder verschwand ein Teil, nur um kurz darauf wieder aufzutauchen. Manchmal intensiver auszumachen, manchmal kaum zu erblicken. Wie schillerndes Organza, welches vom Wind sanft hin und her geweht wurde.

Etienne hob die Hände, „Ich komme in Frieden.“

Der Wächter lachte und schwang elegant den Finger. Dann verschwand sie und Etienne konnte sie selbst im zweiten Raum nicht ausmachen. Das Wesen mit der Maske bewegte sich langsam auf sie zu. Sein Mantel war befleckt und dreckig und Etienne verspürte keine Lust genauer herauszufinden, womit. Er ging auf sie los und aufgrund der Anwesenheit der anderen Menschen, blieb Etienne nichts übrig, als zurückzuweichen. Sie brachten alles durcheinander und Etienne war noch unentschlossen, wie sie damit umgehen sollte.

Sie bemerkte, wie etwas gegen die andere Seite des Raumes krachte. Möbel, welche vorher schon nicht so gut aussahen, brachen nun vollkommen in sich zusammen. Scvhwarze Haare tauchten aus dem Schutt auf und die Person richtete sich schnell wieder auf. Dann wurde ihr Blick auf ihn blockiert und Etienne schlug die Arme schützend vor sich, als ein gezielter Schlag sie erwischte. Ihre Arme schmerzten, doch ihre geliebte Jacke schützte sie. Der Schlag nahm ihr das Gleichgewicht und Etienne stolperte gegen die Wand, von welcher sie sich anschließend wieder abstieß, bevor der nächste Schlag sie erwischen konnte. Sie landete auf dem Boden und spürte den Putz der Wand auf sie fallen.

Wenn nur die anderen Menschen nicht hier wären, dachte sie sich. Wenn nur das der Fall wäre, dann würde sie jetzt nicht so eine schwere Zeit haben. Etwas angeborene Magie, wenn auch mit schwerem Herzen, und sie würde die Lage im Griff haben. Ihr Messer brauchte sie gar nicht erst zu ziehen, das würde ihr gegen diesen nicht helfen.

Sie kroch zurück, als sich das Wesen langsam wieder aufrichtete und seine milchigen Augen zu ihr sahen. Dann griff sie in ihre Tasche. Gewollt oder nicht, ohne etwas Hilfe von ihren magsichen Fähigkeiten würde sie nicht viel ausrichten können. Dies vor Fremden zu tun stört sie ungemein. Das Wesen trat näher zu ihr und stolperte dann zurück, als ein Schuss es traf und Magie um ihn herum aufwirbelte. Der Zauber nahm seine Aufmerksamkeit in Anspruch, schwirrte um ihn herum, wie Fliegen um einen toten Körper. Sie blickte zu dem Braunhaarigen, Raffael, welcher wachsam zu dem Wesen sah und dann zu seinen Freunden, welche gegen das andere Wesen kämpften. An seiner Waffe musste handwerkliche Magie angebracht sein. Etienne musste die Muster sehen, um den Zauber einordnen zu können. Angeborene Fähigkeiten waren dies sicherlich nicht.

„Hilf lieber ihnen, ich komme klar“, sagte sie und wünschte sich, er würde sich mit anderen Sachen beschäftigen.

Er sah kurz mit gehobenen Brauen zu ihr und dann wieder zu dem Monster, „Ich wage das aktuell zu bezweifeln. Aber gib dein Bestes.“

Er drehte sich wieder halb zu seinen Freunden. Und Etienne merkte, wie er erneut einen Schuss abgab und das Monster dabei störte, einen erfolgreichen Angriff auf seine Begleiter auszuüben. Er beschützte sie, ohne sich richtig einzumischen. Wenn sie nur dieselbe Hilfe von ihrem Djinn bekommen würde.

Etienne rappelte sich wieder auf und sah zu dem Wesen vor sich, welches wahrscheinlich langsam wieder zur Besinnung kam. Sie vermutete, sie wusste, um welchen Zauber es sich bei Raffaels Waffe handelte. Etwas, was den Magiefluss störte. Jeder Mensch besaß Magie, egal ob er sie nutzen konnte oder nicht. Diese Waffe wirkte wie eine Betäubung, brachte den Kreislauf durcheinander und ließ die Person verwirrt zurück. Bei solch einem Geschöpf, welches nahezu rein aus Magie bestand, musste es furchtbare Schäden zurücklassen.

Sie holte ihre kleine Tasche hervor und so lange keiner schaute, nahm sie schnell die vierte der zehn Ampullen und trank die wenigen Tropfen der roten Flüssigkeit, die sich da drin befand. Magie durchströmte ihren Körper, löste Gänsehaut an der jeder Stelle ihrer Haut aus. Sie spürte wie die Magie in ihr erwachte, spürte sie bis in die Fingerspitzen durch ihre Adern fließen. Auf eine andere Weise, als die letzte, die sie genutzt hatte. Sie fühlte sich leicht, als könnte sie selbst zu schweben anfangen.

Die Wächter waren alt und fühlten sich an, wie zur Form materialisierter Staub im Wind. Ein Echo aus Gefühlen und alten Ideen, welche Substanz brauchten, um zu existieren. Sie waren etwas anders, als die zum Sein erwachten Wesen, welche hinter der Tür ausgesperrt waren. Aber beide Geschöpfe brauchten etwas aus dem ersten Raum, um in diesem existieren zu können. Ihrer Vermutung nach sollte Windmagie am ehesten helfen, um die wenige Substanz auseinander zu treiben. Die Geister selbst würden eine Weile brauchen, um die Materie zurück zu formen und zum Angriff zu nutzen.

Als der Wächter auf sie zuging, hob Etienne die Hand und erinnerte sich an das, was ihr erzählt wurde. Sie sollte sich vorstellen, was sie erreichen wollte. Dann es in ihrer Hand sammeln und loslassen. Sie stellte sich Wind vor, so stark, dass es einen Baum entwurzeln könnte. Und dann ließ sie es auf den Wächter los. Er flog auf die andere Seite des Raumes und schlug gegen die Wand auf. Staub wirbelte auf und Wandstücke sprangen in alle Richtungen davon. Etienne stolperte zurück und fiel wieder hin, überrascht von dem Rückstoß, von welchem ihr nun die Schulter wehtat. Doch dann wurde ihre Überraschung von Triumph abgelöst. Sie hatte diesen Zauber bisher noch nie genutzt. Er funktionierte besser, als sie gedacht hatte.

„Das war beeindruckend“, hörte sie und blickte sich nach der Stimme um, welche zu Raffael gehörte, „Was hast du da getrunken?“

Etienne verzog das Gesicht und entschloss sich, ihn zu ignorieren. Sie verstaute ihre kleine Tasche wieder sicher an ihrem Gürtel. Sie war was Besonderes, darauf ausgelegt, den Inhalt zu schützen. Dieser war so wertvoll, dass Etienne sich wunderte, wie sie den Verlust einer Ampulle in den nächsten Monaten ausgleichen sollte. Doch dieses Problem würde sie auf einen späteren Zeitpunkt verschieben.

Das Wesen würde sich irgendwann im Laufe der Zeit wieder zusammensetzen. Etienne musste zusehen, dass sie bis dahin auf und davon war.

5. Das Château de la Fortune: Das größere Übel

Die Sonnenstrahlen ließen die aufgewirbelten Staubpartikel aufleuchten. Etienne spürte sie unangenehm in ihrem Mund, als sie durchatmete. Ihr Blick fiel auf ihren Djinn, der sich auf die andere Seite gestohlen hatte. Er konnte durch seine einzigartige Magie unentdeckt durch die Reihen der Wesen laufen. Eine besondere Eigenschaft, welche den besonders jungen Djinns zukam, um sie vor Feinden zu schützen. Er suchte den Stein, wie sie erfreut feststellte. Wenn einer das Relikt der Austreibung finden würde, dann war es er. Und sobald er es hatte, konnten sie verschwinden.

Sie hörte, wie erneut etwas an der Seite krachte, dann Schüsse, gefolgt von einem markanten Gefühl der Magie, welche sich so heftig im Raum ausbreitete, dass es ihr Übelkeit verursachte. Und als sie sich umblickte, sah sie einen Wächter zu Staub zerfallen, wahrscheinlich für immer. Scarlett stand über ihm und atmete schwer. Sie blutete aus ihrem rechten Arm. Crom sah nun deutlich mitgenommener aus. Er eilte zu ihr, mit seiner Waffe in der Hand. Er war derjenige, der geschossen hatte.

„Gut gemacht“, sagte Raffael, der besorgt zu ihnen herüberblickte. Er hätte auch geschossen haben können. Etienne war sich nicht so ganz sicher. Über seine Rolle in dieser Gruppe war sie sich auch nicht sicher. Er schien sich passiv zu halten, mischte sich dennoch in den Kampf ein. Etienne stellte fest, dass er sich so im Raum positioniert hatte, dass er alles im Blick hatte. Das gefiel ihr nicht.

„Ich bin der Meinung, wir sollten langsam nach Hause gehen“, meinte Crom, welcher, ohne sich um seine Wunden zu kümmern, besorgt Scarletts Arm anschaute.

„Das ist eine fantastische Idee“, meinte Etienne strahlend. Desto schneller sie weg waren, desto eher könnte sie ihren Job ohne Publikum und Probleme erledigen.

„Du scheinst uns wirklich loswerden zu wollen“, meinte Raffael lächelnd, „Sollte man sich nicht über die Menschen freuen, welche einem Beistand entgegen solch schreckliche Kreaturen bieten?“

„Ich bin sehr schüchtern“, erwiderte sie nach einem Moment trocken und er lachte. Sie beobachtete aus dem Augenwinkel, wie er fragend zu seinen Kameraden schaute und Crom ihm ermunternd zunickte. Etienne kannte sie nicht gut genug, um diese Interaktion interpretieren zu können.

Ihre Augen suchten nach Catjill und sie sah ihn weiterhin durch die Schätze der Menschen laufen, welche vor Ewigkeiten diese hier versteckt hatten, geschützt von den Wesen, die sie wahrscheinlich selbst gerufen haben. Oder vielleicht wurden sie selbst zu den Wächtern, deren Seelen getrieben waren von dem Bedürfnis, auf dieser Welt zu verweilen und den Besitz zu schützen, der ihnen in ihren Lebenszeiten zu eigen war.

Es gab noch einen weiteren Wächter, welcher sich bisher verborgen gehalten hatte, und die geisterhafte Gestalt über ihr. Sie schwebte über ihren Köpfen, wachsam und wissend, wie ein Raubtier auf Lauer. Sie verursachte Etienne Gänsehaut, denn obwohl sie sich sicher war, sich gegen sie bewähren zu können, war sie sich genauso sicher, dass dieses Wesen sie in einem unachtsamen Moment zerreißen würde. Sie sah zu ihr hinauf, „Mein Kater und ich wollen wirklich nichts Böses.“

„Kater!“, hörte sie Catjill beleidigt fluchen. Er hörte mit seiner Suche jedoch nicht auf. Das Wesen betrachtete ihn nicht, genauso wenig, wie die Menschen. Etienne wünschte sich dennoch, er würde trotz seines Zaubers nicht so leichtsinnig die Aufmerksamkeit auf sich ziehen.

Das Wesen sah zu Etienne, verschwand kurz und tauchte etwas näher bei ihr auf.

„Das behaupten Menschen immer“, sagte sie lächelnd, mit einer verzerrten, aber wunderschönen Stimme, „Und nun schau dir an, was mit meinem Geliebten passiert ist.“

Diese Verzerrung passierte manchmal, wenn ein Wesen aus dem anderen Raum sprach. Etienne war sich sicher, dass vor allem dieses Wesen hauptsächlich im zweiten Raum residierte. Sie wäre dieser Kreatur ungern dort begegnet. Dieses Wesen anzuschauen fühlte sich an, als würde man auf die ruhige Oberfläche von einem See blicken, von dem man wusste, dass er sehr, sehr tief und dunkel war.

„Ich wars nicht“, sagte Etienne und zeigte mit dem Finger auf die Menschen, „Und mit denen da habe ich nichts zu tun.“

Sie spürte Blicke auf sich, aber sie ignorierte diese und sprach weiter, „Ich bin nur hier wegen dem Stein. Ich werde ihn auch zurückbringen, wenn ich mit ihm fertig bin.“

„Das ist eine Lüge“, erwiderte das Wesen ohne jeglichen Vorwurf in ihrer Stimme.

Etienne zögerte lächelnd. Vielleicht würde sie anders mit dem Wesen sprechen, ihr die Situation erklären, wenn nicht die anderen Menschen dort wären. Ihr Misstrauen war ihnen gegenüber größer, als den Monstern. Die Monster könnten diesen Ort nicht verlassen. Die Menschen hingegen schon. Und sie könnten anderen Menschen von ihrer Konfrontation erzählen. Dieses Wesen hingegen würde sie wahrscheinlich schon bald wieder vergessen haben.

Etienne verwarf ihre Pläne. Ursprünglich war sie bereit, sich gegen die Wesen zu bewähren und sich auf einen Kampf einzulassen. Sie wollte sie nicht auslöschen, ihr Bruder hatte sie gebeten, dies nicht zu tun. Doch nun hatte sie beschlossen, die Flucht zu ergreifen, sobald sie den Stein hatte. Alternativ könnte sie auch jetzt die Flucht ergreifen und später wiederkommen, wenn sie alleine wäre, aber diese Idee verwarf sie wieder. Wenn die Wächter sie erwarten würden, würde sie es schwerer haben.

Sie blickte einschätzend zu Catjill und sah, wie er sein Ziel erreicht hatte. Er wühlte kurz unter den alten Münzen und zog dann eine kleine Schatulle hervor. Er blickte zu ihr und nickte ihr zu.

Etienne sah wieder zu dem Wesen über ihr, „Du hast mich überzeugt, ich werde gehen.“

Sie hörte einen von den Menschen schnauben, „Alles, was es dazu brauchte, war es, einer Lüge bezichtigt zu werden.“

Etienne verspannte sich und blickte genervt zum Sprecher, wusste aber nicht, wer es war. „Halt dich raus.“

Er hatte ihren Djinn wahrscheinlich nicht gesehen. Das konnte sie ihm nicht verübeln. Der Djinn war so geschaffen.

Das Wesen schwebte wieder etwas weiter nach oben, lächelte sie weiterhin wachsam an. Etienne verstand nicht, wieso sie nichts tat. Sie schien zu warten und Etienne wollte nicht herausfinden, worauf. Sie trat langsam einige Schritte zurück und beobachtete, ohne allzu offensichtlich hinzuschauen, wie ihr Djinn sich zu einem Fenster auf der anderen Seite schlich. Sie würden sich wieder unten treffen.

„Wohin genau willst du gehen? Durch die Tür?“, fragte die geisterhafte Frau, „Was wirst du mit den Wesen auf der anderen Seite tun?“

Etienne blieb wieder stehen. Sie hatte diese ausgeblendet gehabt. Im Gegensatz zu den Menschen und den Wächtern waren diese nicht so gefährlich. Dennoch wollte sie nicht durch die Menge durchrennen müssen.

„Ich denke, ich nehme das Fenster“, sagte sie dann.

„Was sollen wir machen?“, fragte Crom, mehr an Raffael gerichtet, als an sie. Etienne sah schnell zu ihnen und bemerkte einen wartenden Blick von Scarlett zu Raffael, welcher noch immer etwas weiter von ihnen entfernt stand und ein Signal zum Abwarten gab. Nicht zu wissen, was sie vorhatten, machte Etienne noch nervöser. Schnell sah sie wieder zu dem Wesen über ihnen und sagte, „Ihr könnt auch das Fenster nehmen. Oder ihr kümmert euch um das, weswegen ihr hier seid. Ich bin auf alle Fälle raus.“

Raffael lächelte sie an, „Das, weswegen wir hier sind, plant zum Fenster rauszugehen.“

Etienne runzelte die Stirn und blickte zu ihm, „Ich bin mir nicht sicher, ob ich diese Aussage mag.“

Das war gelogen. Sie war sich sehr sicher, dass sie diese furchtbar fand. Entweder wollten sie was von ihr oder von ihrem Djinn. Nichts davon war eine gute Option. Sie hatte keine Zeit sich mit anderen Menschen abzugeben.

Catjill war bei einem Fenster angekommen. Er sah sie erwartungsvoll an. Etienne lief langsam, mit erhobenen Händen zu einem Fenster in ihrer Nähe, „Wie auch immer ich aber dazu stehe. Ich will mit niemandem hier noch was zu tun haben.“

Sie sah, wie Raffael misstrauisch zwischen dem Wächter und ihr blickte. Sie verstand sein Misstrauen, denn ihr ging es genauso. Die Anspannung tat ihr in den Muskeln weh und sie wusste, dass das Wesen etwas plante. Umso besser, schnell hier raus zu sein.

„Bist du sicher, dass es eine gute Idee ist, den Fluchtweg zu nehmen, von welchem dieses Wesen dich nicht abhält?“, fragte er sie.

Der Wächter lachte und Etienne schauderte es. Der Gedanke war ihr auch gekommen, aber sie musste es nur zu ihrem Djinn schaffen. Was auch immer da auf sie zukommen sollte, sie würde die kurze Zeit, in der es sie brauchte zu ihm zu kommen, aushalten.

„So wie ich das sehe, habe ich die Wahl zwischen dem Fenster, von dem ich nicht weiß, was mich dort erwartet", meinte zu ihm, „und euch, von denen ich nicht weiß, was sie von mir wollen. Ich nehme das Fenster.“

„Ich kann dir versichern, dass wir nicht vorhaben, dich zu verletzen“, sagte Raffael, sein Blick noch immer auf den Wächter gerichtet.

Sie trat an die Wand neben dem Fenster und blickte kurz hinaus, eher sie ihren Blick wieder in den Raum zu dem Wächter und Menschen wand. Nur der große Turm, der letzte dieses kleinen Schlosses, ragte dort empor. Sie hatte noch ihre Windmagie in sich. Diese würde ihr bei einem Fall behilflich sein. Vielleicht könnte sie diese auch nutzen, um zum Djinn zu kommen.

Das Wesen kicherte und Etienne verharrte kurz, diesmal wirklich unsicher, ob das der richtige Weg wäre. Weiterhin mit dem Rücken zur Wand öffnete sie vorsichtig das Fenster mit ihrer Hand, ohne den Blick von den weiteren Anwesenden im Raum zu wenden. Sie achtete darauf, noch nicht vor das Fenster zu treten, als sie es mit der Hand aufstieß. Es passierte nichts. Sie sah kurz wieder besorgt zum Wächter, welcher sie anlächelte.

„Ich glaube wirklich nicht, dass das eine gute Idee ist“, meinte Raffael.

Etienne stimmte ihm zu. Dann blickte sie zum Fenster auf der anderen Seite des Raumes. Im Gegensatz zu diesem hier, sah sie draußen nur den weiten Wald.

„Ich könnte auch dort raus.“

Sie sah wieder zu dem Wesen, welches langsam zu lächeln aufhörte. Sie schnippte mit den Fingern und verschwand. Dann hörte Etienne ihren Djinn schreien, „Etienne, runter!“

Sie warf sich auf den Boden und die Wand über ihr sprang auf, als etwas Schnelles hindurchschoss.

Ein Schrei erklang von der anderen Seite des Raumes, als etwas Mächtiges auf dem Boden aufschlug und Staub aufgewirbelt wurde und die Erschütterung ließ sie stolpern. Keine Zeit, sich um die Menschen zu kümmern, sprang Etienne zur Seite und betrachtete das Loch in der Wand, versuchte sich dabei auf den Beinen zu halten. Sie sah durch diesen den vierten Turm emporragen und dort, an der Spitze, sah sie ein offenes Fenster, von welchem ein weiterer Wächter auf sie schoss. Wenn sie da rausgegangen wäre, hätte er freies Sichtfeld auf sie gehabt.

„Catjill, komm zu mir!“, rief sie ihm zu und hoffte, dass er ihren Befehl durch den Krach hören konnte. Die Wächter würden sie nicht gehen lassen. Es könnte Rache sein, für die anderen zwei oder einfach nur der Zwang, ihre Aufgabe zu erfüllen. Einer von diesen war aber an den anderen Turm gebunden. Der andere war hier mit ihnen und griff sie an, ohne dass sie es kommen sahen. Normalerweise könnten dies gute Aussichten für sie sein, wenn nicht eine dritte, für sie kaum möglich einzuschätzende Gruppe, gegenwärtig wäre.

Etwas Unsichtbares schlug gegen ihre Füße und sie fiel auf den Boden. Sie hörte einen Schuss und anschließend ein Brüllen, welches nicht zu hören war, aber zu fühlen, tief in ihrer Brust, in ihren Knochen. Aber es war nicht ihre Empfindung. Bevor sie sich aufrappeln konnte, spürte sie, wie ihr Fuß gepackt und sie weggeschleudert wurde. Sie prallte an einem der Menschen und gemeinsam flogen sie gegen eine weitere Wand. Zu ihrer Überraschung war der Aufprall aber nicht so stark wie die Wucht, mit der sie gegen einen von ihnen geschmettert wurde. Als Wandbrocken auf sie fielen, zersprangen sie, bevor sie sie erreichten.

„Alles gut?“, vernahm sie eine hustende Stimme und sie blickte zu Raffael. Er hatte seine Hand gehoben, die Pistole weg von ihr gerichtet. Die Waffe machte sie auf die Entfernung dennoch nervös, vor allem wenn sie den Zauber bedachte, mit welchem sie wahrscheinlich versehen war. Sie lag auf seinem Bauch und als sie versuchte sich aufzurichten, während Schreck sie überfiel, hielt er sie mit der anderen Hand zurück, „Tut mir leid, der Radius davon ist nicht so groß.“

Er zeigte ihr den Ring auf seinem Finger, mit einem kleinen blauen Stein, welcher auf die Innenseite seiner Hand gedreht war, und sie verstand, dass er einen Schutz aktiviert hatte. Dies erklärte ihre vergleichsweise weiche Landung und dem Abprallen der Gegenstände an einer unsichtbaren Barriere. Schutzreliquien waren viel wert und sehr selten. Handwerkszauber, welche nur mit Mühe geschmiedet werden konnten.

„Wo hast du das her?“, fragte sie ihn neugierig, vergaß all die Sorgen, welche sie davor bewahrten, von Menschen reingelegt zu werden.

„So wird das nicht funktionieren. Antwort gegen Antwort“, verlangte er lächelnd.

Sie verzog das Gesicht. Natürlich.

„Das ist ein furchtbarer Zeitpunkt für Verhandlungen. Und ich passe.“

Etienne weigerte sich, ihm auch nur eine Frage zu beantworten. Er lachte und half ihr vorsichtig in die Hocke, legte seine Hand auf ihren Kopf und hielt sie davon ab, gegen die Barriere zu stoßen, die sie nicht sehen konnte.

„Hier ist meine Idee“, sagte er, „Ich kann die Reliquie so aktivieren, dass sie hier drin gefangen wäre. Schaffst du es, sie an einem Ort zu halten? Und danach könnten wir uns in Ruhe unterhalten.“

„Auf gar keinen Fall“, schoss es aus ihr hervor. Dann schüttelte sie den Kopf und lenkte das Gespräch wieder auf das tobende Problem vor ihnen, „Vergiss es. Was willst du gegen das Ding anstellen?“
Erneut schlug etwas Starkes gegen die Barriere und sie beide zuckten überrascht zusammen. Etienne hatte Sorge, in die andere Welt zu blicken. Die gewaltigen Wellen der Macht um sie herum machten jeden Atemzug zu einer Arbeit. Noch war sie nicht schwer, aber es war eindeutig an der Zeit, sich zurückzuziehen.

„Antwort gegen Antwort“, wiederholte er nur, seine Stirn gerunzelt und ihr kam die Sorge, dass er selbst keine Ahnung hatte, was sie tun konnten.

Doch diesmal akzeptierte Etienne dies nicht, „Ich werde mich nicht auf einen Plan einlassen, von dem ich nicht weiß, wie der funktionieren soll.“

„Wenn du einen besseren hast, schieß los“, erwiderte er. Etienne hatte einen. Den würde sie aber nicht vor Fremden durchführen. Sie seufzte, „Gut. Aber sobald es nicht so läuft, wie du es vorgeschlagen hast, bin ich hier raus.“
Er lächelte breiter und meinte im Hinblick auf den Schutz, „Soll ich es wieder aufheben.“

6. Das Château de la Fortune: Der Anfang

„Gib mir einen Moment“, sagte sie. Etienne rief sich ins Gedächtnis, wie die Anweisungen für die Windmagie waren.

Ihr Bruder hatte ihr immer gesagt, dass nichts die Macht der Vorstellungen übersteigen würde. Er hatte alles machen können, sei es ein Tornado beschwören oder sein Anwesen fliegen lassen. Er vermochte Dinge zu machen, die Etienne nie für möglich gehalten hatte. Ihr Bruder, wenn es ihm gut ging, war eine Naturgewalt. Und er hatte ihr erklärt, wie sie den Wind kontrollieren konnte. Er vergaß jedoch, dass ihre Kreativität nicht so groß war wie seine. Oh, sie wünschte sich so sehr, er wäre hier. Dann könnte er die nervigen Gespräche führen und sie könnte im Hintergrund verschwinden.

Etienne nickte Raffael zu und beobachtete, wie er den Stein des Ringes mit seinem Daumen berührte und sogleich spürte sie wieder Staub auf sie hinabrieseln. Sie sprang weg von ihm und blickte sich kurz nach Catjill um. Dieser versteckte sich unter einem eingestürzten Tisch. Sie hatte sein Alter nicht bedacht, als sie ihm die Anweisung gegeben hatte, zu ihr zu kommen. Wahrscheinlich hat er versucht, direkt durch den Raum zu ihr zu gelangen, in welchem das Wesen wütete. Dann atmete sie tief durch und hob beide Hände. Sie hatte ihren Bruder das schon mal machen sehen. Sie wusste, was sie sich vorstellen sollte und es war den Versuch wert zu testen, ob sie diese fragile Gestalt von einem Wächter gefangen bekommen könnte. Die Luft im Raum fing an sich zu bewegen. Etienne fing ganz außen an und ließ die Kugel aus sich bewegender Luft enger und enger werden. Schon bald erkannte sie die Gestalt des Wächters, welcher auszubrechen versuchte, aber immer wieder vom Luftstrom mitgerissen wurde. Etienne hatte Mitleid mit ihr, denn das hatte ihr Bruder mit ihr auch mal gemacht.

Irgendwann hatte sich die einst riesige Kugel bewegender Luft auf eine Größe zusammengezogen, die kaum größer, als der gefangene Wächter war. Der Wind zerrte an kleinen Gegenständen, zog sie empor und trübte die Kugel mit Staub, Münzen und Steinchen, welche wild im Kreis flogen. Dennoch konnte Etienne noch sehr gut erkennen, wie der Wächter sie wütend aus dieser heraus anfunkelte. Etienne hatte nicht das Bedürfnis, ihre Magie aufzuheben. Sie hatte das Gefühl, dass der Wächter sich insbesondere an ihr dafür rächen würde. Was Etienne ihr nicht verübeln konnte, denn sie hatte sich auch bei ihrem Bruder dafür gerächt.

„Bitte sehr“, sagte sie unzufrieden zu Raffael und bedachte ihn misstrauisch aus dem Augenwinkel. Er zog seinen Ring aus und warf ihn zu der Gestalt rein. Der Ring wurde mitgerissen und rotierte mit der Luft um das Wesen herum, welches versuchte nicht vom Luftstrom mitgerissen zu werden. Sie wunderte sich, wie er vorhatte, ihn zu aktivieren. Die Idee schien wohl zu sein, die Schutzreliquie zu nutzen, um den Wächter an Ort und Stelle gefangen zu halten?

Etienne schielte wieder zu Raffael und sah, wie er eine Kette unter seinem Pullover hervorzog und den Stein berührte, welcher dieselbe Farbe hatte, wie der am Ring. Als er Etiennes Blick sah, zwinkerte er ihr zu, während er mit seinen Daumen die Magie nutzte und Etienne blickte wieder zu der gefangenen Gestalt. Der Ring leuchtete im blauen Licht auf und kurze Zeit später erblickte Etienne ein Glitzern um ihre Luftkugel, welches auf die aktivierte Reliquie deutete. Sie ließ ihre Magie los und der Wind verschwand. Zurück blieb der Geist, an Ort und Stelle.

„Raffael, bist du verrückt?“, hörte sie Scarlett ausrufen. Seine Begleiter liefen zu ihm und Etienne bemerkte, wie Scarlett einen Ring auszog und ihm zudrückte. Crom hielt sie jedoch davon ab und gab ihm stattdessen seinen. Etienne lief zu ihrem Djinn, der mit seinen Pfoten unten den Brocken versuchte einen Weg hinaus und zu ihr zu finden. Es war Zeit, von hier zu verschwinden.

„Wo ist der Stein?“, fragte sie die Katergestalt, während sie einige umgestürzte Bruchstücke der Möbel zur Seite schob. Der kalte Stein war nass und sie spürte Moos an ihren Fingern.

„Danke der Nachfrage. Mir geht's gut. Wie nett, dass du dir Sorgen machst“, meinte er sarkastisch und hustete dann. Etienne bemerkte, wie er sanft zitterte. Das Abenteuer war vielleicht etwas zu viel für ihn gewesen.

„Mach dir keine Sorgen, es wird schon wieder“, erwiderte Etienne zuversichtlich und streichelte beruhigend seinen Rücken. Er streckte sich ihrer Berührung entgegen und ließ sich trösten.

„Meinst du das hier?“, hörte sie Raffael plötzlich fragen. Sie blickte zu ihm und sah, wie Crom ihm die Schatulle übergab. Er öffnete diese und blickte hinein.

„Das solltest du nicht machen“, sagte Etienne warnend und vermerkte sich, dass diese Menschen scheinbar keine Ahnung von Reliquien aus der ersten Stunde der neuen Welt hatten. Dann versuchte sie ihr bestes Lächeln, „Und ich wäre dir wirklich dankbar, wenn du mir das übergeben würdest.“

„Ah ja? Nun, wie sieht es denn mit einer Unterhaltung aus?“

Sie spürte, wie ihr Lächeln verrutschte. Es dauerte einige Momente, aber sie wusste nicht, was sie ihm antworten sollte.
„In… ein paar Stunden?“, presste sie dann unzufrieden heraus und sah es ihm an, dass er ihr leeres Versprechen mit genau demselben Gefühl erwiderte, welches sie empfand. Unglaube.

Er schnaubte und lächelte dann wieder, „Verstehe. Nun denn. Wie dankbar wärst du denn?“

Ein Schauder stieg ihr den Nacken hinauf, während sich in ihrem Hinterkopf eine unangenehme Ahnung regte. Deswegen mochte sie keine Menschen. Sie tauchten einfach auf und wollten etwas. Und wenn Etienne nicht nachgab, dann suchten sie nach einem Weg, sie zu zwingen.

„Was willst du haben?“

Sie hatte genug Kämpfe für einen Tag. Und da draußen gab es immer noch einen Wächter, welcher nur darauf wartete, einen Blick auf sie zu erhaschen. Sie würde ungern einen weiteren Kampf provozieren.

Er sah nachdenklich zu ihr und dann wieder zu dem Stein. Er schloss die Schatulle und sagte, „Nach Kämpfen liegt es mir gerade nicht. Aber ich werde das dennoch an mich nehmen.“

Er übergab die Schatulle an Crom und nickte Scarlett zu, die daraufhin die Augen schloss.

„Ich mache dir ein faires Angebot. Du kommst in meine Stadt und dann unterhalten wir uns unter zivilisierten Umständen über den Stein und darüber, wie viel wir künftig miteinander zu tun haben werden“, sagte er und fügte dann hinzu, „Wenn du jedoch versuchst ihn zu stehlen, dann werde ich ihn vernichten lassen.“

Er warf ein Stück Papier auf den Boden und sein Blick hatte etwas Triumphierendes. Etienne strahlte ihn an und überlegte sich, ob sie nicht doch noch einen Kampf wagen sollte, nur um ihn schlagen zu dürfen, „Da war kein Angebot für den Stein in deiner Aussage drin.“

Die Luft um sie herum fing zu flimmern an. Etienne wusste, worum es sich handelte. Sie hatte schon öfters Menschen mit dieser Fähigkeit gesehen und wenn die Wut über die Situation nicht von ihr Besitz ergriffen hätte, dann würde sie sich wundern, wieso sie diesen Springer nicht kannte. Und Etienne kannte viele von ihnen. Wie die meisten anderen Menschen auch, denn Personen mit diesen Fähigkeiten waren selten und meistens unterstanden sie den Mächtigen.

Er lachte, „Das bekommst du, wenn du da bist.“

Und dann verschwanden sie und es war still. Der Wind wehte durch die Lücken im Dach, welche nach dem Kampf noch größer waren, als zuvor. Etienne hörte die Monster auf der anderen Seite der Tür wieder ganz deutlich gegen diese einschlagen. Sie hielt aber, bestärkt durch die uralte Magie, welche hier irgendwann, lange vor ihrer Zeit gewirkt wurde.

Etienne starrte vor sich hin. Ihr Kopf war leer.

„Soll ich ihn einfach umbringen?“, fragte sie dann Catjill.

Der Kater richtete sich auf und nach einem Strecken fing er an seine Pfote zu lecken, „Übertreibe nicht. Das sind die ersten Menschen, denen wir seit Monaten begegnen. Aber für einen guten Preis, kann ich das sicherlich für dich einrichten.“

„Das ist furchtbar!“, rief sie dann aus und zwang sich kurz darauf, wieder ruhig zu werden. Nach so vielen Strapatzen war sie zum ersten Mal kurz davor gewesen, den ersten Stein zu erlangen. Sie hatte sogar eine wertvolle Ampulle dafür hergegeben. Der Verlust dieser wog besonders schwer dafür, dass sie ihr Ziel nicht erreicht hatte.

Der Kater seufzte nur und fing an sich mit der Pfote über den Kopf zu wischen. Etienne warf die Hände in die Luft, „Verdammt seist du, wer auch immer da oben in den Wolken sitzt!“

Sie trat zu der am Boden liegenden Karte und hob sie hoch.

„Aufschlussreich. Wie soll ich den finden? Ein Frauensalon? Oh, das ist ja in Calisteo!“

Catjill sprang auf ihre Schulter und beäugte die Karte neugierig, „Diese kleine, neutrale Stadt?“

Etienne nickte und lächelte dann strahlend, „Was für eine wundervolle Gelegenheit meiner Tante einen Besuch abzustatten. Sie wird sich bestimmt freuen.“

Der Kater sah sie verwirrt an, „Du hast eine Tante?“

Etienne nickte. Dann steckte sie die Karte ein. Sie blickte zu dem Wächter, welcher noch immer in der Schutzbarriere gefangen war. Etienne wusste einiges über diese, wäre selbst aber nie auf die Idee gekommen, sie so zu verwenden. Der Wächter funkelte sie wütend an.

Etienne lächelte zu ihr, „Ich mache dir ein Angebot.“

7. Der erste Tag in Calisteo: Die Sonnenvilla der zweiten Provinz

Es war ein sonniger Tag, als Raffael sich aus seinem Bett wälzte und die Kopfschmerzen zu ignorieren versuchte. Er hat zu wenig geschlafen, mal wieder. Und Eldan, sein engster Berater und Mentor, war am Abend zuvor so unzufrieden mit Raffaels unangekündigtem Ausflug, dass er ihn zusätzliche Arbeit hat machen lassen. Er hatte es sich später dennoch nicht nehmen lassen, mit seinen Freunden etwas zu feiern. Sie waren selten außerhalb der Stadt gewesen.

Müde und seltsamerweise gut gelaunt stand er auf und ging unter die Dusche. Er verbrachte zehn Minuten nur mit Stehen und spürte, wie die Kopfschmerzen verflogen. Dann wusch er sich und stieg nach weiteren fünfzehn Minuten wieder raus. Raffael liebte es, morgens zu duschen. Als er zurück in sein Zimmer trat, stellte er fest, dass Scarlett und Crom es sich bei ihm auf dem Bett gemütlich gemacht hatten.

Raffael lächelte, als er sah, wie die beiden sich im Schlaf bewegten und sich näher aneinander kuschelten. Er wusste schon seit über einem halben Jahr, dass sein Freund und seine Cousine Gefühle füreinander hatten. Er unterdrückte ein Lachen über die damit verbundene Sturheit der beiden. Zeitgleich unterdrückte er Neid. An einem bestimmten Tag, weit in der Zukunft, würde auch er eine Frau finden, mit der er den Rest seines Lebens verbringen würde. Es nervte ihn nur, dass Scarlett ihm scheinbar zuvorgekommen ist. Er trat an seinen Kleiderschrank und zog sich an. Scarletts Sweatshirt, dass sie ihm irgendwann mal geschenkt hatte, grinste ihm unangenehm entgegen und seufzend entschloss er sich, dieses anzuziehen. Es war nicht sein Stil, aber ihr zuliebe zog er es immer wieder mal an und das letzte Mal war schon eine Weile her.

Er trat hinaus aus dem Zimmer und ging den schönen Gang entlang in das Esszimmer. Als Herrscher der zweiten Provinz lebte Raffael reich. Er hatte ein schönes großes Haus, welches der Stolz der zweiten Provinz war: Die Sonnenvilla. Hier bekam er alles von seinen Bediensteten erledigt. Es war jedoch nicht seins und er hasste es.

Die Obermagd grüßte ihn mit einem Kuss auf die Wange. Sie war alt, arbeitete aber schon ihr Leben lang für die Herrscher der zweiten Provinz. Nexim war ein grausamer Mann gewesen. Deswegen liebten all seine Bediensteten Raffael. Und sie waren ihm dankbar, dass sie weiterhin im selben Haus arbeiten durften. Raffael hatte nach seiner Machtübernahme vorgehabt, es demolieren und umbauen zu lassen, doch sie hatten ihn angebettelt, es nicht zu tun und er hat es nicht übers Herz gebracht, als all diese Menschen vor ihm gestanden hatten. Nun setzten sie ihre Hoffnung in ihn, dass er irgendwann, wenn er alles Notwendige zum Herrschen gemeistert hatte, ihnen eine sichere Zukunft geben würde. Und das hatte er vorgehabt, bis Tatinne mit ihrer Vorhersehung ankam.

Er aß schnell sein Frühstück und las die Zeitung durch. Nichts Spannendes. Und das machte ihm Sorgen. Immer wieder fühlte sich die Ruhe an, als würde sie einem Sturm vorausgehen.

Die Frau von gestern kam ihm wieder in den Sinn. Raffael konnte sich nicht vorstellen, dass sie diejenige sein sollte, die über alle Provinzen herrschen sollte. Aber wenigstens war schon mal das Rätsel mit dem Geschlecht gelöst. Das verstorbene Orakel vor der Spinne Tatinne hatte von einem 'Ihm' gesprochen, der die Provinzen unter sich vereinen würde, so wurde es ihm zumindest erzählt. Diese Frau hatte einen männlichen Vornamen. Vielleicht war es ja das? Aber er würde Tatinne heute noch einmal genauer danach ausfragen. Nicht nur nach den Fragen über den weiteren Verlauf dieser Geschichte, sondern auch ganz konkret über diese Frau. Raffael war sich ganz sicher, dass er sie schon einmal irgendwo gesehen hatte. Wahrscheinlich ganz flüchtig, denn es war nicht möglich, dass sie in näheren Kontakt zueinander getreten waren. Nein, das konnte es nicht sein, denn er hätte sich erinnert. Er muss sie von Weitem gesehen haben und nur ganz kurz, denn ansonsten hätte er sie angesprochen. Sie war eine hübsche junge Frau mit sonderbaren Fähigkeiten. Sehr misstrauisch, aber das machte nichts. Er war gut darin, sich mit Menschen anzufreunden.

Dann stockte er, als er feststellte, dass er Schwierigkeiten hatte, sich konkret an ihr Gesicht zu erinnern. Das war sonderbar für ihn, denn er konnte sich an nahezu alle Gesichter erinnern, die er je gesehen hatte. Und dieses hier hatte er erst gestern kennengelernt. Desto mehr er nachdachte, desto mehr schien es zurückzukommen. Dennoch war er verwirrt davon, dass er nicht benennen konnte, ob ihre Augen blau oder grün waren. Frustriert beließ er es zunächst dabei. Er würde wahrscheinlich sowieso bald auf sie treffen.

Raffael betrachtete die Berichte, welche seine Untergebenen ihm jeden Tag bereitstellten. Sobald er an die Macht gekommen war, hatte er sich darum gekümmert, eine vernünftige Verwaltung in die zweite Provinz zu bringen. Nexim hat sich nur von Kriminellen umgeben lassen. Raffael hatte als Erstes dafür gesorgt, dass diese Menschen niemanden mehr terrorisieren konnten. Keine hohen Steuerabgaben mehr, keine Schutzgelder, keine Ausbeutung, keine Drohungen und Schikanen oder das Vorenthalten von Essen und Wasser. Raffael war die meisten von ihnen losgeworden, wenn auch noch nicht alle. Und Eldan war derjenige, der ihm dabei half, sich zu einem guten Herrscher zu entwickeln. Raffael hatte ihm aber noch nicht erzählt, dass sich das wahrscheinlich bald ändern würde. Er wollte ihn nicht enttäuschen.

Dann stand Raffael auf und schnappte sich seine warme, braune Jacke. Dazu versteckte er schnell eine 9 mm Browning Halbautomatik in der Innentasche und dazu Munition zum Nachladen, welche er mit einem Zauber versehen speziell hat anfertigen lassen. Er packte noch ein Taschenmesser ein und ging dann hinaus.

8. Der erste Tag in Calisteo: Das Herz des neutralen Stadtteils

Raffael nahm einen Ring hervor und drehte ihn. Als der Stein kurz aufleuchtete, ging er los. Die Luft war frisch und kalt. Der späte Herbst setzte ein. Ein sonderbares Empfinden entfaltete sich in ihm, denn er war erst gestern in einem Gebiet, welches sich so unerträglich warm und nass angefühlt hatte, dass er das Gefühl hatte, es wäre Sommer gewesen.

Es herrschte relativer Waffenstillstand zwischen den Provinzen, aber das bedeutete nicht, dass er nicht bei Gelegenheit doch angegriffen werden könnte. Vor allem, wenn er allein unterwegs war. Innerhalb der Provinzen gab es vereinzelnde Banden, welche sich nicht an die neuen Regeln halten wollten. Teilweise waren es noch Anhänger der alten Herrscher, welche sich als rechtmäßige Erben der Macht sahen. Es gab immer wieder Situationen, welche am schwachen Waffenstillstand zerrten. Bisher haben Raffael und Gilgian es jedoch geschafft, nicht in einen offenen Kampf zu schlittern.

Das war teilweise Tatinne und ihrer Macht zu verdanken. Und den ganzen Menschen, die sich so sehr darum bemühten, die Ordnung und die Sicherheit wiederherzustellen.

Er schlug den alten, verhassten Weg zum neutralen Stadtteil ein. Er ging ihn beinahe jeden Morgen, wenn er seine Schule aufsuchte oder wenn Tatinne meinte, sie mal wieder einbestellen zu müssen. Als wären die Provinzherrscher ihre Untergebenen und nicht gleichberechtigte Parteien auf Augenhöhe. Raffael hatte schon immer unterschwellig das Gefühl gehabt, dass sie auf eine subtile und vorsichtige Art und Weise ihnen zu verstehen gab, dass sie weit über ihnen stand. Sie hat aber nie etwas verlauten lassen, um sie darauf festnageln zu können.

Nachdem er vor einem Jahr die Macht übernommen hatte, hatte er diesen protzigen Weg gehasst. Zunächst, weil es sich immer noch anfühlte, wie Nexims Straße, die er vor der Machtübernahme immer leidig eingeschlagen hatte. Jede Kurve und jeder Stein des Pflasterweges erinnerte ihn nur zu gut an das Gefühl der Machtlosigkeit. Er hasste es auch, dass Scarlett jeden Tag diesen Weg gehen musste. Für sie müsste es noch schlimmer sein, als für ihn.

Zum anderen, weil er es hasste, dass Eldan ihn dazu gedrängt hatte, die letzten Schuljahre fertig zu machen. Lieber hätte Raffael die Zeit damit verbracht, sich von Eldan das Notwendige beibringen zu lassen, um schnell die Rolle ausfüllen zu können, in die er sich ungewollt eingekleidet hatte. Doch dieser alte Mann hat einfach darauf beharrt. Und weil Raffael seine Meinung schätzte, hat er sich dem gefügt. Und obwohl er es noch immer als nicht notwendig ansah, freute er sich dennoch über die kleinen Momente seiner alten Realität.

Es war eine große, schöne, wohlhabende und anspruchsvolle Schule. Sie war der Stolz Calisteos. Er war in diese eingetreten, bevor er zum Herrscher wurde und genauso war es bei Elias und Gilgian gewesen. Und noch immer suchten sie alle diesen Ort auf, wenn auch jeder mit einem anderen Ziel.

Auf seinem Weg zum neutralem Gebiet grüßte er einige Menschen und erkundigte sich nach deren Wohlbefinden. Dank des Ringes merkten sie ihn erst, wenn er das Wort erhob und freuten sich immer, ihn zu sehen. Teilweise waren dies Menschen, die er seit seiner Kindheit kannte. Ein Mann, der ihm immer auf die Schulter schlug und jedes Mal erstaunt von sich gab, wie groß er geworden war. Weiter vorne gab es eine ältere Dame, die ihm und Scarlett früher immer Süßigkeiten gegeben hat und ihm nun immer mütterlich die Wange tätschelte. Ihre Kinder waren inzwischen größer geworden, aber früher hatte Raffael auf sie aufgepasst und war mit ihnen auf seinen Schultern durch die Stadt gelaufen.

Im neutralen Stadtteil dauerte es kaum eine halbe Stunde, bis er bei Tatinnes kleinem, aber beeindruckendem Haus ankam. Diese kleine, viktorianische Villa in Weiß, umgeben von dem wenigen Grün in der dicht besiedelten Stadt, wurde das Herz Calisteos genannt. Raffael ließ sich von dem mächtigen Aussehen nicht beeindrucken. Trotz der Tatsache, dass sie klein war, war sie unglaublich schön. Die Farben zogen sich durch alle Stockwerke und bildeten eine ungewöhnliche Symmetrie aus Braun, Weiß und Schwarz. Insgesamt gab es drei Stockwerke, mit wenigen Zimmern. Rund um das Erdgeschoss ragten mehrere Säulen empor und zeichneten somit die Veranda. Sie waren mit verschiedenen Wesen verziert, die Raffael nicht alle kannte. Es hatte Jahre gedauert, diese zu meißeln. Es nervte ihn, denn das Geld, dass damals dort eingeflossen ist, würden sie heute gebrauchen können.
Aber das war noch vor Tatinnes Zeit. Und lange vor seiner.
Calisteos jährlichen Stürme hatten dem Haus nichts anhaben können. Es sah aus, als wäre es gerade erst gefertigt worden und nicht schon vor fast siebzig Jahren, als Tribut an die Stadtgründer. Jedes Bisschen alter Kunst diente dazu, sie zu würdigen. Sicherlich hatten sich diese nicht vorgestellt, dass Calisteo nun aus drei zerstrittenen Provinzen bestehen würde.

Raffael betrat die Veranda und ging sogleich durch die Tür.
Die Decke war nicht sonderlich hoch. Wenn er mit ausgestreckter Hand springen würde, könnte er sie berühren. Dieses einzelne Zimmer war das größte im ganzen Haus. Es war das Empfangszimmer für alle Gäste. Es gab zwei Türen. Die eine führte in einen weiteren Raum, der wesentlich kleiner war und die andere Tür zu einer Marmortreppe, die in die privaten Gemächer von Tatinne führte. Was im dritten Stockwerk war, konnte Raffael nicht sagen, denn er ist leider noch nie so weit gekommen. Tatinne hatte ihn immer herausgeworfen, als er es versucht hatte.

Und als Raffael das erste Mal diesen Ort betreten hatte, war er stark beeindruckt gewesen. Heute ist er es noch immer, nur hatte er nicht das starke Bedürfnis wie ein Vollidiot stehenzubleiben und alles zu begaffen. Er musste lächeln, als er sich daran erinnerte, wie eingeschüchtert er damals von Tatinne und ihrem Schauspiel war.

Er steuerte die Tür zu der Treppe an und folgte dieser hinauf. Oben kam er in der Küche heraus. Eine hochmoderne Küche, mit allen benötigten Elektrogeräten, ein Luxus, den sich bei weitem nicht jeder leisten konnte.

Das Weiß der Schränke harmonierte mit einem Holzstreifen, der sich durch Hänge- und Unterschränke zog. Ein schwarzer, langer Tisch stand in der Mitte des Raumes. Alles war sauber, wie von Tatinne erwartet. Und diesmal gab es keine im Raum verteilten Bilder, die er sich anschauen konnte.

Raffael legte den Kopf schief. Eigentlich hätte sie ihn erwarten müssen, schließlich hatte sie die Gabe der Vorhersehung. Er seufzte und blickte in das Wohnzimmer. Ein weiterer, geschmackvoll eingerichteter Raum ohne jegliche persönlichen Gegenstände, welche Einblick in ihr Leben geben könnten.

Trotz der Tatsache, dass sein Haus zwei Stockwerke mehr hatte und mindestens dreimal so groß war wie ihres, beneidete er Tatinne um ihr Zuhause. Es gehörte ihr. Seines gehört Nexim. Das würde es immer tun. Raffael mochte es dort nicht sonderlich, aber es weiterhin als Mittelpunkt der zweiten Provinz zu behalten hatte viele Vorteile gehabt, also hatte er sich dem gefügt.

Er seufzte erneut und ging zurück in die Küche, wo er sich auf einen Tisch setzte. Anscheinend war sie nicht da. Entweder sie hatte ihn nicht erwartet oder sie wollte ihn schmoren lassen. Die zweite Möglichkeit war am wahrscheinlichsten. Er hatte sich beim letzten Treffen wahrscheinlich zu neugierig gezeigt.

Raffael sah sich in der Küche um. Vielleicht sollte er sich einen Kräutertee machen, solange sie weg war. Aber er wusste nicht, wo er die Sachen dazu finden sollte. Dieser Raum hatte verdammt viele Schränke und Schubladen. Hunger hatte er keinen, weswegen er den fünf mal drei Meter großen Kühlschrank gar nicht erst beachtete. Wozu brauchte eine einzelne Frau überhaupt so einen? Er seufzte und blickte zu der Tür, die ins dritte Stockwerk führte. Grinsend überlegte er sich, ob er etwas schnüffeln sollte und somit nochmal eine Grenze übertreten sollte. Es war zwar unhöflich, aber die alte Frau hätte es besser wissen sollen, als ihn allein in ihrer kleinen Villa zu lassen.

Er war gerade dabei aufzustehen, als er feststellte, dass ihn etwas aus dem Fenstersims beobachtete. Er drehte den Kopf und blickte in schwarze Augen mit kreuzförmigen weißen Pupillen.

9. Der erste Tag in Calisteo: Die Vorhut

Der blaue Kater rührte sich nicht, als er zurückblickte. Mitten in der Bewegung hatte er innegehalten, eine Pfote erhoben. Raffael erkannte ihn sofort als den …. wie hatte sie ihn noch mal genannt? Djinn? Der Djinn von gestern? Irritation stieg in ihm auf, als er das nicht konkret benennen konnte.

Er bedachte das Wesen vor ihm. Wahrscheinlich war dieser gerade durch das Fenster in den Raum gekommen und hatte ihn nicht erwartete. Er zumindest hatte ihn auf keinen Fall erwartete, nicht jetzt. Es war viel zu früh.

Sie blickten sich einige Sekunden lang an, bis Raffael eine Braue hob und sich entschloss, das Wort zu erheben, „So schnell seit ihr also hergekommen? Oder bist du nur die Vorhut?“

Hatte der Kater ihm aufgelauert? Schlagartig wurde Raffael bewusst, dass er nahezu nichts über dieses Wesen wusste. Was zum Teufel soll ein Djinn sein? Und wieso sah es so sonderbar aus? War er in Tatinnes Haus überhaupt sicher, wie sonst? Oder würden sich die Fremden nicht an die Abkommen innerhalb Calisteos halten?

Der blaue Schwanz des Katers zuckte. Doch dann setzte er sich hin und fing an sich die Pfote zu lecken, „Genau genommen hat es uns nur wenige Stunden gekostet. Etienne ist gerast wie eine Verrückte.“

„Gerast?“

Die Kater schien mit den Schultern zu zucken und die Bewegung irritierte Raffael, „Sie hat ein Motorrad. Meiner Meinung nach ist sie keine gute Fahrerin.“

Ein Motorrad? Er fand, dass es nicht zu ihr passte. Aber irgendwie musste sie auch an den Wald zum Schloss gekommen sein. Es gab keine Zugleitungen nach dorthin und es würde definitiv kein Bauer oder sonstiger Mensch mit Bezug zu Pferden jemanden dorthin bringen. Zu viele düstere Geschichten kursierten um den Ort und die Menschen fürchteten sich davor. Außerdem war es nicht so, dass es andere Fortbewegungsmöglichkeiten außerhalb der Stadt gab.

Dennoch, die Nachricht, dass sie jetzt schon da waren, traf ihn unvorbereitet. Er hatte erwartete, dass es ein, zwei Tage dauern würde. Vor dem Château hatten er und seine Begleiter keine Maschinen ausmachen können. Er hatte daraufhin vermutet, dass sie zu Fuß unterwegs war.

Er lächelte, „Wo ist sie denn?“

Der Schwanz des Katers zuckte, „Wahrscheinlich schläft sie noch. Sie ist ein Langschläfer.“

Ist das so“, meinte Raffael, „Wo genau schläft sie denn? Vielleicht sollte ich ihr ein Besuch abstatten.“

Es gab nicht sehr viele Hotels oder Motels in Calisteo. Die Stadt wurde selten besucht. Eigentlich hatte er vermutet, dass sie nicht sonderlich wohlhabend war. Die Kleidung schien es einfach nicht herzugeben. Aber ein Motorrad war nicht gerade leicht zu bekommen. Hatte sie es geklaut?

Hinzu kam, dass er Elias und Gilgian zuvorkommen musste. Eigentlich wollte er die Zeit nutzen, um mit Eldan das Thema zu besprechen und sich einen Plan zurechtzulegen, wie sie mit Etienne umgehen sollten. Gilgian war dabei weniger das Problem. Elias hingegen schon. Er hat sicherlich schon alles seiner Familie erzählt. Und wie Raffael sie kannte, war Etienne schon längst eine Zielscheibe. Sie würden sich wie Hyänen auf sie stürzen, sobald sie die Chance bekommen sollten.

Der Kater sprang von dem Sims auf die Küchenzeile und plötzlich fragte sich Raffael, was dieser bei Tatinne der Spinne verloren hatte.

Sie ist nicht sonderlich weit weg. Aber sie wird gerne zum Monster, wenn man sie weckt. Zu deiner eigenen Sicherheit solltest du warten, bis sie aufwacht.“

Raffael lachte, als er sie sich wütend vorstellte. Sie war nicht sehr groß, kleiner als Scarlett. Kurz spielte er in seinem Kopf die Situation durch. Würde sie ihn anschreien? Er wusste schon wie es war, von wütenden Frauen angeschrien zu werden, das würde er aushalten. Aber er wollte sich ihr nicht direkt schon aufdrängen. Sie würde sich überrumpelt, wahrscheinlich sogar schon bedroht fühlen. Das war nicht sein Ziel.

Was machst du eigentlich hier?“, fragte er den Djinn.

Der Schwanz des Katers zuckte und als er den Kopf zu ihm drehte, hatte Raffael das Gefühl er würde ihn angrinsen, „Wer weiß?“

Mit einem unangenehmen Gefühl im Magen runzelte er die Stirn. Plötzlich erinnerte er sich wieder daran, dass es sich hier um einen Djinn handelte, der ihm absolut keine Rechenschaft schuldig war. Selbst die Bewohner der anderen Provinzen wagten es nicht ihm eine Antwort zu verweigern und wenn, dann waren es die, die besonderen Kontakt zu Gilgian und Elias hatten. Aber was konnte er dem Djinn anhaben? Dunkel erinnerte er sich an den Namen, wusste aber nicht woher. Er müsste heute herausfinden, was es damit auf sich hat.

Sein Herz fing schneller zu schlagen an, als ihm dämmerte, dass an dieser Situation irgendetwas gar nicht stimmte. Und sein Instinkt sagte ihm, dass es mit diesem Kater zusammenhing. Er sollte ihn etwas fragen. Ihm kam aber nicht in den Sinn, was.

Plötzlich ging eine Tür auf und Raffael blickte beinahe erleichtert in der Erwartung Tatinne zu entdecken zur Seite. Doch es war nicht Tatinne, die da verschlafen in einem Pyjama an der verbotenen Tür stand. Es war Etienne und das brachte ihn tatsächlich dazu, überrascht zu blinzeln. Er vergaß den Djinn.

Sie schloss die Tür, die eigentlich für ihn zu betreten verboten war und Raffael wurde umso vorsichtiger und aufmerksamer. Welchen Kontakt hatte sie zu Tatinne? Ihre schwarzen Haare standen in alle Richtungen ab. Ihre stechenden grünen Augen waren verschlafen, als sie ihn erblickten. Sie war barfuß. Bei diesem Anblick musste er lächeln. Es war sehr ähnlich dem Bild, welches er sich vorhin erst vorgestellt hatte. Und diesmal vermerkte er in seinem Kopf, dass die Augen grün waren.

Dennoch war das bei weitem keine gute Situation für ihn. Er hatte sich noch nicht entschieden, wie er vorgehen sollte.

Ihre Augen betrachten ihn von oben bis unten. Raffael grinste ihr entgegen. Dann seufzte sie genervt und setzte sich in Bewegung. Ohne weiter auf ihn zu achten, öffnete sie ein paar Schubladen, machte den schwarzen Wasserkocher an und hatte nach wenigen Sekunden eine dampfende Tasse Tee vor sich. Der Geruch nach Kräutern erfüllte das Zimmer. Raffael liebte diesen Geruch. Es waren Bergkräuter und Blumenblüten, welche hinter seiner Provinz wuchsen. Damals hatten er und Scarlett häufig den Tee von seiner Mutter bekommen. Der Gedanke an sie ließ wieder ein schmerzendes Pochen in seiner Brust entstehen. Darüber durfte er jetzt nicht denken.

Er nutzte den zunächst ruhigen Moment und ließ seinen Gedanken freien Lauf. Nach wenigen Momenten hatte er sich einen groben Plan zurechtgelegt. Als Erstes würde er herausfinden, welchen Kontakt sie zu Tatinne pflegte. Dann ging es darum zu klären, wie genau sie mit der Vorhersehung zusammenhing. Und anschließend würde er sich überlegen, wie er am besten dafür sorgen konnte, dass die Stadt nicht in Chaos endete, sollte sie wirklich die Macht an sich reißen. Vor allem die letzte Frage machte ihm zu schaffen. Niemals würde sie von allen Bewohnern Calisteos einfach so akzeptiert werden.

Sie setzte sich ihm gegenüber und rieb sich mit dem Handrücken den Schlaf aus den Augen, „Was machst du hier?“

“Ich habe auf dich gewartet“, erwiderte er, immer noch leicht überrumpelt. Er wollte ihr nicht zeigen, dass sie ihn Überrascht hatte.

“Hat er das?“, fragte sie und ihr Blick wanderte zu dem Kater. Raffael vermied es, das Gesicht zu verziehen.

“Nein“, sagte der Kater.

Ein triumphierender Blick wanderte zu ihm zurück und er spannte sich genervt an. Nur ein kleiner Fehler seinerseits.

“Gibt mir den Stein wieder“, sagte sie zu ihm.

10. Der erste Tag in Calisteo: Die Verhandlung

Etienne musste mit aller Macht ein Gähnen unterdrücken. Sie war noch so müde. Zu müde, um sich richtig mit ihrem neuen Kontrahenten auseinanderzusetzen. Als seine kupferfarbenen Augen sie von oben bis unten musterten, fühlte sie sich auf Anhieb etwas wacher. Es störte sie, wie aufmerksam er sie anschaute. Noch dazu schien er den Blick nicht abzuwenden, wenn er ihr in die Augen blickte. Das war ungewohnt. Es trieb sie dazu, vorsichtig zu werden.

„Ich glaube nicht“, antwortete er sachte ihr auf die Forderung.

Sie nippt an ihrem Tee, „Was willst du mit dem Stein überhaupt anfangen?“

Wer weiß“, erwiderte er.

Etienne schnaubte, „Diese Antwort trägt nicht zur Lösung des Problems bei.“

Welches Problem?“

Sie seufzte enttäuscht über seine mangelnde Kooperationsbereitschaft, „Das Problem, dass ich den Stein haben will und du ihn mir nicht gibst.“

Der Stein ist sehr wertvoll. Ich kann ihn dir nicht einfach so geben.“

Etienne hob den Finger, „Aber ich war diejenige, die ihn erlangt hat.“

Ihr Djinn räusperte sich und Etienne korrigierte sich, „Mein Djinn war derjenige, der ihn erlangt hat und weil ich diejenige bin, die den Vertrag mit ihm geschlossen hat, gehört der Stein mir.“

„Nun, er hat ihn wieder verloren und mein Freund hat ihn wieder gefunden und mir gegeben. Somit gehört er mir.“

Etienne seufzte erneut, „Wo ist der Edelmut und der Zusammenhalt der Menschen geblieben? Du würdest mir ungeheuerlich aushelfen, wenn du ihn mir übergeben würdest. Meinetwegen werde ich ihn dir auch irgendwann wieder zurückgeben.“

Er lehnte sich lächelnd zurück, „Also haben wir gerade festgestellt, dass der Stein mir gehört? Ich will es nur festhalten.“

Etienne unterdrückte das Bedürfnis sich betrübt auf die Unterlippe zu beißen. Es widerstrebte ihr das zu sagen, aber sie tat es, um das Gespräch voranzutreiben, „Ja. Meinetwegen.“

Er lächelte, „Gut, dann lass uns doch den Preis aushandeln.“

„Preis?“, wiederholte sie und fragte sich erneut, ob sie ihn nicht einfach bewusstlos schlagen sollte. Aber ihr Bruder wäre sehr enttäuscht von ihr. Mal abgesehen davon, hatte sie schon geahnt, dass es so enden würde. So waren nun mal die Zustände in den heutigen Zeiten. Nichts gab es umsonst.

Etienne stand auf und warf den Teebeutel weg. Dann öffnete sie die Balkontür aus Glas und ließ frische Luft herein. Auf den Balkon schien die Sonne, die Luft war angenehm kühl. Sie ging auf die gegenüberliegende Seite, wo die Spüle war und spülte die Tasse ab.

„Was genau stellst du dir unter Preis vor?“

„Was wärst du bereit zu geben?“

Lächelnd und gefasst drehte sie sich wieder zu ihm um, „Wenn es keinen Ausweg gibt, bin ich bereit über meine Grenzen hinauszugehen.“

Was sie nur wirklich sehr ungern tun würde. Sehr ungern.

„Ah ehrlich?“, fragte er leicht lachend, scheinbar ungläubig und sie verstand nicht, wieso. Ein ungutes Gefühl schlich ihren Rücken hinab, als er sie betrachtete und sie merkte, wie er nachdachte. Dann sagte er langsam, „Wie soll ich mir das vorstellen? Würdest du mir etwas besorgen, was ich mir wünsche?“

Etienne zuckte mit den Schultern, „Das hängt davon ab, was es sein soll.“

„Und wenn ich dich darum bitte, mir Informationen zu beschaffen?“

„Auch das hängt davon ab, um welche es sich handelt“, sagte sie ausweichend, „Dir ist bewusst, dass es Grenzen gibt, an was ich herankommen kann?“

Er zuckte mit den Schulter, „Nun, du wirst arbeiten müssen, wenn du den Stein haben willst.“

„Deswegen wäre es auch so schön, wenn du mir endlich ein vernünftiges Angebot nennen würdest“, sagte sie weiterhin lächelnd.

„Was ist, wenn ich dich darum bitte, jemanden zu töten?“

Etienne seufzte, „Offensichtlich trifft das auf dasselbe Dilemma, wie bei den anderen zwei Vorschlägen. Sicherlich gibt es etwas, was nur ich machen kann, womit du auch zufrieden wärst.“

„Was hast du zu bieten?“, fragte er sie.

Etienne schwieg kurz und entschloss sich, ihm von ihrem neuen Job zu erzählen, „Ich bin eine sehr gute Exorzistin.“

Er gab ein nachdenkliches Geräusch von sich. Etienne fühlt sich mehr und mehr unwohl. Es schien nicht so zu sein, als würde er mit ihr über den Stein verhandeln. Es erschloss sich ihr jedoch nicht, was genau er von ihr wollte. Er war am Tag vorher einfach so aufgetaucht und hatte Einblicken lassen, dass das Ziel seines Besuches im Château de la Fortune sie oder ihr Djinn war. Da er jedoch bisher noch nichts zum Djinn gesagt hatte, was sie andernfalls verwundert hätte, ging sie davon aus, dass es um sie ging. Aber sie hatte ihn noch nie zuvor gesehen. Sie hatte nichts mit ihm zu tun, kannte nur seinen Vornamen, welchen sie erst am Vortag zum ersten Mal gehört hatte. Sie kannte auch niemanden, der ihm ähnlich sah. Dass er bei ihrer Tante ein- und ausging, deutete darauf hin, dass er ein Kunde war und Etienne hatte vorgehabt, ihre Tante zu befragen, bevor sie sich mithilfe ihres Djinns wieder zu seinem Anwesen machen wollte. Aber stattdessen hatte sie früh am Morgen seine Stimme unten vernommen und gemerkt, dass er sich mit ihrem Djinn unterhielt, welcher noch so jung und leicht zu beeinflussen war. Sie war noch nie schneller freiwillig aus dem Bett gesprungen.

„Was wäre, wenn ich dich fragen würde, mit mir auszugehen?“, fragte er.

Sie blinzelte verwirrt, „Für den Stein? Nur ein mal? Das wäre kein Problem.“

„Wirklich?“, fragte er lächelnd, „Und was ist, wenn ich nach einem Kuss frage?“

Etienne unterdrückte es, ihr Gesicht zu verziehen und behielt ihr Lächeln aufrecht, „So lange es nur einer ist.“

Er lachte, „Das wäre mir doch etwas zu wenig, für solch ein wertvolles Artefakt.“

„Du weißt doch noch nicht einmal, wofür das ist“, erwiderte sie.

„Oh doch. Es ist eine Austreibungsreliquie, nicht wahr?“

„War das eine Frage oder eine Feststellung?“, fragte sie zurück. Sie erinnerte sich, dass der Wächter es am Vortag erwähnt hatte. Es war nicht unwahrscheinlich, dass er es einfach nur aufgeschnappt hatte.

„Wie auch immer“, sagte er, „Meine Freunde wurden verletzt beim Versuch es zu erlangen. Das wird deutlich mehr wert sein, als das.“

„Du hast den Vorschlag gemacht. Mal abgesehen davon, wurde ich auch verletzt und habe nichts bekommen“, meinte Etienne und hoffte auf etwas Sympathie. Es war halb so wild, nur ein paar Schürfwunden.

„Was mich daran erinnert dir zu empfehlen, solche Aktionen nicht unbedingt allein zu machen“, sagte er belehrend und es störte sie. Sie war nicht der Mensch, der bei anderen das Bedürfnis weckte, beschützt zu werden. Sie brauchte aber auch keine Belehrungen.

„Oh, danke für den Ratschlag. An den werde ich mich nicht erinnern“, erwiderte sie.

Er lachte, „Das wird ein Problem sein, denn so lange ich den Stein habe, wäre es mir lieber, du würdest das lassen.“

Etienne blinzelte verwirrt, „Was genau soll das eine mit dem anderen zu tun haben? Mal abgesehen davon ist es meine Arbeit.“

Er lehnte sich zurück und schwieg wieder. Etienne merkte, wie er nachdachte. Es schien, als wäre er selbst noch unschlüssig, was er vorhatte zu tun. Und es erschloss sich ihr noch immer nicht, was er von ihr wollte. Sie überlegte sich, ob es nicht vielleicht an der Zeit wäre, dass sie die Führung des Gespräches an sich reißen sollte. Doch dafür wusste sie noch nicht genug über ihn und sie musste sich noch genauer entscheiden, wo sie anfangen sollte. Lieber wäre es ihr jedoch, vorher Tatinne zu fragen. Dann würde er nicht direkt wissen, was sie über ihn wusste und sie könnte ihre Informationen gezielter einsetzen. Und Tatinne könnte ihr ein paar Ratschläge geben. Etienne war nicht der Verhandlungstyp.

„Was ist“, meinte er dann langsam, „Wenn ich nach etwas mehr verlange, als nur einen Kuss.“

Sie beobachtete, wie sein Gesichtsausdruck sich änderte. Er schien sich für etwas entschieden zu haben. Sie spürte, wie sich ihre Muskeln anspannten, „Was? Zwei?“

Er lachte und verschränkte die Arme. Sah sie weiterhin wachsam an und Etienne hatte das Gefühl, dass ihm keine Veränderung an ihr entging. Es war selten, dass sie sich vor anderen Menschen so fühlte und sie spürte, wie alte Gewohnheiten in ihr emporstiegen. Es war auch lange her, seit sie das letzte Mal sich so gründlich beobachtet gefühlt hatte.

„Nein. Aber du könntest für eine Weile bei mir einziehen“, meinte er, „Wir könnten etwas Zeit gemeinsam verbringen. Es auf eine intimere Ebene bringen. Was würdest du dazu sagen?“

Etienne starrt ihn an, das Lächeln weiterhin auf ihrem Gesicht, mehr Gewohnheit, als Absicht. Sie war schon mal in der Position. Auch damals hatte sie etwas gebraucht und die Einladung war sehr eindeutig gewesen, unmissverständlich. Deswegen irritierte sie dieser Vorschlag von ihm, denn er blickte sie nicht so an, wie der Mann damals. Aber er ist ein Mensch und sie sollte sich darauf einstellen, mit noch Schlimmeren zu rechnen.

Sie entschloss sich zu einer Antwort, „Ich höre immer noch nicht raus, was genau ich machen muss, um den Stein zu bekommen.“

Sein Grinsen wurde breiter, „Die genauen Bedingungen könnten wir in einem Vertrag festhalten. Das war bisher nur grob als Vorschlag gemeint.“

Etienne spürte, wie ihr Auge zuckten wollte und zwang sich, ihr Gesicht zu entspannen. Vielleicht könnte sie ja ein Messer mitnehmen und es ihm in sein grinsendes Gesicht stechen.

„Gut“, sagte sie lächelnd. Auf keinen Fall brauchte sie solch eine Beziehung, weder seriös noch gespielt. Aber bis es so weit war, würde ihr sicherlich was einfallen. Sie müsste zuerst nur herausfinden, wo er den Stein versteckt hatte und dazu hatte sie ihren Djinn.

Raffael brach in Gelächter aus, „Ah wirklich? Würdest du das wirklich machen?“

Etienne blinzelte verwirrt, „Habe ich das nicht gerade gesagt?“

Er lehnte sich wieder nach vorne zu ihr, „Ich glaube dir das nicht. Ich sehe es in deinem Gesicht.“

Sie sah ihn ausdruckslos an und fragte sich, ob es sich lohnen würde, die Scharade aufrechtzuerhalten. Sie entschied sich dagegen und presste zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, „Gut. Ich würde das wahrscheinlich nicht machen.“

Nun sah sie Genugtuung in seinem Gesicht und sie verstand immer noch nicht, was er wollte, „Was genau war der Sinn von diesem Vorschlag?“

Er gab erneut ein nachdenkliches Geräusch von sich und sie war sich sicher, dass er über diese Frage nicht nachdenken musste.

„Ich wolle nur einschätzen, wo deine Grenzen liegen“, sagte er schließlich.

„Nun, nachdem du das herausgefunden hast, wie wäre es mit einem richtigen Vorschlag“, sagte sie. Es fiel ihr schwer weiterhin so zu tun, als wäre sie nicht wütend. Das Gespräch war bisher die reinste Zeitverschwendung und wenn es weiterhin zu nichts führen sollte, müsste sie sich einen Plan B überlegen.

„Ich will genau das, was ich genannt habe“, sagte er dann. Sie blinzelte ihn verwirrt an. Und er lächelte ihrer Verwirrtheit entgegen. Die Wut nahm die Überhand und Etienne sah ihn düster an, „Verstehe ich das richtig, dass du gar nicht erst vor hast mir den Stein zu übergeben?“

Sie sah es in seinem Gesichtsausdruck, in seinem überlegenen Lächeln. Sie war die ganze Sache vollkommen falsch angegangen. Zunächst hätte sie sich Informationen von ihrer Tante besorgen sollen, dann erst mit ihm sprechen. So stand sie nun da, mit einem Vorschlag, von dem sie zugegeben hatte, dass sie ihn nicht annehmen würde und er wusste und nutzte es.

„Ich stehe zu meinem Wort. Wir können gerne jederzeit einen Vertrag auflegen.“

Sie trat an den Tisch und schlug die Handflächen darauf, „Vielleicht sollte ich dich einfach zusammenschlagen, dass du ohne Hilfe nicht mal mehr aufstehen kannst. Ich bin mir sicher, so bekommen wir die gemeinsam verbrachte Zeit auch rum“, sagte sie wütend.

Sein Grinsen wurde breiter und er zuckte mit den Schultern, „Du kannst es gerne probieren. Nach deiner gestrigen Darbietung wage ich es aber zu bezweifeln, dass du das schaffst.“

11. Der erste Tag in Calisteo: Ein neuer Plan

„Was geht hier vor sich?“, hörte sie Tatinne fragen, welche in das Zimmer kam. Beide zuckten zusammen. Sie hatten sie nicht hören kommen. Das verwunderte Etienne nicht, Tatinne war sehr leise, wenn sie es wollte.

„Diese junge Dame bedroht mich auf deinem neutralen Gebiet“, sagte Raffael beschwerend und Etienne sah ihn aus zusammengekniffenen Augen an. Er zwinkerte ihr daraufhin zu.
Tatinne antwortete, „So, wie ich meine Nichte kenne, wird sie einen sehr guten Grund gehabt haben. Und so wie ich dich kenne, bist du wahrscheinlich selbst schuld.“

Etienne spürte, wie der Djinn auf ihre Schulter kletterte. Seine Krallen bohrten sich in ihre Haut. Er schmiegte sich vorsichtig an ihre Wange und sie streichelte beruhigend seinen Kopf. Er müsste ihre Wut gespürt und die Situation als bedrohlich aufgefasst haben. Etienne erinnerte sich nicht, ob sie in seiner Anwesenheit schon mal wütend gewesen war. Sie waren noch nicht lange zusammen. Erst ein paar Monate.

„Dennoch sollte ich hier nicht bedroht werden?“, sagte Raffael belustigt.
Tatinne seufzte, „Du kannst ihm hier nicht drohen, Etienne. Und du lässt meine Nichte in Ruhe oder ich verbiete dir in mein Haus zu kommen.“

"Deine Nichte also“, meinte Raffael mit einem leichten Schnauben.

Sie ging in die Küche und beachtete die beiden nicht. Der Djinn flog neugierig zu ihr und betrachtete die Tüten, welche sie mitgebracht hatte. Sie machte sich daran, die Einkäufe auszupacken und schob den Kater immer wieder mit der Hand weg. Etienne vermerkte sich im Hinterkopf, dass sie den Djinn nicht allzu oft allein lassen sollte. Er war zu neugierig. Es war aber wahrscheinlich auch das erste Mal, dass er an einem zivilisierten und modernen Ort war. Etienne hatte auf ihrer Reise die Städte gemieden und sie bezweifelte es, dass er vor seinem Treffen mit ihr, je den Wald verlassen hat, in dem er von seinen Eltern versteckt wurde.

„Willst du uns nicht etwas mehr vorstellen?“, fragte Raffael. Etienne wollte erwidern, dass das nicht nötig wäre, aber Tatinne fing, ohne sich umzudrehen, mit einer gelangweilten Stimme zu sprechen an, „Das ist Etienne. Etienne, das ist Raffael.“
Raffael verdrehte hinter ihrem Rücken die Augen, „So weit waren wir gestern schon.“

„Wenn du mehr wissen willst, finde es selbst heraus. Meine privaten Angelegenheiten gehen dich nichts an. Und Etienne ist meine private Angelegenheit“, sagte Tatinne.

„Das wage ich anzuzweifeln“, erwiderte Raffael, „erst recht, nachdem es deine Nichte ist, welche Teil der Vorhersehung ist.“

Tatinne öffnete den Kühlschrank und fing an, die Sachen darin zu verstauen, „Du weißt, wie es läuft. Setze eine begründete Beschwerde an und ich überlege es mir.“

Etienne lächelte zu ihm herüber, „Wie schade.“

Seine Augen wanderten wieder zu ihr, nun nicht mehr lächelnd. Doch es kehrte schnell wieder zurück und sie wusste, dass es daran lag, dass sie, nicht wie Tatinne, bei ihrem Gespräch mit ihm komplett versagt hatte. Immerhin steckte er es ihr nicht, denn sonst würde sie ihn aus dem Fenster werfen. Zu wissen, dass er ihr in einem echten Kampf komplett unterlegen wäre, ließ ihr etwas Ruhe und sie erwiderte sein Grinsen herausfordernd.

„Gib mir den Stein“, verlangte sie noch einmal.

„Nein“, erwiderte er.

„Dann kannst du ja wieder gehen“, Etienne hatte kein Interesse das Gespräch weiter aufrechtzuerhalten, nicht so lange sie vorher nicht mit Tatinne gesprochen hatte.

Er blickte wieder zu Tatinne, die mit dem Rücken zu ihnen stand und sagte dann, „Ich bin hier, weil ich mit der Spinne sprechen will. So viel steht mir zu.“

Tatinne lachte, „Oh, ich hab schon eine gute Vorstellung, worüber du reden willst. Nur zu schade, dass ich heute keine Zeit habe. Komm morgen wieder“, sagte sie.

Er verzog das Gesicht und Etienne verspürte Genugtuung. Tatinne ließ sich von niemandem herumschubsen.

„Wie lange hast du vor zu bleiben, Etienne?“, fragte Tatinne sie.

Nicht lange, dachte sie.

„Ich habe die Hoffnung, bald wieder gehen zu können.“

Als Raffael zu lachen anfing, funkelte sie ihn wütend an und er hob beschwichtigen die Hände, „Du kannst natürlich auf den Stein verzichten. Oder wir setzen den Vertrag auf.“

Sie kniff die Augen zusammen. Er hatte wirklich nicht vor, ihr den Stein zu übergeben. Blieb herauszufinden, was er dann wollte. Für den Moment schien es Zeit zu sein, anders konnte sie sich dieses Gespräch nicht erklären.

„Du wirst keinen Vertrag mit ihm aufsetzen“, sagte Tatinne und sah nun wachsam zwischen ihnen.

„Das hatte ich nicht vor“, sagte Etienne verteidigend. Jetzt hatte er sogar dafür gesorgt, dass sie inkompetent vor Tatinne dastand.
Etienne hatte sowieso die Vermutung, dass, selbst wenn sie darauf eingehen würde, er versuchen würde, sie an einen nicht limitierten Zeitraum zu binden. Ihr fielen auch weitere Sachen ein, die er machen konnte, um es für sie so sehr zum Nachteil auszulegen, wie nur möglich. Und sie traute sich nicht zu, all die kleinen Fallen zu entdecken. Etienne war einfach nicht für Verhandlungen geschaffen. Was auch immer er von ihr wollte, er hatte zunächst dafür gesorgt, dass sie in der Stadt blieb.

Tatinne blickte weiter zwischen ihnen, „Wie kam es überhaupt zu dem Gespräch über dieses Thema?“

Etienne wollte es ihr nicht sagen. Doch sie seufzte und fügte, „Er hat mir den Stein der Austreibung weggenommen.“
Tatinne sah sie kurz verwirrt an und dann sah Etienne Verständnis in ihrem Gesicht aufleuchten, „Ah.“

Sie blickte wieder zu Raffael, welcher ihren Blick erwiderte, „Hätte ich gewusst, dass du so eine Plage bist, hätte ich es dir anders erzählt.“

Er verschränkte die Arme vor der Brust, „Ich sehe das Problem nicht. Bisher läuft alles, was du vorhergesagt hast, genau so ab.“

Tatinne lächelte und diesmal beobachtete Etienne, wie er sich anspannte, während er versuchte einen unbeschwerten Blick beizubehalten. Nun war es an ihr, ihn genau zu betrachten und sie entdeckte eine nervöse Geste. Er rieb sich mit dem Zeigefinger die Nagelhaut am Daumen.

Dann blickte Tatinne lächelnd zu Etienne, „Ein Aufenthalt auf unbestimmte Zeit also. Wie wäre es, wenn ich dich auf die Schule anmelde, auf welche diese kleine Plage geht.“
Etienne verzog das Gesicht, „Was soll ich denn da?“
„Das ist eine fabelhafte Idee“, sagte Raffael auf einmal strahlend. Etienne blickte wachsam zu Tatinne. Das hörte sich nicht danach an, als könnte sie bald wieder verschwinden. Eher nach dem Gegenteil und das wollte sie vermeiden.

Tatinne lächelte ihn lauernd an, „Das wirst du nicht lange denken.“
Dann blickte sie wieder zu Etienne, „Ich biete dir nur eine Möglichkeit. Ob du sie nutzt, liegt an dir. Mal abgesehen davon, wenn das ein längerer Aufenthalt werden sollte, will ich dich nicht die ganze Zeit in meinem Haus haben.“
Etienne schnaubte lächelnd, „Oh, das tut mir aber leid. Mir war nicht bewusst, dass wenn ich dich mal besuche, ich dir so zur Last falle.“

Ganz flüchtig gefror Tatinnes Lächeln und Etienne bereute ihre Worte. Doch der Moment verflog so schnell, wie er gekommen war und Tatinne zuckte mit den Schultern, „Mein Haus, meine Regeln.“
„Das hört sich aber jetzt nicht mehr so an, als hätte ich eine Wahl", sagte Etienne.

„Wenn du es in meine Klasse schaffst“, sagte Raffael, „könnte ich mich dazu verleiten lassen, die Bedingungen etwas zu ändern.“
Sie sah wieder zu ihm, „Steck dir das sonst wohin.“
Etienne wusste es nun besser. Das würde bei ihm alles Mögliche bedeuten und am Ende hätte sie nichts gewonnen. Auf eine Lockung mit einem leeren Versprechen würde sie nicht eingehen.

„Ich könnte dich den Test heute machen lassen“, sagte Tatinne, „Merlian schuldet mir noch was.“

Etienne seufzte, „Wie soll mir das helfen?“

Tatinne erwiderte lächelnd ihren Blick, „Vertrau mir Etienne Schatz, es ist genau die Klasse und der Ort, an welchem du jetzt sein willst.“

„Hört sich nach einer Vorhersage an“, sagte Raffael.
„Nein", erwiderte Tatinne lächelnd, „das ist keine. Nur ein Ratschlag.“
„Was für ein Test?“, fragte Etienne seufzend, „Muss ich jemanden umbringen?“

Raffael hob mit einem überraschten Lachen die Augenbrauen,

„Wofür hältst du diese Schule?“

Tatinne widmete sich wieder ihrer Küche zu und erklärte ihr, „Ein Test um dein Können in verschiedenen Fächern einzuschätzen. Die Klassen sind geordnet, um alle Schüler auf ihren Ebenen zu fördern. Je besser du abschneidest, in desto mehr fördernde Klassen kommst du.“

„Beeindruckend", meinte Etienne trocken.

Raffael stand auf und Etienne entdeckte verschiedene Waffen unter seiner Jacke, „Ich gehe davon aus, dass ich dich morgen wiedersehen werde“, sagte er an sie gewandt und Etienne lächelte genervt. Es schien ihn nicht zu kümmern.
Stattdessen wandte er sich der Tür zu und sagte weiter, „Das Gespräch würde ich noch einmal aufgreifen, Tatinne. Ich werde dir demnächst schreiben.“

„Lass dir Zeit“, sagte Tatinne trocken.

Sein Blick fiel auf den Djinn, welcher in eine Papiertüte gekrabbelt war und sie alle von dort aus beobachtete. Etienne spannte sich an, als Raffael ihn wachsam betrachtete. Doch sein Blick wanderte dann weiter zu ihr, „Bis morgen. Es war mir eine Freude.“

Sie sagte nichts dazu und beobachtete ihn dabei, wie er den Raum verließ.

Als sie unten die Tür zufallen hörten, wandte sich Tatinne seufzend an Etienne, „Wie genau verlief das Gespräch?“

Etienne erzählte ihr alle Einzelheiten.

„Deswegen werfe ich ihn immer raus“, sagte Tatinne, noch einmal schwer seufzend, „Damit ich mir genau diesen Schwachsinn nicht von ihm antun muss. Er ist sehr aufmerksam. Und schaut ganz genau hin. Eine Plage durch und durch.“
„Das war mir gar nicht aufgefallen“, meinte Etienne trocken. Sie mochte es nicht, welches Licht die Situation auf sie warf. Etienne gab sich vor ihren Familienmitgliedern ungern die Blöße.
„Mach dir nichts draus“, sagte Tatinne, „Du wirst viele Möglichkeiten bekommen, das wieder hinzubiegen. Mal abgesehen davon denke ich aber, dass du wirklich viel Spaß an der Schule haben könntest. So etwas hast du noch nicht erlebt. Ziehe dich an, wir werden ein paar Besorgungen für dich erledigen. Und auf dem Weg erzähle ich dir alles, was du wissen musst.“

12. Der erste Tag in Calisteo: Die bunten Steine

Die Stadt war genauso prachtvoll, wie vor zwei Jahren, als Etienne sie zuletzt besucht hatte. Damals hatte sie natürlich von den Herrschern der Provinzen gewusst, sich aber nicht für sie interessiert. Und wenn sie sich recht erinnerte, waren das eh andere gewesen.

Es war damals nur ein kleiner Aufenthalt von drei Tagen, in denen sie Tatinne wegen persönlichen Erledigungen besucht hatte. Nachdem diese erledigt waren, war sie auch wieder verschwunden. Die Stadt hatte sie nicht wirklich interessiert.

Doch heute starrte Etienne die skurrilen bunten Steine der Hauptstraße unter ihren Füßen an. Sie hatten alle eine andere Farbe und Etienne fragte sich, welchen Zweck das hatte. Sie konnte keine kleinen Zauber entdecken, welche sich in der Kreide versteckten. Sie konnte auch keinen Zauber im Gesamtbild sehen.

„Etienne, geh mir nicht verloren!“, rief ihre Tante. Etienne sah sich in der Menge um und entdeckte sie etwas weiter entfernt. Ihre Tante hatte sich in einem blauen Mantel gehüllt und verbarg ihr Aussehen. Sie hasste es, wenn die Öffentlichkeit sie sehen konnte. Etienne hatte vor mehreren Jahren Vermutungen angestellt, wieso dies so war, doch es irgendwann aufgegeben, das herausfinden zu versuchen. Es war nicht wichtig. Geschickt lief sie durch die Menge und war schon bald an Tatinnes Seite.

Es roch nach Wasser. An der Straße entlang verlief ein Kanal, in welchem ein Boot entlang floss und mehrere Fässer mit einem ihr unbekanntem Inhalt transportierte. Der Kanal war sauber und gepflegt, viele bunte Blumen kürten die Wege und die schon geschnitzten Holzzäune. Sie hoben sich von dem intensiven aquamarinblauen Wasser ab, dessen sanften Wellen unter der Sonne glitzerten.

Es gab viele Menschen, welche ihren Angelegenheiten nachgingen. Zum Glück schien sich keiner für sie zu interessieren. Es war so lange her, seit sie unter Menschen gewesen war. Es gab viele Menschen, welche ihren Angelegenheiten nachgingen. Zum Glück schien sich keiner für sie zu interessieren. Es war so lange her, seit sie unter Menschen gewesen war. Die Menge machte sie nervöser, als der Schatten, welcher nun deutlich weiter weg war, als am Vortag.

Zum Geruch des frischen Wassers mischte sich der vom frischen Gebäck. Die Menschen mussten eine gute Ernte gehabt haben, wenn sie so viel noch machen konnten. Das verwunderte Etienne aber nicht. Wenn sie sich recht erinnerte, wurde Calisteo auf sehr fruchtbaren Boden errichtet. Außerhalb der ersten Mauer, hauptsächlich in der zweiten Provinz, hatten die Menschen viel Acker angelegt. Die dritte Provinz hingegen hatte viele verschiedene Tiere, um die sich die Menschen kümmerten. Die Stadt konnte sich hauptsächlich selbst versorgen. Wenn es um Verpflegung ging, dann sollte es den Menschen an kaum etwas mangeln. Außer, aus Meinungsverschiedenheiten wurden Kämpfe, weil die Mächtigen anfingen, wichtige Ressourcen den anderen Provinzen vorzuenthalten.

„Also wirklich, Kind, ich hab kein Bedürfnis dich suchen zu müssen“, schimpfte Tatinne mit ihr.

Etienne lachte, „Ich werde den Weg nach Hause zu Not schon alleine finden.“

Der Djinn lag über ihren Schultern, rührte sich leicht im Schlaf.

Daran zweifle ich nicht, aber ich kann dir keine Kleidung besorgen, solange ich deine Größe nicht kenne.“

Etienne seufzte, „Muss ich sie unbedingt anprobieren?“

Sie hatte ihrer Tante die Größe nicht nennen können, weil sie diese selbst nicht wusste. Und die Zahlen, die Tatinne ihr genannt hatte, sagten ihr nichts.

Ja.“

Etienne verdrehte die Augen. Ihr Kleiderschrank war nie sonderlich voll gewesen. Meistens musste sie sich keine Gedanken darum machen. Sie zog das an, was da war. Außerdem mochte sie es nicht, beim Schneider zu stehen. Es war ihr unangenehm, wie sie an ihr herumfummelten, während sie möglichst still dastand. Sie könnten Etienne jederzeit mit einer Nadel piksen und sie würde nichts dagegen tun können, da es ja nur ein Versehen war.

Hier rein“, sagte Tatinne und Etienne folgte ihr durch eine schwer aussehende Holztür, über welcher ein Metallmuster hing. Es stellte eine Nähmaschine dar.

Es roch nach Stoff und Blumen, dessen Duft sich auf die Blumensträuße zurückverfolgen ließ, welche mehrere Vasen füllten, welche überall im Eingangsbereich verteilt waren. In der Nähe des Eingangs gab es einen hölzernen Schalter, hinter welchem ein älterer Mann mit runder Brille stand. Er hatte ein Maßband um seine Schultern hängen und Etienne erblickte den Griff einer Schere in der oberen Tasche seiner grau karierten Weste.

Der Mann trat zu ihnen vor, verbeugte sich vor Tatinne und küsste ihren Handrücken, „Ehrenwerte.“

Das Lächeln erreichte sein einziges blaues Auge nicht.

„Alberto“, grüßte sie zurück und ging anschließend schnell zur Sache, „Ich will eine passende Uniform für meine Nichte. Für die obere Klasse. Du hast schon hunderte Uniformen für die kleine graue Maus machen müssen. Etienne hat eine ähnliche Größe, das sollte also in einem Tag machbar sein. Nicht?

Der Mann hatte sich wieder aufgerichtet und schaute Etienne von oben bis unten an. Sie trat unangenehm von einem Fuß auf den Anderen. Schon wieder ein zu intensiver Blick, diesmal von einem Fachmann, der nur seine Arbeit machen wollte.

Der Mann hatte sich wieder aufgerichtet und schaute Etienne von oben bis unten an. Sie trat unangenehm von einem Fuß auf den Anderen. Schon wieder ein zu intensiver Blick, diesmal von einem Fachmann, der nur seine Arbeit machen wollte.

„Das stimmt. Vier Stunden, wenn es dieselbe Größe sein sollte. Ich hab genug vorgeschnittenen Stoff, weil diese kleine, graue Maus sowieso alle zwei Wochen auftaucht“, sagte er mit Missbilligung in seiner Stimme, „Ich werde vorher aber die Maße kontrollieren müssen.“

Tatinne holte ihr Portmonee heraus und legte ihm mehrere Scheine auf den Tresen, „Das sollte reichen. Ich komme bald wieder und wir werden es heute Abend abholen. Du wirst uns doch sicher heute in deinen Terminkalender einschieben können? Natürlich wirst du das. Benimm dich, Etienne.“

Er nickte ihr zu und sah dann abschätzend zu Etienne, „Folgen Sie mir.“

13. Der erste Tag in Calisteo: Der Schneider Alberto

 

Etienne blickte kurz zu ihrer Tante, welche ohne sich umzudrehen den Laden verließ. Dann legte sie den Djinn auf einen der Sitztische und folgte dem Mann in den kleinen Raum. Dort gab es ein kleines Podest, bei dessen Anblick sich ihr der Magen zusammenzog. Sie atmete kurz durch und stellte sich ihrem Schicksal. Er deutete ihr, darauf zu steigen und Etienne befolgte mürrisch seinen Anweisungen. Sie versuchte wirklich stillzuhalten, während er seine Arbeit verrichtete. Als es vorbei war, unterdrückte sie ein erleichtertes Seufzen.

„Das wird nicht lange dauern“, informierte er sie, „Sie können gerne im Vorzimmer warten. Kann ich Ihnen was zu trinken anbieten?“

Etienne verneinte. Er drehte sich dann um und ging an einen Tisch im Arbeitsraum. Sie sah ihm dabei zu, wie er gezielt verschiedene Schränke öffnete und Stoff herauszog, welches ordentlich an Bügeln hing. Er legte einige auseinander und legte sie auf seinen Tisch. Es raschelte, als er etwas anderes hervorholte. Etienne vermutete, dass es sich um Papier handelte, konnte es aber nicht klar benennen. Dann ließ er die Sachen liegen und ging zu einem anderen Schrank, holte erneut irgendwelche Sachen hervor.

Etienne stand kurz an der Türschwelle, entschied sich anschließend dagegen, sich zu setzen und zu warten. Das würde sie nur langweilen.

Ich bin Etienne“, sagte sie anschließend zu ihm, im Versuch ein Gespräch anzufangen.

Nett sie kennenzulernen, Etienne“, sagte er trocken. Er zeigte keinerlei Interesse.

Gelangweilt sah sich Etienne im Raum um. Es gab sehr viel Stoff in verschiedenen Farben. Und dann noch Geräte, von denen sie keine Ahnung hatte oder schlicht und einfach vergessen hatte, was sie taten. Sie lief langsam durch das Zimmer, schaute sich ein paar Bilder an der Wand an, versuchte aus den Skizzen etwas herauszulesen. Sie fand einen weiteren Arbeitsplatz, welcher jedoch nicht besetzt, aber unordentlich war. Wahrscheinlich ein Mitarbeiter, welcher gerade außer Haus war.

Dann trat sie zu Alberto. Sie schaute über seine Schulter und musste unzufrieden staunen. Seine Hände bewegten sich schnell, schienen zu messen und anschließend zu schneiden. Seine Bewegungen zeigten kein Zögern, die Hände schienen über den Stoff zu fliegen. Sie sahen surreal aus, gaben ihr das Gefühl, als würde er den Stoff kaum berühren, obwohl er es sehr wohl tat.

„Sie machen das sehr oft?“, fragte sie, in einem weiteren Versuch, ein Gespräch zu starten.

Er zuckte zusammen, die Schere schnitt laut durch den Stoff und blieb dann liegen, eher er den Blick zu ihr emporhob, „Mon Dieu! Erschrecken Sie mich nicht!“

Etienne richtete sich lächelnd wieder auf, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, „Tut mir leid.“

Mit gerunzelter Stirn sah er wieder zu dem Stoff, betrachtete unzufrieden den Schnitt, den er gesetzt hatte, „Junge Dame, das war nicht in Ordnung. Ich hätte mich verletzen können. Mir fehlt schon ein Auge, es gibt kein Grund, einen Finger zu verlieren.“

Das kommt nicht wieder vor“, sagte sie ernst und bevor er sich wieder abwenden konnte, fügte sie schnell hinzu,Ich möchte Ihnen bei der Arbeit zuschauen. Darf ich?

Er beäugte sie misstrauisch. Etienne registrierte eine Distanz in seinen Augen, gemischt mit Missmut, Ärger und Misstrauen.

„Ich bin wirklich neugierig“, fügte sie hinzu.

„Holen Sie sich einen Stuhl. Und kein Herumschleichen mehr.“

Ein rauer abweisender Ton, aber kein abweisender Ausdruck in den Augen. Missmut wich langsam der Vorsicht und der Neugierde. Dieser ältere Mann erinnerte sie an einen alten, grauen Hund, gegen welchen zu oft die Hand erhoben wurde. Ein Mensch, der beschützt werden musste.

Etienne gehorchte ihm und sah ihm schweigend bei der Arbeit zu. Nach knapp einer Stunde war er fertig und sie hatte unweigerlich große Augen. Er hatte innerhalb kurzer Zeit eine Uniform geschaffen. Hauptsächlich war sie schwarz, hatte hier und da ein paar weiße Striche, goldene Knöpfe und ein goldenes Emblem über der linken Brust. Die schwarze Farbe gefiel Etienne. Aber es gab keine Hose.

Er hatte keine magischen Reliquien genutzt. Oder handwerkliche Symbole, welche seit einigen Jahrzehnten populäre Werkzeuge in nahezu allen handwerklichen Berufen waren.

„Das haben Sie aber schnell hinbekommen. Ist sie schon fertig?“

Er zuckte mit den Schultern und Etienne bemerkte die Röte an seinen Ohren, „Ich habe vorgefertigten Stoffschnitt, da häufiger Schüler bei mir bestellen. Ich musste so einige Uniformen dieser Art machen. Probiere sie an. Und nein, ich habe noch einiges zu tun. Deswegen auch erst heute Abend wieder abholen.“

Alberto ging zu einem anderen Schrank und holte eine Bluse hervor. Betrachtete sie einige Moment und holte dann eine andere heraus, welche er ihr gab.

Etienne tat es ungern, aber er gab ihr den Freiraum, sich schnell umzuziehen. Die Luft im Raum fühlte sich kalt an ihren Zehen an. Aber der Stoff lag dafür angenehm auf ihrer Haut. Etienne konnte ihre Arme strecken, ohne dass es unangenehme Einschnitte in ihren Achseln gab oder dass es um ihren Rücken spannte.

„Es passt sehr gut“, sagte sie anerkennend. Sie mochte immer noch keine Schneider. Aber er war der Erste, dem sie begegnet ist, der keinerlei magischen Utensilien für seine Arbeit nutzte. Sie bewunderte es, fragte sich aber zeitgleich, inwiefern das produktiv war.

„Lassen Sie mich mal schauen“, sagte er und trat zu ihr. Sie hasste es, als er anfing ihr Befehle zu erteilen und an verschiedenen Stellen am Stoff zupfte und es kontrollierend betrachtete.

„Sie müssen lange gelernt haben, um das so gut zu können“, sagte sie, in einem weiteren Versuch, ein Gespräch zu starten.

Er brummte zustimmend und ein stolzes Lächeln schlich sich auf sein Gesicht. Aber er sagte immer noch nicht viel.

Nach einigen Momenten nickte er zufrieden und sie sah den Stolz in seinen Augen, „Ziehen Sie sie wieder aus. Ich muss noch den Namen dran sticken. Und hier und da noch etwas nähen. Und Bügeln.“

Etienne zog sich wieder um und gab ihm lächelnd die Uniform wieder, „Mein Vorname reicht.“

Er blinzelte einige Male und sah sie stirnrunzelnd an, schien protestieren zu wollen, ließ es aber. Sein Auge starte kurz in die Leere. Dann nickte er langsam und sagte nach einigen Sekunden Stille, „Nun gut.“

Alberto drehte sich zu seinem Arbeitsplatz zurück und holte eine Nadel und Fäden hervor. Er holte ein Stift und Papier hervor und forderte sie auf, ihren Namen zu buchstabieren. Sie tat es und er nickte zufrieden, bevor er sie wieder aus dem Raum führte.

Sie beide verließen den Raum und Etienne sah zu ihrer Tante, welche gerade durch die Tür trat. Tatinnes innere Uhr war immer auf die Sekunde perfekt eingestellt.

Vielen Dank für ihre Arbeit“, sagte sie zu Alberto.

Dieser nickte ihr still zu. Sein Blick war etwas weicher. Anscheinend mochte er es, wenn seine Arbeit Anerkennung erhielt. Und Etienne freute sich, ihm diese geben zu können. Sie mochte immer noch keine Schneider. Aber bei Alberto würde sie eine kleine Ausnahme machen.

Der Djinn kam zu ihr und setzte sich auf ihre Schulter. Erneut suchte er sich eine gemütliche Postion und schien anschließend schnell wieder eingeschlafen zu sein.

Alberto trat hinter den Tresen und fing an, etwas in seine Unterlagen zu schreiben.

„Hat alles funktioniert?“, erkundigte sich Tatinne, „Wann sollen wir wiederkommen?“

„In zwei Stunden“, sagte er.

Tatinne schnalzte mit der Zunge, „Mache daraus sieben. Wir kommen vor Ladenschluss kurz vorbei. Lege es einfach in die Tasche.“

Alberto nickte und Tatinne deutete Etienne, wieder hinauszugehen. Sie bedankte sich noch mal bei dem alten Schneider und folgte ihrer Tante hinaus.

Sie wich zwei Menschen aus, welche darauf warteten, dass sie hinausgingen. Hinter einem jungen Mann war ein junges Mädchen mit bleichen Haaren und blutroten Lippen. Ihre stahlgrauen Augen, versteckt hinter einer Brille und auf den Boden gerichtet, stachen von ihrer hellen Haut hervor. Etienne war überrascht von ihrem ungewöhnlichen Aussehen. Es war sehr markant und zog die Blicke auf sich. Sie erinnerte Etienne beinahe an einen Geist, welcher einem tief in die Seele blicken konnte.

„Um Himmels willen, nicht schon wieder“, meinte Alberto, sobald er sie erblickte. Sie schien zusammen zu zucken.

Etienne folgte schweigsam ihrer Tante, bis sie merkte, wie Catjill sich aufrichtete und zurückblickte.

„Was ist los?“, fragte sie ihn.

„Was würdest du ohne mich nur machen?“, fragte er in einem herablassenden Ton, „Du würdest immer noch verloren durch die Wüste wandern. Wahrscheinlich immer im Kreis, bis die Aasgeier genug von dir haben und sich dich vornehmen.“

„Lass den Schwachsinn und sag mir, was los ist.“

„Sie hat eine Verbindung zum nächsten Stein“, sagte er mürrisch und suchte eine gemütliche Position auf ihrer Schulter.

Etienne sah noch mal ihr. Sie holte eine Uniform aus der Tasche hervor, die Wangen waren stark gerötet, während Alberto zu schimpfen anfing. Dann fiel die Tür ins Schloss.

„Sah aus wie die meine, oder?“, fragte sie Catjill leise. Dieser legte sich wieder hin und antwortete, „Ich bin mir sehr sicher, wir werden ihr morgen über den Weg laufen. Vergraule sie nicht.“

Etienne streichelte ihn hinter dem Ohr und merkte, wie er ihrer Berührung entgegenkam. Er sehnte sich häufig nach Zuneigung, auch wenn er das nicht zeigte. Das verwunderte sie nicht, wenn sie bedachte, wo sie ihn gefunden hatte.

„Normalerweise vergraule ich niemanden“, erwiderte sie nachdenklich.

„Du vergraulst jeden. Nimm dir an Raffaels Ausstrahlung ein Beispiel. Dann würdest du vielleicht auch von mehr Menschen umgeben sein, als von einem Geist und... ah ja, noch mehr Geistern. Herzlichen Glückwunsch, was für eine bunte Mischung.“

Etienne verzog das Gesicht und hörte auf, ihn zu streicheln. Verfluchter Djinn. Dass er sie ausgerechnet mit dieser Nervensäge vergleichen musste.

14. Der erste Tag in Calisteo: Der Bücherturm

 

„Wohin gehen wir jetzt?“, fragte sie unzufrieden ihre Tante.

Wir besorgen dir die Bücher. Und ich habe dir ein Termin für einen Test organisiert. Der Direktor wird dich beaufsichtigen, sobald wir da sind. Das wird das Ganze etwas beschleunigen. Ich werde ihn vielleicht etwas bedrohen müssen, aber er wird dich schon morgen hereinlassen.“

Etienne seufzte, „Du steckst viel Mühe rein, mich in diese Schule zu bekommen. Was, wenn ich komplett versage?“

Sie sah wie Tatinne unter ihrer Kapuze grinste, „Raffael ist in der obersten Klasse. Ich bin sicher, desto näher du ihm bist, desto näher bist du deinem Ziel. Dementsprechend, solltest du sehr gut abschneiden, damit du auch dorthin kommst, nicht?“

Sie entgegne ihr Grinsen, „Das wäre nicht notwendig. Ich könnte auch einbrechen und herausfinden, wo er den Stein versteckt.“

„Das wird sich als nicht so einfach herausstellen“, wandte Tatinne ein, “Immerhin bist du gestern Nacht vor meiner Tür aufgetaucht, eben weil genau das nicht funktioniert hat.“

Etienne ignorierte den Einwand, „Meine Pläne haben sich sowieso soeben etwas geändert. Und keine Sorge, ich weiß wie viel dir Prestige bedeutet. Für dich werde ich die beste Punktzahl herausholen.“

Tatinnes Lächeln verpuffte und sie erwiderte, „Es geht mir hier nicht um Prestige.“

Etienne bedachte sie vorsichtig. Worum ging es ihr dann? Sie zweifelte es an, dass Tatinne solch ein Unterfangen anstellen würde, nur um ihr mit dem Stein zu helfen. Da gab es andere Möglichkeiten ran zu kommen.

Sie betraten nach mehreren Straßen ein sehr hohes Gebäude. Es war ein Bücherladen. Er war vom Umfang her klein, jedoch ragte er so weit nach oben, dass Etienne sich sicher war, es müsste mal ein Aussichtsturm gewesen sein. Es war erst einige Jahrzehnte her, seit die Papierindustrie neu aufgebaut wurde und der Buchdruck in Gang kam. Damals gab es noch keinen Grund, Büchereien zu bauen. Also wurden alte, ungenutzte Gebäude umgestaltet.

Etienne konnte die Menge an Stockwerken nicht abschätzen, bewunderte aber die Menge an Regalen, welche voll gefüllt waren. Calisteo schien hier aufgestockt zu haben. Zu ihrer Rechten verlief direkt eine Treppe zur nächsten Ebene, welche um die Ecke in einer nächsten Treppe mündete, welche in die nächste Ebene führte und so verlief es bis nach ganz oben.

„Das ist dein Regal“, sagte Tatinne. Etienne blickte zu ihrer Tante und entdeckte sie neben einem Regal voller Schulbücher. Als sie genauer hinblickte, stellte sie fest, dass das ganze erste Stockwerk allein, Schulbüchern gewidmet war. Sie verzog das Gesicht, „Ist das nicht eine ziemliche Papierverschwendung?

Erik!“, rief Tatinne in den Laden hinein. Ein junger Mann mit Brille und viel zu großer Kleidung stolperte zu ihnen herüber. Die Brille rutschte ihm die Nase herunter, „Tatinne! Wie schön, dich wiederzusehen! Bestimmt bist du hier wegen der neuen Bücher, welche wir aus Vheruna neu eingeliefert bekommen haben. Eins ist dabei, welches erst kürzlich aus einer Stadt der alten Welt erbeutet wurde und mittlerweile gehen viele Kopien herum. Nicht zuletzt, konnte ich mir eine besorgen. Ich habe sie extra für dich noch nicht zum Verkauf ausgestellt. Willst du es dir anschauen?

Normalerweise jederzeit, Erik. Aber heute leider nicht. Ich bin wegen meiner Nichte hier. Ich brauche Bücher. Für unsere herzallerliebste gehobene Schule. Alle, die das Kind hier braucht.“

Die warmen Augen hinter den leicht getrübten, alten Gläsern wanderten überrascht zu ihr. Dann strahlte er sie an, „Was gibt es Erfüllenderes, als mit jedem Buch eine neue kleine Welt, voller Können zu offenbaren? Selbstverständlich, so viele du willst! Soll ich sie dir nach Hause zuschicken?“

„Nicht nötig, wir nehmen sie direkt mit.“

Erik sah mit erhobenen Augenbrauen zu den zwei Frauen, „Das wird schwer. Aber das wundert mich nicht, du wolltest dir noch nie Bücher zuschicken lassen.“

Dann fing er an, die Bücher zusammenzutragen und Etienne blinzelte verwirrt über die Menge. „Du machst Witze“, meinte sie zu Tatinne, „Erwartest du von mir wirklich, dass ich all das trage?“

Tatinne sah auf den Stapel und hob die Braue, „Ich wüsste nicht, wo das Problem liegt. Wenn du das alles in deinem Kopf hättest, wäre es sicherlich leichter zu tragen.“

Etienne verdrehte die Augen, „Ich dachte, es ginge dir darum, mir ein gutes Schulerlebnis zu bescheren.“

„Das wirst du haben, wenn du dich anstrengst.“

Etienne unterdrückte ein Seufzen und überlegte sich, ob sie die kommende Scharade einer braven Schülerin wirklich in Angriff nehmen wollte. Catjill lenkte sie von ihren Gedanken jedoch ab, als er sich ungeschickt auf ihrer Schulter bewegte.

„Vorsicht mit den Krallen“, murmelte sie warnend, als sie erneut spürte, wie er diese in ihre Jacke stach. Sie liebte ihre Jacke. Sie war ein Zeichen von Etiennes harter Arbeit und Unabhängigkeit und bot ihr ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit. Und seit sie ihren Djinn erhalten hatte, schien dieser stetig ihre Jacke zu bedrohen.

Dann nahm er jedoch ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch, als sie feststellte, dass er sehr gezielt um sich sah, bis sein Blick sich auf die Eingangstür fokussierte. Etienne hörte Menschen draußen reden, einige Stimmen stachen besonders heraus, wahrscheinlich weil sie sich genau vor der Tür befanden. Catjills Ohren zuckten, während er sich zu konzentrieren schien und Etienne merkte, wie er eine Spur aufnahm. Sein Schwanz zuckte und dann sagte er anschließend, „Die haben auch eine Verbindung zu einem Stein. Aber… nicht so eindeutig wie dieser wandernde Geist von vorhin.“

Die Menschen betraten den Raum und Etienne beäugte sie kurz. Sie trat zur Seite, um sie nach vorne durchzulassen, wo Tatinne am Tresen noch die Bücher durchschaute. Es handelte sich um zwei junge Männer und eine junge Frau. Sie waren alle vornehm gekleidet, hatten Blazer, schicke Hosen und Schuhe an. Die junge Frau war gekleidet in einer langen schwarzen Stoffhose, welche in einer schwarzen Bluse endete. Ihre kurzen Haare waren ebenfalls schwarz und verliehen ihr mit einem kurzen Schnitt eine sanfte Eleganz, welche nicht zu aufdringlich aber unterschwellig zu spüren war. Doch mit Ausnahme der kalten Atmosphäre, welche sie mit sich in den warmen Bücherladen hineinbrachten, schienen sie kaum andere Gefühle auszustrahlen. Außer dem junge Mann in deren Mitte.

Sie unterhielten sich weiterhin leise und einer von ihnen sah sich Etienne kurz von oben bis unten an. Sie lächelte seinem wachsamen Blick entgegen und er drehte sich dann um. Wahrscheinlich hat er sie als ungefährlich eingestuft. Sie sahen sich auch Tatinne an, jedoch schienen bei der Beobachtung das Gespräch kurz innezuhalten. Etienne beobachtete sie, wie sie ein paar Worte austauschten und kam zur Schlussfolgerung, dass sie Tatinne als die Person erkannten, die sie war. Tatinne sah kurz zu ihnen, grüßte sie mit einem Nicken und sah dann zu Etienne, „Nimm sie alle mit und folge mir.“

Etienne beeilte sich, unter den erneut wachsamen Blicken der drei Menschen, die Bücher zu nehmen und ging hinaus. Sie würde später herausfinden, wer sie waren. Unabhängig Tatinnes Mühen sie heute in die Schule zu bringen, hatte sie zumindest zwei sehr gute Hinweise auf die restlichen zwei Steine bekommen. Raffael würde sie sich als letztes vornehmen und bis dahin würde sie daran arbeiten, sich Bedingungen für eine Möglichkeit zu schaffen, ihn zu bekommen.

Etienne war hocherfreut über den Djinn. Es hatte etwas gedauert, bis er ihr den Hinweis auf den ersten Stein gegeben hatte. Doch nun schien das Glück auf ihrer Seite zu sein. Durch ihren Vertrag war er dazu verpflichtet, sie zu den Steinen zu führen. Er musste nur eine Spur finden und seine Magie erlaubte ihm genau das. Es lag an ihr, die Indizien zusammenzutragen. Sein großspuriges Versprechen, schnell an die Austreibungsreliquien heranzukommen, schien er zu halten.

„So, wir haben alles besorgt, bis auf die Schuhe. Um diese kann ich mich später kümmern“, sagte Tatinne. Sie schien mehr zu sich selbst zu sprechen, als zu Etienne, als würde sie gedanklich eine Liste abhaken.

Etienne hob den Kopf und versuchte über den Rand der Bücher zu blicken. Sie war nicht sonderlich erfolgreich, „Wohin gehen wir?“

Sie stolperte und wurde angerempelt, wofür sich der nette Mann gleich wieder entschuldigte. Etienne nickte ihm freundlich zu und sah sich nach ihrer Tante um.

Tatinne?“

Sie hielt inne und bemerkte entsetzt, dass sie diese nicht mehr sah. Stattdessen kreuzte eine Menge Menschen ihren Weg, wichen ihr mit einem genervten Blick aus und versperrten ihr die Sicht.

Oh, so ein Mist“, murmelte sie. Sie ging zu einem der Häuser und legte die Bücher auf eine kleine Treppe. Dann streckte sie sich und blickte sich noch einmal um, in der Hoffnung Tatinne noch zu erblicken.

Der Djinn seufzte, „Genauso verloren, wie im Château.“

„Du hast mich in den Gang hineingeschickt“, erinnerte sie ihn.

„Du bist falsch abgebogen“, sagte er und machte ihr dann ein Angebot, „Soll ich dir dabei helfen, sie wiederzufinden? Es wird nur ein kleiner Preis sein.“

Sie streichelte ihn hinter dem Ohr. Er war müde, erst recht nach dem letzten Tag. Catjill war noch jung. Es bereitete ihm keine Probleme, seine Magie einzusetzen, aber er übertrieb es und war danach meistens wieder erschöpft.

„Leg dich wieder schlafen“, sagte sie zu ihm, „Ich brauche dich morgen mit voller Energie.“

Er brummte unzufrieden. Tat dann, wie sie ihm gesagt hatte.

15. Der erste Tag in Calisteo: Eine freundliche Seele

 

Etienne sah sich die Menschen an, die vorbeiliefen. Sicherlich würde ihr jemand erklären, wie sie zur Schule kommen würde. Sie müsste nur jemanden finden, der nicht hastig an ihr vorbeiging. Doch es schien, als würde sie für die Meisten nicht existieren. Sie sahen alle nur vor sich hin, keiner erwiderte ihren fragenden Blick. Und als sie versuchte jemanden anzusprechen, wurde sie mit einer abweisenden Handgeste zum Schweigen gebracht, bevor sie die Chance hatte, sich nach dem Weg zu erkundigen. Vielleicht sollte sie jemanden anrempelt? Aus Versehen natürlich. Sicherlich würden sie dadurch kurz innehalten und Etienne würde sie schnell fragen können.

Bevor sie dazu kam, entdeckte sie einen jungen Mann aus dem Geschäft ihr gegenüber treten. Er hatte eine bunte Schürze an und seine schwarzen Haare waren zu einem kleinen Zopf gebunden. Müde fuhr er sich mit der Hand über das Gesicht und nippte an einem Becher, welcher wahrscheinlich aus dem Laden hinter ihm kam, bei welchem es sich um ein Teehaus handelte. Er erblickte sie und hob fragend die Augenbrauen, als sich ihre Blicke kreuzten.

Glücklich, dass jemand sie anerkannte, ging sie schnell zu ihm herüber, „Könnten Sie mir vielleicht weiterhelfen?“

„Sie?“, fragte er amüsiert über ihre Anrede an ihn. Er musterte sie von oben bis unten, dann blickte er zu den Büchern, welche sie auf der Treppe gelassen hatte. Sie bemerkte wie sein Blick länger an diesen verweilte und dann langsam zu ihr wanderte und er vorsichtig fragend feststellte, „Neu in der Stadt?“

„Woher weißt du das?“, fragte sie überrascht.

Ich hab dein Gesicht noch nie zuvor gesehen“, antwortete er ihr.

Etienne lächelte, „Du willst mir sagen, du hast dir jedes Gesicht in dieser Stadt gemerkt?“

„Nein, aber ich habe dieselben Bücher, wie die hier“, sagte er lachend und deutete auf ihren Stapel, „und die Menge an Menschen, die sie hat, ist nicht sonderlich groß.“

„Der Schlussfolgerung kann ich nichts entgegenstellen“, sagte sie lächelnd, „Ich bin Etienne. Und ich bin neu in der Stadt, auf bestimmte und unbestimmte Zeit. Wobei sich die Zeit verkürzen könnte, wenn ich nicht meine Tante wiederfinde. Du gehst hier auf die Schule?“

Er nickte und nippte an seinem Becher, „Hat deine Tante wiederzufinden mit deinem Hilfegesuch zu tun?“

„Ja,“ meinte Etienne, „Genau genommen würde ich mich freuen, wenn mir jemand den Weg zur Schule beschreiben würde. Du bist die erste Person, die mich überhaupt gesehen hat.“

Er blickte auf die Straße und lächelte verständnisvoll, „Die meisten Geschäfte haben um diese Uhrzeit Mittagspause oder Schichtwechsel. Die Leute beeilen sich die kurze Zeit zu nutzen“, er sah wieder zu ihr, „oder zur Arbeit zu kommen.“

„Dann lass mich dich nicht zu lange aufhalten. Es reicht, wenn du mir kurz beschreibst, wie ich hinkomme.“

Seine Augen musterten die Bücher und dann wanderte sein Blick wieder zu ihr, „Gib mir ein Moment.“

Er ging wieder hinein. Sie sah, wie er drinnen mit einem Mann sprach und anschließend ohne seine Schürze wieder herauskam. Als sie ihn ohne Schürze erblickte, stellte sie schnell fest, dass im Vergleich zu den Menschen, die sie bisher gesehen hatte, seine Kleidung ziemlich abgetragen aussah. Auch seine Schuhe schienen alt zu sein, an einer Stelle sah es so aus, als wäre ein Riss geflickt worden. Er trat hinaus und sagte, „Es ist nicht allzu weit weg von hier. Ich kann dich hinbegleiten.“

„Ich will dir nicht deine Mittagspause nehmen“, erwiderte Etienne.

„Das ist kein Problem“, sagte er und nahm die Hälfte des Stapels, „Mal abgesehen davon habe ich so die Chance, mit einem künftigen Klassenkameraden Bekanntschaft zu machen.“

Etienne nahm die restlichen Bücher und sah ihn dankend an, „Das ist sehr nett von dir.“

Es war so ungewohnt. Die meisten Interaktionen mit fremden Menschen waren mit Problemen verknüpft. Raffaels nerviges Gesicht tauchte vor ihrem Auge auf. Und auch wenn er nicht der Schlimmste war, mit dem sie sich auseinandersetzen musste, machte die Konfrontation am Morgen sie dennoch furchtbar wütend. Er war eindeutig der nervigste.

Dieser hier hingegen schien absolut harmlos. Etienne spürte von ihm keine Bedrohung ausgehen, keine Feindseligkeit oder Hinterlistigkeit.

„Ich bin Anaki“, sagte er zu ihr, „Ich gehe in die dritte obere Klasse unserer Schule. Wenn du zu uns wechselst, dann wirst du wohl auch in dieser Klasse sein. Wir haben noch ein paar Plätze frei.“

„Ist es eine gute Schule?“, fragte Etienne im Versuch etwas mehr über diese herauszufinden.

Er grinste sie an, „Unserer Stadt wird manchmal die Produktion von kompetenten Köpfen vorgeworfen. Wer auch immer hier seinen Abschluss macht, der kann in nahezu jeder anderen Stadt arbeiten.“

Wirklich?“, Etienne lachte, „Da schickt mich meine Tante aber wohin.“

Keine Sorge, so geht es den meisten Schülern hier. Die Eltern entscheiden, wo es hingeht. Oder eher die Erziehungspersonen“, sagte er trocken. Etienne merkte die Missbilligung in seiner Stimme, doch dieser Ton verschwand, als er weiterredete, „Nicht aber, dass es nur an diesen liegt. Den meisten in der Stadt ist bewusst, welche Zukunftsaussichten ein Titel hier hat.“

„Ist wahrscheinlich mit viel Arbeit verbunden?“, fragte Etienne.

Er schnaubte, „Die Erwartungen sind sehr hoch. Vor allem was das selbstständige Lernen angeht. Aber wir haben auch mal unsere Freizeit. Was mich zur Frage führt, was du heute in der Schule vorhast? Heute ist kein Unterricht.“

„Meine Tante hat einen Test für mich organisiert. Den muss ich noch machen.“

Anaki blickte leicht erschrocken zu ihr und dann zu den Büchern. Ihre Aussage schien ihn vorm Kopf zu stoßen, „Du musst ihn noch machen? Etienne, du weißt also nicht gar nicht, wie du eingestuft wirst?“

„Nein, ich habe keine Ahnung“, sagte sie lachend, „Aber wenn meine Tante das so sieht, dann wird das schon so kommen.“

Anaki sagte für ein paar Momente nichts und seufzte dann, „Lass es dir nicht zu nahe gehen, wenn es nicht klappt. Es gibt so viele Schüler, dessen Eltern dasselbe gemacht haben. Manche sind komplett zusammengebrochen, weil sie den Erwartungen nicht gerecht wurden.“

„Das tut mir leid für sie“, meinte Etienne, „Aber ich werde sowieso nicht allzu lange hier bleiben. Ehrlich gesagt, wenn es nicht für meine Tante wäre, dann würde ich mir nicht sonderlich viel Mühe damit geben.“

Oder wenn es nicht für ihre neu gefundenen Spuren wäre.

Anaki lächelte, „Was man nicht alles für Familie tut. Wir haben ein paar solcher Leute bei uns in der Klasse.“

„Bist du auch wegen deinen Eltern dort?“, fragte Etienne.

„Nein“, sagte Anaki, „Mir könnten meine … Erziehungspersonen herzlichst egal sein. Aber dafür, dass ich in der oberen Klasse bin und vernünftige Noten hervorbringe, bekomme ich Förderung von der Schule. Das ist aktuell die beste Weise für mich, um über die Runden zu kommen. Außerdem ist meine Klasse besonders witzig.“

Etienne blickte neugierig zu ihm. Sie waren mittlerweile eine Weile gelaufen und Etienne konnte Dachspitzen eines großen Gebäudes ausmachen, welches über alle anderen emporzuragen schien. Sie steuerten durch die Straßen darauf zu und Etienne wurde sich sicher, dass das ihr Ziel war.

„Wieso ist sie besonders witzig?“, fragte sie bei ihm nach.

„Wir haben alle Provinzherrscher in einem Raum. Es ist zwar neutrales Gebiet und sie werden keinen Kampf anfangen, aber sie sind meistens sehr nahe dran“, sagte er lächelnd.

„Wie sind sie alle in eine Klasse gekommen?“, fragte sie. Nun hatte sie weniger Interesse, in diese Klasse zu kommen. Raffael war schon anstrengend genug. Tatinne hatte auch keinen positiven Ton genutzt, als sie ihr ein paar grundlegende Sachen über ihn erzählt hatte. Dennoch hatte sie Etienne sachlich über das Nötigste über ihn informiert. Sie hatte ihr jedoch noch nichts über die anderen zwei Herrscher erzählt. Wenn diese auch dort sitzen, dann würde dies es ihr nicht leicht machen, an die Steine zu kommen. Dann erinnerte sie sich an Catjills Aussage, dass sie womöglich schon morgen zumindest an eine Person stoßen könnte, welche sie näher an den Stein bringen würde. In eine höher gestufte Klasse zu kommen, könnt ihr auch die Möglichkeiten geben, zu den Personen zu stoßen, welche sie für ihre Ziele benötigte. Wenn sie stattdessen in eine tiefere Stufe kommen sollte und ihre Ziele in einer höheren wären, würde sie Etienne dann anhören oder abweisen? Würde Hierarchie eine Rolle spielen?

„Sie waren zuvor schon alle in derselben Klasse“, meinte Anaki, „Es ist seit der Stadtgründung eine ungebrochene Regel, dass in der neutralen Provinz alle Kinder dieselben Chancen auf Bildung bekommen sollen, unabhängig ihre Provinzzugehörigkeit. Also finden sich hier alle Kinder, aus allen möglichen Familien zusammen. Gilgian wurde als erster zum Herrscher. Er ist aber eigentlich viel später an die Schule gekommen, als Raffael und Elias. Und die letzten beiden haben erst in den letzten Jahren ihre Position bekommen. Wobei es bei Elias noch so eine undefinierte Sache ist.“

Sollten sie sich nicht besser um ihre Provinzen kümmern?“, fragte sie.

Anaki antwortete ihr nicht direkt auf die Frage. Sie traten langsam durch das Schultor und Anaki wurde von jemanden, der aussah wie ein Wachmann, gegrüßt. Er betrachtete Etienne mit einem kurzen Blick, hielt sie aber weder auf noch sprach er sie an.

„Ich weiß was Raffael macht. Bei Elias ist das Ganze komplizierter. Und Gilgian scheint es nicht so ganz zu interessieren. Ich glaube, er lässt die Untergebenen des alten Vorgesetzten ihre Arbeit machen. Diese waren es sowieso schon gewohnt, ohne den Provinzherrscher zu arbeiten. Gilgian belässt es scheinbar dabei.“

„Und die anderen beiden?“, fragte Etienne nach.

Anaki beäugte sie wachsam und meinte dann lächelnd, „Über Elias kann ich dir nicht viel sagen. Bei ihm ist das so eine Familiensache. Raffael hat hingegen viele Menschen eingestellt. Er hat seine Menschenkenntnis ganz gut nutzen können. Diese kam ihm … meistens zugute.“

Sie betraten das Gebäude und Anaki wechselte das Thema, „Ich schätze, du musst zum Direktor?“

Etienne nickte, „Wahrscheinlich wird meine Tante schon da sein. Ich denke, das würde sie am ehesten tun, als nach mir zu suchen. Sie hat wahrscheinlich eine gute Weile nicht mal gemerkt, dass ich weg war.“

Tatinne war aufmerksam, bis sie sich in einem Gedanken verlor. Das passierte selten, aber wenn es vorkam, war sie nicht zu halten, bis sie diesen Gedanken ausgeführt hatte.

„Dann auf zum Direktor“, sagte er und sie folgte ihm durch die große Halle zu den Treppen, die sie dann emporstiegen. Die Decke spiegelte sich in dem weißen Marmorboden und Etienne bewunderte die schönen Muster des Marmors. Die Eingangshalle war riesig. Sie gingen die mittlere Treppe hinauf, aber es gab noch weitere Treppen, welche alle zu einer höheren Ebene führten, von welcher auf die Halle hinab geschaut werden konnte. Von dort gingen viele Gänge in unterschiedliche Richtungen und weitere Treppen führten in die nächsten Stockwerke. Anstatt jedoch die vielen Treppen weiter hochzusteigen, gingen sie durch einen Gang und folgten diesem hindurch. Etienne hatte an den Schildern lesen können, dass sich in der Richtung die Büroräume des Direktors, der Sekretäre und weiterer Mitarbeiter der Schule befanden. Schon bald hörte Etienne hinter einer der Ecken, auf die sie zusteuerten, eine ihr bekannte Stimme. Und sobald sie um die Ecke gingen, erblickte sie ihre Tante.

Tatinne!“, rief Etienne lächelnd.

Der Kopf der Frau fuhr zu ihr herum und die roten Locken, nun nicht mehr unter einer Kapuze, schwangen mit der abrupten Bewegung, „Da bist du ja! Ich habe dir gesagt, du sollst bei mir bleiben. Wie hast du es geschafft zu verschwinden?“

Anaki sah zu Etienne, „Wenn deine Tante das sieht, dann wird es schon so kommen also“, rezitierte er ihre Worte, welche sie zuvor an ihn gerichtet hatte „bekommt eine ganz neue Bedeutung, wenn es sich um die Spinne handelt.“

Etienne lächelte ihn an, verwundert darüber, dass er sich an ihre Worte noch erinnern konnte, „Ehrlich gesagt, war es gar nicht so gemeint, wie es jetzt den Anschein macht.“

Als sie bei den zwei Personen ankamen, lächelte Etienne und legte die Bücher auf den breiten Fenstersims und streckte sich, „Meine Güte, sind die schwer!“

Auch Anaki stellte den Stapel zu den anderen und nickte Tatinne und dem Mann, mit dem sie sprach, freundlich zu.

Tatinne seufzte, „Wieso bist du immer so unvorsichtig?“

Ich bin nicht unvorsichtig. Du hättest mir ruhig helfen können, dann hätte ich vielleicht noch was sehen können, während ich versucht habe dir hinterherzulaufen.“

Tatinne schnaubte, „Stell dich nicht so an, das wäre für dich absolut machbar gewesen.“

Anaki meldete sich kurz zum Wort, „Ich verabschiede mich. Wir sehen uns wahrscheinlich morgen. Du kannst dich gerne an mich halten am Anfang, nur so zur Orientierung. Wir haben hier sonderbare Regeln. Viel Erfolg.“

Etienne wollte ihm Danken, doch dies übernahm Tatinne für sie, „Danke Anaki. Ich bin sicher, das wird ihr am Anfang gut helfen.“

Anaki ging zurück und Etienne hoffte, dass sie ihm nicht zu viel von seiner Pause genommen hatte. Bei seinem schnellen Schritt glaubte sie jedoch, dass das Gegenteil der Fall war. Sie wandte sich von ihm ab und blickte zu dem Mann. Er war schick in einem Anzug gekleidet, die Haare gepflegt, wie ein Geschäftsmann. Sie waren lang und schwarz, mit grauen Strähnen, welche sich durch sie zogen. Sie streckte ihm die Hand entgegen, „Hallo, ich bin Etienne.“

Der Mann schüttelte ihre Hand und sagte, „Mein Name lautet Matteo Merlian. Ich bin der Direktor dieser Schule.“

Fast wie Merlin“, sagte Etienne staunend. Ihre Tante seufzte.

Er blickte zu den Büchern und runzelte die Stirn, „Tatinne, ich werde Ihnen nicht den Gefallen in der Form erfüllen, dass ich Ihre Nichte einfach durchkommen lasse.“

Tatinne verdrehte die Augen, „Danach habe ich auch nicht gefragt.“

Merlian fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht und blickte zu Etienne. Er sah aus, als wäre er kurz vor einem Nervenzusammenbruch und Etienne gab ihrer Tante einen fragenden Blick, welche diesen mit einem ratlosen Schulterzucken erwiderte.

„Folgen Sie mir, junge Dame.“

Er betrat sein Büro und Etienne folgte ihm, nachdem sie den Djinn an Tatinne übergeben hat, „Pass gut auf ihn auf“.

„Beeile dich“, rief Tatinne ihr hinterher.

Ist es schwer?“, fragte Etienne den Direktor, als die Tür ins Schloss fiel.

Es hat unterschiedliche Kategorien. Mit jeder Kategorie wird er schwerer.“

Haben sie den Test auch mal gemacht?“

Er blinzelte sie verwirrt an, „Weshalb sollte ich?“

Wieso nicht?“, fragte Etienne zurück. Irgendjemand musste sie machen.

Der Mann atmete tief durch und holte dann einen großen Umschlag und einen Stift hervor. Er legte beides auf den Tisch und deutete Etienne sich ihm gegenüberzusetzen. Er schien genervt, ob das jedoch an ihren Fragen lag, konnte sie nicht sagen. Es hätte genauso gut das Gespräch mit Tatinne sein können.

„Viel Spaß.“

Nach drei Stunden trat sie wieder aus dem Raum. Ihre Tante erwartete sie gelangweilt, hatte aber diesmal eine Tüte in den Händen. Etienne gab ihr einen Umschlag, „Das wird meine neue Klasse sein.“

Tatinne nickte und öffnete diesen, „Sehr schön. Gut, dass wir die Sachen nicht umsonst gekauft haben.“

Willst du mir diesmal mit den Büchern helfen?“, fragte sie ihre Tante, während sie zu dem Stapel ging.

Tatinne seufzte und nahm sich die obersten zwei Bücher, „Gehen wir.“

Etienne verdrehte die Augen und legte den Stapel, den Anaki neben ihren hingelegt hatte, auf den ihren. Dann nahm sie die Bücher und lief ihr hinterher, „Verliere diesmal nicht deine geliebte Nichte.“

16. Der Stolz Calisteos: Die alte Schule

 

Etienne folgte der netten Sekretärin, Miss Arvon. Sie war in einem Anzug gekleidet und hatte ein Klemmbrett, auf das sie immer wieder schaute, wenn sie Etienne etwas erzählte oder wenn sie Halt machten.

Als sie durch den leeren Schulhof ging, verschwand ihre Müdigkeit und sie war beeindruckt von dem prächtigen Gebäude. Sie wurde eine Stunde vor Schulbeginn beim Sekretariat erwartet. Als sie am Morgen an der Schule angekommen war, hatte sie nur wenige Schüler gesehen. Doch danach verbrachte sie fast zwei volle Stunden damit, durch die Schule zu laufen. Etienne wurde die Bibliothek gezeigt und der botanische Garten. Sie wurde durch mehrere Sporthallen im hinteren Bereich der Schule geführt und ihr wurden zwei weiteren Bibliotheken gezeigt. Sie kam an einigen Schülern vorbei, welche sie neugierig musterten und Etienne konnte nach kurzem Mustern auch erkennen, dass sie alle eine andere Uniform trugen. Etienne vermutete, dass deren Aufmerksamkeit durch ihre Kleidung und der Anwesenheit von Miss Arvon insbesondere geweckt wurde. Auch Miss Arvon, hatte das Tuscheln bemerkt und sie daraufhin nach ganz unten in den Keller geführt und ihr diesen gezeigt. So waren sie nicht mehr unter den Blicken der Schüler gewesen und Etienne wurde erklärt, dass sie den Keller als Lagerstelle für alle möglichen Dinge nutzten. Auch Schüler, welche einer AG angehörten, durften sich dort einen Platz für ihre Gegenstände mieten. Um etwas Zeit zu vertreiben, hatte ihr die Sekretärin ein Bühnenbild gezeigt, an welchem aktuell gearbeitet wurde, für ein Theaterstück, welches von Schülern geschrieben wurde und vorgetragen werden sollte und das scheinbar schon sehr bald. Etienne hatte Schwierigkeiten so zu tun, als würde sie das Ganze interessieren.

Als sie wieder hochkamen, waren schon alle in ihren Klassen. Etienne hatte die Ehre gehabt, später zum Unterricht antreten zu dürfen.

„Normalerweise wird am Anfang des Schuljahres die Schule den Schülern durch andere Schüler gezeigt. Da du aber mitten im Schuljahr kommst, werde ich dir alles zeigen“, hatte ihr die Sekretärin gesagt. Nichtsdestotrotz, bemerkte sie viele neugierige Blicke aus den Fenstern. Wahrscheinlich hatte sich schon herumgesprochen, dass es einen Neuankömmling gab. Etienne hoffte, dass die neugierigen Blicke nicht allzu lange andauern würden.

Hier haben wir den Club der alten Künste. Im Moment wird hier hauptsächlich Karate gemacht“, führte die Sekretärin weiter aus, als sie an den Sporthallen vorbeigingenUnsere Clubmitglieder haben schon den siebten Sieg in Folge bei der Stadtmeisterschaft gewonnen und insgesamt dreimal landesweit den zweiten und viermal den dritten Platz belegt, gleich nach den Vertretern von Vheruna und den Mandragonrys. Und da die ersteren sowieso kaum einer besiegen kann, zählen wir den zweiten als den ersten Platz“, sie lachte und Etienne lächelte höflich, als sie den Ausführungen der Frau lauschte. In jeder Stadt gab es über Generationen hinweg eine Menge an außergewöhnlichen Menschen. Jeder wurde von klein auf mit allem ausgestattet, was ihm das Überleben erleichtern würde. Und seit den letzten zwei Generationen, wurde langsam dazu übergeleitet, wieder die Menschen für die Gesellschaft zu produzieren, welche sie am Laufen halten konnten. Viele der alten, überlebenswichtigen Fähigkeiten wurden dennoch weiterhin vermittelt. Es war gut so, denn ansonsten hätten sich die Städte im Laufe der letzten Jahrzehnte niemals zu dem entwickeln können, was sie heute waren. Nach langer Zeit, standen die Menschen wieder an der Spitze der Nahrungskette, wenn auch immer noch unter starker Konkurrenz.

Es ist Pflicht eines jeden Schülers, einem Club beizutreten, mit Ausnahme der obersten drei Klassen. Diese sind viel zu beschäftigt mit dem Lernen des normalen Stoffes, sodass sie sich auf Clubaktivitäten nicht einlassen sollen. Aber natürlich darfst du einem Club beitreten, wenn du es willst. Ich habe mitbekommen, du hast eine recht gute Punktzahl bei dem Test erreicht, das sollte für dich also kein Problem darstellen“, sie lachte erneut, „Empfehlen würde ich es dennoch nicht, du wirst neben dem Schulstoff in andere Aktivitäten eingebunden, welche du verpflichtet sein wirst, durchzuführen. Aber davon können dir deine Klassenkameraden mehr erzählen.

Etienne lächelte weiterhin höflich, vermerkte aber, dass sie einen Weg finden sollte, das Ganze schnell über die Bühne zu bringen. Sie würde sich diese Schule nicht länger als nötig freiwillig antun. Sie hatte kein Interesse an dem Wissen, welches die Schule ihr bieten würde. Die meisten Fächer waren darauf ausgelegt, der Stadt zu dienen. Hierfür brachten sie den Schülern alte Wissenschaften bei, wie Physik und Chemie. Auch alte Geschichte wurde gelehrt, jedoch nicht so intensiv wie die neue Geschichte. Die alte Welt hatte kaum noch Einfluss auf das Leben der Menschen. Um Kultur jedoch zu bewahren und alte Wurzeln aufzudecken, wurde auch hier in geringem Maße gefördert. Viel interessanter schienen die Fächer für die Administration und Politik zu sein. Doch auch damit konnte Etienne nichts anfangen. Neugierig war sie jedoch auf die Klasse der neuen Geschöpfe.

Seit dem Untergang der alten Welt, sind viele Wesen emporgestiegen, welche den Menschen Konkurrenz gemacht hatten. Das Basiswissen hatte Etienne bereits zu Genüge gehört, wunderte sich aber, was die Schule hier zu bieten hatte. Vielleicht würde sie auch die Bibliotheken durchsuchen.

Die Frau blickte mit strahlenden blauen Augen zu ihr herüber und zupfte an einer Locke, welche aus der strengen Hochsteckfrisur locker an ihrem Hals herunterhing. Es ließ ihr noch den Anschein der jungen Frau, die sie war, „Wir haben dich in unsere jüngste Klassenzusammensetzung untergebracht. Du wirst dich da sicher wohlfühlen. Da du neu in der Stadt bist, will ich dich warnen, dich unnötig mit den anderen anzulegen. Du scheinst mir zwar nicht, wie eine Kriminelle, aber die gibt es im Überfluss an unserer Schule, und drei sitzen leider in deiner Klasse. Ah, wenn nur alle so vernünftig und nett wie Raffael und Elias wären. Leider nicht.“

Ich komm in ihre Klasse?“, fragte Etienne. Die Frau gab ihr lächelnd ihre Zustimmung und fügte hinzu, „Du solltest dir überlegen, eine gute Beziehung zu ihnen aufzubauen. Schlaue Köpfe werden immer bei den Provinzen benötigt. Du hättest gute Chancen, durch den Kontakt zu ihnen, an einen gut bezahlte und sichere Arbeit zu kommen. Ansonsten, wenn du besonders gut in der Schule abschneidest, könntest du auch in der neutralen Provinz arbeiten. Wir haben einen Mangel an Arbeitskräften in administrativen Bereichen. Viele tendieren nach Vheruna zu gehen, wenn sie die Chance haben. Auch wurden uns schon einige schlaue Köpfe von den herrschenden Familien der anderen Städte abgeworben. Und die meisten Schüler tendieren viel eher dazu, in die Sicherheitseinheit zu gehen. Das macht es nicht einfach, die Balance zwischen den Provinzen zu halten.

Etienne streichelte den Djinn, der an ihrer Schulter schlief und sein Schwanz zuckte leicht hin und her. Die Frau hatte ihm keine Beachtung geschenkt und Etienne hatte sich gefragt, ob ihr gutes Abschneiden im Test damit zu tun hatte, dass diese Frau nicht einmal bereit war den Kater an ihren Schultern zu hinterfragen. Wahrscheinlich lag es aber eher an seiner Magie.

Die Nachricht einer neuen Schülerin hatte sich in Windeseile verbreitet. Es sind schon alle so neugierig! Selbst die Lehrer“, sie lachte erneut, „und dein Klassenlehrer, Herr Cruz, schwärmt wahrscheinlich gerade deine neue Klasse voll, so wie ich ihn kenne. Er ist immer von den ganz Schlauen begeistert. Wenn du gut lernst und keinen Ärger machst, dann wird er dich immer unterstützen. Lass dich aber nicht auf eine Diskussion mit ihm ein, er tendiert dazu, nie mit dem Gespräch aufzuhören.

Etienne versuchte etwas einzuwerfen, doch das Thema wechselte schnell.

Hier habe ich deinen Stundenplan, schau ihn dir genau an“, sie nahm einen Zettel aus dem Klemmbrett und gab ihn Etienne.

Etienne betrachtete diesen und war über die Fächer nicht überrascht. Genau das, was sie sich vorgestellt hat. Was sie sich nicht vorgestellt hat, war die Menge der Stunden pro Tag, „Ich soll jeden Tag zehn Stunden haben?“

Die Sekretärin blinzelte verwirrt und blickte sie noch einmal musternd an, „Ist das etwa ein Problem?“

Etienne lächelte wieder, „Nein, nein. Ich war nur kurz… überrascht“, unter diesen Umständen würde sie immer nur spät Abends aus der Klasse kommen. Sie müsste, um nicht zu früh aus der Schule zu fliegen, herausfinden, wie sie das mit ihrer Suche nach den Steinen vereinbaren sollte. Unter Umständen sollte sie mal genauer nachschauen, wie oft sie es sich leisten konnte zu fehlen. Sie musste die Scharade nur so lange mitmachen, wie sie auf der Spur der nächsten zwei Steine kommen würde. Bei der Situation mit Raffael würde sie nicht an der Schule bleiben müssen.

Die Frau lachte nach einem kurzen Zögern und Etienne folgte ihr dann die vielen, so vielen, Treppenstufen hinauf. Es überraschte Etienne, dass Miss Arvon nicht aus dem Atem kam. Anscheinend musste sie mehrmals am Tag laufen.

17. Der Stolz Calisteos: Neue Klasse

 

Tumult brach aus, als eine Tür zu ihrer Rechten aufgestoßen wurde und drei Schüler herausfielen. Beinahe hätte einer von ihnen Etienne in seinem Fall mitgerissen, doch sie schaffte es, ihm auszuweichen. Als er mit dem Gesicht auf dem Boden landete, spürte sie das schlechte Gewissen. Sie hätte ihm helfen sollen, doch ihr erster Impuls war es, zurückzuweichen. Als er den Kopf hob und sie erschrocken anblickte, lächelte Etienne ihn an, „Alles in Ordnung?“

Er errötete und sah aus, als würde er am liebsten im Boden versinken. Die anderen beiden beeilten sich, ihm aufzuhelfen.

Miss Arvon trat an sie heran und Etienne konnte trotz des Lächelns der Frau sehen, wie der Zorn in ihren Augen aufleuchtete, „Sind wir schon wieder am Schwänzen, Keyen, Walo und Quinn?“

Die Jungen sprangen in verschiedene Richtungen davon. Sie drehten sich nicht mal um. Etienne blinzelte verwirrt über die schlagartige Flucht. Die Sekretärin schob wütend ihre Brille zurecht und atmete tief durch, „Verzeih diese Störung. Das ist leider öfters der Fall als es sein sollte. Nur kommen sie damit durch, weil ihre Noten passen. Auch wenn Keyen sehr knapp an der Grenze ist.

Etienne lächelte verunsichert und folgte der Dame weiter durch die Flure, während diese sich über die Schüler ausließ. Sie vermerkte in ihrem Kopf, wie vieles von den Noten abhing. Sie würde sich sicherlich das eine oder andere erlauben können, zumindest für die Dauer ihres Aufenthalts.

Voila!“, sagte Miss Arvon nach einer Weile, wieder glücklich und am Strahlen. Sie klopfte an die Tür, „Deine Klasse.“

Damit verließ sie Etienne, die ihr nachdenklich hinterherschaute. An einer Abzweigung des Ganges sah Etienne ehrfürchtig zu, wie die Hand der Frau zur Seite schellte und kräftig einen Jungen an seinem Ohr hinter der Wand hervorholte und ihn dann unbarmherzig mit sich zog. Es war einer von vorhin. Die schlagartige Flucht ergab auf einmal Sinn. Die Tür wurde aufgerissen und Etienne wurde von einer kräftigen Hand hineingezogen. Sie verlor vor Überraschung das Gleichgewicht, wurde jedoch von einem kräftigen Griff oben gehalten. Die große Person zog sie ins Zimmer. Neue Gesichter blickten ihr entgegen und zwei davon grinsten. Scarlett saß hinter Raffael und sah Etienne mit großen Augen an, welche anschließen, vor Erkenntnis noch größer wurden. Neben Raffael saß einer der Jungen, der ihr in der Halle vor die Füße gefallen war und Etienne fragte sich, ob das die Vorhut zum Ausspähen war.

Zu ihrer Freude waren ihr auch andere bekannt. Die Klasse war in vier Teile aufgeteilt. Etienne entdeckte schnell die zierliche, geisterhafte junge Frau, welche sie am Vortag in der Schneiderei gesehen hatte. Auch sie musterte Etienne neugierig, doch sobald sie ihren Blick bemerkte, senkte sie den ihren und duckte sich regelrecht hinter einem Riesen. Anders wusste Etienne ihn nicht zu beschreiben. Es fühlte sich an, als würde allein seine Präsenz den ganzen Raum erfüllen und das lag zum einen an seiner Größe, zum anderen an der Menge seiner Muskeln, welche durch seine Kleidung deutlich zu sehen waren. Er schien genervt zu sein, während er sie gelangweilt von oben bis unten musterte und dann den Blick abwandte. Etienne war sich sicher, er könnte Löcher in Wände schlagen. Sie saßen in der Nähe des Lehrerpultes im vorderen Teil der Klasse, nah an den Fenstern. Eine in sich geschlossene kleine Gruppe. Von diesen gab es noch zwei weitere und Anaki, der allein ganz hinten bei den Fenstern saß. Dieser Platz gehörte wohl den Neutralen, von denen keine Gefahr ausging und welche wahrscheinlich auch keine Gefahren zu fürchten hatten.

Ebenfalls hinten, neben einer zweiten Tür, welche in das Klassenzimmer führte, saßen zwei der drei Menschen, die Etienne in der Buchhandlung gesehen hatte. Die junge Frau, mit den kurzen schwarzen Haaren und der junge Mann, welcher hinter ihnen an der Wand saß. Neben ihnen waren zwei weitere Schüler, die Etienne nicht bekannt vorkamen. Sie würde später herausfinden, wer von ihnen den Kontakt zum nächsten Stein hatte. Dass sie zwei von den drei potenziellen Menschen, die eine Verbindung zum Austreibungsrelikt haben könnten, in einer Klasse hatte, erleichterte ihr die Suche schon mal ungemein. Langsam stieg in ihr jedoch die Vermutung auf, das Tatinne dies bereits gewusst hatte.

Und dann war noch der Lehrer. Von all den Eindrücken, welche sie in der kurzen Zeit gesammelt hatte, verlangte er die größte Aufmerksamkeit von ihr. Er schlug ein wie eine Bombe, indem er zu reden anfing und Etienne diese kurze Zeit in einem schnellen und lautem Wortschwall verbracht hat, dass ihr die Ohren zu schmerzen anfingen. Selbst Catjill, der bisher friedlich an ihrer Schulter geschlafen hatte, war aufgewacht und sah mit angelegten Ohren unverwandt zu ihm. Am Ende der Rede, die sie beinahe zwanghaft ignoriert hatte, schlug ihr der Lehrer mit der flachen Hand auf den Rücken und sagte schallend lachend, „Stell dich vor!“

Etienne stolperte beinahe nach vorne, überrascht von der Kraft, die sie nicht erwartet hatte. Er war groß, hatte kurzes schwarzes Haar, sehr muskulös gebaut, auch wenn nicht so, wie der Riese im Raum. Dennoch spürte sie das Brennen seines Schlages noch immer zwischen den Schulterblättern. Er grinste sie mit seinen perfekten Zähnen an und überkreuzte die gebräunten Arme vor der Brust. Sein gelbes Shirt war zerknittert und seine Shorts war strahlend grün. Zu ihrer noch größeren Verwirrung war er barfuß. Etienne lächelte zurück und verspürte zum ersten Mal das Bedürfnis, zurückzuschlagen. Dann wischte sie alle Gefühle beiseite und lächelte ihr bestes Lächeln, „Mein Name ist Etienne. Ich bin siebzehn Jahre alt. Ich habe keine Hobbys. Aber als Nebenjob betreibe ich Exorzismus. Nett euch kennenzulernen!“

„Willkommen! Anscheinend haben wir ein neues jüngstes Küken“, sagte Cruz lachend, „Herzlichen Glückwunsch Elias, du wurdest abgelöst.“

Der junge Mann aus der Buchhandlung lächelte seinem Lehrer kurz zu. Etienne erkannte den Namen, als den des stellvertretenden Herrschers der ersten Provinz.

„Etienne also“, meinte ein anderer Junge bei Gilgian. Sie bemerkte einen wachsamen Blick von Raffael in deren Richtung. Das Mädchen neben Elias flüsterte ihm irgendetwas zu. Etienne spürte eine Spannung im Zimmer, die ihre eigene wiederspiegelte. Alle schienen etwas zu wissen, sie selbst konnte es jedoch nur erahnen. Etienne vermerkte weiter in ihrer imaginären Liste, dass sie ihre Tante später ausfragen sollte, was genau sie den jeweiligen Herrschern über ihre Vorhersehung gesagt hatte. Wenn sie, wie Raffael, Etienne als Gegenstand der Vorhersagung betrachten würde, könnte das ihren Zugang zu den Steinen einschränken. Ihre Tante hatte ihr nur oberflächlich davon erzählt und Etienne nahm dies nicht allzu ernst. Es konnte sich nicht um sie handeln. Sie musste nur noch Raffael und die Anderen davon überzeugen. Oder sich die Steine besorgen und verschwinden, dann konnte sie das mit dem Überzeugen überspringen, was ihr als die deutlich attraktivere Lösung vorkam.

Plötzlich wurde die Tür aufgerissen. Der Direktor stand tobend im Raum, brüllte sie alle an und gestikulierte wild mit den Armen. Etienne vernahm einige wütende Worte Richtung Elias und Raffael, anschließend wurden Papiere auf den Tisch des Lehrers geworfen. Cruz lachte und seine Hand berührte ihren Rücken. Er deute ihr, sich einen Platz herauszusuchen und schob sie Richtung Klasseninnenraum, während der Direktor weiter brüllte, irgendwas davon erzählte, dass die Schule ihm gehörte, dass sie sich im letzten Jahr zu viel bei ihm herausgenommen hatten. Doch die gespielt-ernsten Ausdrücke in den Gesichtern der Schüler zeigten ihr, dass sie nicht viel auf seine Worte gaben. Etienne kam der Gedanke, dass wenn sie sich auf die gute Seite des Direktors stellte, er sich sicherlich hier und da als eine gute Ressource gegen Raffael darstellen könnte. Sie ging an ihnen vorbei, zu dem leeren Platz neben Anaki. Etienne hatte die Sitzordnung bereits vermutet und sich fest vorgenommen, die neutrale Seite des Raumes zu besetzen. Schnurstracks ging sie zu Anaki und setzte sich neben ihn, wählte die Fensterseite.

„Vielen Dank für gestern“, flüsterte sie ihm zu, hoffte, dass er ihre leise Stimme durch das Toben des Direktors hören würde.

Er nickte ihr lächelnd zu, „Willkommen. Das wird wahrscheinlich eine Weile dauern, also nimm es als Anlass, dich an das Chaos zu gewöhnen.“

Etienne sah wieder nach vorne zur Klasse. Mittlerweile hatte Cruz die Zettel in die Hand genommen und sah sie durch. Einige schienen Briefe zu sein. Nach einigen Minuten wurde die Tür zugeworfen und es gab einige Momente Stille, welche sich im Vergleich zum Gebrüll von vorhin, als viel zu ruhig anfühlte.

Cruz fing an, lachend die Namen vorzulesen, welche auf den Briefen oder den Zetteln standen. Etienne verstand nicht ganz, was vor sich ging.

Sie besah sich die anderen Schüler an, im Versuch an deren Ausdrücken etwas über die Situation zu erfahren, und entdeckte einen wachsamen Blick von Raffael. Seine Wange in die Hand gestützt blickten seine Augen kalkulierend zu ihr und Etienne fühlte sich schlagartig bedroht. Doch dann verflog dieser Gesichtsausdruck, als er ihren Blick bemerkte, und er zwinkerte ihr grinsend zu. Von diesem gespielten Ausdruck würde sie sich jedoch nicht mehr täuschen lassen. Im Château hatte sie gedacht, er wäre ein zu leichtsinniger Abenteurer gewesen, welcher mit seinen Kameraden keine wirkliche Ahnung davon hatte, wo sie gelandet waren.

Raffael wandte sich dem Lehrer zu, der ihm einen Brief entgegenhielt. Er öffnete ihn und las ihn durch. Plötzlich lachte er schallend auf und blickte zu Elias, „Du willst einen Krieg erklären?“

Elias lehnte sich mit verschränkten Armen zurück und hob eine Braue, „Wie kommst du darauf?“

Was? Kneifst du jetzt?“, erwiderte Raffael. Er knüllte das Blatt zusammen und warf es nach Elias.

Der Schüler, eine Reihe vor Elias, der eine große, runde Brille hatte, fing das zerknüllte Blatt ab.

Cruz lachte, „Wollt ihr euch wieder die Köpfe einschlagen?“

Lass sie doch, haben wir zwei inkompetente Plagen weniger“, meinte Gilgian.

„Ich bin kompetenter als du und das in jeglicher Hinsicht“, sagte Raffael zu ihm.

Anaki lachte und flüsterte Etienne zu, „So läuft es jeden Tag ab.“

Ah“, meinte Etienne, die solch eine Unordnung und Desorganisiertheit, gebunden mit mangelnder Disziplin, in einer Bildungseinrichtung gar nicht gewohnt war.

18. Der Stolz Calisteos: Meta (1)

 

Als es eine Weile später zur Pause klingelte, schossen die Meisten aus dem Raum. Unter ihnen waren es die Gruppen von Elias und Gilgian. Meta folgte ihm mit gesenktem Blick und Abstand zu allen anderen Klassenkameraden.

Etienne blinzelte und lehnte sich zurück, „Das war eine Zeitverschwendung.“

Anaki lachte, „So ist es. Du musst dir alles selbst erarbeiten. Zumindest bei Cruz.“

Etienne seufzte und holte eine Packung Süßigkeiten heraus.

Wie zum Henker hast du es so schnell hierher geschafft?“, fragte Scarlett während sie langsam zu ihr herüberkam, „Es waren was? Zwei Tage?“

Etienne lächelte und hielt ihr die Packung hin, „Willst du auch was?“

Nein, danke“, sagte sie. Ihre langen Haare fielen ihr diesmal glatt über den Rücken und mit ihren vollen Lippen, welche einen braunen Lippenstift trugen, und den markanten Gesichtszügen sah sie aus, wie eine aus Marmor geschlagene Statue.

Ich würde etwas nehmen“, meinte Raffael, welcher ihr gefolgt war. Sie stellte fest, dass sie Ähnlichkeiten miteinander hatten und es nervte sie. Raffael nahm sich einen Stuhl und setzte sich auf die andere Seite von Anakis und Etiennes Tisch.

Ich tausche die Packung für den Stein.“

Nein.“

Dann brauchst du gar nicht erst anzukommen“, erwiderte Etienne und gab Anaki die Packung, als er ihr fragend die Hand entgegenstreckte. Er verfolgte still die Konversation, sein Blick schoss wachsam zwischen seinen Mitschülern.

Raffael sah kritisch zu Anaki, „Und er kriegt was ohne Gegenleistung?“

„Das ist ein Dank dafür, dass er so hilfsbereit zu mir war“, sagte Etienne und fragte sich, wie die Beziehung zwischen den beiden war. Anaki schien Raffael gegenüber nicht wachsam oder vorsichtig zu sein, stattdessen lachte er und bot Raffael die Packung an, welcher diese jedoch ablehnte. So sehr schien er also gar nicht daran interessiert zu sein.

„Wie habt ihr euch kennengelernt?“, fragte Scarlett, welche sich gegen den Fenstersims lehnte.

„Wir haben uns gestern zufällig in der Stadt getroffen“, antwortete Anaki und aß die kleinen Bonbons, von welchen Etienne sich sicher war, dass sie mit Honig überzogen waren.

„Die sind richtig gut“, sagte er.

„Kommt ja auch aus meiner Provinz“, sagte Raffael.

„Du kannst sie behalten“, sagte Etienne und entschloss sich, diese nicht mehr zu kaufen, „Genau genommen habe ich dir ein paar mehr geholt. Ich hoffe, du hast es gestern pünktlich zurückgeschafft.“

Sie packte die anderen zwei Packungen aus ihrer Tasche und er lachte, „Das ist nicht nötig, Etienne. Und ja, der Weg ist nicht sehr lang.“

„Warst du gestern wieder arbeiten?“, fragte Scarlett, „Ich dachte du hattest was mit deinen Geschwistern vor.“

Etienne holte noch eine Packung heraus.

„Wie viele von denen hast du?“, fragte Raffael.

„Leider nicht genug, um dir was abzugeben“, erwiderte sie und stand auf, „Ich wünsche den meisten von euch eine schöne Pause.“

„Sie scheint dir gegenüber ja richtig nett eingestellt zu sein“, hörte sie Scarlett sarkastisch sagen, „Was hast du angestellt?“

Sie beeilte sich aus dem Raum zu kommen und war erleichtert, keine Blicke mehr in ihrem Rücken zu spüren. Sie stupste Catjill mit ihren Fingern an und fragte ihn, „Wo soll ich hingehen?“

Der Djinn rührte sich und spitzte dann die Ohren. Er schwieg für einen Moment und Etienne folgte dem Gang entlang zu den Treppen. In diesem Stockwerk gab es niemanden mehr, außer ihr. Von der Treppe drangen dumpfe Stimmen zu ihr empor.

Der Djinn gähnte und sagte schließlich, „Gehe zu der ersten Bibliothek, welche diese dauernd plappernde Frau dir gezeigt hat.“

„Vielen Dank“, sagte Etienne. Etienne folgte den Gängen und ignorierte die neugierigen Blicke der Jugendlichen. Catjill sah sich gelangweilt um und knurrte ab und zu unzufrieden über die Erschütterungen, als sie die Treppen hinunterlief. Etienne ging zielstrebig den Weg entlang, den sie sich gemerkt hatte, bis sie durch die Türen der Bibliothek treten konnte. Seltsamerweise befand sich hier niemand. Der Geruch nach Büchern und Papier überströmte sie und Etienne atmete tief durch. Es war angenehm still hier, eine beinahe beruhigende Stille im Kontrast zu den Geräuschen der fremden Menschenmengen, an denen sie vorbeigelaufen war und dessen neugierigen Blicke sich in sie gebohrt hatten. Sie ging tiefer in die Bibliothek und bemerkte schnell doch noch jemanden. Das blasse Mädchen aus ihrer Klasse. Sie wurde von Cruz mit dem Namen Meta angesprochen. Sie ging zu ihr herüber und betrachtete über ihre Schulter das Buch, das sie las.

„Lernst du eine alte Sprache?“, fragte Etienne dann lächelnd. Meta schrie auf und wirbelte im Stuhl zu ihr herum. Etienne lächelte entschuldigend und trat mit versöhnlich erhobenen Händen zurück, „Tut mir Leid.“

Sie sah Etienne mit ihren großen grauen Augen erschrocken an und sagte atemlos, „E-es tut mir leid. Ich wollte nicht schreien.“

„Nein, nein, ich muss mich entschuldigen. Ich hätte mich nicht so anschleichen sollen.“

In der Bibliothek herrschte eine solch ruhige Atmosphäre, dass Etienne das Bedürfnis verspürt hatte, ebenfalls ruhig zu sein. Es war aber nicht ihr Ziel gewesen, Meta zu erschrecken. So hatte sie sich ihren ersten Eindruck nicht vorgestellt.

Meta sah wieder zu ihrem Buch. Sie hatte ihre Hand gegen ihre Brust gepresst und Etienne war verwundert über diese Schreckhaftigkeit. Das konnte doch nicht nur an ihr liegen?

„Ist wirklich alles in Ordnung?“, fragte Etienne besorgt. Sie wollte ihr beim ersten Treffen keinen Herzinfarkt bescheren. Dies würde ihr beim Erreichen ihres Zieles wirklich nicht helfen und das arme Mädchen sollte auch nicht so früh ableben müssen. Immerhin hatte sie aber einen ersten kleinen Eindruck von ihr gewinnen können. Sie war still und ruhig, schien aufmerksam im Unterricht gewesen zu sein. Sie schien aber auch schreckhaft und unsicher. Leicht einzuschüchtern.

Das ist Sanskrit, nicht wahr?“

Etienne deutete auf ihr Buch. Meta blickte verwirrt zu diesem und dann wieder zu Etienne. Sie antwortete ihr nicht direkt, sondern sah sie weiterhin erschrocken an. Dann wanderten ihre Augen zu Catjill und Etienne hielt die Luft an. Sie starrte ihn an, als würde sie nicht verstehen, was ihr da entgegenblickte. Auch Catjill fing nach einem Moment nervös mit seinem Schwanz zu zucken.

Dann packte Meta das Buch, stand auf und sagte mit bebender Stimme, „Es tut mir leid, aber ich muss los.“

Sie rannte davon.

Ungläubig blickte Etienne ihr hinterher. Sie wusste nicht, wie sie damit umgehen sollte. Catjill schnaubte lachend an ihrer Schulter und sie wusste, er lachte sie aus.

„Ich habe gewonnen“, sagte er selbstzufrieden.

„Das Wettstarren?“, fragte sie ihn und lief ihr nach. Sie entdeckte Meta einige Gänge weiter. Sie hockte vor einer Wand, und hielt in der einen Hand ihre Tasche dicht an die Brust gedrückt. Mit der anderen Hand stützte sie sich gegen die Wand ab. Etienne wusste nicht so recht, wie sie diese junge Frau ansprechen sollte. Kurz fragte sie sich, ob sie Catjill vorschicken sollte. Ein kuscheliger Kater würde sie doch sicherlich beruhigen können. Und vielleicht wäre es auch eine gute Idee gewesen, wenn es nicht diese Reaktion gegeben hätte. Wie hatte Meta ihn überhaupt so deutlich wahrgenommen? Und wieso lief sie vor Etienne weg? Sie verstand immer noch nicht so ganz, was sie falsch gemacht hatte. Etienne wusste aber, dass wenn sie jetzt zu ihr treten würde, sie wahrscheinlich wirklich an einem Schrecken sterben würde.

Mit einem Blick auf die Uhr, welche das langsame Ende der Pause ankündigte, zwang sie sich dazu, die letzten Minuten zu nutzen. Doch Catjill hielt sie davon ab, „Warte ab.“

Aus einem anderen Gang waren lachende Stimmen zu vernehmen. Etienne sah, wie sich Meta versteifte und dann aufrichtete. Es kamen vier Schüler um die Ecke. Einen von ihnen erkannte Etienne als Crom, Raffaels Begleiter im Château de la Fortune. Er war mit drei weiteren, wie Etienne vermutete, Klassenkameraden unterwegs, welche alle die Uniform in denselben Mustern trugen, welche anders waren, als die von Meta und ihr.

Tiefere Klassen, dachte Etienne.

Oh Gott, ein Geist!“, rief einer von ihnen aus und deutete auf Meta, welche einen Schritt zurücktrat. Die anderen lachten. Crom verdrehte die Augen, „Können wir nicht einfach weitergehen?“

„Gleich, warte einen Moment“, erwiderte ein Dritter.

Crom seufzte und lehnte sich etwas Abseits an die Wand, „Ich will damit echt nichts zu tun haben. Lasst uns einfach gehen“, sagte er, machte jedoch keine Anstalt seine Klassenkameraden zum Weitergehen zu bewegen. Einer seiner drei Klassenkameraden blieb bei ihm stehen, die anderen beiden traten zu Meta.

Meta trat ein Paar weitere Schritte zurück.

Die zwei Jungen lachten. Dann sprang einer von ihnen nach vorne und zog an einer ihrer hellblonden Strähnen, „Bleichst du dir mit Absicht das Haar, um noch mehr einem Geist zu gleichen?“

Etienne dämmerte es. Das war also das Problem gewesen. Wahrscheinlich auch der Grund, weshalb sie so schreckhaft war. Trotz der Belästigung ihrer Schulkameraden, schwieg sie. Sie wehrte sich kaum und blickte ihnen auch nicht in die Augen und das, obwohl ihr Kopf von seinem Griff geneigt war und das Ziehen Schmerzenstränen in ihre Augen trieb.

Einer der beiden riss Meta das Buch weg und blätterte es durch, „Was ist das schon wieder für ein Schwachsinn?“

„Du solltest aufpassen, dass sie nicht nach Wegen sucht, dich zu verfluchen“, meinte der Junge, der neben Crom stand und das ganze ebenfalls aus der Ferne beobachtete.

Etienne musste beinahe lachen. Um jemanden zu verfluchen, war deutlich mehr nötig, als eine alte Sprache. Diese Menschen hatten keine Ahnung. Genau so, wie sie es von einem Bewohner von Calisteo erwartet hatte.

„Bitte gibt das wieder her“, sagte Meta leise und versuchte nach dem Buch zu greifen. Sie war aber um so vieles kleiner als die beiden.

„Was hältst du davon, die beiden zu erschrecken?“, fragte Catjill mit voller Tatendrang in seiner Stimme.

„Du machst gar nichts“, ermahnte sie ihn warnend. Er würde wahrscheinlich tief in die Zauberkiste greifen, um seinen Worten Taten folgen zu lassen und es gab keinen Grund, noch mehr Menschen auf ihn aufmerksam zu machen. Mal abgesehen davon fürchtete sie sich vor dem Chaos, das er auslösen könnte. Sie würde das selbst machen.

19. Der Stolz Calisteos: Meta (2)

 

Etienne trat von hinten zu ihnen und riss ihm das Buch aus der Hand. Er fuhr erschrocken zu ihr herum, seine schwarzen Haare, welche zu einem Zopf gebunden waren, schlugen ihr beinahe ins Gesicht.

„Von wo zur Hölle kommst du her?“

Aus diesem Gang dort hinter mir“, sagt sie. Dann wandte sie sich an Meta, „Ich habe dich schon gesucht. Ich hatte gehofft, wir könnten gemeinsam wieder hochgehen?“

Als sie den schmerzerfüllten Ausdruck in ihrem Gesicht sah, verspürte sie schlagartig das Bedürfnis, es zurückzuzahlen. Ihr Vater hatte ihr beigebracht, dass es immer ihre Pflicht war, die Schwachen zu beschützen. Es war eine kompromisslose Regel. Und dann setzte das schlechte Gewissen ein. Wenn sie vorher zu ihr getreten wäre, dann wäre sie jetzt nicht in dieser Situation.

Etienne lehnte sich zu Meta und flüsterte laut, „Vielleicht müssen wir uns dann nicht mit diesen Versagern abgeben?“

„Und wer zum Teufel bist du, um so mit mir zu reden?“, rief derjenige, der Meta am Haar hielt. Meta schlug seine Hand weg, doch er schien es nicht mal zu bemerken, als er sich an Etienne wandte. Einzelne Haare wurden zwischen seinen Fingern mitgezogen und fielen zu Boden.

„Ich bin Etienne“, antwortete sie ihm. Er hatte kein so langes Haar, wie der andere. Aber vielleicht konnte sie auch ein paar herausreißen? Und dann kam ihr eine bessere Idee. Vielleicht könnte sie einen Fluch weben, welcher ihn nach und nach die Haare verlieren lassen würde? Sie müsste vorher nur kalkulieren müssen, inwieweit sie sich das leisten konnte. Fluchfarbe war nicht günstig.

Du schon wieder?“, rief Crom aus und trat zu ihnen nach vorne.

Froh über ein weiteres Opfer, schnappte Etienne theatralisch nach Luft, „Oh nein! Der nächste Versager tritt dazu.

„Was wird das jetzt?“, rief Crom beleidigt aus.

„Ich spreche dich nur so an, wie du es verdient hast“, sagte Etienne lachend, „Wer hätte gedacht, dass Raffaels kleiner Freund sich zur Seite stellt, wenn eine junge Frau in Bedrängnis gerät. Vielleicht hast du es ja von ihm gelernt? Was sagt das nur über ihn aus?“

Crom bekam große Augen, „Er hat damit nichts zu tun. Und ich hab nichts gemacht!“

Du hast ein schutzloses Mädchen zwei Jungen ausgeliefert. Das nennst du nichts?“, fragte sie.

Crom verzog das Gesicht, „Was kümmert die dich überhaupt?“

Etienne ließ ein strahlendes Lächeln raus, „Sie ist meine neue Klassenkameradin.“

Die Blicke wanderten zu ihrer Uniform. Es war kurz still, dann sprangen die drei Jungen vor sie, „Du bist die neue Schülerin?“

Etienne nickte.

Die Aufregung schien sie zu übermannen und die zuvor angespannte Situation war vergessen. Sie bemerkte, wie Meta sich vorsichtig und leise hinter sie stellte und Etienne verspürte bei dem plötzlichen Interesse ebenfalls das Bedürfnis, etwas zwischen sich und die drei zu bringen.

„Wie hast du den Test geschafft?“, fragte einer von diesen aufgeregt.

Wie heißt du?“, fragte der Nächste, bevor Etienne auf die erste Frage antworten konnte. Crom stieß alle Drei beiseite, „Das ist nicht möglich, dass du schlauer bist als ich! Wie zur Hölle hat ein Idiot wie du es in die höhere Klasse geschafft?“

„Scheint, als wäre ich sehr viel schlauer als du“, erwiderte sie.

Crom verzog das Gesicht, „Das ist ein Witz.“

Raffaels Lachen erklang hinter ihnen, „Das dachte ich auch! War gerade auf der Suche nach dir, um die Neuigkeiten zu überbringen.“

Crom sah ihn aus großen Augen an. Die anderen Drei standen still hinter ihm. Einer blickte schuldbewusst zur Seite, die anderen zwei waren sichtlich glücklich, ihn zu sehen. Auch Etienne verspürte eine stille Erleichterung darüber, nicht mehr Fokus der Aufmerksamkeit zu sein.

„Was geht hier vor?“, fragte Raffael dann interessiert.

Du hast sehr gemeine Freunde, Raffael. Du enttäuschst mich“, sagte Etienne, in voller Absicht ihm das Ganze in die Schuhe zu schieben. Crom wirbelte erschrocken zu ihr herum, ebenso wie einige seiner Klassenkameraden.

Etienne würde sich davon nicht ablenken lassen. Das war nun ihre Möglichkeit, einige Sachen wieder geradezubiegen. Anstatt nun sorgsam darauf zu achten, ihm fair zuzuhören, um vernünftige Gespräche zu führen, würde sie stattdessen auf Angriff gehen.

Er sah lächelnd zu ihr, „Wieso ich?“

Weil es deine Freunde sind. Bist du auch ein Mädchenschläger? Oder schaust du dem gerne zu? Und dann auch noch der dreiste Diebstahl des Buches. Ah, ich sehe, daher auch der Diebstahl an mir.

Etienne, lass es“, hörte sie Meta hinter sich kaum zu vernehmen sagen.

„Davon ist überhaupt nichts der Fall!“, rief Crom aus.

Raffael blinzelte sie verwirrt an und sagte ernst, „Ich hab noch nie jemand wehrlosen geschlagen. Ich schaue auch nicht dabei zu. Und ich stehle auch nicht.“

Und ein gemeiner Lügner auch noch? Enttäuschend, wirklich enttäuschend.“

Ich lüge nicht“, verteidigte er sich und grinste sie dann an, „Oder kannst du es beweisen?“

Anstatt es ihm zu erlauben, sie in die Verteidigungsposition zu bringen, ließ sie ihrer Kreativität freien Lauf, „Du hast meinen Stein gestohlen, also hast du gestohlen und somit bist du ein Dieb, so ist auch die Behauptung du würdest nicht stehlen eine Lüge, weswegen du auch ein Lügner bist.“

Ich dachte wir sind uns einig geworden, dass ich den Stein ganz ehrlich erlangt habe?“, erwiderte er.

Etienne schnippte mit den Fingern, „Ich hab meine Meinung geändert.“

Sie hatte nach dem gestrigen Tag festgestellt, dass sie sich nur auf sein Spiel einlassen würde, wenn sie versuchte für Ordnung zu sorgen. Also hatte sie sich dazu entschlossen, das Chaos übernehmen zu lassen. Er könnte sie nicht an Verträge oder Versprechen binden, wenn sie ihm zeigte, dass er sich in diesen Fällen nicht auf sie verlassen konnte. Es war zwar in den heutigen Zeiten keine gute Taktik, sich als ein nicht zuverlässigen Partner zu etablieren. Aber das machte bei ihr keinen Unterschied mehr. Mal abgesehen davon, war sie kein Provinzherrscher. Er schon. Er musste zeigen, dass sein Wort galt. Sie nicht.

Raffael verzog das Gesicht, „So einfach funktioniert das nicht.“

„Natürlich. Ich habe gründlich darüber nachgedacht und das ist die einzig mögliche Schlussfolgerung.

Catjill lachte.

Einer der Jungen schrie auf, „Der Kater lebt?“

Etienne kraulte den Djinn hinter dem Ohr, „Ja. Und er kann reden.“

Raffael seufzte, als Etienne lachte, „Los Meta. Gehen wir zurück in die Klasse.“

Damit drehte sie sich um und Meta folgte ihr, wobei sie sich hinter Etienne zu ducken schien.

Was zur Hölle macht die hier?“, fragte Crom Raffael aufgebracht. Etienne konnte noch vernehmen, wie die anderen Schüler sich bei ihm entschuldigten und anfingen, die Situation zu erklären, bis sie um die Ecke gegangen waren und die Stimmen kaum noch vernehmen konnte.

Ah, diese Schule ist ganz schön gefährlich“, meinte Etienne lachend zu Meta.

„Ich…danke“, sagte Meta leise.

Etienne drehte sich zu ihr und lief rückwärts, „Keine Ursache. Du kannst also Sanskrit lesen?“

N-Nein. Ich versuche es zu lernen“, sagte sie scheu, „Ich hatte das Buch heute zum ersten Mal in der Hand.“

Etienne grinste und entschloss sich, ihr Wissen mit Meta zu teilen, „Oh da liegt aber ein langer Weg vor dir. Sanskrit ist sehr, sehr tot. Dafür, dass es eine Sprache der alten Welt ist, und ich meine die wirklich alte Welt, hat sie sich aber als erstaunlich hilfreich in der Neuen entpuppt.“

Kannst du Sanskrit?“, Etienne stellte fest, dass es sie anscheinend viel Mut gekostet hatte, diese Frage zu stellen. Sie beäugte Meta wachsam und diese blickte wie ein scheues Reh zu ihr.

Etienne machte es ihr leichter und ließ etwas Raum, eher sie Antwortete, „Vielleicht ein bisschen? Meine Familie benutzt sie gerne, weswegen ich wohl hier und da ein Sonderfall bin, der etwas kann. Gibt es hier in der Schule Möglichkeiten, sie zu lernen?“

Wir haben eine außerschulische Gruppe, welche diese Sprache lernt. Sie sind wirklich beeindruckend. Ich wünschte, ich könnte mit ihnen lernen. Sie machen das so einwandfrei“, sagte Meta lächelnd und Etienne freute sich, dass sie so sehr von dieser Sache gebannt war, dass sie ihre Angst langsam zu vergessen schien.

Sicher, dass sie das so einwandfrei können? Habt ihr einen anerkannten Sanskritübersetzer hier?“, fragte Etienne.

Meta schien zu zögern und antwortete dann, „Nein. Zumindest niemanden, der von allen Städten anerkannt wurde. Aber wir haben einige Lehrer hier, welche auf dem Weg sind, die Anerkennung zu bekommen.“

„Ich bin gespannt, diese Lehrer mal kennenzulernen“, sagte Etienne, „Ich habe ein wirklich großes Interesse an den verschiedenen Sprachen.“

Meta lächelte sie schüchtern an, „Ich auch. Vor allem die alten Sprachen.“

Etienne lächelte zurück, überrascht von dem neu erkannten, gemeinsamen Interesse. Vielleicht könnte sie sich mit ihr austauschen? Außerhalb ihrer ganzen anderen Planungen. Die Klingel läutete. Sie betrat ihre neue Klasse.

Plötzlich krachte eine große Faust neben ihrem Kopf in den Türrahmen und sie sah eingeschüchtert in zwei argwöhnische goldene Augen.

Was zur Hölle hast du bei meiner Schwester verloren?“, fragte Gilgian sie.

Gilgian-“, begann Meta, welche sich noch schnell mit der Hand über die Haare strich, welche zuvor so grob gepackt worden sind.

Getrieben von ihrem Instinkt strahlte Etienne ihn mit ihrem breitesten Lächeln an und versuchte ihre Nervosität zu überdecken, „Sie ist meine neue Freundin! Ich würde mich auch so sehr freuen, wenn wir das auch sein könnten.

Was?“, fragte er stirnrunzelnd. Meta errötete leicht. Sie sah überrascht zu Etienne, hatte etwas hoffnungsvolles und verletzliches in ihrem Ausdruck.

Auf die Plätze!“, schrie plötzlich eine Frauenstimme.

Etienne entdeckte am Pult eine sehr streng aussehende ältere Dame. Ihre scharfen Augen schienen Funken zu sprühen, als sie Etienne betrachtete, „Die Neue, nehme ich an? Etienne. Richtig?“

Wow“, meinte Raffael, als er hinter ihr in die Klasse trat und Gilgians Hand neben Etiennes Kopf entdeckte.

Die Lehrerin betrachtete sie streng, „Auf die Plätze.“

Raffael grinste sie an, „Ganz ruhig.“

Etienne setzte sich neben Anaki, welcher sie besorgt betrachtete. Die streng aussehende Frau ließ sich über Raffael aus.

Während dem Unterricht überlegte sie sich, was ihre beste Vorgehensweise im Hinblick auf Meta und den Stein sein sollte. Sie entschloss sich, nicht zu lange mit dem Handeln zu warten. Der Djinn hatte ihr eine Gelegenheit geboten, eine gute Beziehung zu Meta aufzubauen. Da Gilgian ihr gegenüber misstrauisch war, sollte sie besser schnell agieren. Sie glaubte nämlich nicht, dass sie in kurzer Zeit Gilgian auf ihre Seite ziehen könnte.

Sie blickte zu Meta und beobachtete sie dabei, wie sie aufmerksam der Lehrerin zuhörte und fleißig mitschrieb. Ob sie auch das Interesse hatte in die Administration zu gehen? Oder vielleicht in eine andere Stadt? Sie hatte noch nicht genug herausgefunden, um sich einen Plan zurechtzulegen, wie sie Meta davon überzeugen sollte, ihr zu helfen. Sollte sie also etwas mehr Zeit mit ihr verbringen, bevor sie sie fragen würde? Gilgian könnte ihr da jedoch in den Weg kommen.

Als sie einen Blick auf sich spürte, blickte sie zu Raffael und sah ihm direkt in die Augen. Er sah sie wachsam an und dann wanderte sein Blick zu Meta, verweilte dort kurz, eher er wieder fragend zu ihr zurückkehrte. Sie verstand nun sehr gut, weshalb Tatinne ihn eine Plage nannte.

Etienne sah nach vorne an die Tafel und hoffte, dass dieser qualvolle Unterricht bald vorbeigehen würde. Es fühlte sich wie eine Zeitverschwendung an. Immerhin hatte sie sich aber dazu entschlossen, noch direkt an diesem Tag zu handeln. Es war ein Problem, wenn sie Gilgian nicht überzeugen könnte, ihr gegenüber nicht so wachsam zu sein. Damit würde sie zurechtkommen. Was ihr jedoch ihr Vorhaben sprengen könnte, wäre es Raffael genug Zeit dafür zu geben, genau dies zu tun.

20. Die Geister der McClaines: Erstes Kennenlernen

Als Etiennes erster Schultag endete, war sie leicht deprimiert. Madamme O'Donnel war eine sehr strenge Lehrerin. Ihr Fach schien ihr Stolz zu sein und wenn dies nicht so von der Schülerseite erwidert wurde, dann nahm sie es persönlich. Und obwohl ihre Stunden eine Weile zurücklagen, saß das furchtbare Gefühl, der Wut dieser Frau ausgesetzt zu sein, tief unter der Haut.

Sie hasst mich“, stellte Etienne fest.

Anaki wusste sofort, worum es ging und lachte, „Wieso schläfst du auch in ihrem Unterricht? Das war dein erster Schultag und die ersten Stunden bei ihr. Einen noch schlechteren Eindruck hättest du nicht machen können.“

„Ich habe nicht geschlafen“, verteidigte sich Etienne, „Ich habe mich beim Zuhören nur auf die Arme gelegt.“

Anaki verdrehte die Augen.

Wir haben sie mindestens zwei Stunden am Tag“, sagte Scarlett fröhlich und schloss mit Raffael, Crom und Keyen zu ihnen auf. Eindeutig zu viele Menschen, die zu einer eigenen geschlossenen Gruppe gehörten.

Crom hatte vor dem Klassenzimmer auf sie gewartet. Etienne hatte bemerkt, wie er mit warmen Augen zu Scarlett geblickt hatte und sich diese Beobachtung im Hinterkopf vermerkt.

Etienne seufzte, „Na, zum Glück muss ich hier nicht meinen Abschluss machen.“

Raffael lachte, „Vielleicht sollte ich mein Angebot ändern auf: hier einen Abschluss machen.

„Welches Angebot?“, fragte Crom.

„Wir brauchen uns darüber nicht weiter zu unterhalten“, sagte Etienne an Raffael gewandt, „Mal abgesehen davon, bin ich jetzt verabredet.“

Sie trennte sich hastig von ihnen und ging einige Gänge weiter. In einem einsamen Gang blickte sie sich um. Ihr war niemand gefolgt, also weckte sie ihren Djinn.

„Ich will Meta allein treffen. Verschaffe mir eine Möglichkeit.“

Etienne hoffte darauf, dass sie noch außerschulische Aktivitäten hatte, von denen Miss Arvon gesprochen hatte. Meta und Gilgian mussten die Schule noch nicht verlassen haben. Zumindest hatte sie diese nicht auf dem Weg nach draußen gesehen.

Der Djinn schwebte über ihr und dann auf den Boden, „Wird das einer der Wünsche?“

Etienne lächelte ihn an, „Nein. Sie ist der schnellste Weg zum nächsten Stein und so lange ich nicht alle drei in meiner Hand habe, wirst du mir dabei helfen. Egal auf welchem Wege. So haben wir es ausgemacht.“

Sein Schwanz zuckte und er blickte sie weiterhin an. Etienne merkte, wie er versuchte, sich dem zu widersetzen. Doch es funktionierte nicht. Sie hatte sich, bevor sie den Djinn aufgesucht hatte, ganz genau überlegt, wie sie am effektivsten einen Vertrag mit ihm eingehen würde.

Sein Schwanz zuckte noch ein mal genervt und er sagte, „Was würdest nur ohne mich machen, du Idiot Etienne.“

Er nahm es ihr noch immer übel, wie sie ihn an sich gebunden hatte.

„Ich würde verzweifeln“, sagte Etienne, um ihn zu beschwichtigen.

Er richtete sich wieder stolz auf und meinte dann, „Sie müsste wieder in der Bibliothek sein.“

Etienne nickte ihm dankend zu und machte sich auf den Weg.

„Was ist mit Gilgian?“, fragte sie ihn.

Er flog neben ihr her, als sie durch die nun leeren Gänge ging.

„Er ist in der Turnhalle“, sagte Catjill ihr.

Etienne nickte nachdenklich. Als sie die Bibliothek erreichte, waren nun mehr Schüler dort. Viele saßen in Gruppen oder allein an den angereihten Tischen und schrieben sich Notizen oder lasen Bücher. Diesmal entdeckte Etienne auch eine freundlich aussehende Bibliothekarin, welche ihr freundlich zunickte und ihre Uniform musterte. Dann sagte sie ihr leise, „Willkommen an unserer stolzen Schule. Du darfst in den hinteren Räumen lernen. Soll ich dich dahin führen?“

Etienne zögerte kurz und nickte dann lächelnd. Sie beäugte das Namensschild der Frau, „Vielen Dank, Miss Roth.“

Die Dame lachte leise und sagte dann, „Ah, du bist ein Schatz. Eine Miss bin ich schon lange nicht mehr. Die Schüler können mich Adelle nennen und das trifft selbstverständlich auch auf dich zu.“

Etienne folgte ihr durch die Bücherregale bis nach ganz hinten zu einer Tür. Die Schüler beachteten sie diesmal nicht, alle waren fokussiert auf ihre Arbeit.

Adelle verwies auf die Tür und sagte, „Hier sind wir Schatz. Ich wünsche dir einen produktiven Aufenthalt. Wenn du Hilfe brauchst, kannst du dich jederzeit bei mir melden.“

Etienne bedankte sich und wartete, bis Adelle gegangen war. Dann ging sie einige Regale durch und betrachtete deren Inhalt. Erstaunlicherweise konnte sie einige Bücher erspähen, welche ihr Interesse weckten. Sie nahm einige heraus und ging dann zurück zu der Tür. Sie atmete kurz durch und trat durch diese hindurch. Zu ihrer Freude erblickte sie Meta, welche in einer hinteren Ecke im Raum, umgeben von Büchern still dasaß und las. Als Etienne hineintrat, hob sie den Kopf und erblickte sie. Ihre Augen blickten noch immer misstrauisch, doch anstatt sich zu ducken und den Blick zu senken, lächelte sie Etienne zögerlich an.

Etienne lächelte zurück, „Meta! Darf ich mich zu dir setzen?“

Meta blickte kurz zu der Tür, welche ins Schloss fiel und meinte dann, „Das kannst du. Khalas wird jedoch bald zurückkehren und ich will nicht, dass es zu Missverständnissen kommt.“

„Missverständnisse?“, fragte sie, als sie einen Stuhl zurückzog und sich ihr gegenüber setzte.

Meta sah sie kurz verwirrt an und dann fragte sie, „Wie lange bist du schon in der Stadt ... wenn ich fragen darf?“

„Das ist mein dritter Tag. Oh, aber ich kannte Calisteo schon eine Weile. Ich hab die Stadt einige Male besucht.“

Meta nickte, „Dann kannst du natürlich über die genauen Einzelheiten nicht aufgeklärt sein. Ich bin ein Anhänger der dritten Provinz und eine Verwandte des Provinzherrschers. Khalas passt nach der Schule auf mich auf.“

Etienne legte das Buch ab und öffnete es, „Bedeutet das, dass du und ich nichts miteinander zu tun haben dürfen?“

Sie schielte zu Meta, während sie in einigen Seiten herumblätterte. Meta schien jedoch einen Moment nachzudenken, „Ich glaube nicht, dass wir nichts miteinander zu tun haben dürfen. Aber du hast meine Situation heute erlebt. Khalas könnte auf falsche Schlussfolgerungen kommen.“

Etienne lächelte sie an, „Dann können wir es ihm sicherlich erklären. Ich habe mich sehr gefreut zu sehen, dass hier jemand an der Schule ist, der auch Interesse an alten Sprachen hat. Und so bin ich nicht allein in dieser Bibliothek. Darf ich so lange bei dir sitzen, wie ich noch kann?“

Meta lächelte schüchtern, „Das kannst du machen, aber ich habe dich vorgewarnt.“

Etienne lächelte zufrieden und widmete sich wieder ihrem Buch.

Sie sah, wie Meta neugierig herüberschielte, „Das hat nichts mit unseren Fächern zu tun, oder?“

Etienne sah wieder zu ihr, „Das ist eine Dokumentation einiger magischer Relikte, welche in den ersten Jahrzehnten nach der Entstehung der neuen Welt bestimmt werden konnten. Ich hatte gehofft etwas über die Austreibungsreliquien zu finden. Sie werden auch die Steine von Expulsio genannt.“

Meta sah sie fragend an, „Austreibungsreliquien? Du hast gesagt, du bist Exorzistin, oder? War das ernst gemeint?“

Etienne nickte, „Ich hab ein paar sehr wichtige Sachen vor mir. Es wäre wirklich schön, wenn ich die Steine zeitig finden könnte. Bisher hat sich das aber als sehr schwierig erwiesen. Nachdem ich den ersten gefunden hatte und sehr mühselig versucht habe ihn zu erlangen, wurde er mir einfach vor der Nase weggeschnappt“, sie seufzte, „Und nun wird meine dringliche Notwendigkeit, die Steine zu erlangen, auch noch gegen mich verwendet.“

Verständnis leuchtete in Metas Gesicht auf, „War es das, worum es vorhin im Gespräch mit Raffael ging?“

Etienne nickte, „Er hat ihn mir einfach gestohlen.“

Meta sah sie mitleidend an, „Er kann sehr hinterlistig sein, wenn er es will. Lass dich nicht auf vage ausformulierte Versprechen ein, die wird er drehen, wie er will.“

Lachend erwiderte Etienne, „Danke für die Warnung. Das habe ich auch schon mitbekommen. Nun denn, sei es zunächst drum. Ich habe ein paar Gründe zu vermuten, dass ich die anderen Steine hier in der Stadt finden könnte. Also habe ich mir gedacht, ich lese mir ein paar Bücher dazu durch.“

„Wir haben eine ganze Abteilung dazu in der Bibliothek im zweiten Stock. Da würdest du sicherlich noch sehr viel finden können“, informierte Meta sie.

Etienne bedachte ihre Bücher und fragte, „Was liest du da eigentlich? Wieder Sanskrit?“

„Nein. Ich mache ein Selbststudium. Ich will später Gilgian dabei helfen können, die Provinz besser zu verwalten. Von allen Provinzen geht es unserer am schlechtesten“, sie beäugte Etienne vorsichtig und zögerte, eher sie die nächsten Worte sprach, „Wenn ich mich hier gut anstelle, könnte ich vielleicht einigen Menschen helfen. Bastian Hartmann hatte einst gesagt, dass wenn nur jeder Mensch versuchen würde, einem anderen ein Bisschen zu helfen, dann würden wir in einer deutlich besseren Welt leben. Bisher hatte ich das nicht in die Tat umsetzen können. Aber ich habe es fest vor.“

Etienne war überrascht, dass von allen Überlebenden der alten Welt, Meta ausgerechnet ihn zitierte. Es gab viele mächtige Persönlichkeiten und Etienne kannte ihn. Er konnte jedoch nur in Zusammenarbeit mit den anderen, deutlich mächtigeren, Überlebenden seinen Worten Taten folgen lassen. Das hatte zur Folge gehabt, dass andere Menschen viel leisten mussten, um seinen Anforderungen gerecht zu werden. Etienne hielt nicht viel von ihm.

Meta errötete nach ihren Worten und blickte lachend weg, „Ich entschuldige mich. Ich weiß gar nicht, wo das alles herkommt, ich kann ja nicht mal mir selbst helfen. Normalerweise rede ich auch nicht über so etwas mit Fremden.“

Etienne lächelte sie an, „Mach dir nichts draus, mir wurde schon öfters gesagt, dass ich so eine Art habe, dass Menschen mir einfach alles anvertrauen. “

Meta lachte, „Wirklich? Vielleicht solltest du Therapeutin werden.“

Etienne lachte, „Ich bin nicht sehr gut darin, vernünftige Ratschläge zu geben.“

Meta lächelte sie an und Etienne stellte vorsichtig die erste persönliche Frage, Du und Gilgian, seid ihr wirklich Geschwister?“

Sie hatten Gemeinsamkeiten, waren zeitgleich aber so unterschiedlich, dass Etienne sich darüber wunderte.

Meta blickte sie verwundert an, „Nein. Streng genommen bin ich seine Cousine. Aber wir lebten schon zusammen, seit wir klein waren.“

Sie fing an, mit ihrer Hand über ihren Arm zu fahren. Die Augen wanderte kurz weit weg, doch dann fing sie sich schnell wieder und sah wieder zu Etienne. Die Augen mit der stechenden Augenfarbe blickten freundlich und schüchtern. Anders als Etiennes.

„Ich schätze, irgendwann haben wir uns einfach so genannt.“

„Es muss wirklich schön sein, jemandem so nahe stehen zu können.“

Meta biss sich auf die Unterlippe, während sie Etienne nun wieder vorsichtig musterte. Dann sagte sie, „Uns haben unsere Lebensumstände näher aneinander gebracht. Aber ich habe eher das Gefühl, dass ich ihm häufiger in Weg stehe, als dass ich eine Hilfe bin.

Etienne lachte und meine ermunternd, „Das Problem haben wahrscheinlich alle, dessen Angehörige in ihren höheren Positionen sitzen. Lass dich davon nicht unterkriegen.“

Meta entgegnete ihr strahlendes Lächeln mit einem verwirrten Blick, „Ich schätze, dass das so ist? Aber Scarlett ist zum Beispiel eine viel größere Hilfe an Raffael, als ich an Gilgian. Und Meng hilft Elias auch viel mehr. Ich wünschte mir, ich könnte auch so hilfreich sein.“

Doch dann lächelte sie wieder zuversichtlich und hob das Buch hoch, dass vor ihr lag, „Deswegen ganz viel lernen. Ich habe fest vor, ihm irgendwann jede Hilfe zurückzuzahlen, die ich von ihm bekommen habe.“

21. Die Geister der McClaines: Ein Hilfegesuch

Etienne verarbeitete still die ersten Informationen, tat so, als würde sie in ihrem ausgeliehenen Buch weiterlesen. Doch das Buch hatte sich schnell als nicht sonderlich hilfreich herausgestellt. Sie kannte es bereits, es hatte nur einen anderen Einband. Dann bemerkte sie einen schüchternen Blick von Meta.

„Was ist?“, fragte sie diese.

Meta legte ihr Hände in den Schoß und blickte nach unten. Dann schaute sie wieder zu Etienne und fragte, „Von wo bist du auf die Schule gewechselt?“

Etienne blinzelte verwirrt, überrascht von der Frage.

Meta schien sich gleich zurückzuziehen und hob abwehrend die Hände, während sie wie ein Wasserfall zu reden anfing, „Das fragen sich alle an der Schule. Es passiert äußerst selten, dass jemand die Schulen wechselt. In Calisteo ist die Struktur klar geregelt. Außer, wenn du von außerhalb kommst, was natürlich… natürlich sehr beeindruckend wäre. Ich schätze, ich habe mich bisher als erste getraut zu fragen?“

Sie merkte, wie Metas Wangen sich röteten, peinlich berührt darüber, eine Frage gestellt zu haben, die Etienne vielleicht zu nahe gehen könnte. Noch immer verwirrt darüber, dass Meta diese Frage überhaupt gestellt hat, lächelte sie dann und entschloss sich, ihr etwas Einblick zu gewähren, „Eigentlich, hab ich die Schule bis vor ein paar Jahren abgebrochen. Es gibt da etwas Wichtiges für mich zu tun. Leider musste ich wieder anfangen“, sie lachte, „Das ist alles Raffaels Schuld, wie du schon mitbekommen hast. Die Steine von Expulsio zu finden, ist meine größte Priorität“, dann seufzte sie schwer, „Ich könnte wirklich jede Hilfe gebrauchen, die ich bekommen könnte, stattdessen werde ich sabotiert. Mein Djinn kann mir auch nur begrenzt Unterstützung leisten. Was denkst du, werde ich in der Schule was zu den Steinen finden können?“

Meta blickte zur Seite, als würde sie nachdenken, dann fing sie wieder an, an ihrer Unterlippe zu knabbern, „Es kann sein, dass ich von den Austreibungsreliquien schon mal was gehört habe.“

„Ah ja?“, fragte Etienne nach. Sie sah, wie Meta sich nun auf die Oberlippe biss, während sie weiter zur Seite blickte. Dann atmete sie tief durch und blickte wieder vorsichtig zu Etienne, „Ich bin mir wirklich nicht sicher, ob ich das in der Schule aufgeschnappt habe oder … oder woanders.“

Sie rieb sich mit der Hand den Nacken und sah aus, als würde sie sich unwohl fühlen.

Etienne griff nach vorne und nahm ihre Hände in die ihren, „Weißt du zufällig etwas, was mir weiterhelfen könnte?“

Meta versteifte sich, als Etienne sie berührte. Sie sah erschrocken zu ihr und Etienne füllte die Pause, indem sie weiter sprach, „Entschuldige, dass ich so aufdringlich bin. Nach all der Zeit und dem Rückschlag mit dem ersten Stein und dieser andauernden Auseinandersetzung mit diesen Monstern, habe ich gerade einen kleinen Lichtblick gesehen. Du könntest mir wirklich so sehr helfen.

Sie ließ ihre Hände los und sah sie entschuldigend an, versuchte freundlich weiter zu lächeln und sich die Anspannung nicht anmerken zu lassen.

„Ist es so schlimm?“, fragte Meta.

Etienne seufzte schwer und nickte, „Das Château de la Fortune war furchterregend gewesen.“

Sie sah, wie Metas Blick sich wieder senkte und sie die Haut an ihren Fingernägeln kratzte.

Dann sah sie wieder zu Etienne, „Nun, vielleicht gibt es in dem alten Haus meines Vaters einige Aufzeichnungen.“

Etiennes Herz setzte einen Schlag aus. Dies hörte sich nach einer Spur an, die sie direkt angehen konnte, „Wirklich?“

Meta zog wieder entschuldigend die Schultern hoch, „Ich darf es aber nicht betreten. Niemand darf das.“

Das würde kein Problem für Etienne darstellen. Sie könnte sicherlich während der Schulzeit sich einschleichen. Bis dahin, würde sie sich mehr Informationen beschaffen.

Wieso?“, fragte sie bei Meta nach.

Gilgian meint, es sei gefährlich. Weißt du, mein Vater war sehr speziell, wenn es um sein Eigentum ging. Er ließ niemanden an die Gegenstände ran und … es gibt genug Geschichten von verschwundenen Dienern. Und so wie er war, vermute ich, dass er auch nach seinem Tod sein Schatz vor Anderen zu schützen versucht hat“, sie zuckte mit den Schultern, „Ich glaube, Gilgian hat recht, wenn er den Zutritt verbietet. Es ist gefährlich.

Etienne wischte ihre Aussage mit einer Hand weg, „Kein Problem. Damit komm ich klar. Als Exorzist komme ich an so manch gefährliche Orte. Meinst du, es wäre in Ordnung für dich, wenn ich mich dort mal umsehe?“

Meta zögerte, sichtbar irritiert von Etiennes Aussage, „Nein. Das ist wirklich keine gute Idee. Mal abgesehen davon, glaube ich nicht, dass du es betreten könntest.“

Etienne sah sie fragend an und Meta zögerte wieder. Dann atmete sie frustriert aus und sagte, „Wie gesagt, mein Vater war speziell. Nur Familienmitglieder können das Anwesen betreten. In seinen letzten Jahren … es ist schwer zu erklären.“

„Meinst du, er hat einen Irrezauber wirken lassen? Oder ihn selbst gewirkt?“, fragte Etienne.

„Nennt man das so?“, fragte Meta misstrauisch.

Etienne nickte, „Ich bin Exorzistin. Ich kenne mich damit aus. Das, was du beschreibst, passt am besten in diese Kategorie. So ist es auch mit den Wesen aus dem Château de la Fortune gewesen.“

Von diesen gab es verschiedene Sorten. Eines davon war sehr subtil. Wenn man als normaler Mensch nicht darauf achtete, dann ging man an Dingen einfach so vorbei, ohne ihnen Beachtung zu schenken. Nicht, weil jemand unaufmerksam war, sondern weil der Zauber einen einfach davon abhielt. Und dann gab es welche, welche die Menschen davon abhielt, einen bestimmten Weg einzuschlagen. Beispielsweise den Weg zu einem Anwesen.

Meta betrachtete sie zweifelnd, „Weiß man das wirklich als Exorzist? Ich dachte, diese wären auf menschengemachte Flüche spezialisiert?“

Etienne nickte, „Damit habe ich mich auch sehr viel beschäftigt. Aber es lohnt sich immer, sein Wissen zu erweitern. Was meinst du, könntest du mich vielleicht hereinbringen?“

Meta könnte ihr die Tür öffnen. Mehr brauchte Etienne nicht. Das wäre die leichtest Art und Weise hineinzukommen.

Meta schüttelte den Kopf, „Das ist eine furchtbare Idee, Etienne! Ich weiß nicht, was mein Vater alles an Sicherheitsmaßnahmen eingesetzt hat. Es war schon zu seinen Lebenszeiten schlimm. Ich bin mir sicher, nach seinem Tod ist es nicht besser. Außerdem hat Gilgian verboten, den Ort zu betreten.“

„Das ist die einzige Spur, die ich gerade habe. Was, wenn ich sonst nichts finde?“, fragte Etienne.

Meta zog die Schultern hoch, „Ich … vielleicht ist einfach keine gute Idee nach ihnen zu suchen? Du hast selbst gemeint, dir gefällt das nicht.“

„Ich könnte jemandem wirklich sehr helfen, wenn ich die Steine auftreibe“, sagte Etienne, „Sie sind besonders stark, wenn es gegen Flüche geht. Wenn ich sie nicht finde, dann wird jemandem etwas wirklich Fürchterliches passieren.“

Sie betrachtete Meta Gesicht. In diesem mischten sich verschiedene Gefühle zusammen. Etienne konnte Angst ausmachen, aber auch Mitleid und Sorge.

„Du hast selbst gesagt, dass wenn die Menschen mehr einander helfen würden, wir insgesamt an einem besseren Ort wären. Du könntest mir helfen. Und ich ihm. Wäre es wirklich so unmöglich, mich dahin zu begleiten und mir die Tür zu öffnen? Das ist alles, worum ich dich bitte.“

Etienne sah, wie Meta erschlagen den Blick senkte. Sie schwieg einige Momente. Etienne spürte, wie Catjill seine Magie verwendete und vernahm nach einem weiteren Moment, wie draußen etwas rumpelte. Ihr Herz schlug schneller, als ihr in den Sinn kam, dass es sich um einen Khalas handeln könnte, welcher sich vielleicht auf den Rückweg zu Meta machte.

Meta schien nichts davon mitbekommen zu haben. Sie schwieg noch immer und Etienne ließ ihr die Zeit zum Denken. Dafür, dass sie so hilflos schien, hinterfragte sie gar nicht mal so wenig und Etienne wollte sie nicht unnötig drängen. Hoffentlich war das die richtige Entscheidung.

Nach einer gefühlten Ewigkeit, in welcher Etienne besorgniserregend die besorgten Stimmen von außerhalb der Tür vernahm, seufzte Meta und ließ die Schultern sinken, „Ich begleite dich nur bis zur Tür.“

„Wirklich?“, fragte Etienne und Meta erwiderte geschlagen ihren Blick, „Nur bis zur Tür.“

Etienne strahlte sie mit dem besten Lächeln an, dass sie zustande bringen konnte, „Ich werde dir das nicht vergessen. Wann immer du meine Hilfe brauchst, sag es mir.“

Meta schüttelte den Kopf, „Ich brauche keine Gegenleistung. Außerdem … hast du mich auch nicht gefragt, als du mir in der Pause geholfen hast.“

Etienne lachte, „Vielleicht sind wir uns in dieser Einstellung ja ähnlich.“

Meta lächelte leicht und dann sackte das Lächeln in sich zusammen.

„Ich muss mir überlegen, was ich meinem Bruder sage“, flüsterte sie und sah aus, als würde sie ihre Zusage jetzt schon bereuen.

„Schreib ihm eine Nachricht. Wir können uns morgen früh treffen und du könntest ihm schreiben, dass du dir einen Tag zum Ausgehen nimmst.“

Meta sah sie ausdruckslos an und seufzte dann erneut, „Desto mehr du redest, desto schwerer machst du es mir gerade.“

Etienne schlug ihr Buch zu und stand auf, „Ich helfe, wo ich nur kann. Aber wenn das so ist, sollte ich besser schweigen und mich zu Hause vorbereiten.“

Meta lächelte wieder zögerlich, „Morgen um fünf, an dem kleinen Wald. Er heißt am Drachentor und es ist in meiner Provinz.“

Etienne nickte ihr zu, „Ich werde da sein. Vielen Dank. Ohne deine Hilfe wäre ich wirklich aufgeschmissen.“

Sie ging hinaus und beeilte sich von der Tür zu kommen, bevor sie von Khalas entdeckt werden konnte. Sie sah ihn vor einem Haufen Bücher stehen, welche am Boden lagen. Adelle stand schimpfend neben ihm.

„Du bist ja ganz schön hinterlistig“, meinte Catjill an ihrer Schulter, „Etienne die Hinterlistige. Ich mag das.“

Etienne seufzte und schlug den Weg durch einzelne Regale nach Draußen an.

Mitleid war nahezu immer der beste Anknüpfungspunkt, um Menschen zu einer kleinen Tat zu bewegen. Und wenn Meta nicht so sehr das Bedürfnis hätte, anderen zu helfen, dann würde Etienne nicht solch ein schlechtes Gewissen haben, es gegen sie zu nutzen. Aber sie wollte nicht noch einen Rückschlag in Kauf nehmen, erst recht nicht bei einem Menschen, bei dem es so gut funktionierte.

„So schlimm ist es nicht“, antwortete sie dem Djinn, „Sie bringt mich nur rein. Es ist nicht so, als hätte ich ihre Seele verlangt.“

Als sie hinaus in den Hof trat, konnte sie ihr Glück mit Meta kaum fassen. Sie war so gutherzig und hilfsbereit, dass es beinahe schon zu gut war, um wahr zu sein. Bei Raffael hat das Mitleid nicht funktioniert. Er hatte es ihr keinen Moment abgekauft. Sie musste herausfinden, was sie gegen ihn nutzen konnte. Und entgegen Metas Behauptung, dass Scarlett ihm eine solch große Hilfe war, dachte Etienne eher, dass es sich lohnen würde herauszufinden, ob sie seine Schwäche sein könnte. Das würde sie nach ihrem Ausflug am nächsten Morgen herausfinden.

Dann schoss ihr Tatinnes wütendes Gesicht in den Kopf. Etienne spürte den nächsten Seufzer sich anbahnen. Ihre Tante würde nicht glücklich mit ihr sein. Oder vielleicht doch? Weil Etienne so zielstrebig sich an ihr Ziel klammerte und es verfolgte? Oder nicht, weil sie morgen nicht in der Schule auftauchen würde? Etienne wusste noch immer nicht, was ihre Tante mit dem Schulbesuch anstreben wollte und das machte es ihr nicht leicht, ihre Reaktion zu erahnen.

22. Die Geister der McClaines: Metas Abenteuer

 

Noch bevor der Wecker richtig klingelte, schlug Metas Hand sanft aber schnell gegen das kalte Metall und brachte es zum Verstummen. Wie von Strom berührt hatte sie sich aufgerichtete und wartete wenige Minuten unbewegt, ob etwas zu hören war. Sie lebte in einem großen Haus. Es lebten hier zwar nur Gilgian und sie, jedoch waren hier auch hier viele andere Menschen untergebracht. Und vermutlich waren gerade mehrere Bedienstete unterwegs. Ihr Bruder schlief im Zimmer gegenüber. Sie lauschte angestrengt, konnte aber nichts hören. Also stand sie auf Zehenspitzen auf und schlich zu den Kleidern, die sie sich am Abend zuvor bereitgelegt hatte. Sie legte mit pochendem Herzen ihre Schlafkleidung ab. Zog langsam die andere Kleidung an. Jedes Rascheln fühlte sich viel zu laut an. Jeder Atemzug fühlte sich viel zu laut an. Ihr Bruder hatte ein verdammt gutes Gehör und sie wusste das nur zu gut. Umso mehr war jeder Moment, in welchem zu viele Geräusche hervorkamen, quittiert mit einem Moment des Wartens und einem verstohlenen Blick zur Tür.

Dann schöpfte sie mit ihren Händen etwas Wasser aus der Schüssel, welche sie sich, wie die Kleidung, am Abend zuvor bereitgestellt hatte. Desto weniger sie herumhantieren musste, desto leiser war sie, so zumindest ihre Theorie am Vortag. Aber jetzt fühlte sich das alles nicht so sicher an.

Nachdem sie fertig war, nahm sie sich ihre Schuhe und schlich zu der Tür, die sie einen Spalt offen gelassen hatte. So musste sie keine Geräusche des Schlosses fürchten. Sie sah zu dem Brief, den sie für Gilgian am Tisch gelassen hatte. Sie wusste nicht mehr, wann es das letzte Mal war, dass sie einen für ihn geschrieben hatte. Als Kinder hatten sie das öfters getan. Sich Nachrichten zugeschickt, diese an geheimen Orten versteckt und so miteinander gesprochen. Alles unentdeckt von den scharfen Augen ihres Vaters. Und es schmerzte sie diese kindliche Tradition von ihnen nutzte, um ihm gegenüber unehrlich zu sein.

Sie schlich auf den Flur und war froh über die weichen Teppiche, welche ihre Schritte dämpften. Die dicken Socken taten ihr restliches. Meta beeilte sich und fragte sich, wieso ihr Bruder nicht durch ihr rasendes Herz geweckt wurde. Als sie die Treppe erreicht hatte, sah sie sich erst einmal um, ob irgendwer auf dem Gang war. Dann beeilte sie sich hinunter. Ein Paar weitere Gänge und Treppen folgten und Meta nahm sich vor, demnächst in ein Zimmer etwas näher am Haupteingang zu ziehen. Aber nur, sollten noch einmal solch eine Aktion vorhaben. Meta fragte sich zum tausendsten Male, wieso sie überhaupt mitmachte. Sie hatte sich fest vorgenommen diese verfluchte Villa niemals wieder zu betreten. Ihr Vater war grausam gewesen. Wäre Gilgian damals nicht für sie da gewesen, dann wäre sie kaputtgegangen. Es waren fast zwei Jahre vergangen, aber sie konnte sich noch sehr gut an die Ereignisse von damals erinnern. Nicht zuletzt, weil die Menschen aus Calisteo sie immer daran erinnerten. Manche nur mit ihren Blicken, andere mit ihren Taten. Sie zeigten ihr, wer sie war. Die seltsame, verfluchte Tochter eines verstorbenen Herrschers, welche mit ihrer Anwesenheit die Menschen immer daran erinnerte, wie viele Opfer die Herrschaft ihres Vaters den Menschen gebracht hat.

Sie zog die Schuhe an und schlich durch die Tür, sobald sie sich vergewissert hatte, dass da niemand war. Dann grub sie ihre mickrigen Schauspieltalente aus und ging aufrecht und langsam, wie jeden morgen, aus der Villa. Meta wünschte sich, sie hätte etwas von Scarletts Schauspieltalenten.

Kühle Morgenluft schlug ihr entgegen, ebenso wie das Gezwitscher von Vögeln. Sie wusste, sie würde bei den vielen Menschen in der Villa nicht unbemerkt durch den Garten kommen. Es gab wenige Bäume und es musste nur aus dem Fenster geschaut werden, um sie zu sehen. Es würde wahrscheinlich viel Verwirrung und Misstrauen geben, wenn man sie in geduckter Haltung rennen sah. Und dann würden sie wahrscheinlich schnell Gilgian wecken und er würde sie finden. So aber sah es einfach nach einem frühen Sparziergang aus. Es war auch gar nicht so selten, dass sie es mal tat. Vor allem früh im Sommer, wenn die Morgenluft nach einem warmen Tag roch, ging sie gerne durch die Gärten. Im Winter eher weniger. Es würde sie hoffentlich also keiner beachten, wie sonst normalerweise auch immer.

Meta ging durch die Stadt, beobachtete die wenigen Menschen, die aus ihren Apartments heraus kam und sich auf den Weg zur Arbeit machten. Es waren nicht viele unterwegs, dafür war es noch zu früher. Aber in einer Stunde, würden die Straßen voller werden. Die Häuser in ihrer Provinz waren äußerlich nicht so sauber, wie die von Elias’ Provinz. Aber dafür waren sie innerlich gut ausgestattet, gut isoliert und die Menschen konnten sich auf eine sichere Unterkunft verlassen. Anders war es bei Raffael, dessen Provinz vom alten Herrscher regelrecht ausgebeutet wurde. Doch nach dem, was sie im letzten Jahr mitbekommen hatte, kümmerte er sich bereits darum. Als Bürger der zweiten Provinz kannte er sich sicherlich sehr gut mit den Problemen der Bewohner aus.

Als Meta die vertrauten Straßen entlang ging, entdeckte sie ein neues Zeichen an der Wand eines Hauses. Sie blieb stehen und betrachtete es nachdenklich. Sie hatte es noch nicht so häufig gesehen, aber sie wusste, dass es sich um eine neue Bande handelte. Die Gruppe war wahrscheinlich noch sehr klein, hatte nicht viele Anhänger, oder es handelte sich um Kinder, welche Späße trieben, was sehr gefährlich werden konnte. Das konnte immer ausufern, vor allem, wenn andere Banden auf sie aufmerksam werden würden. Sie hoffte inständig, dass sich die Beziehungen zwischen den Provinzen bessern würde, denn keiner profitierte mehr von den Kämpfen, als diese ganzen Banden, die versuchten ihre Macht auszubauen.

Sie schaffte es rechtzeitig zu dem Eingang des Waldes. Von hier aus, waren es nur wenige Minuten bis zu der alten Villa ihres Vaters, welche an der inneren Mauer von Calisteo gebaut worden war. Genauso war es auch mit den anderen Häusern der Provinzherrscher. Damals hatten die Gründer der Stadt es so gewollt, dass deren Herrscher die Menschen als Erstes vor Feinden schützen sollten. Daraus ist nicht viel geworden.

Meta blickte auf die teure Uhr an ihrem Handgelenk. Diese hatte sie von ihrem Bruder, vor kapp zwei Monaten, zum Geburtstag geschenkt bekommen. Sie war bis heute heil geblieben, aber es würde eh keiner wagen, ihren Sachen, die beinahe alle von Gilgian kamen, etwas anzutun. Ihr Bruder würde die Namen der Schuldigen aus ihr herausquetschen und denjenigen dann verprügeln. Meta wollte das nicht, auch wenn sie diese ganzen Hänseleien wirklich hasste. Sie fragte sich, wieso Etienne ihr geholfen hatte. Es müsste teilweise daran liegen, dass Etienne neu in der Stadt war. Sie kannte die ganzen Probleme nicht. Oder vielleicht sah sie in Meta ein leichtes Ziel. Sie war es auch. Das wusste sie selbst, dennoch hatte sie es nicht geschafft Nein zu sagen, als Etienne sie um Hilfe gebeten hatte.

„Oh, so eine ähnliche habe ich auch“, sagte Etienne, als sie plötzlich mit einem strahlenden Lächeln vor ihr auftauchte.

Meta sprang mit einem Aufschrei zurück, „Etienne!“

Etienne zeigte ihr Handgelenk und an diesem war eine schwarze Armbanduhr zu sehen. Meta konnte diese jedoch nicht beachten.

„Bitte hör auf damit“, sagte sie schimpfen, ohne zu wissen, woher dieser Mut gerade herkam, „das ist das zweite Mal.“

Etienne senkte ihre Hand und grinste sie weiterhin an. Im Gegensatz zu Meta, hatte sie eine robuste dunkelgrüne Jacke an und Jeans, welche in dicken Schuhen mündeten.

Der Kater schlief auf ihrer Schulter. Meta würde gerne erfahren, woher Etienne ihn hatte. Sie waren selten. Sie erfüllten aber keine Wünsche, wie in den alten Geschichten von Aladdin. Genau genommen wusste niemand, was sie taten. Außer vielleicht die großen Familien, wie die Cerreas oder die Petyrer. Aber sie teilten ihre Geheimnisse nicht. Mit niemandem und wenn, dann nur für einen hohen Preis. Die Petyrer gingen sogar so weit, dass sie niemanden in ihre Städte ließen, genauso wie es die Mandragonrys nie taten. Das hatte Metas Vater wahnsinnig gemacht, denn er hatte nie etwas von ihnen bekommen können, weder Informationen noch Wissen noch Artefakte. Es gab nur einmal eine Einladung zu dem Shukriyaa-Fest, von welchem er vollkommen verändert wiedergekommen war.

All diese großen Familien konnten auf erste Überlebende der neuen Welt zurückgeführt werden. Sie gaben sich größte Mühe, ihr Blut rein zu halten und ihre Geheimnisse nicht nach Außen dringen zu lassen. Ähnlich war es bei den Cerreas der Fall, diese waren jedoch offener und diplomatischer. Was auch immer ihr Vater mit ihnen Erlebt hatte, es war der Wendepunkt ihres allen Lebens, welcher zu seinem Tod geführt hat.

Etienne tänzelte um sie herum, „Wohin gehen wir?“

Meta wunderte sich über ihre Neugier und ihren Eifer. Sie atmete tief durch, denn es war das erste Mal, dass sie etwas Verbotenes tat. Und das für ein Mädchen, dass sie erst seit gestern kannte … Sie war verrückt geworden.

23. Die Geister der McClaines: Der Weg zur Villa

 

Etienne hatte wirklich Mühe, so früh aufzustehen. Sie hatte die Nacht zuvor mit Planen verbracht. Und damit, sich vor Tatinne zu rechtfertigen, nachdem Catjill ihr über Etiennes kleine Verstöße in der Schule unterrichtet hat. Dafür hat er von ihr eine Packung Süßigkeiten bekommen, welche er genüsslich verschlungen hat, während Etienne säuerlich den Ärger über sich hat ergehen lassen.

Doch auf ihrem Weg zu der verabredeten Stelle, war sie durch den schönen Morgen munterer geworden und war hocherfreut gewesen, Meta an der verabredeten Stelle vorzufinden. Wenn sie nicht aufgetaucht wäre, dann hätte sie sich alleine auf den Weg gemacht.

„Hier entlang“, sagte diese und folgte dem gepflegten Weg durch den kleinen Wald, dessen Bäume in perfekten Reihen nebeneinander standen. Sie warfen Schatten auf den Kieselweg. Hölzerne Balken waren an diesem aufgestellt und manchmal waren sie mit Seilen verbunden, welche in regelmäßigen Abständen rote Markierungen hatten. Öfters lagen diese Seile aber auch am Boden und es schien sich eine Weile niemand um sie gekümmert zu haben.

Manchmal sah sie hinter den Bäumen vereinzelte eckige Gebäude, welche wahrscheinlich aus mehreren Wohnungen bestanden. Sie sahen äußerlich schäbig aus und Etienne fragte sich, ob es innerlich genauso aussah.

Sie befanden sich in Gilgians Provinz. Meta war gekleidet in einem dicken Pullover und einer einfachen Jeans. Über ihrem linken Oberarm hatte sie ein rotes, schickes Tuch. Wie Etienne von Tatinne gestern erfahren hatte, hatte jedes Provinzmitglied ein Zeichen der Provinz an sich. Ein Zeichen der Zugehörigkeit, welches sie bisher nicht nur an Meta entdeckt hatte. Um den Oberarm, Bein, Hals, immer in einem dunklen Rot. Das war vielleicht das Zeichen von Gilgians Menschen.

Meta?“

Die grauen Augen huschten zu ihr.

Ist das rote Tuch das Zeichen eurer Provinz?“

Meta sah zum Tuch an ihrem Oberarm, „Ja.“

„Ist es nicht leicht, nachzuahmen? Habt ihr keine Angst, dass sich jemand als Mitglied eurer Provinz ausgibt?“

Meta lächelte, „Nein. Die Strafen sind sehr hoch und es gibt eine einvernehmliche Zustimmung unter den Provinzen, dass wenn jemand das macht, er keine Hilfe von seiner Provinz zu erwarten hat. Wenn du damit erwischt wirst, wird es gefährlich.“

„Das hört sich furchtbar an“, sagte Etienne und merkte sich die Information. Es würde sich lohnen, zu wissen, wer zu wem gehört. Vor allem bei Menschen, die ihr fremd sind.

„Gibt es Zeichen von Elias' und Raffaels Provinzen?“

Meta nickte, „Ja. Elias' Provinzmitglieder haben eine Brosche mit einer Welle. Raffael hätte seines gerne geändert. Nexim hat den Menschen vorgegeben, sich tätowieren zu lassen. Es ist ein Birnenzweig mit zwei Blüten. Er hat es schon vor Jahrzehnten eingeführt und die Kinder wurden als erstes mit diesem Zeichen markiert. Dann irgendwann nach und nach die Erwachsenen, nach einer gründlichen Prüfung. Raffael hat es abgeschafft und wechselt langsam zu einer Brosche über. Aber er lässt das alte Zeichen weiterhin gelten. Ist nicht so, als könnten die Leute was dagegen machen.“

„War Tätowieren nicht unpraktisch?“

„Ich kann dir nicht sagen, wie er damals dazu kam. Da war ich noch nicht geboren“, meinte sie mit einem entschuldigendem Lächeln und führte dann weiter aus, „Mein Lehrer meinte aber, dass Nexim furchtbar misstrauisch war. Auf diese Weise wollte er seine Menschen markieren und ging davon aus, dass das keiner leicht nachmachen konnte. Die Einigung zwischen den Provinzen war sehr eindeutig. Es wurde in den anderen Provinzen also nicht angeboten, sich zu tätowieren. Mal abgesehen davon, ist es nicht leicht, die Farbe zu produzieren und Nexims Provinz hat alleine deswegen ein Teil ihrer Ausgaben in Gesteine Mineralien aus anderen Städten eingesetzt. Das wollten die anderen Provinzen nicht. Und Nexim hat akribisch Buchführung führend lassen und Lizenzen dafür wurden selten ausgegeben. Und wurdest du dabei erwischt, dass du es ohne eine Lizenz tätowiert hast, dann war er nicht wirklich gnädig. Das war eine Art von ihm, Kontrolle über seine Menschen auszuüben. So die Erklärung von meinem Lehrer.“

„Ist das so?“, fragte Etienne und dachte über das Gesagte nach, „Ein Lehrer aus der Schule?“

„Nein“, meinte Meta, „Das war noch, bevor ich an die Schule kam. Ich wurde zu Hause unterrichtet.“

Sie liefen eine Weile weiter und bogen in einen kleinen Pfad ein, welcher zu seiner Linken und Rechten in unregelmäßigen Abständen mit verschiedenen Statuen versehen war. Die Wohnblöcke hatten sie schon vor einer Weile hinter sich gelassen. Hier gab es auch sehr wenige Menschen, die ihnen begegneten. Einmal sah sie eine Gruppe von Jugendlichen, welche rauchten und welche sie beide misstrauisch betrachteten. Einer von ihnen warf seinen Stummel in ihre Richtung. Etienne wunderte sich, ob der Tabak importiert war oder ob sie in Raffaels Provinz etwas davon anpflanzten. Denn so wie Tatinne ihr erzählt hatte, war vor allem seine Provinz diejenige, welche viel zur Verpflegung der Menschen Calisteos anbauten.

„Muss ich mir Sorgen machen, dass die uns angreifen?“, fragte Etienne. Meta blickte zu den jungen Menschen und schüttelte den Kopf, „Nicht, solange du mit mir hier bist. In unserer Provinz wagt es niemand in meine Nähe zu kommen. Die anderen Provinzen sind meistens eher das Problem. Wobei vor allem die Menschen des neutralen Stadtteils sich viel erlauben können. Sie gelten als unser Gleichgewicht. Es wagt nie jemand, ihnen etwas zu tun. Gilgian sollte sie niemals angreifen. Er würde es aber tun, wenn er jemals Wind von den ganzen Sticheleien bekommt. Und wenn auf der nächsten Titelseite steht, dass der so ungeliebte Herrscher der dritten Provinz, gegenüber denen der neutralen gewalttätig war, dann wird es uns nur Ärger bescheren. Das kann ich nicht zulassen.“

„Ist das der Grund, weshalb Crom abseits stand?“, fragte Etienne.

Meta lächelte sie an, „Er ist so nah an Raffael, er kann es sich nicht leisten mich anzugreifen. Das würde Gilgian nicht durchgehen lassen und das Problem wäre dann auf einmal nicht mehr zwischenmenschlich, sondern zwischen Provinzen. Die anderen hingegen“, sie seufzte schwer, „Ich sollte mich mehr wehren.“

„Soll ich dir zeigen, wo man als kleiner Mensch zuschlägt?“, fragte Etienne und blickte sich weiter um, mittlerweile wachsam. Ein Schaudern ging ihr durch den Körper und es fühlte sich kälter an als sonst.

„Um Himmels willen, ich würde mir die Hände brechen“, erwiderte Meta lachend. Etienne schätzte sie auch nicht als Kämpfer ein.

Sie liefen weiter am Pfad entlang, große Bäume zu ihrer rechten und Wiese zu ihrer linken. Die Schatten, welche die Bäume auf sie warfen, beunruhigten Etienne. Es fühlte sich genauso furchteinflößend an, wie die ersten Minuten, die sie im Château de la Fortune verbracht hatte. Sie hatte in die Schatten geblickt und es hatte sich angefühlt, als würden sie zurückschauen. Bis dann wirklich etwas zurückgeschaut hat und die Situation schnell durcheinander wurde. Ihr Djinn hatte ihr geraten, nicht den Raum zu wechseln und sie damit beinahe den Monstern ausgesetzt, welche im Raum der Lebenden residiert hatten.

Sag, Meta, kommt es mir nur so vor oder wird es wirklich angsteinflößend hier?“

Hm?“, Meta sah sie verwirrt an, dann blickte sie sich um, „Stimmt. Ich lebte einst hier, deswegen bemerke ich es kaum. Das liegt an einem Zauber meines Vaters. Es dient zur Abschreckung, meistens hat es geklappt.“

Nur meistens?“

Meta lächelte sie an, „Nun, ich will nicht gemein sein, aber dann gab es noch Leute wie dich, die es nicht erwarten konnten, dahin zu kommen.“

Etienne lachte, „Das trifft ganz gut auf mich zu. Was hat er mit diesen Menschen gemacht?“

Meta presste die Lippen zusammen, „Ich weiß es nicht. Ich habe sie nie wieder gesehen und Vater meinte, er habe sie eine Strafe absitzen lassen. Aber auf einmal gab es viele Gerüchte in unserer Provinz, dass mein Vater sie dorthin gelockt und dann verschwinden lassen ließ. Ich glaube nicht an sie. Aber sie sind hartnäckig geblieben. Und heute glauben noch immer Menschen daran.“

„Wenn sie keine Beweise haben und du nachweisen kannst, dass dein Vater nichts damit zu tun hatte, dann könnte das die Gerüchte entkräften“, meinte Etienne. Manchmal lohnte es sich, gegen Gerüchte zu kämpfen. Etienne selbst sah jedoch nicht ein, wieso sie ihre Kraft verschwenden sollte. Sie empfand diese sowieso eher als lästig, als belastend.

„Ich denke nicht, dass ich sie vom Gegenteil überzeugen kann, also lasse ich es einfach.“

Nach knapp zwei Minuten kamen sie an einem großen Tor mit einem endlos aussehenden Zaun an. Sie waren weit gelaufen. Es hatte allein schon lange gedauert, von Tatinnes Haus zu dem kleinen Wald zu kommen, welcher tief in Gilgians Provinz lag. Und nun war sie ein gutes Stück mit Meta unterwegs gewesen und die Stadtmauer war näher und näher gekommen.

Das Gebäude war Teil der Mauer, sah aus, als wäre es aus dieser in das Innere der Stadt herauswachsen. Die Ziegel hatten eine ähnliche Farbe, so auch die Türme, welche an der Mauer empor wuchsen und über sie hinaus als Ausguck herausragten. Es war ein dunkles Braun, welches aufgrund des langen Schattens der Mauer noch dunkler aussah.

Aber es war der Vorgarten, welcher Etiennes Aufmerksamkeit am meisten in Anspruch nahm. Die Erde hinter dem Tor war in tiefstem Schwarz und sie war sich ziemlich sicher, es lag nicht am Schatten der Mauer. Es gab keine Blumen, Gras oder gesunde Bäume. Die goldenen und roten Farben des Herbstes gab es hier nicht. Stattdessen war alles dunkel und das auf einen Schlag, direkt hinter dem Tor.

Meta lächelte nervös, „Daran kann ich mich aber nicht erinnern.“

„Wie kommen wir über das Tor?“, fragte Etienne.

Meta sah zum Schloss, „Gilgian hat die Schlüssel. Ich wollte ihn nicht nach ihnen fragen, um das Gespräch hierüber zu vermeiden. Ich dachte mir, du wirst sicherlich schon eine Idee haben?“

Etienne streichelte dem Kater den Kopf, „Aufwachen Catjill. Wir sind da.“

Der Kater gab ein Geräusch von sich und hob den Kopf. Er sprang von Etiennes Schulter und streckte sich dann. Dann bedachte er mit seinen sonderbaren Augen die Umgebung.

„Wieso muss ich eigentlich immer mit?“, fragte er und Etienne hörte den Missmut in seiner Stimme.

Weil du mir helfen musst.“

24. Die Geister der McClaines: Das Eindringen

 

Meta sah sich den Djinn an. Wenn nicht die ungewöhnliche Fellfarbe und die Augen, dann würde sie ihn mit einem richtigen Kater verwechseln. Sie würde ihm so gerne ein paar Fragen stellen. Wo er herkam und wie er normalerweise lebte. Aber sie traute sich nicht.

„Dort vorne ist die Eingangstür“, sagte Meta und zeigte durch die Gitter zu der mit Gold verzierten schweren Tür der Villa, „Ich kann dich bis nach dahin begleiten und dabei sein, wenn du sie öffnest. Der Zauber von meinem Vater sollte so lange aussetzen, immerhin bin ich seine direkte Verwandte. Danach musst du mich wieder auf die andere Seite des Zaunes bringen.“

Etienne nickte, „Das hört sich machbar an. Sicher, dass man nicht den Schlüssel haben muss?“

Meta schüttelte den Kopf, „Wir hatten so viele Bedienstete zu der Zeit, welche ihm in seiner Anwesenheit Dinge gebracht hatten, welche er näher untersuchen wollte. Es wäre sehr unpraktisch für ihn, wenn nur seine Blutsverwandten das Anwesen öffnen könnten.“

„Dann probieren wir das aus“, sagte Etienne.

„Wie kommen wir über den Zaun?“, fragte Meta.

Wir springen“, sagte Etienne schlicht.

Meta sah sie mürrisch an, „Du machst dich über mich lustig. Das schaffe ich niemals. Wahrscheinlich würde ich mir bei dem Versuch was brechen. Oder von den Spitzen aufgespießt werden.“

Etienne sah sie abschätzend an und dann blickte sie zum Zaun. Meta zögerte, als Etienne Catjill auffordernd zunickte. Misstrauisch bedachte sie den Djinn, welcher seine ungewöhnlichen Augen schloss. Dann verlor sie den Boden unter ihren Füßen. Sie schrie überrascht auf, als sich weiter und weiter von ihm entfernte und fing panisch an, mit den Beinen zu strampeln.

Bleib ruhig“, rief Etienne ihr von unten zu, „Einfach still bleiben, du fällst nicht.“

Meta versuchte die Panik zu unterdrücken, doch sie hielt ihr Herz fest umklammert. Es fühlte sich furchtbar an, nicht die Kontrolle über ihren Körper zu haben, keinen Halt von der Umwelt zu bekommen. Sie hatte Angst, sie würde nach hinten umfallen. Als die Stacheln näher kamen, wollte sie sich ganz klein machen, aus Angst, dass diese sie aufspießen würden. Ihr Herz schlug so hart, dass es ihr fast schon weh tat. Dann kam der Boden immer näher und als sie ihre Füße ihn berühren konnten, war sie erleichtert. Zeitgleich wurde ihr schlecht. Der Kater schwebte über den Zaun zu ihr und legte sich auf ihren Kopf, was sie beruhigte und verunsicherte. Sie wusste nicht, wie sie mit ihm umgehen sollte. Was, wenn sie ihn irgendwie beleidigte und er sie verzauberte?

„Du schuldest mir was dafür“, sagte der Djinn und Meta sah wieder zu Etienne, welche noch immer auf der anderen Seite des Zauns war. Sie wünschte sich, Etienne wäre mit ihr hier drüben. Meta wollte nicht alleine in ihrem alten Zuhause sein.

Etienne ging einige Schritte zurück, während ihre Augen über die Metallstäbe des Zaunes wanderten, „Wie wäre es, mit etwas zu Essen? Ich besorge dir etwas auf dem Rückweg. Du darfst aussuchen, aber nur ein Gericht.“

Sie zog dunkle Handschuhe an und streckte sich.

Meta spürte, wie der wuschelige Schwanz des Katers hin und her schwang und über ihren Nacken fuhr. Er fühlte sich furchtbar weich an und sie wollte ihn mit ihren Händen berühren. Sie hatte bisher nur einmal eine Katze in ihrem Leben gesehen und diese nur kurz, weil ihr Vater sie weiterverkauft hat.

„Das ist ganz schön wenig für meine Magie.“

„So viel hast du jetzt auch nicht gemacht“, rief Etienne ihm zu, „Ich kenne den Wert, Catjll. Und mein Angebot ist sehr großzügig.“

Meta verstand nicht, worüber sie redeten. Es war offensichtlich, dass sie einen Preis verhandelten, aber sie fragte sich, ob Etienne nicht sowieso schon einen Vertrag mit dem Djinn geschlossen haben musste. Fiel seine Hilfe nicht dort rein?

Etienne lief los und sprang. Sie hielt sich mit beiden Händen an den Stangen fest und nutzte ihre Beine, um höher zu klettern. Meta hielt die Luft an. Das sah so gefährlich aus. Dann schwang sie sich über die Stacheln und ihre Hände ließen diese kurz los und griffen sie dann von der anderen Seite. Das laute Geräusch, als ihre Füße gegen sie wieder aufprallten, spürte Meta bis in die Knochen.

„Oh mein Gott!“, rief Meta aus und Etienne blickte über die Schulter zu ihr. Ein Bild huschte Meta durch den Kopf, wie Etienne den Griff nicht wieder bekommen hätte und mit dem Gesicht in den Stacheln gelandet wäre.

„Alles in Ordnung?“, fragte Etienne, während sie etwas runterrutschte und dann auf den Boden sprang.

Meta schnappte nach Luft, ihr Herz schlug heftig gegen ihre Brust, „Das hättest du besser auch mit deinem Kater machen sollen. Was, wenn du dich an den Spitzen verletzt hättest?“

„Catjill“, sagte der Djinn, „Wie wäre es mit einer Danksagung an meine Wenigkeit? Du bist nicht gerade leicht.“

„Niemand ist für dich leicht. Und mutig von dir, das zu sagen, nachdem ich dich jeden Tag herumtrage“, sagte Etienne lachend und sah sich dann in der Umgebung um, „Gruselig hier.“

Meta atmete tief durch und sah auf die Uhr. Ihr Bruder müsste schon wach und unterwegs zur Schule sein. Hoffte sie. Wahrscheinlich war er müde. Seine Mitarbeiter hatten gestern viel von ihm verlangt. Er war so wütend gewesen, dass sie Angst gehabt hatte, er würde explodieren. Aber wie immer, hatte er es nicht getan.

Los gehts!“, rief Etienne und machte sich dann auf den Weg zum Haus.

Musst du immer so durch die Gegend schreien?“, fragte der Djinn.

Ich hab nicht geschrien. Außerdem versuche ich motivierend zu sein.“

Du bist nicht motivierend. Nichteinmal deine Stimme ist motivierend.“

Catjill“, meinte Etienne beleidigt und dann an Meta gewandt, „Schau dir diesen Djinn an. Er hat nichts als böse Worte für mich übrig!“

Meta lächelte über deren Streit. Ihre Worte beruhigten sie etwas, lenkten sie von dem Ort ab, an dem sie aufgewachsen war und welcher nun so schrecklich schien. Sie hörte, wie es im vertrockneten Gebüsch raschelte und sah sich um.

„Ich nehme dein Preis an“, sagte Catjill. Etienne nickte ihm zu.

Sie durchquerten schnell den Hof. Früher führten viele geschwungene Wege durch diesen hindurch und es gab einzelne grüne Grasinseln, welche dekoriert waren mit Statuen und hübsch beschnittenen Bäumen und Blumensträuchern. Die Statuen, an denen sie vorbeigingen, waren mit toten Ranken bedeckt. Die Bäume waren nur noch dürres Holz. Meta konnte nicht einmal Insekten ausmachen, welche in diesen leben könnten.

„Ich verstehe nicht, wieso alles so tot aussieht. Selbst wenn sich keiner in den letzten Jahren um den Ort gekümmert hat, wir haben hier sehr freundliches Klima für Pflanzen“, sagte Meta. Sie ging etwas näher zu Etienne, welche sich gründlich umsah. Metas Finger waren kalt und sie versuchte sie aufzuwärmen, doch als sie diese mehrmals schloss und öffnete, schmerzten ihr nur die Gelenke von.

„Um diese Frage zu lösen, müssten wir zur Quelle des Problems vorstoßen. Diese wird wahrscheinlich im Haus sein.“

Es erstreckte sich vor ihnen, hinter diesem die große Mauer, welche sich mächtig und ewig anfühlte. Das Gebäude war in drei Teile aufgeteilt. Mit dem Hauptteil in der Mitte waren über Durchgänge jeweils links und rechts zwei weitere, kleinere Teile verbunden. Die Durchgänge wurden von runden Säulen gehalten, welche oben und unten mit Mustern verziert waren. Der Blick von dort oben auf den Garten war sehr schön gewesen. Auch der Blick nach oben war schön gewesen, vor allem im Sommer, wenn das Licht der Sonne durch die Fensterscheiben fiel und alles erhellt hatte. Ihr Vater hat so viel investiert und seine Menschen furchtbar viel dafür arbeiten lassen. Er wollte es moderner machen, mehr an die alte Welt annähern. Die Fensterfront war nun mit weißen Vorhängen bedeckt, welche sich sanft bewegten. Meta vermutete, dass dort Fenster geöffnet sein mussten, was jedoch keinen Sinn ergab, da Gilgian alles verschlossen haben musste.

Meta fühlte ein Schaudern durch ihren Körper gehen, „ich muss nicht zur Quelle des Problems. Das Geheimnis will ich nicht herausfinden.“

Etienne lachte, so unglaublich unbeschwert, dass Meta sich wunderte, ob sie es nur tat, um Meta ein Gefühl von Sicherheit zu geben.

„Wie du magst. Aber das war mal dein Zuhause. Bist du sicher?“

Meta nickte, auch wenn etwas Zweifel in ihr aufstieg. Die schlechten Erinnerungen überwogen eindeutig. Aber es gab auch schöne. Ihr Großvater, welcher ihr immer die Geschichte über die Stadtgründer erzählt hatte, war immer mit schönen Erinnerungen verbunden. Als ganz kleines Kind hatte er sie noch kennengelernt.

Sie kamen an den Hauseingangstreppen an, von denen Meta hätte schwören können, dass der Granit früher viel heller war. In einem Halbkreis, welcher immer enger wurde, führten sie zu der mit Gold verzierten schweren Tür. Das Gold leuchtete ihnen bedrohlich entgegen. Damals war es ihr nicht bewusst gewesen, doch nun wunderte sie sich, woher ihr Vater das ganze Gold herhatte. Und wieso hatte er es an diese lächerliche Tür verschwendet? Das hätte man in der Elektrotechnik nutzen können, in … in Halbleitern oder so? Khalas kannte sich da besser aus.

Meta sah fragend zu Etienne.

Was?“, meinte diese.

Du musst die Tür öffnen, ich habe keine Schlüssel“, erinnerte Meta sie.

„Natürlich“, sagte Etienne, „Ich war so in Gedanken über diesen Ort, dass ich es beinahe schon vergessen hatte.“

Etienne hob die Hand und zog den Griff herunter. Mit einem Klacken öffnete sich die Tür und als Etienne an ihr drückte, war ein langgezogenes Quietschen zu hören, als sie sich langsam Öffnete und die Dunkelheit im Innenbereich enthüllte.

„Das war erstaunlich einfach“, sagte Etienne.

Meta blickte mit großen Augen zu der Tür, „Ich bin mir sehr sicher, Gilgian hätte sie nicht offen gelassen.“

„Offensichtlich war sie aber nicht abgeschlossen“, meinte Catjill. Sein Fell richtete sich etwas auf und er sprang von Meta herunter und kletterte an Etiennes Jacke hoch auf ihre Schulter, betrachtete mit einem nervösen Blick den Eingang. Meta bemerkte, wie er sich hinter Etienne duckte und war verwirrt von dem Anblick. Djinns galten als mächtig. Wenn er so viel Angst hatte, dann musste da drin etwas Furchtbares auf sie warten.

Ich würde sagen, ihr schickt mich wieder zurück“, sagte Meta.

Etienne und Catjill sahen wieder zu ihr und Meta entdeckte dieselbe Beunruhigung und Angst in Catjills Augen, welche die ihre widerspiegelte.

„Kann ich mit ihr gehen?“, fragte Catjill.

Etienne lachte, „Auf keinen Fall. Du kommst mit mir.“

Mürrisch sprang er von Meta herunter zu Etienne, welche in den Raum blickte.

„Was denkst du, wo ich was finden könnte?“

Meta zuckte mit den Schultern, „Ich schätze mal im Arbeitszimmer im zweiten Stock? Im Rechten Teil des Hauses.“

„Im zweiten Stock“, wiederholte Etienne, dann seufzte sie, „Nun gut, lass uns dich hier herausbringen.“

„Vielleicht sollten wir etwas vor die Tür legen, damit sie nicht zufällt“, meinte Catjill.

„Das ist eine gute Idee“, sagte Etienne und blickte lächelnd zu Meta, „Sonst müssten wir dich gleich wieder hereinholen.“

Sie gingen zurück zum Hof und Meta beobachte Etienne dabei, wie sie einen Ziegelstein, welcher die frühere Grasfläche von dem Weg trennte, heraus grub.

Sie blickte sich immer wieder um und Meta tat es ihr nach. Desto länger sie hier war, desto mehr bekam sie das Gefühl, dass ein innerer Frust sie in seinen Griff nahm. Etienne stand mit dem Stein in den Händen auf.

„Die sind ganz schön schwer.“

Meta hört schon wieder ein Rascheln und verspannte sich. Es war windstill und es sah nicht so aus, als wären hier Tiere. Keine Erklärung für diese Geräusche zu finden machten sie wahnsinnig.

Etienne drehte sich zu ihr und sie schien so unbeschwert, dass sich Meta fragte, ob sie sich die Sachen einfach nur einbildete.

Etienne ging zur Tür, als sie ein Knurren hörten, welches sie erstarren ließ. Catjills Fell sträubte sich auf und Meta fing flach zu atmen an, als sie hinter Etienne blickte und dort gelbe Augen aus dem trockenen Gebüsch sie fixierten. Die Gestalt ließ sich nur schwer erahnen.

„Oh mein Gott, Etienne“, wimmerte Meta leise.

Etienne sah hinter sich und Meta wartete angespannt, als sie das Wesen betrachtete. Catjill sprang von ihr zu Meta, welche weiter weg von dem Monster war.

25. Die Geister der McClaines: Die Flucht nach vorne

 

„Wir gehen langsam rein“, sagte Etienne ruhig. Sie griff den Backstein in eine Hand und trat vorsichtig zurück. Meta riss die Augen von dem Wesen und sah hinter sich. Die Tür stand weit offen, wie eine Einladung zum Eintreten.

„Soll das ein Witz sein?“, fragte sie panisch.

„Aktuell sehe ich keine Möglichkeit, sich woanders zurückzuziehen“, sagte Etienne, „Und ich weiß noch nicht, ob das ein Hund ist oder ein Geist.“

Metas Herz schlug erneut gegen ihre Brust und sie zwang sich, ihre Beine zu bewegen, welche sich nun schwer anfühlten. Es kostete sie so viel Kraft. Sie trat vorsichtig zurück.

„Catjill“, sagte Etienne, „Check den Innenbereich.“

Der Kater knurrte, tat dann aber, wie sie ihm befohlen hatte. Seine tröstliche Wärme an ihren Schultern verschwand und Meta spürte, wie eine kalte Brise über sie hinüberschwappte.
„Da ist nichts drin“, sagte er.

„Dann langsam rein“, sagte Etienne.

Meta wimmerte, folgte dann widerstrebend dem Djinn, welcher sich bereits an der Türschwelle befand. Dann zögerte sie jedoch und blickte wieder zum Tor, „Ist das wirklich nicht möglich?“

Die Gestalt trat aus dem Gebüsch. Ein dürrer, knochiger Hund mit scharfen Zähnen, welche in ihre Richtung gefletscht wurden.

„Gehe rein, Meta“, sagte Etienne. Der Hund sprang auf sie zu und Meta zuckte mit einem Schrei zusammen. Etienne holte aus und warf den Backstein in sein Gesicht. Es jaulte auf und dann verschwand er in einem Schatten, welcher sich kurze Zeit später wieder zu seiner alten Form formte.

Etienne drehte sich auf dem Absatz um und lief auf Meta zu, welche sie dann an der Hand packte und mit hineinzog. Meta lief ihr hinterher und versuchte dabei nicht über ihre eigenen Füße zu stolpern. Sie sah, wie die Tür näher kam, dann fand sie sich auf einem Schlag im Dunkeln wieder. Sie hörte keine Geräusche mehr von Außen. Kein Knurren oder Jaulen. Nur ihren lauten Herzschlag, welcher ihr zu verstehen gab, dass sie einen furchtbaren Fehler begangen hatte, hierher zurückzukommen.

 

Etienne zog im Dunkeln ihre alte Halskette heraus, welche sie einst bei einem Turnier gewonnen hatte, als sie noch jünger war. Sie stellte sich vor, was sie wollte und ließ den Wunsch auf die Kette überspringen, welche sodann in einem weißen Licht den Raum hell erleuchtete.

„Schon viel besser, nicht wahr?“

Sie blickte sich nach Meta um, welche zitternd neben ihr stand und ihre Hand so fest umklammert hielt, dass Etienne Sorge hatte, Metas Hand würde vor Krampf nie wieder aufgehen. Sie antwortete ihr nicht.

„Catjill?“, fragte Etienne und der Kater kletterte auf ihre Schulter. Erneut war sie froh darüber, sich die Jacke besorgt zu haben. Sie war ihr Stolz und ihre Sicherheit und nun schützte sie Etienne vor Catjills scharfen Krallen, von denen Etienne sich sicher war, dass er sie mit Absicht so scharf machte.

Etienne trat zu Meta und sah ihr in die Augen, „Ist alles in Ordnung bei dir?“

Meta sah sie aus ihren großen grauen Augen an, „Ich will hier raus.“

Etienne nickte verstehend, „Das kann ich mir vorstellen. Ich bin mir jedoch nicht sicher, ob wir da jetzt rausgehen sollten.“

Metas Atem beschleunigte sich und Etienne strich ihr beruhigend über die Schultern, wie sie es bei einem alten Freund beobachtet hatte, welcher jemand anderen getröstet hatte.

„Es ist alles in Ordnung, Meta. Solange ich hier bin, wird dir nichts passieren.“

Etienne krammte in ihrem Kopf nach anderen tröstlichen Worten oder Taten, welche sie bei ihm gesehen hatte. Stirn an Stirn, tief in die Augen schauen. Solche Sachen, die scheinbar geholfen hatten. Würde das bei Meta funktionieren?

„Was war das für ein Wesen?“, fragte Meta.

Etienne lächelte sie an, „Ich bin mir noch nicht ganz sicher.“

Sie hatte eine Vermutung, doch diese würde sie zunächst für sich behalten. Es war besser, ihr nicht noch mehr Angst zu machen. Etienne musste verhindern, dass Meta in Panik verfiel, denn sonst war sie sich nicht sicher, ob sie für ihre Sicherheit sorgen konnte. Notfalls müsste sie den Djinn bei ihr lassen und sich selbst auf die Suche machen.

Kurz verfluchte sie sich selbst und Raffael und die Tatsache, dass sie viel zu übereilt gehandelt hatte. Sie hätte sich noch einen Tag nehmen sollen und wenigstens alleine diesen Ort etwas ausspähen sollen.

Wenn sie alleine war, dann konnte sie sich in solche Situationen hineinstürzen. Mit Meta hier, war dies jedoch ein großes Problem. Etienne war so selten unter Menschen gewesen, dass sie manchmal vergaß, wie fragil einige von ihnen waren.

„Was sollen wir machen?“, fragte Meta weiter. Etienne war froh darüber. Ihr war es lieber, wenn sie Fragen stellte, anstatt in einer Schockstarre zu verharren.

Sie wägte ihre Worte kurz ab, überlegte sich, ob sie Meta täuschen sollte, um ihr die Angst zu ersparen. Entschied sich dann jedoch dagegen, „Ich gehe in solchen Situationen tiefer hinein, um nach der Ursache des Problems zu suchen. Und ich bin mir sicher, wir finden eine.“

Meta atmete tief durch und rieb sich mit der Hand die Stirn, „Das kann nicht dein Ernst sein. Woher willst du so sicher sein?“

Etienne lachte, „Tut mir Leid. Aber ich bin Exorzist, so handhaben wir das. So einfach, wie wir in dieses Haus reingekommen sind, bin ich mir ziemlich sicher, dass wir nicht so einfach rauskommen.“

Meta ging in die Hocke und vergrub ihr Gesicht in ihren Händen.

„Das kann nicht dein Ernst sein“, wiederholte sie leise, mehr zu sich, als zu ihr.

Etienne gab ihr etwas Zeit, sich zu beruhigen und sah sich währenddessen im Zimmer um, welches in ihr kaltes weißes Licht getaucht wurde. Sie entdeckte viele, mit Staub bedeckte, Möbel. Es standen Vasen auf Tischen, welche verwelkte Blumen hielten. Die schweren Vorhänge waren vor die Fenster geschoben, sodass kein warmes Sonnenlicht eindringen konnte. Etienne war sich sicher, dass heute das Wetter gut sein sollte. Die Atmosphäre im Vorgarten ergab für sie keinen Sinn. Es hatte regnerisch ausgehen.

Sie sah wieder zu Meta und änderte die Farbe des Lichtes von weiß zu einem wärmeren Farbton. Nun leuchtete es um sie herum in Gelb. Ihr war der kalte Farbton lieber, so konnte sie mehr sehen. Aber vielleicht würde die warme Farbe Meta etwas dabei helfen, sich zu beruhigen.

„Komm schon Meta“, sagte sie und zog sie hoch, „Ich brauche dich konzentriert und gefasst.“

Meta ließ sich hochziehen und atmete noch ein mal tief durch, „Ok.“

Sie sah zu ihrer Kette, welche Etienne in der Hand hielt, die Schnur um ihre Hand gewickelt.

„Was ist das?“, fragte sie in einer zittrigen Stimme.

Etienne antwortete ihr ausführlich, um sie etwas abzulenken, „Es ist ein gewöhnliches Artefakt. Nichts Besonderes. Es kann die Farbe ändern und hell leuchten. Und es kann die Farbe von Gegenständen ändern, wenn ich etwas damit berühre.“

Sie hielt den Stein an ihre Jacke, welche auf einen Schlag weiß wurde.

Meta blinzelte verwirrt, „Das hört sich aber nicht nach etwas Gewöhnlichem an.“

„Oh, das ist es. Eigentlich ist es ziemlich nutzlos. Außer es als Lichtquelle zu benutzen, kann ich es kaum für etwas gebrauchen. Was natürlich nicht bedeutet, dass es leicht herzustellen ist.“

Sie änderte die Farbe der Jacke zurück.

Meta nickte. Sie schwieg und schloss dann kurz die Augen. Dann blickte sie nach einem leisen Durchatmen wieder zu Etienne und sagt mit dünner Stimme, „Vielleicht sollten wir ins Arbeitszimmer meines Vaters gehen. Er hat auch ein Schatzzimmer, in welchem er die ganzen Sachen gesammelt hat. Vielleicht hat er irgendwas in seinen letzten Tagen reingebracht, was das Ganze hier verursacht.“

Etienne nickte lächelnd, „Dann machen wir das. Laufe hinter mir und beschreibe mir den Weg. Catjill, du hältst deine Sinne offen und sagst mir, wenn sich etwas in unserer Nähe befindet.“

„Ich hasse es, dass du mich aus meinem Wald geholt hast“, sagte er.

Etienne lachte, „Das ist eine Lüge. Und tue nicht so, als wäre es dort besser gewesen.“

Sie drehte sich zu der Treppe, welche auf der anderen Seite des Raumes war und setzte sich in Bewegung. Ihre Schritte wurden durch den einst roten Teppich gedämpft.

Sie gingen hinauf und Etienne sah sich wachsam um. Nichts rührte sich.

„Nach rechts. Dann durch die Tür den langen Gang entlang. So kommen wir im Arbeitsbereich meines Vaters an“

Die Stimme war schwach und zittrig. Etienne machte sich Sorgen, dass sie erneut die Fassung verlieren würde. Sie würde dafür sorgen, dass Meta nichts geschah. Zeitgleich vermerkte sie sich aber, dass Meta ihr mehr eine Last, als eine Hilfe sein würde. Wenn sie in Panik verfallen würde, müsste sie sich etwas überlegen, um Metas und ihre eigene Sicherheit zu garantieren.

So ein Mist, dachte sie. Es war wirklich nicht der Plan gewesen, sie mit ins Haus zu schleppen.

Aus ihrem Augenwinkel sah sie Catjill, welcher an das Geländer ging und es sogleich bereute, als Staub an seinen Pfoten hängen blieb.

„Komm zu mir“, sagte Etienne zu ihm. Sie mochte es nicht, dass er so viele Spuren hinterließ. Er befolgte nur zu bereitwillig ihre Anweisung und Etienne unterdrückte ein Seufzen. Sie hatte zwei furchtbar ängstliche Wesen bei sich, um welche sie sich kümmern musste. Das würde ein anstrengender Ausflug werden.

Sie trat an eine Tür heran, „Ist es hier?“

Meta sagte nichts und Etienne blickte zu ihr. Dann schüttelte Meta den Kopf, „Entschuldige, ich habe genickt. Ja, das ist hier.“

Etienne lächelte und öffnete die Tür. Vor ihr erstreckte sich ein langer Gang, an dessen beiden Seiten weiße Vorhänge still hinunterhingen. Sie vermutete hier die Fenster, welche sie von Außen erblickt hatte. So viel Stoff löste in ihr ein Gefühl der Bedrohung aus. Er hing jedoch nicht bis an den Boden. Es würde sich niemand dahinter verstecken können, so viel war sicher. Dennoch mochte sie es nicht, wie schwer es ihr fiel den Überblick über den dunklen Gang zu bekommen.

„Gibt es ein Problem?“, fragte Catjill ungeduldig.

Etienne versuchte mehr vom Gang zu erahnen, ihr Licht reichte jedoch nicht so weit. Sie schüttelte den Kopf und ging vorsichtig vor. Nach einigen Schritten spürte sie einen leichten Luftzug, welcher sie erschaudern ließ. Sie sah sich um, entdeckte aber nichts. Die Vorhänge hingen weiter ruhig hinunter, an der geöffneten Tür war niemand.

War das Magie oder Wind?, fragte sie sich. Sie war sehr magieempfindlich. Ihr Körper spürte sie, wie kaltes Wasser, welches auf sie traf. Und manchmal, wenn die Zauber oder die Flüche wirklich intensiv waren, dann konnte es weh tun. Nicht selten hatte diese Gabe sie rechtzeitig vor Gefahren gewarnt.

Das Licht beleuchtete nun auch das andere Ende des Ganges. Es gab weiterhin nichts zu sehen, also gingen sie weiter.

Als sie fast an der anderen Seite angekommen waren, spürte sie ein Schaudern ihren Nacken hinauf wandern.

Sie sah sich wieder um. Meta wimmerte leise hinter ihr, „Ich bin mir wirklich unsicher. Vielleicht sollten wir wieder zurückgehen? Vielleicht ist das Tier nicht mehr da und du kannst mich schnell über den Zaun schaffen?“

Sie hielt Etiennes Hand so fest, dass es schon weh tat. Etienne spürte ihre Fingernägel durch die Handschuhe und war froh, diese anzuhaben. Sie drehte sich zu Meta um und wollte sie erneut beruhigen, ihr versichern, dass so lange sie bei ihr blieb, ihr nichts passieren würde. Sie hielt jedoch inne, als sie merkte, wie sich hinter Meta etwas regte. Ein Vorhang wehte sanft hin und her. Meta spannte sich an, als sie ihren Blick entdeckte und dann sah sie sich um. Auch sie entdeckte den Vorhang und die Fingernägel gruben sich tiefer in Etiennes Hand.

„Was ist...? War…?“, fragte sie. Ihre Stimme zitterte und brach.

Etienne atmete durch, „Nein, ich bin mir sehr sicher, dass kein Fenster geöffnet ist.“

„Wirklich?“, fragte Catjill, „Vielleicht hast du es übersehen. Du hast auch die verdammte Tür im Château übersehen, welche genau vor dir war.

Ich habe sie nicht übersehen. Du hast mich in den falschen Gang geschickt. Und ich sollte eher fragen, ob du dir sicher bist, dass hier nichts ist? “, erwiderte sie.

Er gab ein beleidigtes Geräusch von sich, „Natürlich ist hier nichts! Ich hab das ordentlich durchgeschaut, uns sollte nichts in den Weg kommen. Zumindest noch nicht.“

Etienne blickte hinter ihre Schulter, wo ein weiterer dunkler Gang sich erstreckte. Dann sah sie wieder zum wehenden Vorhang, an welchem sie wieder vorbeimüssten, wenn sie Meta herausschaffen wollte.

„Lass uns weiter.“

„Etienne …“, meinte Meta widersprechend. Dann schwang der Vorhang sehr stark nach oben und fiel sanft wieder hinunter. Meta schwieg, sah mit großen Augen in den Gang.

Etienne zog an ihrem Arm und sagte eindringlich, „Ich glaube wir gehen jetzt.“

Meta ließ sich mitziehen. Stolperte über ihre Füße, als sie versuchte hinter Etienne zu kommen.

Dann schwang der Vorhang wieder hinauf und hinab und sie hörten ein Wimmern. Der Vorhang senkte sich diesmal nicht direkt und fiel über eine Form, welche Etienne physisch nicht ausmachen konnte, und das versetzte sie in Unruhe. Etienne fragte alarmierend, „Catjill. Was ist das? Ein Geist?“

Plötzlich rannte Meta los und Etienne lief ihr sofort hinterher. Sie beeilte sich, sie einzuholen, versuchte ihren Arm zu erwischen, damit sie nicht von ihr getrennt werden würde.

Verflucht, dachte sie. Sie wäre um so viel besser dran, wenn sie sich nicht um Andere kümmern müsste. Aber etwas sagte ihr, dass Meta in diesem Haus sehr erwünscht war.

26. Die Geister der McClaines: Gilgian und Raffael

 

Als Gilgian in der Schule ankam, war er noch verwirrter als am Morgen. Metas Brief ließ ihn ratlos zurück. Irgendwie widersprach er sich. Wahrscheinlich hatte das neue Balg damit zu tun. Taucht einfach auf und macht, was es will. Genauso wie die zwei Idioten, die er beinahe jeden Tag ertragen musste. Wieso starben sie nicht einfach einen langen, qualvollen Tod, um niemanden weiter zu nerven? War das zu viel verlangt?

Dann unterdrückte er ein Seufzen, wie ein Verlierer, welcher sein Leben nicht auf der Reihe bekam. Gilgian wollte wirklich dem Balg die Schuld geben. Aber er konnte nicht, denn es war nicht erst seit gestern so, dass er und Meta kaum miteinander sprachen. Wann hatten sie das letzte Mal ein richtiges Gespräch miteinander geführt? Und nun solch eine kryptische Entfernung. Vielleicht hätte er vor ein paar Tagen doch nachfragen sollen. Aber er hatte gekniffen … wie ein Verlierer. Die gehässigen Worte seiner Kindheit kreisten ihm im Kopf herum.

Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und machte die Tür auf. Wie immer war Gilgian einer der ersten in der Klasse. Man sah es ihm vielleicht nicht an, aber er wollte eine gute Bildung haben. Er wollte zu dem werden, was sein Vater gewesen war. Nur nervten die Lehrer ihn. Und zwar ständig. Fünf Lehrer, die er fast jeden Tag sah und nicht einer von denen konnte einfach normal sein. Er seufzte und warf seine Tasche neben seinen Tisch. Khalas war bereits da. Mit seiner Brille und den zu großen Streberkleidern sah er wie ein unschuldiger Junge aus. Er hatte nichts an sich, was einen fantastischen Boxer vermuten ließ. Gilgian hatte einmal gegen ihn gekämpft und nur mit viel Mühe gewonnen. Deswegen hatte Gilgian ihn bei sich. Einen sehr guten Kämpfer, der ihm zur Not beistehen würde. Aber er sollte nicht Gilgian, sondern seine Schwester beschützen. Nicht, dass Gilgian nicht selbst dazu in der Lage gewesen wäre. Er wollte aber, dass sie in sicheren Händen war, falls es einen direkten Angriff auf ihn geben sollte. Und Khalas war gut genug dazu. Und wenn nicht, würde Gilgian ihm alle Knochen brechen.

„Wo ist Meta?“, fragte dieser.

„Nicht hier“, knurrte Gilgian.

Und damit war das Gespräch beendet. Ein weiterer Grund, weshalb Gilgian ihn gewählt hatte. Eine Antwort reichte ihm, er brauchte nicht nachzuhaken, so hielt er danach immer den Mund und nervte ihn nicht unnötig. Nicht so wie diese nervigen Arbeiter, die wie Fliegen um ihn herumschwirrten und ihm erzählen wollten, was er noch alles für die Provinz machen sollte.

Du musst die Verträge durchlesen, äffte er sie in seinem Kopf nach, Du musst eine Entscheidung zum Budget treffen.

Er hasste sie. Und er hasste diese Arbeit. Und es war nur Raffaels Schuld, dass er sie noch einige Jahre machen musste.

Langsam trödelten alle in die Klasse. Scarlett, die Kuh, kam ebenfalls als eine der Ersten. Dann die ganze, hinterhältige Eliastruppe. Obwohl Gilgian Scarlett absolut nicht mochte, war es beachtenswert, dass sie immer ganz allein in einer Klasse voller Feinde war, ohne auch nur die Spur von Angst zu zeigen. Raffael und sein treuer, kleiner Kämpfer kamen immer als Letztes, meistens auch zu spät. Heute kamen sie jedoch tatsächlich sogar etwas früher. Nicht gleich zu Unterrichtsbeginn, knapp vor dem Lehrer, sondern tatsächlich ganze fünf Minuten früher. Gilgian beobachtete, wie Raffaels verdammtes, lächelndes Gesicht, in das er am liebsten stundenlang einschlagen würde, leicht verwirrt zuckte, als er den Platz dieses nervigen Balgs leer entdeckte. Auch jetzt fiel es Gilgian auf, dass sie nicht da war und das machte ihn wütend. Nicht nur schlafen, sondern auch schwänzen. Was zur Hölle wollte sie in der Schule, wenn nicht lernen? Es war eine sinnlose Frage, denn Gilgian kannte die Antwort bereits von Tatinne. Natürlich war wieder der Idiot schuld. Wieso konnte er dem blöden Mädchen nicht einfach den Stein überlassen, damit sie verschwand und nicht alles durcheinander brachte? Er hatte bereits vermutet, dass Raffael versuchen würde Einfluss auf die Person der Vorhersehung auszuüben. Er verstand noch nicht genau, was sein Plan war, denn momentan sah es eher danach aus, als würde er sie gegen sich aufbringen. Gilgian selbst war es herzlichst egal, ob er als Herrscher abgelöst wird oder nicht. Er hatte sowieso nicht vor, lange in dieser verfluchten Stadt zu bleiben und er zählte jede Sekunde ab, welche ihn näher an seinen Abschied brachte. Interessanter wäre es jedoch herauszufinden, was Elias und seine Familie planen würden. Diese würden niemals die Macht abgeben. Raffael würde einiges vor sich haben, wenn er sich aktiv auf Etiennes Seite stellen würde. Oder wollte er sich gegen sie stellen?

Gilgian war immer noch in seinen Gedanken, als er dann plötzlich bemerkte, wie Raffaels Blick auf den leeren Platz von Meta fiel. Er sah ihn einen Moment ruhig an, hob dann überrascht die Augenbrauen und Verständnis huschte über sein Gesicht. Und wenn Gilgian eines in diesen vergangenen Höllenjahren, die er mit Raffael und Elias verbringen durfte, gelernt hatte, dann war es, diesen Blick niemals zu unterschätzen. O'Donnel, die Dämliche, kam in das Zimmer, bereit für den nächsten Kampf mit dieser Klasse.

Gilgians Faust knallte auf den Tisch, als er langsam dahinter kam. Die Gespräche verstummten, als das Holz unter seiner Hand zersprang. Er sprang auf, schnappte Raffael an seinem Kragen und zog ihn mit hinaus.

„Bleib da“, meinte er noch zu Khalas.

Und nachdem das gehört wurde, blieben auch alle anderen sitzen. Er spürte die Unruhe, die er mit seiner Handlung verursacht hatte, die angespannte Stille, die schwer im Klassenzimmer wog. Dennoch, es würde sich keiner einmischen. Raffael grinste ihn im Flur an und meinte, „Bitte nicht die Kleider runterreißen. Ich weiß, ich bin anziehend und ich bin für Experimente zu haben, aber in der Schule?“

„Was?“, meinte Gilgian verwirrt und dann fiel ihm wieder ein, dass es Raffael war. Immer dumme Sprüche, um von den wichtigen Angelegenheiten abzulenken. Es hatte Gilgian etwas Zeit gekostet herauszufinden, dass Raffael es insbesondere immer dann tat, wenn er ihn damit auf die Palme bringen konnte. Dadurch behielt er eine Kontrolle, der Gilgian nichts entgegenbringen konnte. Denn sobald Gilgian der Wut die Überhand gab, verlor er jegliche Kontrolle an Raffael.

Und die Wut kehrte schlagartig zurück, „Was zur Hölle hat deine kleine, neue Kuh mit meiner Schwester gemacht?“

Raffael hob eine Braue, „Woher soll ich das wissen? Ich weiß nicht einmal, ob sie zu zweit unterwegs sind.“

„Lüg mich nicht an“, sagte Gilgian drohend, „Du vermutest etwas, nicht?“

Raffael lachte und machte sich von seinem Griff los, „Wie kommst du darauf?“

„Weil ich dein verdammtes Gesicht leider viel zu gut kenne. Was weißt du? Zwing mich nicht, es aus dir heraus zu prügeln.“

Raffaels Miene wurde belehrend und Gilgian hasste es, wenn er das tat, „Das würde aber gegen die Vereinbarung verstoßen.“

„Das ist mir egal. Glaub mir, wenn Meta etwas passiert, werde ich einen Weg finden, um es dir anzuhängen. Und ich weiß jetzt genug, um zu vermuten, dass du zumindest dafür verantwortlich bist, dass dieses Gör überhaupt die Chance hatte, mit Meta in Kontakt zu treten. Du hast sie hergeholt.“

Raffael zuckte seiner drohenden Stimme mit den Schultern entgegen, „Ich kann nichts für das, was sie hier tut.“

„Wohin sind sie gegangen?“, knurrte Gilgian zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

Raffael seufzte, blickte kurz aus dem Fenster. Die Morgensonne leuchtete unangenehm in die Hallen hinein. Dann sah Raffael wieder zu Gilgian und sagte, „Sie ist auf der Suche nach den Steinen der Austreibung.“

„Den du ihr geklaut hast“, meinte Gilgian.

Das hat Tatinne ihm erzählt. Er hatte sie vor zwei Tagen im Gang zum Direktor neben einem Stapel Bücher vorgefunden und sie hatte ihm von Alleine alles erzählt. Gilgian vermutete, dass Raffael sie genug auf die Palme gebracht hatte, dass ihre bereitwillige Erzählung dazu gedient hatte, Gilgian gegen Raffael aufzubringen. Und wenn sie gewusst hatte, dass Meta in dem Ganzen zusammenhing, dann war sie auf gutem Weg dahin, Erfolg zu haben. Hinterlistige alte Frau. Er hasste es, dass er immer nach ihrer Pfeife tanzte.

Raffael lachte erneut und Gilgian wollte verdammt sein, aber es schien wirklich, als hätte der Mistkerl Spaß an der Sache. Gilgian hatte es noch nie geschafft, ihn wirklich wütend zu sehen.

„Hat deine Schwester irgendwas mit den Steinen von Expulsio zu tun?“, fragte er dann.

Gilgian runzelte die Stirn, „Möglich. Wieso?“

„Das ist dann ein Ja“, sagte er und Gilgian hasste ihn noch etwas mehr, „Wo könnten sie hingegangen sein? Wahrscheinlich dahin wo der Stein aufzufinden ist. Was mich eher interessiert ist, wie Etienne es geschafft hat deine Cousine zu überzeugen da mitzumachen?“

„Schwester“, korrigierte Gilgian knurrend. Für ihn war sie immer seine Schwester.

Er hatte eine gute Vorstellung davon, wohin sie gegangen sind. Es wäre genau der Ort, an dem sie durch furchtbare Erfahrungen zu Geschwistern geworden sind. Sein Onkel war schon immer eine gerissene kleine Ratte gewesen. Meta war ganz anders als er. Sie war aufrichtig, wollte niemandem etwas zuleide tun. Sein Onkel hingegen hat nur zu gerne mit den Hoffnungen der Menschen gespielt. Sie hereingelegt und dann über ihr Leiden gelacht. Gilgians Kiefer verspannte sich, als ihm klar wurde, wohin er gehen musste. Und was dort auf ihn warten würde. Meta und dieses Gör hatten keine Ahnung, in was sie da hineinliefen. Auf einen Schlag setzte Reue ein. Er hatte Meta nie davon erzählt. Gilgian wollte nie alte Wunden aufreißen. Und das war wahrscheinlich ein weiterer Grund, weshalb sie beide sich so weit voneinander entfernt hatten. Sein kleines Geheimnis und die Angst vor ihrer Reaktion.

„Gut, du kommst mit“, sagte er an Raffael gewandt.

„Was?“, meinte Raffael überrascht, „Wieso sollte ich das?“

Es war nicht das erste Mal, dass Gilgian ihn überrascht erlebt hatte. Damals hatte er jedoch beinahe schon Mitleid mit ihm gehabt.

„Weil es deine verdammte Schuld ist, dass dieses Balg hier aufgetaucht ist. Also wirst du mir dabei helfen, sie aus meinen Angelegenheiten herauszuhalten.“

Raffael schnaubte grinsend, „Sie war von Anfang an hinter den Steinen her. Also wäre sie so oder so in dieser Stadt aufgetaucht.“

„Aber sie wäre nicht dieser Schule beigetreten.“

Raffael lachte erneut, „Vielleicht, wir werden es nicht herausfinden. Ich werde dieses Abenteuer aber aussitzen.“

Gilgian zögerte kurz, sah ihn prüfend an. Das war eine für Raffael unübliche Reaktion. Gilgian war nicht einfallsreich genug, um herauszufinden, wieso er die Chance nicht nutze. Offensichtlich hatte er mit dem Balg was vor, sei es ihr dabei zu helfen, Calisteo zu Einen oder sie auszuschalten, damit sie ihm nicht die Macht nahm. Eine Chance wie diese könnte für beide Möglichkeiten von Vorteil sein. Doch Gilgian konnte sich auf sein Instinkt verlassen und nach den letzten Jahren, in denen er Raffael kennengelernt hat, wusste er, dass letzteres unwahrscheinlich war. Raffael liebte diese Stadt. So sehr, dass er vor Gilgian auf die Knie gefallen und ihn angebettelt hatte, nur für die Chance eines kleinen Waffenstillstandes.

„Gut“, sagte er lächelnd. Zufrieden bemerkte er das Misstrauen in Raffaels Gesicht, als dieser bei seiner Antwort stutzig wurde.

Gilgian drehte sich um und ging, dann hörte er Raffael hinter sich sagen, „Du hast aber erstaunlich locker nachgelassen.“

Gilgian spürte sein Grinsen breiter werden. Sie kannten sich schon länger. Raffael würde wissen, dass Gilgian ihn aus einem bestimmten Grund gefragt hatte. Als kämpferischen Beistand hätte er jeden anderen seiner Untergebenen mitnehmen können. Raffael war aber schlau. Und das brauchte er auf die Schnelle mehr.

„Ich habe mir zunächst überlegt, dass ich die beiden sicher aus der Lage herausholen würde. Aber da du scheinbar nicht helfen magst, habe ich beschlossen diesem Balg alle Knochen zu brechen und sie dann meinem Onkel vorzuwerfen.“

Er drehte sich zu Raffael um, „Wenn du dich in den Lauf der Dinge einmischst, werde ich es auch machen. Wahrscheinlich wird sie überleben. Nicht aber, ohne von diesem Erlebnis ein paar Traumata mitzunehmen. Und dafür ist das Haus perfekt geeignet.“

Er wartete kurz, was Raffael dazu sagen würde. Er sah seinen prüfenden Blick und gab ihm Zeit abzuschätzen, wie Ernst es Gilgian meinte. Ob dieser Weg oder ein anderer, Gilgian war es gleich. Gilgian würde sich nicht die Mühe machen, beide sicher von dort herauszuholen. Meta war ihm genug, sie war die Einzige, der er sich verpflichtet fühlte. Und entweder würde Raffael sich um das Gör kümmern oder Gilgian würde sie als Opfer nutzen. Ob dieser Weg oder ein anderer, ihm war es gleich.

„Dir ist schon bewusst, dass wenn sie an die Macht kommt, du endlich deinen Posten abgeben kannst. Es hat keinen Sinn, sie gegen sich aufzubringen.“

Gilgian spürte, wie sein Gesicht ihm entgleiste. Das würde er sich nicht von Raffael sagen lassen.

„Nur als Erinnerung. Du hast mich damals auf Knien angebettelt, weiter an der Macht zu bleiben. Und ich habe es gemacht, weil ich dir noch etwas für damals schuldete. Es ist deine Schuld, dass ich das hier noch weiter aushalten muss. Also wag dich nicht, mir zu sagen, mit wem ich mich gut stellen soll. Und erst recht nicht, nachdem du mir hier nicht helfen willst.“

Er sah, wie Raffaels Blick sich verdüsterte. Er schwieg für einige Momente und sagte dann, „Ohne eine Gegenleistung kann ich dir nicht helfen.“

Gilgian lachte, „Ah, natürlich.“

Er würde schlecht vor den Provinzmitgliedern dastehen, wenn er einfach so einem Feind half. Dasselbe galt für Gilgian, aber ihm war es egal. Er würde sowieso nicht mehr lange in der Stadt leben. Er überlegte sich kurz, ob es das wert war und entschied sich dann, darauf einzugehen. Auch wenn er seinen Verpflichtungen nicht mehr lange nachgehen müsste, er müsste auch nicht dafür sorgen, dass die Situation in der Stadt schlimmer wurde. Nicht nachdem er sich so viel Mühe gegeben hatte, diesen Vollidioten so lange bei Tatinne auszuhalten, bis sie endlich einen relativen Waffenstillstand auf den Tisch gebracht haben. Der Grund weswegen Raffael bei ihm gebettelt hatte.

„Keine Unterwerfung“, sagte er an Raffael gewandt, „ich werde nicht für dich töten oder für dich kämpfen. Und ich werde nicht in deine Provinz gehen. Ich werde auch nicht öffentlich etwas machen, worum du mich bittest. Egal was es sein wird, es wird diskret und nicht viel Zeit in Anspruch nehmen. Und du wirst diesen Gefallen nicht missbrauchen, um mir zu schaden.“

Raffael sah ihn einen Moment ausdruckslos an, dann lächelte er wieder und Gilgians Genugtuung wich dem Misstrauen.

„Einverstanden“, sagte er und ging zu ihm.

Gilgian drehte sich um und machte sich auf den Weg zum Haus seines Onkels. Er sah, wie Raffael seine Waffen checkte und sagte, „Erzähl mir etwas über deinen Onkel.“

„Wieso sollte ich?“, fragte er genervt.

„Ich kann am besten helfen, wenn ich mehr über die Situation weiß. Mal abgesehen davon“, führte er weiter aus, „werde ich nicht in ein Haus hinein spazieren, wenn es offensichtlich eine Gefahr gibt, von der ich kaum etwas weiß.“

Gilgian schwieg. Es nervte ihn, sein Wissen über diesen Ort mit Raffael zu teilen. Dann seufzte er und entschied sich, ihn nur über seinen Onkel zu informieren.

27. Die Geister der McClaines: Puppen und Spielzeuge

 

Meta lief in den ersten Raum, den sie finden konnte. Bevor sie Etienne die Tür ins Gesicht schlagen konnte, hielt Etienne ihren Fuß davor und ging schnell hinein. Meta verschloss sie dann und ließ sich an der Wand hinabsinken. Sie atmete schnell und hielt sich die Seiten.

Etienne sah die Tür stirnrunzelnd an, „Wenn das ein Geist ist, müsste er nicht durch die Tür schweben können?“

„Halt die Klappe!“, rief Meta beinahe weinend aus, „Mach es nicht schlimmer, indem du es schwarzmalst!“

Etienne lächelte und ermahnte sich, solche Sprüche zu lassen. Meta hatte es nicht verdient in dieser Situation geärgert zu werden.

Sie probierte den Lichtschalter aus. Die eine Hälfte des Raumes erleuchtete in schwachem Licht. An der Decke hing ein Gerüst aus drei Lampen, welche in alle Richtungen des Raumes ausgerichtet waren. Eine von ihnen leuchtete nicht, sodass die hintere Ecke des Raumes weiterhin in Dunkelheit gehüllt war. Die dritte Lampe flackerte in unregelmäßigen Abständen.

„Oh Gott, wieso hast du den Schalter betätigt“, wimmerte Meta und versenkte ihr Gesicht in ihren Händen. Etienne stieß beinahe ein anerkennendes Pfeifen aus, als sie den Inhalt des Raumes sah.

„Was ist das hier alles?“, fragte sie Meta. Der Raum war gefüllt mit hunderten von Spielzeugen und Puppen. Vor allem die Puppen erregten Etiennes Aufmerksamkeit insbesondere. Sie war sich sicher, dass manche von ihnen etwas Magisches an sich hatten.

„Das ist das Spielzimmer meines Vaters“, jammerte Meta, „Oh, lass uns wieder gehen, ich habe schon immer dieses Zimmer gehasst.“

Etienne sah kurz zu Meta. Sie sah aus, als würde sie gleich wieder panisch werden und losrennen.

Also entschied sie sich, eine etwas längere Pause einzulegen und sagte, „Nimm dir einen Moment, um durchzuatmen. Ein Spielzimmer also? Und wer hat hier gespielt?“

Der Raum war mehrere Schritte lang. In der Mitte gab es eine Couch und einen Tisch. Zwei Sessel waren drumherum angeordnet. Sie sahen weich und einladend aus und Etienne würde den Teufel tun, sich auf sie zu setzen. Sie spürte den Fluch schon von mehreren Schritten Entfernung auf ihnen lasten. Ein großer, flauschiger Teppich füllte den Boden des Raumes aus. Die Wände waren voll von Regalen, an denen verschiedene Puppen und Spielzeuge aufgereiht waren. Die Puppen waren handgemacht, mit bunten Haaren und ihre Kleider waren in einem sehr alten Kleiderstil gestaltet. Manche von ihnen waren etwas dreckig und sahen aus, als hätte man versucht sie wieder zu reparieren, sich dann aber dagegen entschieden, um noch mehr Schaden zu vermeiden. Etienne kam die Vermutung, dass einige von ihnen noch aus der alten Welt stammen.

„Ich meistens. Mein Vater hat hier alles eingeschleppt, was er finden konnte“, sagte Meta und drückte sich an die Tür. Sie atmete langsam und kontrolliert. Etienne war froh darüber. Meta tat, was man ihr sagte. Wenn Etienne sich darauf verlassen konnte, dass sie weiterhin auf sie hörte, würde es deutlich leichter sein, für ihre Sicherheit zu sorgen.

„Ich will mir die Sachen nur mal kurz anschauen“, sagte sie und trat von Regal zu Regal, „Er muss ja aus allen möglichen Jahren was gesammelt haben. Die hier sieht aus, als wäre sie aus der alten Welt.“

Sie lehnte sich nach vorne zu den kleinen Spielzeugen aus Plastik. Eines sah aus wie eine Rakete. Das letzte Mal hatte sie eine vor Jahren in einem Buch gesehen.

Bist du ein Puppenfan?“, fragte Meta und fügte dann hinzu, „Frag mich bitte nicht, was das für seltsame Geräte sind. Ich bin sicher, mein Vater hat es mir erklärt, aber es ist Jahre her.“

Etienne strahlte zu ihr herüber, „Das ist eine Rakete.“

Meta sah sie verständnislos an, „Was?“

Etienne deutet mit dem Finger nach oben, „Sie fliegt ins Weltraum und zum Mond und zu anderen Planeten.“

Als Meta sie stirnrunzelnd ansah und sich scheinbar überlegte, ob Etienne es ernst meinte oder nicht, nahm Etienne sich dies zum Anlass, das Thema zu wechseln und ihre andere Frage zu beantworten, „Nein, kein Puppenfan. Aber diese Sammlung ist beeindruckend. Oh schaue, diese Puppe hier ist sogar verflucht.“

Sie wechselte den Blick in die zweite Ebene. Die Farben der Magie wirbelten durch das Zimmer, sättigten es, dass es sich beinahe schon schwer zu atmen anfühlte. Die Farben waren dunkel. Ein tiefes violett und blau, dunkle Töne mit schwachen goldenen Linien, welche sich aufwirbeln ließen, als Etienne durch sie hindurchlief. Doch ihre Aufmerksamkeit erlangte ein dunkler, langer Schatten, welcher von außerhalb des Raumes seinen Ursprung zu haben schien und sich um die Puppen legte. Das war kein Fluch. Etienne hatte aber keine Idee, was es sein sollte.

Meta blickte mit großen Augen zu der Puppe, auf die Etienne gezeigt hatte, „Woher weißt du das.“

„Ich hab da so ein Gespür für“, sagte Etienne und ließ ihre Sicht wieder in ihre Welt zurückkehren.

Was ist dieser Schatten?

Sie ging dann weiter durch den Raum, „Hast du die Puppen je gesehen?“

Sie sah kurz zu Meta und Meta blickte zu der Couch und dem Tisch, bei dessen näheren Betrachtung Etienne nun ein Set aus hübschen zueinanderpassenden Tassen und Tellern vorfand.

„Vater hat mich früher immer mit ihnen spielen lassen“, sagte sie dann. Sie blickte auf ihre Hand und dann wieder zu den Spielzeugen und etwas in ihrer Stimme schien zu brechen, „Sind sie wirklich verflucht?“

„Nicht alle“, versicherte Etienne ihr, „Die meisten sind normal. Aber hier und da gibt es welche, die sich seltsam anfühlen. Wobei…“

Diese hier ist nicht gerade harmlos, dachte sie.

Sie sah wieder zu Meta, welche sie ausdruckslos anschaute. Etienne fragte sie, „Ist dir nie etwas Komisches aufgefallen?“

Meta lächelte sie traurig an, „Natürlich. Ich dachte aber immer, dass diese Dinger einfach nur gruselig sind. Ich mochte nie wirklich Puppen und Vater schleppte immer welche an, die er mir dann gab. Manchmal hatte ich Albträume und das so lange, bis er das Ding wieder aus meinem Zimmer geholt hat. Und manchmal haben sie sich sehr seltsam in meinen Händen angefühlt.“

Etienne nickte, „Manche von denen erkenne ich aus den Verschriftlichungen wieder. “

„Oh wunderbar“, sagte Meta und seufzte müde.

„Bist du wieder zu Atem gekommen?“, fragte Etienne sie. Sie musterte Meta vorsichtig aus dem Augenwinkel. Sie sah aus, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen und Etienne fühlte sich furchtbar. Raffael war ihr so unter die Haut gegangen, dass sie sich dazu hat verleiten lassen, voreilig zu handeln. Nach diesem Abenteuer schuldete sie Meta eine riesige Entschuldigung.

Meta sah grau im Gesicht aus. Ihr Beine zitterten noch etwas, während sie nun an der Tür lehnte. Seit Etienne sie nach den Puppen gefragt hatte, rieb sie sich andauernd die Handflächen.

„Tut dir etwas weh?“, fragte Etienne.

Kurz überlegte sie sich, ob sie nicht doch den Weg nach draußen einschlagen sollten, doch sie verwarf die Idee wieder. Meta hatte dies zweimal vorgeschlagen und beide Male ist etwas passiert, was sie tiefer in das Haus getrieben hatte. Wenn sie es noch einmal versuchten, dann würden wahrscheinlich noch mehr Hindernisse auf sie zutreffen. Wäre es besser, den Weg zunächst ohne Probleme weiter nach vorne einzuschlagen und sich dann durch alles zurückzukämpfen? Für Etienne bestimmt. Sie hatte mit diesen Dingen hier keine großen Probleme. Meta hingegen … das war ein Problem. Etiennes Augen suchten die von Catjill und deutete mit ihrem Kopf in Metas Richtung. Sie würde mit ihm später den Preis für Metas Schutz aushandeln.

„Ich hab mir nur was gestoßen“, erwiderte sie. Catjill schwebte zu ihr und schmiegte sich an ihren Hals. Etienne musste über seinen Trost lächeln. Sie war sich nicht sicher, ob das seine Djinnfähigkeit oder ob er einfach nur sehr empathisch war. Aber sie wusste, dass wenn es drauf ankam, er seine raue Art ablegte und tröstend da war. Am Anfang war er vorsichtig, fast schon schreckhaft, bereit davon zu laufen. Doch als Meta sich seufzend an ihn zurück schmiegte, wurde er mutiger und schien fast schon erfreut, dass seine Hilfe angenommen wurde. Er hatte das noch nicht oft erlebt, dessen war Etienne sich sicher. Genau genommen, war sie sich nicht einmal sicher, ob er es je erlebt hatte. Sie hatte ihn im Wald aufgesucht, welcher verflucht und verlassen war. Es war das perfekte Versteck für einen jungen Djinn gewesen und ein wirklich furchtbarer Ort für einen Menschen.

28. Die Geister der McClaines: Der Schattenwaltz

 

Das Licht schien auf Meta, welche ihre zitternden Hände in Catjills blaues Fell vergrub. Sie atmete langsamer, hielt die Augen geschlossen. Etienne rührte sich nicht, wollte ihr diesen friedlichen Moment nicht nehmen, in welchem sie scheinbar langsam wieder zur Ruhe kam.

Als ihre grauen Augen sich wieder öffneten und zu ihr wanderten, sah sie wieder die vorsichtige Fassung, mit welcher sie auch die letzten Tage alles um sich herum betrachtet hat. Dann wanderten ihre Augen hinter Etienne und die Fassung verschwand.

Etienne blinzelte verwirrt und drehte sich dann wieder um, nur um sich Auge um Auge mit den strahlend blauen Knöpfen einer Puppe wiederzufinden. Sie schrie erschrocken auf und sprang zurück. Schatten huschten durch das Zimmer, die Lampe knisterte und ging aus, die Letzte flackerte weiterhin über ihr. Weitere Puppen schwebten empor, kicherten und sprachen, sagten etwas in einer alten Sprache, welche Etienne nicht kannte. Eine fing zu singen an, tanzte im Kreis über ihrem Kopf um Etienne herum. Weitere schlossen sich ihr an, während sie lachend um Etienne schwebten. Sie trat langsam zurück und durchforstete beunruhigt in ihrem Kopf nach Wissen, welches das erklären konnte. Etienne traute sich nicht, den Blick in die andere Ebene zu wechseln, zu sehr war die Sorge präsent, davon verwirrt zu werden und den Überblick über das Geschehen zu verlieren.

Eine der Puppen schoss auf Etienne zu. Etienne fing sie auf, eher sie in ihrem Gesicht landen konnte. Sie sah verwirrt zu ihr hinunter, hatte ihre roten Stoffhaare in ihrer Hand. Als ihre Hand zu brennen anfing, stoß Etienne sie von sich und trat noch einen Schritt zurück, hielt jedoch an, als ihr bewusst wurde, dass sie nun näher an Meta war.

„Meta. Raus hier“, befahl sie ihr.

Etienne schrie auf und duckte sich, als ein weiterer Schwall Puppen mit Gelächter auf sie zuflog. Weitere Spielzeuge erwachten zum Leben. Kleine Autos, welche die Polizei darstellten, von der Etienne wusste, dass es sie in Calisteo unter diesen Namen nicht mehr gab, fuhren ihr über die Füße und trafen mit Vollgas gegen ihre Schienbeine. Fliegende Maschinen flogen mit voller Geschwindigkeit gegen sie, gefolgt von den Puppen, welche Etienne unter allen Umständen vermeiden wollte, denn in diesem Chaos konnte sie nicht ausmachen, welche verflucht waren und ihr schaden konnten und welche einfach nur von den verfluchten Puppen missbraucht wurden.

Sie stolperte zurück und ein Auto schaffte es unter ihren Fuß zu kommen. Dann fuhr es mit Vollgas nach vorne, sodass sie mit dem Rücken zu Boden fiel. Der Aufprall drückte ihr die Luft aus der Lunge. Nach Luft schnappend rollte sie sich herum und beeilte sich auf die Beine zu kommen, bevor die Menge an Spielzeugen sie erdrücken konnte. Die Maschinen flogen gegen ihre Arme und Beine, versuchten sie wieder herunterzureißen. Die Puppenmenge stürzte sich auf sie, versuchte sie unter sich zu begraben.

Catjill!“, schrie sie verzweifelt, griff nach ihren Ampullen und zögerte, weil sie diese noch immer nicht nutzen wollte. Catjills Zauber schlug in einer Welle gegen die Spielzeuge, welche gegen die Regale gewirbelt wurden. Enttäuschte Rufe und Beschwerden erfüllten den Raum. Etienne nutzte die Chance und sprang auf. Eine Puppe flog auf sie zu, sie packte sie und schmetterte sie gegen die Wand, während sie aus dem Zimmer rannte und die Tür zuknallte.

Meta und Catjill pressten sich panisch an die Wand gegenüber. Etienne saß mit dem Rücken an die Tür gelehnt, hielt sie verschlossen. Sie atmete schwer und unterdrückte ein Schauder bei dem Gerümpel auf der anderen Seite, als die Spielzeuge gegen die Tür krachten und gegen sie hämmerten.

Ein bisschen mehr Hilfe, wäre nicht zu viel verlangt“, meinte sie an Catjill gewandt.

Bist du verrückt?“, fragte dieser panisch, „Hast du diese Dinger gesehen? Hast du sie gesehen? Ihr Menschen seid verrückt! Wer baut sowas?

Meta ließ sich an der Wand hinuntersinken, „Ich will nach Hause.“

Versiegle die verdammte Tür!“, rief Etienne aus.

Schrei mich nicht an!“, erwiderte Catjill, setzte sich aber in Bewegung und berührte mit seiner Stirn die Tür. Daraufhin sprang Etienne zur Seite und war bereit, Meta zu schnappen und wegzulaufen. Aber die kleinen Biester kamen nicht durch. Sie hörte nur noch beschwerendes Weinen.

Schwer atmend und mit großen Augen wechselte sie den Blick in die zweite Ebene. Hinter Catjills goldener Magie, welche die Tür verschlossen hielt, sah sie dunkle Schleier eines Schattens, welcher sich wand und zuckte und versuchte durch die Tür durchzubrechen. Derselbe Schatten, den sie vorhin hat ausmachen können. Er war dichter und mächtiger geworden und Etienne fragte sich, ob er etwas mit dem stürmischen Angriff auf sie zu tun hatte. Und dass es ein Angriff gegen sie war, war eindeutig, denn keines der Spielzeuge war Meta und Catjill nach draußen gefolgt.

Schwer atmend fasste sie an ihren Hals, spürte das unangenehme Ziehen des Schmerzes. Sie packte Catjill und drehte ihn zu sich, „Siehe dir die Kratzer an. Bin ich verflucht? Haben sie mich verflucht?“

Seine großen Augen blickten panisch in ihr Gesicht. Etienne spürte das Ziehen an ihrer alten Narbe, weiteren Schmerz an der anderen Seite ihrer Wange. Sie war so froh um ihre dicke Jacke.

„Nein“, sagte der Kater, „Ich bin mir sicher, du bist nicht verflucht.“

„Ah ja?“, meinte Etienne, leicht wütend, „Wie sicher bist du dir? So sicher wie du meintest, dass niemand im Haus sei?“

Sein Fell richtete sich auf, „Ich bin mir sehr sicher! Und da war niemand!“

Etienne seufzte und atmete kurz durch. Sie war so sehr von den kleinen Monstern überwältigt worden, dass sie ihre Wut an Catjill ausließ.

„Tut mir leid“, sagte sie, „Ich glaube dir und ich hab das nicht so gemeint.“

Er riss sich aus ihrem Griff los und kuschelte sich an ihren Hals. Sie hätte ihn nicht anschreien dürfen. Beruhigend strich sie ihm durch das Fell, als er Trost bei ihr suchte, obwohl sie diejenige war, die ihn angefahren hatte.

Sie wandte sich an Meta, „Wo ist das Arbeitszimmer deines Vaters?“

Diese zögerte, doch dann erreichten die Worte ihren Verstand, „Ich bin immer noch der Meinung, dass wir von hier verschwinden sollten.“

Catjill hob den Kopf und sah sie an, „Du glaubst doch nicht wirklich, dass sie uns einfach wieder heraus spazieren lassen?“

Meta fing zu stottern an, „W-Wie meinst du das?“

Naja,“, meinte Etienne und zeigte mit dem Daumen hinter sich zu der geschlossenen Tür, „Die haben versucht mich umzubringen und wir haben sie eingesperrt.“

Ich glaube, dass es da auch Geister gab“, sagte Catjill, „Nicht alle waren verflucht.“

„Ah, wie schön“, erwiderte Meta sarkastisch.

Nicht wirklich“, erwiderte Catjill, welcher den Unterton nicht verstanden hatte, „Geister sind nie freundlich. Außerdem sind sie gierig. Die lassen uns nicht raus.“

Also bist du auch gierig?“, fragte Etienne.

Nein, du dummes Mädchen, ich bin ein Djinn. Meine Sorte ist nicht gierig, denn das hat sie nicht nötig. Wir erobern nicht, wir besitzen.“

Das ist doch nicht dein Ernst?“, erwiderte Etienne spöttisch.

Das ist jetzt nicht das Thema!“, schrie Meta dazwischen, ihre Stimme einige Oktaven höher, „Sind wir hier eingesperrt?

Etienne lächelte sie an, „Das waren wir vorher auch schon.“

Meta atmete schwer, „Wie kannst du bei so einer Situation lachen?“

Etienne half ihr auf, „Es gib weitaus schlimmeres als gruselige Häuser mit mordlustigen Geistern, die nach deinem Blut trachten, um es nach deinem qualvollen Tod zu trinken und anschließend deinen Körper zu verspeisen.“

Meta sah sie schockiert mit großen Augen an, „Ist das dein Ernst?“

Catjill lachte. Etienne zwinkerte ihr lächelnd zu, hoffte, dass ihr morbider Humor Meta genauso beruhigen würde, wie er sie beruhigte. Dann schlug sie ihr auf die Schulter und sagte, „Los. Bring mich zum Arbeitszimmer deines Vaters! Und ich kümmerte mich um den Rest.“

29. Die Geister der McClaines: Hass und Anerkennung

 

„Das ist ja wie im Horrorfilm. Naja, die gutaussehenden überleben meistens“, sagte Raffael unbesorgt. Er zog seine Schuljacke aus und hängte sie zwischen den Eisenstangen des Zaunes.

Gilgian verdrehte die Augen und murmelte, „Was für ein Idiot.“

„Sei dankbar, dass ich mitkomme“, erwiderte Raffael.

Wann hast du überhaupt einen Horrorfilm gesehen?“

„Nexim hatte ein paar“, sagte er.

„Muss schön sein, wenn man bedenkt, was du alles von ihm übernehmen konntest.“

Raffael funkelte ihn wütend an, sagte aber nichts dazu. Alle wussten, dass er seine Rolle als Provinzherrscher nicht wegen Nexims Reichtum an sich genommen hatte. Als Gilgian ihn und Scarlett kennengelernt hatte, haben die beiden gemeinsam mit Raffaels Mutter in ärmlichen Verhältnissen gelebt, wie nahezu alle Mitglieder der zweiten Provinz. Sie sind erst mit zehn Jahren an Calisteos stolze Schule gekommen, davor haben sie ein bürgerliches Lernhaus in ihrer Provinz aufgesucht. Aber ihre Leistungen waren so bemerkenswert, dass sie, wie Anaki, aufgenommen wurden. Kleidung und Bücher wurden ihnen von der Schule bezahlt und dies war immer an gute Leistungen gebunden, auf welche sie regelmäßig überprüft wurden. Aber keiner von den beiden schien damit ein großes Problem gehabt zu haben. Die Schule gab ihnen zusätzlich etwas mehr Geld, nicht genug um über die Runden zu kommen, aber genug, dass es ihnen damals sicherlich eine Erleichterung war.

Raffaels Mutter hatte beide Kinder alleine erzogen. Das wusste nun beinahe die ganze Stadt. Nachdem er an die Macht gekommen war, haben sich alle Zeitungen auf ihn gestürzt. Das war zwei Jahre nach Gilgians Machtübernahme und über ihn waren die Leute zu Lesen müde geworden. Und Raffaels Geschichte hatte ihnen viel geboten. Sie haben gekramt und gesucht und ihn verfolgt, Scarlett belästigt, seine Mutter belagert, bis Eldan dem einen Riegel vorgeschoben hatte. Zumindest in seiner Provinz, in welcher er als Held gefeiert wurde, welcher die Menschen von einem grausamen Herrscher befreit hatte. Sie schrieben immer noch gerne über ihn, aber lauerten nicht mehr von seinem Haus darauf, ihn in Person zu treffen.

Anders war es in den anderen Provinzen. Vor allem in Elias’ Provinz gingen die Gerüchte rund, dass Raffael nur deswegen die Macht an sich gerissen hat, um an Reichtum zu kommen. Sie zerfetzten ihn regelmäßig und Gilgian wusste ganz genau, wer dafür zuständig war, diese Lügen im Umlauf zu halten. Das er ein gieriger, niederer Mensch war, der sich als guter, weiser Mann posierte, in Wahrheit jedoch nur den Reichtum Nexims genoss.

Und auch wenn es nicht stimmte, würde Gilgian Raffael dennoch Habgier vorwerfen. Einfach nur, weil es ihn nervte.

„Wie sollen wir reinkommen? Hast du einen Schlüssel?“, fragte dieser ihn. Seine wachsamen Augen inspizierten das Anwesen. Gilgian hat auch schon einen Blick auf den Garten geworfen. Hier und da hat er eindeutige Fußspuren im Schlamm sehen können. Es war eindeutig, dass hier jemand gewesen war. Blieb nur zu hoffen, dass es sich um Meta handelte und sie nicht woanders hin verschleppt wurde. Zeitgleich wünschte er sich, dass sie es nicht war. Er wollte ihr diesen Schmerz ersparen, welcher zwangsläufig kommen würde, wenn sie ihren Vater wiedersah. Und daran war dieses Balg schuld, welches Raffael von irgendwoher angeschleppt hatte. Die Wut setzte wieder ein.

Gilgian beantwortete Raffaels Frage, „Nein.“

Wie kommen wir rüber?“, fragte dieser dann, mit dem Blick auf den Zaun.

Ohne Raffael etwas Näheres zu sagen, nahm er ihn am Kragen seines Hemdes.

Raffael blickte ihn warnend an, „Wag dich.“

„Mach ich“, sagte Gilgian lächelnd. Dann hob er ihn hoch und warf ihn über den Zaun. Gott, wie leicht er war. Genauso leicht, wie all die anderen Menschen und Gilgian hatte in seiner blinden Wut viele von sich gestoßen. Verflucht sei sein Onkel, der Mistkerl, der seinen Körper so verändert hatte. Immerhin hatte Gilgian nun langsam seine Emotionen genug unter Kontrolle, dass er niemandem im Wahn verletzen würde. Und es war lange her, seit er das letzte mal im Wahn war.

Raffael schrie nicht einmal auf, sondern rollte sich geschickt auf der anderen Seite ab und lachte. Und wenn es nicht Raffael wäre, dann würde Gilgian erleichtert sein, denn es gab keine Menschen, welche diese Behandlung von ihm aushalten würden. Er musste sich immer zurückhalten, immer unter Kontrolle. Kurz die Kontrolle fallen zu lassen, war erleichternd, obwohl er sich sehr gewünscht hätte, der Mistkerl wäre mit seinem verfluchten Gesicht im Dreck gelandet.

Er betastete seine Jacke und meinte, „Oh schau mal, ich hab doch einen Schlüssel.“

Raffaels Augen wanderten zu ihm und Gilgian holte den Bund hervor, von welchem er einen alten, mit Verzierungen geschmückten Schlüssel hervorholte. Sein Onkel war immer so protzig gewesen.

„Weißt du“, meinte Raffael, während er sich den Dreck von der Bluse schlug, „Wenn du vorhast daraus einen Kampf zu machen und ich mich nicht darauf verlassen kann, dass du mir nicht in den Rücken fällst, nur um mir eins auszuwischen, dann werde ich vielleicht doch nach Hause gehen.“

„Stell dich nicht so an“, murmelte Gilgian und öffnete das Tor, „Keine Sorge, sobald wir drin sind, werde ich schonender mit dir umgehen. Auch wenn du eine Prügel verdient hast.“

Raffael schob seine Hände in seine Hosentaschentaschen und betrachtete die Umgebung. Sie atmeten weiße Wölkchen. Es war kalt geworden, kälter, als in der Stadt.

Ah, sie waren definitiv hier“, sagte Raffael grinsend und deutete auf die Fußspuren. Wobei die einen so schwer zu entdecken waren, dass Gilgian sie beinahe übersehen hätte.

Ich werde dem Balg das Fell über die Ohren ziehen“, knurrte Gilgian.

„Ich bin noch nicht mit ihr fertig“, widersprach Raffael.

Willst du deinen Gefallen einlösen?“

Raffael lachte, „Nein, noch nicht.“

„Dann viel Erfolg dabei, mich aufzuhalten.“

„Ich schätze wirklich an dir, dass du so direkt bist. Hab ich das schon mal gesagt?“, fragte er.

Gilgian ignorierte ihn und ging weiter.

Raffael pfiff leise hinter ihm und sagte, „Das sieht wirklich sehr verflucht aus. Erinnert mich beinahe schon an unser kleines Abenteuer damals, beim Traum der Meere. Wie alt waren wir da? Dreizehn? Wie auch immer, ist das hier wirklich auf deinen Onkel zurückzuführen?“

Auch Gilgian sah sich um, „Ich war mir sehr sicher, dass ich mich gut um ihn gekümmert hatte. Ich schätze, er war doch sehr stur.“

Sein Onkel hatte schon vor langer Zeit den Verstand verloren. Er war wie besessen von seinen Artefakten, von seiner Sammlung an Gegenständen aus der alten Welt. Wahrscheinlich hatte er nicht vor, loszulassen. Und wahrscheinlich würde er auch nicht von seinem Plan loslassen, welchen er in seiner Lebenszeit langsam entwickelt hat und von welchem Gilgian ihn abgehalten hat, ihn durchzuführen. Ihm grauste es, als ihm klar wurde, dass er sich nun erneut darum kümmern musste. Sein Onkel würde sich sehr darüber freuen, ihn hier zu haben. Und wenn er Meta dafür nutzen musste, um ihn anzulocken, dann würde er das tun. Verflucht sei dieses Balg. Sie hatte keine Ahnung, in welche Gefahren sie Meta gebracht hatte. Und verflucht sei er, dass Meta sich scheinbar nicht auf ihn verlassen konnte und ihm nichts davon erzählt hatte. Das war seine Schuld.

Wohin gehen wir?“, fragte Raffael, als er ihm in den dunklen Raum folgte. Gilgian bemerkte, wie er einen weiteren Ring anzog und seine Waffe zog, die Munition überprüfte.

„Denkst du, dass eine Schusswaffe etwas gegen die Monster hier ausrichten kann?“, fragte Gilgian beinahe schon amüsiert.

„Meine kann das. Also, wohin?“

Keine Ahnung. Wir suchen sie einfach. Fangen wir unten an und gehen dann hoch.

Raffael seufzte und Gilgian wollte ihn dafür schlagen.

Wir können nicht einfach so im Haus herumspazieren. Nicht nachdem, was du mir erzählt hast.“

Und wieso nicht?“

Weil es zu gefährlich ist. Ah komm schon, du kannst noch so stark sein, einen Geist kannst du nicht schlagen. Mal abgesehen davon weißt du nicht einmal, was dein Onkel hier alles angeschleppt hat.

Gilgian knurrte. Er würde ihn umso lieber schlagen.

Und was sollen wir deiner Meinung nach machen?“

Wie wäre es mit einem Anhaltspunkt? Wo könnte sie den Stein finden? Oder Informationen dazu, oder irgendeinen Raum, der etwas mit diesem Ding zu tun haben könnte.“

Gilgian seufzte, denn er mochte es nicht Raffael dahin zu bringen, „Das Arbeitszimmer meines Onkels. Da müsste alles zu finden sein.“

„Na dann gehen wir dahin“, sagte Raffael und deutete ihm, vorzugehen, „Nach dir.“

Doch sie kamen nicht weit, als dann auch plötzlich ein Knurren hinter ihnen zu vernehmen war. Sie drehten sich um und entdeckten einen Schatten, welcher bedrohlich zu ihnen kam.

Ah“, meinte Raffael genervt und seltsamerweise konnte Gilgian ihm zustimmen.

Ich hoffe für dich, dass du dich dagegen wehren kannst“, meinte Gilgian und deutete ihm lächelnd den Vortritt an.

30. Die Geister der McClaines: Das Studienzimmer

 

Sie gingen eine weitere Treppe hinauf. Seit den Puppen war ihnen nichts mehr entgegengekommen. Eine aus dunklem Holz und mit feinen Mustern verzierte Tür, tat sich vor ihnen auf.

„Ist es das?“, fragte Etienne und sah zu Meta, welche ihr nervös zunickte.

„Na dann los.“

Sie trat an die Tür heran und zog vorsichtig am Griff, froh über ihre Handschuhe, weil es nach den Spielzeugen nicht wirklich etwas gab, was sie noch mit ihrer Haut anfassen wollte.

„Ich muss schon sagen, das ist ein furchtbares Zuhause“, meinte Etienne, als sie langsam in den großen Raum trat, „wie hast du es nur geschafft hier zu leben?“, fragte Etienne.

Als ob es früher so gefährlich gewesen wäre!“, erwiderte Meta.

Etienne beließ es, ihr darauf eine Antwort zu geben. Wenn Metas Vater über Jahre hinweg diese ganzen Dinge gesammelt hatte, dann war es wahrscheinlich sehr wohl sehr gefährlich gewesen. Meta hatte es nur nicht richtig wahrgenommen, wahrscheinlich, weil sie zu jung gewesen war.

Der Raum, in dem sie nun stand, war groß. Ein tickendes Geräusch sorgte dafür, dass sie die schön verzierte Standuhr neben der Tür als Erstes wahrnahm. Sie zeigte die falsche Uhrzeit an. Oder vielleicht doch die Richtige? Es wäre nicht das erste Mal, dass Etienne an einem verfluchten Ort sich nicht auf ihrem Zeitgefühl verlassen konnte. Und wenn die Uhr richtig lief, dann war es deutlich später, als es sein sollte.

An den Wänden konnte sie viele Bücher ausmachen, einige lagen vor einem Regal am Boden verstreut. Sie entdeckte einen, wahrscheinlich blutigen, Handabdruck an dem Regal, als hätte sich jemand an diesem festgehalten. Zu ihrer Rechten tat sich ein riesiger Kamin auf, vor welchem ein mit Papier bedeckter Tisch stand. Etienne bedachte die Feder in der schwarzen Tinte misstrauisch. Als sich diese nicht rührte, sah sich weiter um und entdeckte einige Schränke, welche wahrscheinlich mit weiteren Unterlagen vollgestopft waren. Sie wusste gar nicht, wo sie anfangen sollte, nach Informationen zu suchen. Eine kleine Treppe führte etwas weiter hoch, wo sie noch mehr Bücher ausmachen konnte. Eine Wand im oberen Bereich war durch eine riesige Karte bedeckt, welche das Land von Calisteo bis zu Vheruna und noch nach viel weiter darstellte. Viele Gebiete waren noch mit Fragezeichen oder Kreuzen versehen. Es waren Orte, an welche sich die Menschen noch nicht wieder getraut hatten. Etienne entdeckte eine Miene in der Nähe von Calisteo, welche als gefährliches Gebiet markiert wurde und verzog das Gesicht. Insbesondere Mienen, alte Städte und einige Berge waren eine lange Zeit Verbotszonen gewesen, da sie nur so von Kreaturen wimmelten, welche weiterhin eine Gefahr für die Menschen darstellten. Aber die Karte war nicht mehr aktuell. Eine Miene in der Nähe von Vheruna wurde kürzlich zurückerlangt und von allen möglichen Wesen, welche dort gehaust hatten, befreit. Die Säuberung dieser hatte höchste Priorität gehabt, nachdem vor einigen Jahren einige Kinder und Erwachsene nach und nach verschwunden waren. Es hatte etwas gedauert, aber scheinbar hatten die Menschen schnell festgestellt, dass die Wesen der Miene dafür verantwortlich waren. Eine beunruhigende Entwicklung, da in den letzten Jahrzehnten diese Wesen nie von sich aus angefangen haben, die Menschen anzugreifen. Nur, wenn sich jemand in die Mienen getraut hat. Es ist auch an zwei anderen Orten vorgekommen. Die Sorge, dass es nun öfters passieren könnte, war gerade ein heiß diskutiertes Thema in den großen Städten. Und die Säuberung hatte Vherunas König mehr als gut geholfen, seine Macht als kompetenter Herrscher zu sichern.

Wo soll ich anfangen?“, fragte Etienne Meta. Sie trat an den Tisch und entdeckte dunkle, durchsichtige Schatten an diesem herumschweben, wie kleine Staubwolken, welche durch einen Luftzug bewegt wurden. Nur war sie sich sicher, dass das kein Staub war. Sie hob die Hand und berührte sie. Schnell verschwanden sie in alle Richtungen.

Als sie sich weiter umblickte, entdeckte sie noch mehr solcher Schattenknoten, welche geschwind ihrem Licht auswichen.

Auf der anderen Seite des Raumes, über dem Eingang, durch welchen sie eingetreten waren, entdeckte sie eine riesige Sternenkarte. Definitiv nichts, was sie interessierte.

Fragend sah Etienne zu Meta, welche einfach nervös an der Tür stand. Sie starrte mit einem leeren Blick in den Raum hinein.

Siehst du das auch?“, fragte Etienne.

Meta sah sich um und blickte dann mit gerunzelter Stirn zu ihr, „Nein? Was genau soll ich sehen?“

„Den Weg zum Stein“, sagte Etienne lächelnd. Es war offensichtlich, dass Meta diese Schatten nicht sah. Sie würde ihr keine Angst machen, indem sie ihr von diesen erzählte. Dennoch verwunderte die fehlende Wahrnehmung Metas Etienne. Sie waren so offensichtlich überall verteilt, kleine Magiebüschel, welche ein eigenes Leben zu haben schienen. Es entschloss sich ihr nicht, wie man sie nicht sehen konnte.

Ich…“, Meta zögerte, eher sie tief durchatmete und weiter sprach, „Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich gibt es hier irgendwo irgendwas, aber ich kann mich an nichts erinnern, was dir weiterhelfen könnte. Es tut mir leid.“

Etienne seufzte, „Catjill?“

Der Kater schnaubte zufrieden, „Du kriegst echt nichts alleine auf die Reihe.“

„Mach deine Arbeit“, erwiderte Etienne lächelnd.

Während er anfing durch den Raum zu fliegen, ging Etienne zu einem der Schränke, wedelte die kleinen Schatten weg und zog die Schublade auf, welche mit einem quietschenden Geräusch gehorchte. Auf einen Blick konnte sie sehen, dass die Schubladenschienen verrostet waren. Mehrere Akten sprangen ihr entgegen. Sie sah sie kurz durch, entdecke verschiedene Orte. Das war für sie nicht von Interesse, also schloss sie diese und öffnete einen Schrank nebendran. Verschiedene Menschennamen.

Was macht er?“, fragte Meta, als Catjill durch den Raum flog und sein langer, wuscheliger Schwanz alles berührte.

Etienne sah die Namen durch und eine besonderes dicke Akte sprang ihr ins Auge.

Gilgian.

Er sucht nach etwas, was mit dem Stein von Expulsio zu tun haben könnte“, beantwortete Etienne ihre Frage und zog die Akte raus. Der frühste Eintrag lag mehrere Jahre zurück, da musste Gilgian noch sehr jung gewesen sein. Dort gab es noch vereinzeltes Gekritzel zu seiner Person, doch seit er acht Jahre alt war, gab es wöchentliche Einträge und ab dem elften beinahe tägliche.

Etienne konnte auf die Schnelle nur einige Worte aufgreifen. Sie kannte nicht alle von ihnen. Manche erkannte sie jedoch als Flüche, dennoch gab es keinen Anlass zu glauben, dass sich Metas Vater intensiv mit Fluchweben auseinandergesetzt hat. Eher mit verfluchten Gegenständen. In einem Eintrag zu seinem vierzehnten Lebensjahr entdeckte sie eine Abfolge von Zeichen, welche ihr sehr bekannt vorkamen. Zu wenig aber, um sich zusammenzureimen, was genau an ihm ausprobiert wurde.

Sie legte die Akte wieder zurück und sah sich die andere an, die mindestens genauso dick war.

Meta.

Alle paar Monate gab es einen neuen Eintrag, welcher akribisch beschriftet war. Und dann gab es einige Wochen nichts Neues, bis es von vorne losging. Meta hatte sehr viel Kontakt zu allen möglichen verfluchten Gegenständen gehabt. Das war beunruhigend. Etienne kannte nicht viele Menschen, welche allein eine Konfrontation überlebt haben. Erst recht nicht über einen längeren Zeitraum hinweg. Doch die Einträge nach ihrem dreizehnten Lebensjahr haben alle immer nur dasselbe gezeigt:

Keine Veränderungen.

„Meta“, richtete Etienne das Wort an sie, „Hast du eigentlich den seltsam wedelnden Vorhang im Gang gesehen?“

Sie hob ihren Blick zu ihr und betrachtete sie eingehend. Verwirrung zeichnete sich in Metas Gesicht ab, dann Angst und Unsicherheit.

„Ich denke schon?“, sagte Meta fragend.

„Der sich so hoch gehoben hat? Als wäre ein Fenster offen, nicht wahr?“, hackte Etienne weiter nach.

„Ich…“, Meta bis sich auf die Unterlippe und Etienne wartete geduldig ab. Etienne vermutete, dass die Antwort nein sein sollte, aber Meta war so leicht zu verunsichern, dass sie scheinbar lieber an das glaubte, was Etienne meinte gesehen zu haben, als dass sie sich auf ihre eigenen Wahrnehmungen verließ.

Ist schon in Ordnung, du musst mir nicht antworten. Ich dachte, ich hätte etwas gesehen, aber ich glaube, da war nichts“, sagte Etienne, versuchte es ihr leichter zu machen, es zuzugeben.

Meta atmete tief durch, „Du hast so intensiv in diesen Gang gestarrt, dass ich mir nicht sicher war, worauf ich achten sollte. Ich glaube, ich habe etwas gesehen, aber ich bin mir unsicher.“

Etienne legte Metas Akte wieder in den Schrank. Die letzten Einträge waren alle gleich. Keine Veränderungen also. Meta hatte scheinbar keine Reaktion auf verfluchte Gegenstände gehabt, egal, mit welchen sie konfrontiert wurde. Würde sie auch keine Reaktion auf Magie zeigen? Oder auf gewobene Flüche, welche direkt gegen sie gerichtet waren? Würden Segen auch nicht bei ihr funktionieren? Was war mit angeborenen Fähigkeiten einzelner Individuen. Etienne wollte all das überprüfen. Doch dieser Beobachtung würde sie sich später widmen.

Vielleicht hat Catjill etwas gefunden“, sagte Meta leise.

Mit einem letzten Blick auf andere Namen, welche fordernd zu ihr hinaufblickten, verschloss sie die Schublade.

Hier ist was“, meinte Catjill. Es war bei diesem riesigen Kamin.

Oh, etwa ein Geheimgang?“, fragte Etienne aufgeregt und klatschte in die Hände. Catjill flog zu Meta und setzte sich auf ihren Kopf.

Meta lachte leise. Etienne meinte, da etwas Verzweiflung herauszuhören. Sie trat zu dem Kamin und betrachtete diesen. Das alte Holz lag in einem Gitter, dahinter die kleinen Schatten, welche von der dunklen Kohle kaum zu unterscheiden waren. Etienne packte es und stellte es zur Seite. Das schwarze Kohlepulver wirbelte auf und sie achtete darauf, es nicht einzuatmen. Dann ließ sie ihren Stein leuchten und hellte den Kamin auf. Die kleinen Schatten verschwanden in alle Richtungen davon. Die Spinnennetze waren im Inneren überall verteilt und als sie diese zur Seite wischte, bewegten sich die kleinen Spinnen schnell weg. Die Weben klebten an ihren Handschuhen und sie schlug sie weg. Nachdem sie im Innerem nichts erkennen konnte, betrachtete sie den dunklen Kaminmantel. Die Oberfläche war glatt, es gab keine Muster oder Schmuck an ihm. Als sie die Seiten genauer betrachtete und mit dem Finger vorsichtig drüberwischte, merkte sie, wie sie über etwas Raues strich. Es war kaum merklich, nur eine kleine Veränderung, welche vom Staub abwich. Sie ließ das Licht ihren Stein kaltes Licht leuchten und sah genauer auf die Stelle. Sie konnte das Muster nicht genau ausmachen, aber es erinnerte sie an einen Handabdruck in dunkler Farbe. Ob das Blut war? Sie war sich nicht sicher, aber jemand hat hierhin gegriffen. Sie sah sich die Stelle etwas genauer an. Der Kaminmantel stand ab und in der Innenseite schien es nach Innen abzuknicken, sodass sie ihre Fingerspitzen in die Innenseite drücken konnte. Sie war sich nicht sicher, ob sie das tun wollte. Vorsichtig betastete sie die Stelle, bis sie eine Unebenheit entdeckte. Etienne atmete tief durch. Hoffentlich würde sie nicht ihre Finger verlieren. Sie drückte gegen die Unebenheit und es war ein Klacken zu hören. Dann öffnete sich die Innenseite des Kamins und riss die letzten Spinnennetze auseinander. Ihre Finger blieben dran.

Triumphierend sah sie zu Meta und Catjill.

Willst du ein Lob?“, fragte Catjill genervt. Meta seufzte leise und blickte in den kleinen Durchgang. Sie sah nicht aus, als hätte sie Lust, da hereinzugehen. Etienne konnte es ihr nicht verübeln.

Schau, es sind nur ein paar Schritte!“, sagte Etienne und blickte dann zu Meta, „Gehen wir?“

31. Die Geister der McClaines: Von Statuen zu Edelsteinen

 

Meta nickte im stillen Einverständnis. Sie schien sich nicht mehr zu sträuben. Catjill schwebte zu Meta und schmiegte sich beruhigend an ihre Wange. Meta griff mit ihrer Hand in sein weiches Fell. Etienne wandte sich von ihnen ab und betrachtete den Eingang vor ihr. Eine kleine Leiter führte einige Schritte nach unten. Sie konnte verstaubtes Marmor sehen, in welchem sich das Licht ihres Talismans spiegelte.

„Ich werde vorgehen. Wenn ich dir sage, dass es sicher ist, kannst du nachkommen“, sagte Etienne und sprang hinunter. Etienne wünschte sich, sie könnte die ganzen Spinnennetze ignorieren, aber die kleinen Spinnen schwirrten durch die Lüfte auf ihren unsichtbaren Fäden, dass sie nicht anders konnte, als angewidert das Gesicht zu verziehen. Und dann stellte Etienne etwas Unerwartetes fest, als eine von den kleinen Monstern an ihr vorbei schwirrten. Das waren gar keine echten Spinnen. Sie trat vorsichtig zu einer von ihnen, welche an den Weben in einer Ecke des Raumes neben der Leiter saß. Sie waren dunkel und aus der Entfernung schwer zu erkennen, denn Etienne traute sich nicht näher heran, aus Sorge, sie würde sie verschrecken. Dennoch war sie sich sicher, dass ihre Oberfläche zu eben war. Keine Härchen, welche die Beine zierten, keine anderen Farben, als nur dunkles Schwarz. Diese kleinen Spinnen waren auch Schatten. In diesem Haus schien alles aus Schatten zu bestehen. Etienne atmete tief durch und drehte sich um.

Meta und Catjill blickten durch den Kamineingang zu ihr herunter. Sie nickte ihnen aufmunternd zu und machte sich dann auf, den restlichen Gang zu erkunden, an dessen Ende eine dunkle Tür auszumachen war. Etienne versuchte die Weben wegzuschlagen, während sie zu dieser ging, und trat um die dunklen Spuren am Boden herum. Neben der Tür lag ein in sich zusammengesacktes Skelett, welches sie vorsichtig durch die zweite Ebene musterte. Nach kurzem Betrachten stufte sie es als ungefährlich ein, zumindest vorerst. Etienne öffnete die Tür und trat in einen großen, dunklen Raum hinein.

„Ihr könnt hineinkommen“, rief sie den anderen beiden zu. Sie sollten nicht zu weit weg von ihr sein.

Sie hörte, wie Meta eher ungeschickt hinuntersprang und dann nach einem dumpfen Knall einen leisen Schmerzenslaut von sich gab. Als Etienne sich nach ihr umblickte, sah sie, wie sie sich langsam wieder aufrichtete und sich das Knie rieb. Catjills Ohr zuckte, als eine der Weben es streifte und dort hängen blieb. Panisch fing er an, sich mit der Pfote das Ohr zu reiben und schmiegte sich dann näher zu Meta, versuchte den anderen Weben auszuweichen.

Als Meta mit Catjill zu ihr trat, ging Etienne langsam durch die Tür und ließ ihren Stein heller leuchten.

„Kennst du diesen Raum“, fragte sie Meta.

„Nein“, sagte sie kleinlaut.

Sie kamen in einer beachtlich großen Halle heraus, welche prall gefüllt war mit den unterschiedlichsten Gegenständen. Es gab Gold und Edelsteine, welche unter Etiennes Licht funkelten, und ganz viele alte Särge, alte Mosaike und Gegenstände, für die Magier und Hexen töten würden. Etienne entdeckte Artefakte wieder, von denen sie sich nicht sicher war, ob sie echt waren. Wenn doch, dann vermerkte sie sich in ihrem Kopf, dass es sich lohnen könnte, nach hierhin noch ein Mal zurückzukehren und sich vielleicht das eine oder andre noch mal genauer anzuschauen.

Ein paar Stauen aus Stein und Marmor schienen aus der alten Welt zu stammen. Sie waren teilweise beschädigt, sahen aber aus, als hätte jemand versucht sie zu restaurieren. Andere sahen aus, als hätte man versucht, sie nachzubauen und dabei sehr erfolgreich gewesen, wenn sie denn nicht teilweise kaputt wären.
Etienne blickte wachsam durch die Halle, sah einige Regale, in welchen noch mehr Gegenstände zu finden waren. Sie war sich nicht so ganz sicher, wo sie anfangen sollte.

Sie trat langsam in den Raum und versuchte die ganzen Gegenstände auf dem Boden zu meiden. Wenige Schritte weiter entdeckte sie eine weitere Statue aus Stein am Boden liegen. Sie trat vorsichtig an ihr vorbei und meinte zu Meta und Catjill, „Bleibt hier hinten. Ich schaue mich um. Catjill, ist hier etwas, worum ich mir Sorgen machen muss.“

„Ich glaube nicht, dass du dir Sorgen zu machen brauchst“, sagte er. Etienne blieb kurz stehen und dachte über seine Aussage nach. Dann fragte sie noch mal, „Ist hier eine andere Präsenz im Raum, als wir drei?“

„Ja“, sagte er. Sie sah kurz stirnrunzelnd zu ihm.

„Was?“, meinte er, „Ich beantworte nur deine Fragen.“

„Was ist es?“, fragte sie Catjill.

„Ein Geist“, antwortete er.

„Wo ist dieser Geist?“, fragte Etienne weiter, leicht genervt, da er immer zu den seltsamsten Momenten entschied, nicht mehr so viel zu quatschen. Catjills kreuzförmige Augen wanderten durch den Raum und kamen in der Ecke zu ihrer Rechten zur Ruhe. Etienne blickte auch dorthin, entdeckte aber nichts. Entweder war es kein starker Geist und er konnte wahrscheinlich nur in der ersten Ebene existieren oder er hat sich aus irgendeinem Grund noch nicht dazu entschieden, sich ihnen zu zeigen. Falls er schwach war, könnte Etienne schnell nach dem Stein suchen und hoffen, dass die verfluchten Gegenstände nicht erwachen würden, um sie zu belästigen. Sie blickte in den zweiten Raum. Die Sicht verschwamm etwas und nach kurzer Zeit konnte sie in der Ecke einen alten Mann stehen sehen. Seine grau leuchtenden Augen starrten in die ihren. Etienne konnte Wut drin sehen. Dunkle Schleier legten sich um seine Gestalt, wanderten um ihn herum und Pfade schienen von ihm aus in andere Bereiche des Raumes zu verlaufen. Etienne folgte diesen mit den Augen und entdeckte ein altes Schwert, welches von dem Nebel umhüllt wurde. Ein weiterer Schatten schlang sich um ein Buch und einer endete in einem der Särge. Weitere verschwanden in der Decke. Etienne hatte die Vermutung, dass der Hund, dem sie draußen begegnet waren, und die verfluchten Puppen ebenfalls davon umschlungen waren. Sie konnte nicht einschätzen, ob er gefährlich war, aber er sah auf jeden Fall nicht freundlich aus. Sie ließ die Sicht in den zweiten Raum fallen und sah zu Meta und Catjill. Catjill erwiderte ihren Blick, „Ich glaube, du solltest dich beeilen. Die linke, hintere Ecke. Irgendwo dort. Such selbst.“

Etienne drehte sich dem Bereich zu, den er genannt hatte und lief hin. Sie würde den Stein finden. Solange es nicht nötig war, würde sie mit dem Geist nicht interagieren. Dann würde sie Meta packen und einen Weg nach draußen suchen. Sie könnten zum Dach gehen und Etienne würde Catjill nutzen, um Meta in Sicherheit bringen zu lassen. Oder sie könnten sich überlegen, an welchen Gegenstand der Geist gebunden war. Geister konnten auch ohne eine Verbindung zum ersten Raum existieren, aber dann wären sie nicht in der Lage, in diesen zu wandern. Seine Schatten ließen Etienne jedoch vermuten, dass er das durchaus konnte, also müsste es etwas geben, was ihn mit dem ersten Raum verband. Dafür müsste sie mehr über den Geist in Erfahrung bringen und ihre einzige Quelle war Meta. Alles andere wäre zu zeitaufwendig und dafür war die Umgebung nicht sicher genug, zumindest nicht mit jemandem, den sie stetig schützen musste.
Etienne blickte die Regale durch. Desto mehr sie sah, desto weniger konnte sie fassen, dass ein einzelner Mann so viel gesammelt hatte. Wenn die großen Familien davon wüssten, dann würde Calisteo wahrscheinlich zum Zentrum eines Machtkampfes werden. Vielleicht war das der Grund, weshalb Gilgian das Haus verschlossen gehalten hatte? Verstand er das Ausmaß dessen, was sich hier angesammelt hat? Meta schien es nicht zu verstehen. Sie ging verwirrt an der Tür auf und ab, sah zwischendurch die Gegenstände an, aber hauptsächlich blickte sie zu den Edelsteinen und den Münzen, welche verteilt im Raum lagen oder in die Ecke, in welcher der Geist sein sollte. Dabei ging sie an weiteren, unscheinbaren Gegenständen vorbei und schenkte diesen keine Beachtung, obwohl Etienne Menschen kannte, welche für diese töten würden.
In einem der Regale erblickte Etienne ein rötliches Schimmern. Sie schob die Gegenstände beiseite, und betrachtete dieses.

„Hast du es?“, meinte Meta von der anderen Seite des Raumes.
„Nein“, sagte Etienne, „Wobei ich das auch gerne mitnehmen würde.“
„Was ist das?“, fragte Meta und Etienne ging auf das Gespräch ein, da sie vermutete, dass es Meta die Anspannung nehmen würde, „Ein Relikt von Rosemary Dupont. Sie hatte es genutzt, um die Magie von Gegenständen auszuschalten. So konnte sie beispielsweise in Orte eindringen, welche von Magie geschützt wurden. Sie ist damit überall reingekommen.“

„Rosemary Dupont“, wiederholte Meta, „Ich hätte nie gedacht, dass Vater von solchen Persönlichkeiten etwas hat.“

Rosemary Dupont war nach dem Zusammenbruch der alten Welt noch ein Kind gewesen, dennoch, zusammen mit ihrem Bruder unter der Führung von Blue Moon, hat sie mitunter dafür gesorgt, dass die Menschen den Kampf gegen die Bestien, welche sie überrannt hatten, gewonnen haben. Sie haben die Welt stabilisiert, welche so menschenunfreundlich geworden war. Die Geschichten wurden in allen Schulen gelehrt.
Etienne sah wieder zum Geist und blickte in den zweiten Raum. Er war diesmal näher an Meta. Betrachtete sie von oben bis unten. Sie strahlte in vielen bunten Farben. Hauptsächlich jedoch in Blau, was ihrer Angst zur Schulde war. Etienne spannte sich an und nickte Catjill zu. Er würde sie beschützen, wenn es dazu kommen sollte. Sie würde mit ihm den Preis dafür später aushandeln. Auch das war ein Teil ihres Vertrages.
Sie blickte weiter die Regale durch und fand ein Kästchen, welches ihr bekannt vorkam. Es sah ähnlich dem, welches Raffael an sich genommen hatte.

Sie packte es und betrachtete die Verzierungen, welche diese schmückten. Nachdem sie sich versichert hatte, dass dort nichts gefährlich dran war, öffnete sie das Kästchen und sah zufrieden, dass der zweite Stein von Expulsio dort drin verstaut war. Sie packte das Kästchen in ihre kleine Tasche, in welche gerade mal genug Platz für dieses und ihre kleine Tasche mit den Ampullen war. Sie hatte ein oder zwei, welche ihr gegen Geister helfen könnten. Wenn es hart auf hart kommen sollte, würde sie ihnen einen weiteren Tod bescheren. Doch sie würde das lieber vermeiden.

Etienne sah nach dem Geist. Erschrocken musste sie feststellen, dass er in ihre Nähe gekommen war. Er blickte sie weiterhin wütend an. Etienne konnte nun einen besseren Blick auf ihn erhaschen. Er war hochgewachsen und dürr. Die Hälfte seines Gesichtes war in einem dicken Bart gehüllt, welcher sie an einen dichten Busch erinnerte. Oder an das Dickicht, welches im Garten gewütet hatte.

Sie lächelte ihm verunsichert entgegen. Er knurrte sie an. Wahrscheinlich hatte er schon festgestellt, dass so lange Catjill in Metas Nähe war, er ihr nichts tun konnte. Also war sie das nächste Ziel. Die dunklen Schleier zogen sich in ihre Richtung, versuchten, sie zu umkreisen. Sie trat um ihn herum, zurück zu Catjill und Meta. Meta sah sie erwartungsvoll an, „Wie sollen wir nun hier rauskommen?“

Etienne zögerte kurz, als sie beobachtete, wie der Blick des Geistes zu ihr wanderte. Er knurrte erneut, wütend.
Etienne hörte ein Geräusch hinter sich. Es hörte sich nach einem Klappern an, gefolgt von einem unangenehmen Knirschen. Hinter ihnen erhob sich das Skelett, welches nun von dunklen Schatten umgeben war. Es schien sein Gleichgewicht nicht halten zu können, kämpfte damit, nicht wieder auf den Boden zu fallen. Etienne sah wieder schnell zum Geist. Die Wut verzerrte sein Gesicht.

„Oh mein Gott“, wimmerte Meta, sie ging näher zu Etienne.
„Catjill“, meinte Etienne zu ihm, „Kannst du die Verbindung zwischen ihnen brechen?“

Der Kater sprang von Metas Schulter hinunter und sprang durch die Schatten, welche den Geist mit dem Toten verband. Das Skelett fiel in sich zusammen. Etienne hörte erneut ein Knurren. Sie blickte zum Geist und sah noch, wie sein Gesicht sich verzog und er einen markanten Schrei ausstieß. Meta schrie auf und hielt sich die Ohren zu.

Etienne bemerkte, wie die Raumgrenze auseinander gerissen wurde, als er versuchte sich gewaltsam in der ersten Ebene zu manifestieren. Es gelang ihm, wenn auch nicht sehr erfolgreich. Staub und Luft bewegte sich um seine geistige Gestalt, ließen Konturen erkennen, die einst zu seinem Aussehen gehört haben. Sie füllten Lücken und Stellen, welche er selbst durch seine Magie nicht rekonstruieren konnte. Eine alte, bärtige Gestalt stand nun vor ihnen. Seine Form war noch nicht richtig gefasst. Dies war ein Zeichen dafür, dass er seine Macht nicht richtig unter Kontrolle hatte. Das konnte kein alter Geist sein. Erst einige Jahre.

„Nun haben wir ihn wirklich wütend gemacht“, meinte Catjill, der sich wieder zu Meta stahl.

„Bleib bei ihr“, befahl ihm Etienne. Sie würde schauen, ob sie mit dem Geist eine Abmachung eingehen könnte. Wenn er sich gezeigt hat, würde er sicherlich mit ihnen sprechen wollen. Ansonsten würde er weiterhin aus dem zweiten Raum heraus sie angreifen. Nun, wo sie jedoch wusste, was die Quelle verfluchten Gegenstände war, würde er es schwerer haben. Catjill könnte alles auf dem Weg unschädlich machen, indem er die Verbindung zum Geist löste. Somit würde er nichts mehr aktivieren können.

Der Geist schien es aufgegeben zu haben, seine Gestalt zu stabilisieren und hatte stattdessen nur sein Gesicht klar identifizierbar manifestiert.

Meta schnappte hinter Etienne nach Luft und Etienne blickte kurz zu ihr. Mit großen Augen blickte sie zu der Gestalt.

„Oh. Oh Gott Etienne, das ist mein Vater“, sagte sie leise zu ihr.

Etienne sah wieder zu der Gestalt. Es war keine überraschende Erkenntnis. Blieb nur herauszufinden, was sie mit ihm machen sollte.

32. Die Geister der McClaines: Um etwas zu verzaubern

 

Seit dem Zusammenbruch der alten Welt, gab es zwei Möglichkeiten, einen Ort zu verzaubern. Beide hingen mit dem Schöpfungsgeist des Menschen zusammen. Haben die Menschen früher ihren Geist genutzt, um anschließend zusammen mit ihrem Körper ihre Umwelt zu verändern, hatte nun ihr Geist die Macht erlangt, ganz allein auf die Umwelt Einfluss zu nehmen. Insbesondere in den ersten Jahren des Zusammenbruchs, war er die Triebkraft, welche die alten Zivilisationen ausgelöscht hat. Es hat Jahre gedauert, bis die Menschen gelernt haben ihre Macht zu kontrollieren und noch einmal zwei Jahrzehnte, bis durch Blue Moon die Welt und die Schöpfungsfähigkeit des Geistes stabilisiert und eingeschränkt werden konnten. Seit dem gab es keine plötzliche Erschaffung von Monstern, weil Kinder von diesen geträumt haben, keine real gewordenen Plagen oder Pandemien, weil die Angst vor diesen die Überhand genommen hatte, keine plötzlich fliegenden Menschen, Gebäude oder Landstücke, weil ein Mensch sich dies vorgestellt hatte. Somit auch kein Chaos und kaum noch unkontrollierte Magie. Der Körper war wieder notwendig geworden, um Zauber zu wirken, welche mehr und mehr zum Werkzeug wurden, welche die Menschen für sich entdeckten, indem sie Gegenstände herstellten, welche ihnen beim Handwerk halfen oder Segen sprachen, um zu Schützen und zu Pflegen oder Flüche webten, welche Gegenstand und Menschen in das alte Chaos treiben konnten, welcher in den ersten Jahren des Zusammenbruches geherrscht hat. Dies war die erste Möglichkeit, um einen Ort zu verzaubern. Einen Fluch zu weben und ihn über eine lange Zeit hinweg unversiegelt wüten lassen, sodass er genug Energie gesammelt hat und mit der Psyche der Menschen zu spielen, ihre Ängste gegen sie einsetzten, um dem Ort ein immerwährendes Bild zu geben, welches durch viele Geister geteilt und so gefestigt wurde, bis die Identität des Ortes unangefochten war.

Das Geisterhaus der McClaines und deren verfluchte Familie, dachte Etienne. Das war auf dem besten Weg dorthin, die Identität dieses Ortes zu werden, denn die Gerüchte, die sie über Meta und Gilgian und Metas Vater gehört hatte, waren bereits voll und ganz dabei, sich immerwährend in den Köpfen der Menschen einzuspeichern. Sie würden die Geschichten weitergeben an ihre Kinder, an die nächsten Generationen, welche es als Erzählung behalten würden und so die Identität nähren und festigen.

Aber auch die zweite Möglichkeit, einen Ort zu verzaubern, schien hier nicht ganz unbeteiligt zu sein.

Nur ein Mensch mit einer besonders starken Bindung zu einem Punkt würde an diesen gebunden werden. Dieser Punkt könnte ein Raum sein, ein Haus, eine Mine, ein Wald. Die Bindung kann zu Lebenszeiten geschehen, aber viel wahrscheinlicher erst nach ihrem Tod, wenn ihre Gefühle zurückblieben und ihr Echo, welches in allem widerhallte, mit dem sie zu tun hatten. Dies entschied auch, wie genau sie gebunden waren. Die Wächter im Château de la Fortune waren wahrscheinlich einst Menschen gewesen, getrieben von einer Aufgabe. Nun konnten sie die Wesen kontrollieren, welche das Château für sie beschützen. Was genau deren Aufgabe sein könnte, wusste Etienne nicht und es interessierte sie auch nicht, denn sie würde dorthin nicht zurückkehren.

Anders jedoch bei diesem Haus, in welchem sie sich noch befand. Metas Vater schien so besessen von seiner Sammlung gewesen zu sein, dass bereits zu seinen Lebenszeiten sich viele seiner Gefühle und Obsessionen magisch manifestiert hatten. Seit dem Zusammenbruch der alten Welt war dies bei Weitem kein Einzellfall. Es gab viele Phänomene, welche sich auf die starken Gefühle der Menschen zurückführen ließen, welche ihr Geist aufgegriffen und gelebt hat.

Etienne hob ihre Hände und sagte an den Geist gewandt, „Sicherlich können wir eine friedliche Lösung finden?“

Der Geist sah mit seinen leeren Augen zu ihr. Sie spürte seine Wut, seinen Hass, seine Obsession. Es verschlug ihr den Atem. Nichts davon ging jedoch von der Gestalt aus. Es waren Gefühle, welche durch den kurzen Bruch der Grenzen allgegenwärtig waren.

Er sprach zu ihr, in einer abgehackten Stimme. Es war offensichtlich, dass er Schwierigkeiten hatte, sie zu kontrollieren. Das, und seine Probleme, seine Erscheinung unter Kontrolle zu halten, deuteten darauf, dass er noch kein alter Geist sein konnte. Wahrscheinlich hatte er noch nie richtig in die erste Ebene gewechselt.

Das macht die Sache schon mal leichter, als bei den Wächtern, dachte sie.

„Du hast keine Erlaubnis, hier zu sein.“

„Ich stimme dir voll und ganz zu“, sagte Etienne, „Deswegen werden wir jetzt gehen.“

„Du hast mir etwas weggenommen“, sagte er.

„Ich kann dir als Gegenleistung etwas anderes anbieten.“

Sie holte ihren Talisman hervor. Es würde sie schmerzen, ihn zu verlieren, aber sie wäre bereit, ihn herzugeben. „Ich habe hier einen Gegenstand, der alles in Gold verwandeln kann, was er berührt“, log sie.

Sie berührte eine alte Statue eines Mannes, welcher mit einem mit Verzweiflung verzerrten Gesicht auf den Knien saß und die Hände abwehrend vor sich gehoben hatte. Die blasse graue Farbe des Steines verwandelte sich in ein leuchtendes Gold. Es fiel Etienne nicht schwer, sich Gold vorzustellen. Sie hatte genug Referenzen im Raum.

Er sah zu ihrem Talisman, sie spürte seine Aufmerksamkeit an ihren Fingern. Etienne hoffte, dass er ihr Gespräch mit Meta über den Stein nicht allzu intensiv gelauscht hatte. Er schien zu wissen, dass Meta das Haus hatte verlassen wollen und Etienne vermutete, dass die Angriffe aus dem Grund gestartet hatten. Aber so schlecht wie er sich in der ersten Ebene manifestierte, vermutete Etienne auch, dass er nicht so gut in ihre Welt reinlauschen konnte. Es musste genug sein, dass er sich zusammengereimt hatte, dass Meta gehen wollte, aber hoffentlich nicht genug, um all ihre Gespräche vernünftig rekonstruieren zu können.

Seine Augen wanderten zu der Statue. Etienne spürte die Gier ihre Haut hinaufkriechen und bekam selbst das Verlangen, alles zu behalten, was in diesem Zimmer zu finden war. Aber vor allem ihren Talisman. Was sie ihm präsentiert hatte, war ein seltenes Artefakt, welches schon allein deswegen für einen Sammler wie ihn interessant wäre. Dazu kam die Fähigkeit, über die Etienne gelogen hatte. Wenn sie aber so aus dem Haus herauskommen könnten, würde sie das in Kauf nehmen. Sie würde sich jedoch eine andere Lichtquelle für künftige Ausflüge besorgen müssen.

Die zwei dunklen Löcher seiner Augen wanderten zu ihr. Er schob seine Brille zurecht, eine skurrile Geste, welche nicht zum Bild passte. Sie spürte seine Aufmerksamkeit und dann wanderte sie davon.

„Mein kleines Mädchen“, hörte sie ihn einen Moment später sagen, „Du siehst mehr und mehr aus, wie deine Mutter. Ich bin so froh, dass du so sehr nach ihr kommst. So glücklich.“

Etienne trat vor Meta und räusperte sich laut. Seine Aufmerksamkeit wanderte erneut zu ihr und sie sagte laut, „Ich bin mir sicher, wir wissen beide, dass du mir nicht viel anhaben kannst. Ein Angebot wie dieses kommt nicht noch einmal.“

Seine Worte gegenüber Meta gefielen Etienne nicht. Seine Aufmerksamkeit war überall. Auf ihr, auf Meta, auf den Gegenständen um sie herum. Sie musste dafür sorgen, dass sie nicht weiter auf Meta landete.

Er lächelte, „Ich wäre bereit es für den Stein zu tauschen. Dieses alte Ding hat mir nichts als Ärger bereitet, seit ich es zusammen mit den anderen erhalten hatte.“

„Und für einen sicheren Ausgang aus der Villa“, fügte Etienne hinzu und merkte sich, dass er derjenige war, der die Steine von Expulsion in diese Stadt geholt hatte.

„Das ist mir zu teuer“, erwiderte er langgezogen. Erneut verschwand seine Aufmerksamkeit. Nostalgie berührte sie. Das machte Etienne nervös. Er war eindeutig possessiv über seine Sammlung. War aber bereit, den Stein durch einen anderen auszutauschen. Wahrscheinlich hätte er sie auf dem Rückweg angegriffen, um beides behalten zu können, so hätte er seine Abmachung nicht gebrochen. Das war nichts, was sie nicht erwartet hatte. Sie hätte nur weiter versuchen sollen ihn davon zu überzeugen, dass ihr Talisman es wert war. Doch sein stetiger Blick zu Meta gab ihr das Gefühl, dass er nicht durch einen einfachen Vertrag mit ihr bereit wäre. Er schien etwas anderes zu wollen. Vielleicht war einfach froh, seine Tochter wiederzusehen, doch Etienne zweifelte daran.

„Ich kann dir versichern, dass es nicht zu teuer ist“, sagte sie zu ihm und lenkte seine Aufmerksamkeit wieder auf sich, „Es hat einen sentimentalen Wert für mich. Mich davon loszulösen ist so, so schmerzhaft.“

„Wieso sollte mich deine Gefühle interessieren?“

„Ich habe hart für diesen Talisman gekämpft“, sagte sie zu ihm, „Sein Wert ist auch durch meine Mühe bestimmt, ihn zu erlangen. Ich habe ihn als Belohnung bekommen und mich gegen alle Anderen durchgesetzt. Diese Geschichte wirst du mit ihm bekommen.“

Er sah wieder zu dem hell leuchtenden Ball in ihrer Hand. Geschichten hatten immer eine anziehende Wirkung auf Geister. Sie waren gebunden an einen Ort und sehnten sich nach Geschichten, weil sie nicht mehr viel erleben konnten. Und dieser hier war wahrscheinlich über eine lange Zeit isoliert gewesen. Er würde danach brennen, Geschichten zu hören. Er musste es. Für Geister war sentimentaler Wert auch ein Wert.

Mit einem unangenehmen Gefühl im Magen rührte sie sich nicht, als sein Geist durch seine Neugierde getrieben sie von oben bis unten antastete, sie musterte und einzuschätzen versuchte. Dann spürte sie ihn erneut in ihrer Hand, ihren geliebten Talisman mustern, den einzigen wahrhaftigen Besitz, den sie neben ihrer geliebten Jacke hatte, und Etienne spürte wieder die Gier. Er zögerte immer noch, sah sie zögernd an, „Ich werde dich mit dem Stein gehen lassen.“

Etiennes Herz pochte, „Wir sind zu zweit. Du musst uns beide hier herauslassen.“

„Der Schatten meiner Frau wird bei mir bleiben“, sagte er dann und Etienne spürte ihr Herz hinunterrutschen. Sie fragte sich, ob sie mit Catjills Hilfe sicher rauskommen könnten. Vielleicht wäre dies machbar. Die Puppen hatten nur sie angegriffen, nicht Meta. Dies könnte sich aber vielleicht ändern, wenn Meta versuchen würde, das Haus zu verlassen. Würde er es riskieren, sie zu verletzen? Sie verwarf den Gedanken. Es gab genug Möglichkeiten jemandem zu schaden, ohne ihn zu verletzen.

„Das geht nicht“, sagte Etienne. Sie hatte Meta unnachgiebig hier reingezogen, sie würde sie nicht hier drin sitzen lassen.

Tatendrang, Gehässigkeit und Gier schwappten über ihren Körper. „Dann scheint es, als würden wir keine Abmachung bekommen.“

„Bist du sicher, dass das zu deinen Gunsten verlaufen wird?“, fragte Etienne, „Ich weiß, wie ich deinen Zugriff auf die verfluchten Gegenstände unterbinden kann. Wenn wir hier herauskommen, was wir werden, dann wirst du mit nichts dastehen. Keinem Stein, keinem Talisman und keiner Geschichte.“

Ein tiefes Knurren entfaltete sich in ihrer Brust und sie wusste, es kam nicht von ihr. Etienne fragte sich, ob Meta es auch spürte. Oder ob ihre Resistenz gegenüber Magie sogar so weit ging, dass ihr das Ganze hier gar nichts anhaben konnte. Vielleicht konnten sie es nutzen, um von hier zu verschwinden. Etienne biss sich auf die Lippe. Besser wäre es jedoch, ihn zu vernichten. Es schien erst einige Jahre her zu sein, dass er hier spukte. Weitere Jahre und er würde stärker werden, erst recht, wenn halbstarke Jugendliche sich hierhin verlaufen würden und ihre Erlebnisse nach Außen tragen würden. Die Geschichte um das Haus würde noch mehr genährt werden und ihm so noch mehr Macht zukommen.

„Wollen wir dann mal schauen, wie weit du kommst?“, hörte sie den Hauch seiner Gedanken und unterdrückte einen frustrierten Seufzer. Mit Ausnahme ihres Djinns, hatte sie es wirklich noch nie geschafften, jemanden in einer Verhandlung zu überzeugen.

33. Die Geister der McClaines: Die Überreste der dunklen Zeit

 

Etienne trat zurück, als er seine Magie in einer gewaltigen Welle freiließ. Sie fiel fast auf den Boden, als der Boden unter ihren Füßen bebte. Sie hörte, wie dies Meta passierte, welche erneut aufschrie. Staub rieselte auf sie hinunter, einige Regale fielen hin, die Gegenstände schepperten auf den Boden. Ihr Magen drehte sich um, als sie all seine Gefühle auf einmal spürte und nicht benennen konnte, um welche genau es sich handelte.

„Catjill, hilf ihr raus“, befahl sie ihm. Sie hörte, wie er sie anfeuerte loszugehen. Dann schrie Meta auf und als Etienne sich umsah, sah sie das Skelett wieder aufrecht stehen. Sie blickte schnell in den zweiten Raum und bereute es, dass sie das nicht vorher getan hatte. Er schien seine Schatten wieder verbunden zu haben und diesmal sah Etienne mehr von ihnen. Sie erstickten die Luft, nahmen ihr die klare Sicht auf das Zimmer. Sofort ließ sie ihren Blick fallen und zog ihre Waffe hervor, kontrollierte die sauber gezogenen schwarzen Linien auf Kontinuität, welche sie vor Wochen erneuert hatte. Etienne führte ihre Hand zur Tasche, am Zögern, ob sie eine der Ampullen nehmen sollte oder nicht. Sie entschied sich dagegen. Er war nicht stabil genug, konnte seine Macht nicht gut genug kontrollieren, als dass er ihr eine Gefahr werden würde. Sie musste sich vielleicht nur etwas mehr anstrengen. Kein Grund, einen wertvollen Gegenstand abzugeben.

Ein Schuss und der Schädel zerbrach in viele Splitter. Und als noch mehr Schüsse folgten, zerbrachen seine Knochen und er fiel in sich zusammen. Der Geist schrie wütend auf. Etienne sah wieder kurz in den anderen Raum. Seine Schatten lag noch immer um die Knochen, aber nun musste er sorgsamer darin werden, sie aneinander zu legen und zu kontrollieren. Bunte Farben leuchteten hinter dem Skelett und Etienne sah hinter das Skelett. Gilgian sprintete in das Zimmer, ging sofort zu Meta. Raffael war hinter ihm, seine Waffe gezückt.

„Scheiße“, flüsterte sie frustriert. Noch mehr Leute zu beschützen. In der zweiten Ebene leuchteten sie, wie Meta, in bunten Farben. Etienne war überrascht davon, dass Herrscher von Provinzen es anscheinend als nicht notwendig sahen, dies zu unterdrücken.

„Falsche Richtung“, rief sie ihnen zu, während sie weiter beobachtete, wie seine Schatten sich um ihn sammelten, sich bewegten und in Gegenständen verschwanden. Etienne war sich nicht sicher, auf welches von diesen sie zuerst losgehen sollte. Wenn sie eines angriff, dann könnte er ein anderes aktivieren. Würde sie schnell genug reagieren können? Es fühlte sich an, wie ein Ratespiel mit hohem Preis.

„Ihr müsst hier raus, wieder nach oben“, rief sie ihnen zu.

Sie merkte, wie Gilgian ein paar Worte mit Meta wechselte und sein Blick bedrohlich auf Catjill fiel. Dies sprang von ihrer Schulter hinunter und machte Anstalt zu Etienne zu kommen, sie hielt ihn jedoch ab, „Bleib bei ihr, du kannst sie am besten beschützen.“

Sie hörte Gilgians bedrohliches Lachen hinter sich, „Du kleines Gör. Ich werde sie sehr gut beschützen. Am besten geschützt wäre sie aber, nachdem meine Faust in deinem Gesicht gelandet ist.“

Sie verzog das Gesicht als sie sich erinnerte, welches Loch er am Vortag in der Schule hinterlassen hatte. Sie hatte aus genau dem Grund vermeiden wollten, dass er irgendwas davon merkte. Ein weiterer Blick hinter sich und sie sah, wie Catjill zögerlich vor ihnen hin und her schlich und anschließend unter Gilgians drohendem Blick an Metas Seite zurückkehrte.

„Er ist ein Djinn“, sagte Etienne zu ihm, „Er ist das mit Abstand sicherste Wesen in diesem Haus.“

Ihr Blick fiel auf Raffael, welcher wachsam den Ort betrachtete. Sicherlich hatte er etwas mit dem Auftauchen von Gilgian zu tun. Es gab keinen Grund, wieso ausgerechnet er mit ihm hier sein sollte.

Meta redete auf Gilgian ein und als ihr Blick zu ihnen zurück wanderte, sah sie Metas Hand in Catjills Fell, welches sich aufgerichtet hatte. Er fühlte sich von Gilgian bedroht und sie konnte es ihm nicht verübeln. Doch nun hatte sie eine neue Sorge, und zwar, dass Gilgian von Catjill verzaubert werden würde.

Der Geist lachte, „Gilgian? Oh Gilgian.“

Etienne blickte wieder zu ihm. Sein Gesicht war wieder sichtbar, eine Mischung aus Magie und Staub. Etienne spürte Zorn und Gier. So viel Gier, als all seien Aufmerksamkeit auf Gilgian fiel. Und das erfüllte sie mit Sorge.

Etienne hörte ein lautes Stoßen. Ihre Augen huschten zur Quelle des Geräusches und sie entdeckte einen der Särge, welche sie zuvor ausgemacht hatte. Es gab noch mal ein Stoßen, dann frustriertes, kehliges Klackern und Kratzen von scharfen Klauen auf Holz. Etienne trat zurück, spürte wie ihr schlagartig kalt wurde, als sie das Geräusch erkannte.

„Geht jetzt raus!“, sagte sie drängend und trat zurück. Auf einen Schlag fühlte sich die Situation außer Kontrolle an.

Sie merkte, wie Meta von Gilgian hochgezogen wurde und trat ebenfalls einige Schritte zurück, bereit zurückzulaufen oder einen Angriff abzuwehren. Der Sarg öffnete sich mit einem Knall und eine dunkle Gestalt schoss mit einem markerschütterndem Schrei empor.

Etienne fasste ihr Messer fester in die Hand, im festen Vorhaben es auf keinen Fall zu verlieren, als sie die schemenhafte Kreatur erkannte, welche sie nur zu gut kannte. Ein Jäger der dunklen Zeit, ein Grund, wieso die Menschen lange Zeit an der Nahrungskette nicht mehr an der Spitze standen. Eine Kreatur, welche aus Angst vor Dunkelheit entstanden ist, aus Angst vor dem Gejagtwerden, dem Verfolgtwerden und dem Wissen, dass man nur eine kleine Beute eines gefährlicheren Wesens war.

Der Geist erzählte irgendetwas über dieses Wesen, doch er würde Etienne nichts Neues hierzu erzählen können, denn sie kannte es bereits zu gut. All ihre Sinne waren auf es gerichtet, Metas Stimme, die leise etwas sagte, Raffaels Ruf, sie sollten sich zurückbewegen, all das rückte in den Hintergrund.

Es hatte lange Schwingen und einen humanoiden Körper, aber keine Augen. Lange Ohren und einen Hautlappen über dem Ort, welcher die Nase war. Vollkommen in Schwarz, war es in der dunklen Ecke des Zimmers nicht zu sehen. Als würde es alles an Licht verschlingen, was auf es fiel und teil der Dunkelheit werden. Etienne verstand nur zu gut, wieso die Menschen solch eine Angst davor hatten. Sie rührte sich nicht, atmete leise und kontrolliert, während sie ihre Augen nicht von ihm ließ. Durch den Blick in die zweite Ebene konnte sie die goldenen Linien seines Lebens ausmachen. Einer der wenigen Gründe, wieso die Menschen die Oberhand über diese Spezies erlangt hatten und so erkannt haben, dass sie die zweite Ebene zu ihrem Vorteil nutzen konnten. Es hob den Kopf in die Luft und Etienne sah angespannt, wie der Hauptlappen nach hinten gezogen wurde und es die Luft in die Nase einsog. Etienne war sich sicher, dass Meta am Knie geblutet hatte. Mindestens hatte sie einige Kratzer von ihrem ganzen Stolpern mitgenommen. Und wie erwartet, drehte sich der Kopf ruckartig zu ihr. Dann kreischte es auf und sprang auf sie zu. Etienne hob ihren Dolch, bereit es abzuwehren. Hinter ihr erklang ein Schuss und das Wesen sprang zurück, flog an die Decke, haftete an dieser und beobachtete sie wachsam, verschwand langsam wieder in der Dunkelheit. Etienne trat weiter zurück, behielt es im Auge. Sie sah kurz hinter sich, Raffael war an der Leiter, zielte in den Raum. Gilgian zog Meta hinter sich.

„Kommt sofort zurück! Meta! Gilgian! Ihr werdet mich nicht noch mal hier zurücklassen!“

34. Die Geister der McClaines: Graue Augen

 

Meta zuckte zusammen, als sie lautes Poltern vernahm. Sie hob den Kopf sah erneut auf das sonderbare Bild, welches sich aus vermoderten Holzstücken, goldenen Münzen und feinem Staub zusammensetzte, welche wie von Geisterhand herumwirbelten und der Gestalt ihre Form gaben. Die Silhouette ihres Vaters war deutlich zu erahnen. Der große Bart sowie die dürre Körperform, auch wenn es eher schien, als hätte ein Kind versucht etwas nachzubauen, von dem es nicht mehr so ganz wusste, wie es einst ausgesehen hatte.

Gilgian hatte ihr nie erzählt, was in der Nacht passiert war, als sie notgedrungen bei einer Freundin übernachtet hatte. Der einzigen, die sie jemals gehabt hatte. Meta hatte ihn aber auch nur ein mal gefragt und danach nie wieder. Ihr Vater hatte sich nie für sie interessiert, erst als sie älter geworden war, hatte er immer angemerkt, wie ähnlich sie ihrer verstorbenen Mutter aussehen würde. Es hatte sie damals mit Glück erfüllt, da es endlich so schien, als würde er sie wieder beachten und das nicht nur wegen Gilgian. Bis er diesen fürchterlichen Vorschlag gemacht hatte. Ihr letztes Gespräch war ein Streit, der erste den Meta je hatte. Gilgian hatte sich dann eingemischt und sie am nächsten Tag weggeschickt. Seit dem hatte sie nie wieder was von ihrem Vater gehört und sich auch nicht nach ihm erkundigt. Sie hätte es nicht ertragen können, wenn Gilgian ihr gesagt hätte, er hätte ihm etwas angetan. Wenn sie nur etwas von mehr Nutzen gewesen wäre, dann hätte Gilgian nicht zu diesen Mitteln greifen müssen, von denen sie nur vermuten konnte, um welche es sich handelte. Weil sie ein Feigling war, welcher sich nicht traute, den Mund aufzumachen, um etwas zu fragen.

Meta verstand, dass hier etwas Sonderbares passierte. Aber sie wusste nicht konkret zu benennen was. Es flimmerte um sie herum. Als wäre es ein besonders heißer Sommer und knapp über dem heißen Boden würde die Luft sich wellen. Sie vernahm ein Gespräch, aber keine weiteren Stimmen außer die von Etienne und Gilgian. Sie konnte nur erahnen, worum es ging und nicht zu verstehen, was noch gesagt wurde, beunruhigte sie. Die Angst und Sorge und die Unwissenheit, was sie tun sollte, lähmten sie.

Gilgian zog sie hoch und drückte sie Richtung Ausgang. Jeder Schritt fühlte sich an, als müsste sie ihre Beine wecken und zum Bewegen zwingen. Meta wollte protestieren, war sich unsicher, ob sie denn Etienne wirklich mit nichts weiter, als einem Messer zurücklassen sollten. Sie sollte wenigstens Catjill wieder zurücknehmen, welcher noch immer dicht an ihren Beinen blieb.

Als sie mit Gilgian den Eingang des Tunnels erreichte, vernahm sie ein Gefühl, welches sie nicht zu beschreiben vermochte. Als würden all ihre Muskeln sich zusammenziehen, als würde ihr Magen zu Stein werden. Ein Schauer ging ihr den Rücken hinauf und kalter Schweiß sammelte sich unter ihrer Kleidung. Die Luft wirbelte um sie herum, wehte ihr die blonden Haare ins Gesicht.

Meta sah sich um. Sah, wie das seltsame Konstrukt etwas hob, was die Hand sein sollte. Etwas Rotes schoss aus einer Ecke des Raumes hervor, umkreiste das Wesen. Meta konnte jedoch nicht ausmachen, was es war. Dann wackelte der Boden unter ihnen. Sie schrie auf, als Gilgian sie zurückzog und sich schützend über sie warf. Er fluchte ausgiebig. Es war auch schon eine Weile her, seit sie das von ihm gehört hatte. Es musste furchtbar für ihn sein, wieder hier zu sein. Krach übertönte ihr laut schlagendes Herz. Staub wurde aufgewirbelt, drang in ihre Augen und nahm ihr die Sicht. Meta schnappte nach Luft, atmete etwas davon ein und hustete es wieder unter Anstrengung heraus. Etwas Schweres krachte neben ihr auf den Boden, die lauten Geräusche brachten ihre Ohren zu klingeln. Sie versuchte sich den Staub aus den Augen zu reiben, welcher ihr stechend Tränen in die Augen trieb. Gilgian richtete sich wieder auf. Der Tunnel hinter ihnen war größtenteils eingestürzt. Es gab einzelne Lücken oben an der Decke und sie entdeckte, wie sich dort etwas bewegte.

„Lebt ihr noch?“, hörte sie Raffael zu ihnen herüberrufen.

Meta blickte wieder in den Raum, während ihr Bruder ihm antwortete. Über dem, was ihr Vater sein sollte, war ein langer Riss in der Decke, welcher in die andere Etage führte. Es stand mit ausgestreckten Armen da, das, was der Kopf sein sollte, nach hinten geneigt. Sie wusste, was es bedeuten sollte. Er genoss die Macht, die er nutzte. Er war schon immer süchtig danach, die Gegenstände zu verwenden, die er gesammelt hatte. Nichts hatte ihm eine größere Befriedigung verschafft. Es konnte nur ihr Vater sein. Es musste er sein. Aber wieso hörte sie ihn nicht? Sie verstand nicht, was hier los war. Sie verstand nicht, wie sie hineingeschlittert war.

Meta suchte den Raum nach Etienne ab. Diese richtete sich gerade wieder auf. Auch sie rieb sich den Staub aus den Augen und Meta war so glücklich, dass ihr nichts passiert war. Wenn sie wegen ihres Vaters zu Schaden kommen würde, dann würde Meta nicht wissen, wie sie damit umgehen sollte. Ihr Vater hatte bereits so vielen etwas angetan und Meta fühlte die Schuld in ihrem Herzen sitzen, als wäre sie diejenige, welche an seiner Stelle stand. Und als seine Tochter hätte sie doch bestimmt etwas tun können, um das zu verhindern. Irgendwas.

Sie schämte sich für ihn. Sie musste sich bei Etienne entschuldigen. Wenn sie gewusst hätte, dass ihr Vater noch hier in diesem Haus war, dann hätte sie nie zugelassen, dass Etienne sich in solch eine Gefahr begab.

Kaum dass Etienne sich aufgerichtet hatte, fiel sie nach hinten um. Meta wollte zu ihr und ihr hoch helfen, war sich aber nicht sicher, ob sie eine Hilfe sein würde. Dann wurde Etienne plötzlich weggezogen und Meta schrie erschrocken auf, als Etiennes Licht zunächst in die Mitte des Raumes und anschließend nach oben flog. Nur um danach zu verschwinden und sie in der Dunkelheit zurückzulassen.

„Gilgian!“, rief sie ihrem Bruder zu, zog an seiner Hand, sodass er sich wieder auf das Geschehen vor ihnen konzentrierte. Ihr Bruder fluchte schon wieder. Meta bemerkte, wie die Krallen des Katers sich in ihre Schultern bohrten. Der Schmerz half ihr nicht dabei, sich zu beruhigen.

„Hilf ihr“, sagte sie zu Catjill, welcher sich nicht vom Fleck rührte.

„Sie sagte, ich soll bei dir bleiben“, erwiderte er mit einer ihr etwas zu unbeschwerten Stimme.

„Catjill, bitte“, flehte sie ihn an.

„Ihr müsst mir sagen, was bei euch los ist!“, rief Raffael zu ihnen hindurch. Gilgian ignorierte ihn und trat vor Meta. Sie wusste nicht mal, was er vorhatte zu tun oder ob er überhaupt etwas tun konnte. Wogegen? Steine und Staub? Sagte dieses Wesen wieder etwas? Schwieg es? Hatte es die Stimme ihres Vaters?

„Etienne wurde nach oben gezogen!“, rief sie Raffael zu, „Die Decke ist aufgerissen. Ich glaube, es war dieses schwarze Ding.“

Es war still, aber es fühlte sich nicht still an. Die Luft bewegte sich sanft, ein Wind, von dem es keinen Sinn ergab, von wo er herkam. Dann hörte sie Gilgian erneut fluchen.

„Dein Vater erzählt gerade, dass es ein Carwling ist“, flüsterte Catjill ihr verschwörerisch zu, „Mach dir aber keine Sorgen, er ist noch klein.“

„Was?“ Meta versuchte ihn anzusehen aber ohne Etiennes helles Licht war es furchtbar dunkel im Zimmer. Dunkel und einengend und so hoffnungslos. Meta erinnerte sich an den Unterricht von Cruz. Sie hatten die Geburtsstunde der neuen Welt besprochen. Es gab immer noch offene Fragen, Unklarheiten, wieso Dinge so ihren Lauf genommen haben, wie sie es haben. Aber es waren sich alle einig, dass es sich hierbei um die dunkelste Stunde der Menschheit gehandelt hat. Es musste sich sicherlich genauso angefühlt haben, wie sich Meta gerade in diesem Moment fühlte. Wie sollte sie irgendwie irgendjemandem helfen können, wenn sie selbst nichts konnte. Wenn sie nicht einmal die Stimme ihres Vaters hören konnte.

„Wir finden einen anderen Weg zu euch“, hörte sie Raffael ihnen zurufen, „Haltet durch, bis Etienne und ich wieder bei euch sind.“

Sie sah wieder zurück und konnte durch die Lücken des Gesteins ausmachen, wie er sich bewegte. Dann war er weg. Metas Herz sank. Es fühlte sich furchtbar an. Was, wenn sie nicht zurückkommen würden? Es war Raffael. Er hatte keinen Grund für sie beide hier zu bleiben. Aber sie wollte dennoch nicht, dass er sie alleine ließ.

„Gilgian“, sagte sie leise, schnappte nach Luft, von welcher sie nicht genug bekam, „wir sollten-“

„Halt einfach deinen Mund“, hörte sie Gilgian nach einem Moment genervt sagen. Ihr Herz sank noch tiefer.

„Oh keine Sorge, er meint nicht dich“, sagte Catjill, „Dein Vater meinte nur gerade, dass er die Familienzusammenführung sehr schätzt.“

Gilgian und ihr Vater führten ein Gespräch, an dem sie nicht teilhaben konnte. Schon wieder, nur dass sie diesmal nicht von ihrem Vater weggeschickt wurde, sondern die Welt sich entschieden hatte, sie endgültig auszuschließen.

„Was soll ich tun?“, fragte sie an Catjill gerichtet. Sie würde ihren Bruder nicht ablenken, während er sich dem Geist ihres Vaters widmete. Sollte sie versuchen wegzulaufen, dass ihr Bruder keine Rücksicht auf sie nehmen musste? Es wäre für alle Beteiligte um so viel einfacher, wenn sie nicht einen Ballast wie sie bei sich hätten.

„Bleib an Ort und Stelle“, hörte sie Gilgian ihre Frage beantworten. Meta wollte losheulen. Sie konnte nichts tun, als weiter hinter ihm zu sitzen, an Ort und Stelle, mit nichts weiter, als eingestürzten Steinen um sie herum, vor denen er sie auch beschützt hatte.

„Nicht genug, wie es scheint“, sagte Gilgian dann, „Ich finde, du könntest noch einige Jahre hier drin weiter rotten.“

Wieder Stille und ihre anhaltende Unsicherheit. Er redete nicht mit ihr. Aber irgendwie fühlte es sich beinahe schon so an.

„Bitte Catjill, ich flehe dich an. Ich gebe dir alles, was du willst, wenn du uns hilfst“, flüsterte sie dann zum Kater, während Gilgians Stimme ihre überlagerte und sich an ihren Vater wandte.

„Ich nehme keine Verträge an, solange ich einen mit Etienne habe“, sagte er zu ihr und sie hasste seine Antwort.

„Wieso nicht? Könne Djinns nicht mehrere Verträge halten, solange diese sich nicht überschneiden? Etienne hat dir gesagt, dass du mir helfen sollst“, erwiderte sie.

„Nein, sie hat gesagt, ich soll dich beschützen. Wie, obliegt mir.“

Sie spürte, wie sein Schwanz hin und her zuckte, dabei mehrmals ihren Arm streifte. Bedeutete dies nicht, dass Katzen nervös waren? Sie war sich nicht sicher. Meta hatte über diese bisher nur in Büchern etwas gelesen.

Und dann, ganz plötzlich, fielen die ganzen Gegenstände hinunter. Die Münzen klimperten laut auf den Boden, schnitten durch alle anderen Geräusche im Zimmer. Meta hielt die Luft an, starr vor ängstlicher Erwartung über den plötzlichen Zusammenbruch der Gestalt. Dann zuckte Gilgians ganzer Körper. Er stieß einen kehligen rauen Wutschrei hervor, während sein schemenhafter Körper sich nach unten beugte.

„Gilgian?“, fragte sie besorgt, atemlos.

Dann wanderten zwei sehr hell leuchtende graue Augen zu ihr. Es war ihre Augenfarbe, diejenige, welche sie mit ihrem Vater teilte. Und zum ersten Mal seit sich diese Gestalt manifestiert hatte, hatte Meta wirklich das Gefühl, ihm gegenüberzustehen.

„Keine Sorge“, sagte Catjill unbeschwert, „Er kommt auch nicht mit einem menschlichen Körper zu dir durch.“

„Was?“, fragte sie, benommen von der Implikation, welche Catjill ihr so unbeschwert entgegenwarf.

Dann zuckte Gilgians Körper erneut. Er beugte sich nach vorne und würgte. Lange.

Meta packte das Fell des Katers, als Gilgian zu lachen anfing, „Ich wusste schon immer, dass du ein schwacher Mann bist“, sagte er, seine Augen wieder in dem dunklem Blau, „Glaubst du wirklich, ich hätte nie was von deinen Plänen mitbekommen, meinen Körper zu übernehmen?“

Die Münzen und der Schrott stiegen erneut empor. Diesmal langsamer, bedrohlicher, als wären sie selbst wütend, erneut in Bewegung gesetzt zu werden.

„Catjill“, setzte Meta noch einmal an, wollte ihn um etwas bitten, aber sie wusste nicht, um was.

„Keine Sorge“, sagte er unbeschwert, „Das wird schon. Schau, dieser Bulle macht das gar nicht so schlecht.“

35. Die Geister der McClaines: Der Crawling

 

Etienne schrie erschrocken auf, als sie durch Schuttgestein und Goldmünzen gezogen wurde. Dann setzte ein seltsames Gefühl in ihrem Magen ein, als ihr Rücken den Boden verließ und Etienne sich durch die Luft bewegte. Die Umgebung verschwamm und sie packte ihr Messer fester. Konzentrierte sich auf das schwarze Wesen, welches sie in ein anderes Stockwerk hinauf zog, während es immer wieder bedrohliche Geräusche tief aus seiner Kehle stieß. Dann wurde sie durch die Luft geschleudert und schlug auf eine harte Oberfläche auf, welche unter ihr nachgab. Sie biss sich auf die Lippe und ignorierte den Schmerz zwischen ihren Schulterblättern. Das Wesen stürzte sich auf sie und sie nutzte ihren Arm und ihre Beine, um es von sich fernzuhalten, während es nach ihrem Hals schnappte, in einem für es typischen Angriff auf seine Beute. Mit der anderen Hand griff sie ihr Messer fester und versenkte es in der Öffnung seines langen Ohrs. Es kreischte auf. Etienne zog das Messer schnell wieder heraus und trat das Monster von sich. Es stolperte von ihr Weg, wand sich unter dem Schmerz und gab ihr genug Zeit zu reagieren. Etienne sprang auf und ging auf Abstand, während ihr Blick zwischen dem Wesen und dem Raum hin und her sprang. Sie entdeckte ein großes Bett, eine Couch. Einen Schrank, der offen stand. Ein Loch im Boden. Die Tür war bei dem Wesen. Hinter ihr war ein Fenster. Ein Tisch mit einem großen Spiegel neben der Tür.

Etienne packte einen Stein neben dem Loch und warf es so stark sie konnte in den Spiegel. Die Gestalt kreischte auf und sprang dorthin, nahm die Möbel auseinander, welche dort standen. Etienne packte das Messer fester und sprang auf seinen Rücken. Bereit es schnell zu beenden, zielte sie auf seinen Nacken, doch seine abrupten Bewegung sorgten dafür, dass sie abrutschte und seine Schulter traf. Es kreischte wieder auf und wirbelte herum. Etienne verlor durch den Schwung den Griff und wurde gegen den Schrank geschleudert. Ihre Wange schlug stark an der Seite auf und sie biss sich auf die Lippe. Durch Adrenalin getrieben sprang sie wieder auf die Füße und wich dem Wesen aus, welches in den Schrank krachte, an der Stelle, wo sie zuvor noch gewesen war. Schnell fing es sich wieder und griff nach ihr. Etienne schnitt ihm durch die Hand und es kreischte erneut auf und setzte seinen Angriff fort. Etienne duckte sich unter seinem Griff und versenkte ihr Messer tief in seinem Bein, zog es wieder heraus und stahl sich hinter es, während es weiter nach ihr schlug. Etienne stach ihm in den Knöchel desselben Beines, durchtrennte die Stelle, in der sie die Sehne vermutete. Dann sprang sie wieder auf Abstand, als es herumwirbelte und kreischend nach ihr Schlug. Es suchte blind nach ihr, und Etienne trat leise weiter weg, beobachtete es und stellte fest, dass es desorientierter war als vorher. Die Ohren und die Nase gaben ihm die Informationen, die es zum Jagen brauchte. Es war sicherlich fürchterlich, wenn es in der dunklen Nacht auf Lauer lag. Es war so dunkel, dass es in Etiennes schwachem Licht kaum zu sehen war. Sie überlegte sich, wie sie am besten ihren letzten Schlag ausführen sollte. Es schien sein Gewicht nicht mehr auf sein beschädigtes Bein verlagern zu können und wenn sie sein Ohr betrachtete, schien dieses sich auch nicht zu regenerieren.

Etienne packte ihr Messer anders und hielt still, als es plötzlich ruhiger wurde. Sie gab kein Geräusch von sich, blieb still und ruhig. Dann sog es wieder Luft durch die Nase und Etienne packte ein kaputtes Brett in die Hand und warf es ihm entgegen, bevor es sie durch ihren Geruch lokalisieren sollte. Sie vermutete, dass ihre Reaktion darauf zu langsam war, als es sich auf sie stürzte, das Brett ignorierte, welches an seiner Schulter aufschlug, und sie am Hals packte. Etienne stach ihm in sein Handgelenk und es zog die Hand zurück, packte sie dann jedoch an der Jacke und ließ diesmal nicht los. Sie trat ihm in die Wunde am Bein und als es in die Knie ging, setzte Etienne mit einem Stich in die Nase ein. Es kreischte erneut auf und warf sie hin und her. Etienne wehrte sich nicht gegen den Griff, versuchte bei seinen Bewegungen mitzugehen und als es sie wieder zu sich zog, stach sie ihm in den Hals, dann packte sie mit der freien Hand sein anderes Ohr, zog seinen Kopf zurück und stach erneut zu. Sie spürte wie es träge wurde, seine Klagelaute wurde leiser. Es stolperte zurück, hielt sie noch immer am Kragen ihrer Jacke feste. Etienne drückte es weiter zurück. Hinter ihm war das Loch im Boden, durch welches es sie in den Raum gezogen hatte. Es gab keinen besseren Ort ihn loszuwerden. Sie wollte es nicht neben sich sterben lassen. Sie hatte ihrem Bruder versprochen, keine Gewalt für ihre Ziele einzusetzen, aber niemals hätte sie gedacht eines von diesen Dingern inmitten dieser vergleichsweise kleinen Stadt zu finden. Sicherlich würde er ihr verzeihen, immerhin handelte es sich hier um ein Monster, welches die neue Welt in ihren Anfängen terrorisiert hatte.

Es stolperte weiter zurück, seine Klaue ließ ihre Jacke los. Etienne hielt es weiter wachsam fest. Als sie das Gefühl hatte, dass es sie nicht weiter angreifen würde, zog sie ihr Messer wieder heraus. Doch der Schmerz ließ es noch einmal aufkreischen und es packte sie erneut am Kragen der Jacke und zog sie mit, als es hinunterfiel. Etienne fluchte, als sie vom Gewicht mitgezogen wurde, versucht sich zu drehen, um dem Griff zu entkommen, wollte etwas im Zimmer greifen, fiel dann jedoch rückwerts hinunter. Sie stach mit dem Messer in die Wand, versuchte sich mit ihren Beinen und dem Arm sich an dem Gestein festzuhalten. Das Messer verhakte sich in dem kaputten Stein. Sie spürte das Gewicht des Wesens stark an ihr ziehen, als sie ihren Fall verhinderte, dann ließ es sie los und sie fühlte sich auf ein Mal leichter. Doch dann setzte die Anstrengung in ihren Gliedern ein, als sie versuchte ihre Körperspannung aufrechtzuerhalten und nicht einzusacken. Sie dachte panisch nach, wie sie wieder nach oben kommen sollte. Sie hatte Angst loszulassen und sich auf ihr Messer zu verlassen, welches tief in den Überresten der Wand steckte. Sie konnte nicht einschätzen, ob dies einzelne Wand nicht unter ihrem Gewicht nachgeben würde. Schweiß sammelte sich auf ihrer Stirn und floss ihr ins Auge. Sie ignorierte es und überlegte sich, ob sie den Fall in Kauf nehmen sollte. Sie könnte auch Catjill rufen, vermutete jedoch, dass die anderen seinen Schutz jetzt wirklich brauchen würden, erst recht, wenn noch mehr von diesen Wesen in den anderen Särgen sein sollten.

Sie hörte, wie die Tür zu ihrer Rechten aufging, konnte jedoch nicht über die Kante des Lochs sehen. Ihr Herz hatte sowieso schon schnell vor Anstrengung geschlagen, nun hatte sie Angst, dass es aussetzen würde.

Kurz hörte sie nichts Weiteres, als das schwere Atmen einer Person und versuchte ebenfalls so ruhig zu sein, wie es nur ging. Dann vernahm sie eine bekannte Stimme, „Etienne?“

Sie atmete fast erleichtert durch, „Ja, hier.“

Sie hörte schnelle Schritte, dann sah sie Raffael besorgt zu ihr hinunterblicken.

„Schön dich hier zu sehen“, presste sie unter Anstrengung hervor.

„Gib mir einen Moment“, sagte er und sie merkte, wie er verschwand, etwas in dem Raum tat.

„Wo ist das Wesen?“, hörte sie ihn fragen.

„Keine Sorge darum“, presste sie hervor. Dann tauchte er wieder auf, beugte seinen Oberkörper zu ihr und packte sie mit einem Arm unter der Taille. Sie fühlte Erleichterung in ihren Gliedmaßen, als er ihr so einen Teil der Kraft abnahm, mit der sie sich halten musste. Sein anderer Arm war noch immer aus dem Sichtfeld, wahrscheinlich hatte er eine Möglichkeit gefunden, sich festzuhalten.

„Alles gut?“, fragte er besorgt, während er sie festhielt.

„Ja“, sagte sie und atmete tief durch.

Er sah ihr prüfend ins Gesicht und sagte dann, „Leg deinen Arm um mich, ich kann dich hochziehen. Aber bitte versuche nicht, mich hier runterzuziehen“

Zu sehr von der Anstrengung gepackt, ignorierte sie seinen Zusatz und tat, wie er sagte, überwand die Angst loszulassen und griff mit ihrem freien Arm schnell um seine Schulter, packte seine Jacke und hielt sich fest. Der Geruch von einfacher Seife drang zu ihr und alte Erinnerungen flitzten durch ihren Kopf, als sie damals mit ihrem Vater Berge bestiegen hatte. Auch damals hatten sie einfache Seife ohne irgendwelche Duftstoffe verwendet, ein Geruch, den sie immer mit diesen schönen Erinnerungen verband. Sie hatte damals auch gelernt, zu klettern, ihren Körper genau zu kontrollieren, immer die Ruhe zu bewahren. Ihr Vater hatte sie so vieles gelehrt.

Raffael zog sie hoch, strengte sich genauso sehr an wie sie. Etienne nutzte ihre Beine und spannte ihren ganzen Körper an, um sich hochzuhieven. Ihre Bauchmuskeln brannten, ebenso wie ihre Oberschenkel und Oberarme. Und als sie sich endlich zur Seite rollen konnte, überrannte sie die Erleichterung und Zufriedenheit, die Herausforderung gemeistert zu haben. Sie atmete schwer, als sie am Rand des Loches lag. Raffael richtete sich auf und sah sie an. Auch er atmete schwer.

Nun, wo es ruhiger wurde und sie nicht mehr ihr Herz dröhnen hörte, bemerkte sie die Stimme des Geistes von unten zu ihnen hindurchdringen. Es rumpelte, als würde ein Kampf unter ihr stattfinden, es fühlte sich jedoch weit weg an.

„Wieso bist du hier oben?“, fragte sie Raffael. Sie sah zu ihm und er blickte hinunter durch das Loch im Boden, „Der Tunnel zum Kamin ist eingestürzt. Nicht komplett, aber es wird schwer sein, durchzukommen. Meta hat mir zugerufen, dass du sehnsüchtig auf meine Hilfe wartest. Mal abgesehen davon, dass ich den Tumult in diesem Zimmer einen ganzen Stockwerk weiter unten hören konnte. Ist alles in Ordnung?“

Sie richtete sich auf und ihre Muskeln beschwerten sich, „Sehnsüchtig bestimmt nicht. Ist auch halb so wild. Wir sollten uns überlegen, wie wir die beiden da rausholen.“

„Sie werden sicherlich noch eine Weile durchhalten. Eine Idee, wie wir den Geist ausschalten können?“

Etienne beugte sich über das Loch und packte ihr Messer, welches noch immer in der Wand steckte. Mit viel Kraft zog sie es wieder heraus. Sie bemerkte wie Raffaels Blick darauf fiel und dann wieder zu ihr zurückkehrte.

„Was? Glaubst du, ich hab mich gegen das Ding mit Fäusten gewehrt?“

„Hab dich nicht als Messerschwingend eingeschätzt“, sagte er.

Etienne wischte es an dem Vorhang ab, der neben ihnen lag. Die Kordeln des Vorhanges hingen noch um Raffaels Arm. Während sie es wegpackte, sagte sie, „Eigentlich hatten wir vor, mit Catjill von hier zu verschwinden. Aber ich kann mich nicht noch um zwei zusätzliche Leute kümmern.“

Es war schon schlimm genug, dass sie für Meta mit ihm Verhandlungen abschließen musste.

„Ist das ein Vorwurf?“, fragte er.

Sie sah ihn lächeln und antwortete, „Ich stelle nur Tatsachen fest. Und wir müssen etwas finden, was den Geist an die erste Ebene bindet. Wenn wir das zerstören, wird es zwar weiterhin spuken, kann uns aber nicht mehr gefährlich werden.“

Er sah sie prüfend von oben bis unten an, sein Blick blieb an ihrer Wange haften. Seine Finger berührten etwas von der dunklen Flüssigkeit, welche an ihrer Jacke war und er betastete diese prüfend. Etienne hoffte, dass die Jacke noch einigermaßen heile war. Es war die einzige die sie hatte und sie zu verlieren, würde wirklich schmerzen. Nicht nur, weil sie teuer gewesen war, sondern weil sie ihr auch viel bedeutete.

„Was ist, wenn wir mit ihm einen Handel eingehen?“, fragte er.

„Das habe ich schon versucht“, sagte sie und betrachtete das neue Loch in ihren Schuhen. Es war nicht allzu schlimm, das könnte sie wieder hinbiegen.

Raffael lachte und sie sah wieder zu ihm.

„Oh Gott. Was hast du ihm angeboten? Alles?“

Etienne verengte die Augen und sah ihn warnend an, „Beleidigst du mich gerade?“

„Nein, ich bin wirklich neugierig“, sagte er, sah sie erwartungsvoll an.

Immer noch misstrauisch, aber aus einem Impuls heraus, sich zu beweisen, zeigte sie ihm ihren Talisman, „Das kann alles in Gold verwandeln. Ich dachte mir, es wäre passend für ein gierendes Wesen wie ihn.“

Er hob überrascht beide Braune und sah es eingehend an. Dann fragte er zweifelnd, „Wirklich? Das hat er dir geglaubt?“

Etienne packte ihren Talisman und versteckte ihn mit ihren Händen vor seinen Augen. „Und wieso sollte er das nicht glauben? Woher willst du überhaupt wissen, ob es das kann oder nicht?“

Er atmete leise durch, legte seinen Kopf auf seinen Handrücken, welcher auf seinem Knie lag. Sein Ausdruck war eine Mischung aus Belustigung und Mitleid. Dann hob er den Finger und zeigte auf eine abgewetzte Stelle am Leder ihres Schuhs, „Das hier“, sein Finger wanderte weiter zu ihrer Hose und einem kleinen Loch in der Jeans, „und das hier“, dann weiter zu ihrer geliebten Jacke, welche ihr ihn allen möglichen Situationen Schutz geboten hatte, „und die hier zeigen nicht gerade, dass du in Geld schwimmst.“

„Und? Die Jacke ist sehr teuer. Denkst du, ich habe sie geklaut?“

Sie war so genervt davon, dass er ihr die Lüge mit dem Talisman nicht glaubte.

„Nein“, sagte er lachend, „Aber deine Lüge ist nicht gerade glaubwürdig. Hat er das wirklich geglaubt? Oder dich beim Lügen erwischt und euch dann angegriffen?“

Etienne verzog das Gesicht und entschloss sich, nicht weiter auf ihren Talisman einzugehen, „Er will, das Meta hier bleibt. Verhandlungen sind demnach sowieso nicht auf dem Tisch, nicht wenn die beiden hier auch raus sollen. Und Meta hier rauszuholen ist das nächste, worum ich mich jetzt kümmere.“

Er blickte wieder zu ihrer Wange, strich vorsichtig zwei Strähnen weg, „Du brauchst einen Verbandskasten und willst wieder reinspringen. Wieso erinnert mich das so sehr an Keyen?“

„Was ist da?“, fragte Etienne und berührte mit den Fingern die Stelle, die er angeblickte und zuckte zusammen, als ein brennender Schmerz ihr bis in die Knochen zog.

„Stocher da nicht rum“, sagte er wütend, packte ihre Hand und zog sie weg.

„Wie soll ich sonst einschätzen, ob das schlimm ist?“, fragte sie zurück. Mal abgesehen von dem offenliegendem Fleisch schien ihre Wangenknochen nicht gebrochen zu sein. Schlimmer fühlte sich mittlerweile ihre Schulter an. Sie würde mit einigen blauen Flecken nach Hause kommen. Tatinne würde sehr unglücklich mit ihr sein. Dritter Tag und sie würde schon wieder schlecht vor ihr dastehen.

„Sieht so schlimm aus, dass du deine Finger nicht reinstecken solltest.“

„Ich bitte dich, das ist keine Stelle, die mir lange Sorgen bereiten wird. Das ist nur ein Kratzer.“

Er seufzte schwer, vergrub sein Gesicht in seiner Hand und sagte leise, „Um Himmels willen, du bist genauso wie Keyen.“

Unwissend, was sie mit dieser Aussage anfangen sollte, sah sie ihn einfach still an.

„Ich verstehe nicht, was dein Problem ist“, platzte es dann aus ihr heraus.

Seine Augen tauchten wieder von unter seiner Hand auf und sahen sie grimmig an. Dann wechselte er schlagartig das Thema,

„Gilgian hat mir erzählt, dass er seinen Onkel und seine Bedienstete versteinert hat.“

36. Die Geister der McClaines: Wieder nach Unten

 

Etienne blinzelte überrascht, verarbeitete seine Worte und fragte sicherheitshalber nach, „Meinst du das metaphorisch?“

„Nein“, sagte er lächelnd und sah ihr in die Augen, erwiderte ihren Blick, ohne seinen abzuwenden, was sie irritierte.

„Wir wussten alle schon eine Weile, dass er Dinge in Stein verwandeln kann. Es ist ihm mal aus Versehen passiert, als seine Fähigkeiten gerade erst erwacht waren. Er war da… elf Jahre alt. Du hättest das sehen sollen. Er hat den Ball zurückgeworfen und damit jemanden fast getötet hat. Damals war er noch kein Provinzherrscher. Ich habe nur nicht gedacht, dass er seine Kraft auch an lebenden Wesen nutzen kann.“

Etienne rief sich noch den Zustand des Schatzzimmers von Metas Vater auf. Größtenteils schien es eine Mischung aus Ordnung und Chaos gewesen zu sein. Sie konnte sich an einige Statuen erinnern. Einige von diesen waren eindeutig aus einer anderen Zeit. Aber es gab auch welche, die sie sich nicht so genau angeschaut und als einen Versuch der Rekonstruktion der alten Kunst im Hinterkopf vermerkt hatte.

„Sein versteinerter Körper könnte natürlich sehr gut geeignet sein als Verbindung zur ersten Ebene“, überlegte sie, „Erst recht, wenn er noch größtenteils intakt ist. Dafür müssten wir dann wieder runter.“

Es war die beste Möglichkeit, gegen seine ganzen Schatten anzukommen. Wenn er mit diesen nicht mehr in ihre Welt eindringen könnte, dann würde er keine Flüche aktivieren können oder sie sonst anders bedrohen. Vielleicht würde es hier und da einige Unannehmlichkeiten geben, aber nichts weiter, was ihnen Schwierigkeiten bereiten würde.

„Willst du da wirklich wieder rein?“, fragte er sie.

Etienne blickte in das Loch. Unter ihr tat sich noch ein Stockwerk auf, in dessen Boden ein größerer Spalt klaffte. Es war sehr dunkel, fühlte sich fast schon bedrohlich an. Und der Gedanke an die ganzen möglicherweise verfluchten Gegenstände und noch mehr altertümlichen Wesen bereitete ihr leichte Bauchschmerzen.

„Ich glaube nicht, dass ich da wirklich eine Wahl habe. Wenn wir ihn gut genug ablenken, könnte Gilgian vielleicht den Körper seines Onkels identifizieren und wir könnten ihn zerstören.“

Sie könnte ihn zerschmettern. Das würde die Präsenz des Geistes deutlich mindern. Und wenn er ihnen gegenüber immer noch ein Problem darstellen würde, würde sie Catjill den Rest machen lassen. Das würde aber seinen Preis haben, denn es handelte sich bei ihrem Gegner nicht um einen Menschen.

„Du könntest auch einfach gehen. Oder hast du deinen Stein noch nicht?“

Sie blickte mit zusammengekniffenen Augen zu ihm und hielt ihre Hand davon ab, prüfend zu ihrer Tasche zu wandern und ihm zu zeigen, wo er war. „Hast du vor mich wieder zu bestehlen?“

Er schüttelte den Kopf, „Einer reicht mir.“

Sie sah ihn schweigsam an, dachte über seine ersten Worte nach. Auch er blickte ihr prüfend ins Gesicht.

„Was soll diese Aussage dann?“, fragte Etienne.

„Ich wollte es nur als Option in den Raum werfen.“

Etienne stand auf und verzog das Gesicht. Die Schulter tat deutlich mehr weh, als die Wange.

„Lass uns die Pause kurz halten“, sagte sie zu ihm und beendete das Thema, „Ich werde da runtersteigen. Wenigstens Meta bin ich es schuldig.“

Er seufzte und stand ebenfalls auf. Sie sah ihm dabei zu, wie er die Kordel von seinem Arm löste. Ihr Ende verlief zum Bettpfosten, welches in schönem, dunklen Holz emporragte. Er hatte Ärmel von seinem Hemd hochgezogen und sie konnte an seinem Unterarm die roten Abdrücke erkennen.

„Was hast du nun vor?“, fragte sie ihn. Er richtete sich auf und sah ins Loch, „Ich schätze ich werde auch helfen. Auch wenn ich mir nicht sicher bin, ob ich mich wirklich in eine Familienfehde einmischen will.“

Dann seufzte er erneut, diesmal schwerer, verharrte kurz still, mit einem traurigen Blick in die Ferne.

„Ich wäre wirklich unglücklich, wenn Gilgian und Meta etwas passieren würde“, sagte er und es hörte sich wie ein Eingeständnis an sich selbst an, „Bevor er und ich Herrscher wurden, waren wir gar nicht so schlecht aufeinander zu sprechen. Ich zumindest nicht auf ihn. Und Scarlett und Meta haben sich wirklich gut verstanden. Ich habe nicht gewusste, dass sie in solch schweren Verhältnissen steckten.“

„Vielleicht ist es eine gute Sache“, sagte sie, „Dann würdet ihr euch nicht mehr so sehr anfeinden.“

Raffael sah sie mit einem Gesichtsausdruck an, den sie nicht deuten konnte. Er rührte sich nicht und Etienne wunderte sich, ob sie etwas Falsches gesagt hatte. Das war der Grund, weshalb sie nicht wirklich gut mit Menschen war. Sie irritierten sie.

„Was ist?“, fragte sie bei ihm nach und es fühlte sich unwohl.

Er atmete durch, „Nichts. Mach dir keine Gedanken darüber.“

Das war so suspekt, dass sie sich nicht einfach abspeisen lassen wollte. Dann kam ihr ein Gedanke und sie fragte, „Dachtest du gerade an Tatinnes Vorhersehung?“

Raffael hob die Brauen, „Hat sie dir davon erzählt?“

„Natürlich“, sagte Etienne, „Aber da brauchst du dir keine Gedanken drum zu machen. Es kann sich unmöglich um mich handeln.“

„Ah wirklich?“, fragte er ausdruckslos.

„Ein Grund, mir den Stein nicht weiter vorzuenthalten“, sagte sie.

Er lächelte „Wir können das gerne wann anders besprechen. Was ist der Plan?“

Etienne sah wieder runter, „Wenn der Eingang durch die Tunnel gesperrt ist, können wir hier herunterklettern.“

„Ich habe dich da gerade herausgezogen“, warf er ein.

Sie sah leicht genervt zu ihm, „Das war ein unkontrollierter Fall. Wenn wir es schaffen uns unbemerkt wieder rein zu schleichen, dann könnten wir seinen Körper ausmachen und zerbrechen. Könntest du ihn ablenken, dass er mich nicht bemerkt?“

„Mir wird sicherlich was einfallen. Wir sollten aber vorher schauen, was genau da unten los ist. Bitte spring nicht einfach zu dem Geist rein.“

„Wie kommst du darauf, dass ich das einfach blind machen würde?“, fragte sie aufgebracht. Sie war kein selbstmordgefährdeter Vollidiot.

Er erwiderte ihren Blick und sagte trocken, „Du bist mindestens blind in dieses Haus hereingestürmt. Oder willst du mir sagen, dass du innerhalb eines halben Tages herausgefunden hast, was hier auf euch treffen würde?“

Etienne entschied sich, das zu ignorieren. Sie ging in die Hocke und stieg dann vorsichtig durch die Öffnung. Etienne prüfte einige Stellen, an denen sie sich festhalten konnte und als diese sicher schienen, hielt sie sich an diesen fest und hievte sich hinunter in die untere Etage. Sie landete leise neben dem größeren Spalt im Boden, der deutlich größer war, als der in die höhere Etage, und konnte die Kampfgeräusche lauter hören. Im Zimmer entdeckte sie keine Gefahren, nur die dunklen Konturen der Möbel, welche unter ihrem matten Licht im Zimmer sichtbar wurden. Sie bedeckte ihren Talisman etwas mehr mit ihren Händen, dämmte es etwas mehr, damit kein Licht in die untere Etage drang und auf sie aufmerksam machte. Raffael kam ebenfalls leise hinunter. Er blickte sich kurz um, sah dann aber nach unten in das Geschehen.

„Du solltest dich aufmerksamer umschauen“, sagte sie zu ihm mahnend. Er belehrte sie über Vorsicht und machte es dann nicht besser.

„Du hast keinen Alarm geschlagen“, wandte er ein.

Er sah hinunter in die Etage unter ihnen, das Schatzzimmer des Geistes. Etienne erfüllte kurz das Gefühl des Stolzes. Sie hatte selten mit anderen Menschen zusammen gefährliche Situationen durchgestanden. Aber die Anerkennung für ihre Fähigkeiten zu bekommen, so viel, dass er ihr regelrecht zu vertrauen schien, dass keine Gefahren auf ihn warteten, überraschte sie. Ihre Begegnungen waren bisher nicht sonderlich positiv gewesen. Sie schüttelte das Gefühl ab und blickte ebenfalls hinunter. Etienne konnte die Umrisse des Crawling ausmachen, dessen reglose Gestalt am Boden lag. Sie war sich sicher, dass es tot war und nun kam die Sorge hinzu, dass Raffael oder Gilgian oder Meta etwas zu genau sich anschauen könnten, was Etienne mit ihm getan hatte. Dennoch, einer weniger war immer gut für die Welt. Blieb nur zu hoffen, dass es keine weiteren gab. Die Tatsache, dass der Geist keine Flüche gegen Etienne und Raffael nutzte, gab ihr zu hoffen, dass er viel zu selbstsicher war, als dass er glauben würde, sie könnten sich gegen einen Crawling behaupten. Vielleicht hatte er sie sogar schon längst vergessen, während er sich mit Gilgian auseinandersetzte.

37. Die Geister der McClaines: Die Kunst des Lichts

 

Etienne lehnte sich vorsichtig über die Kante und kniff die Augen zusammen, im Versuch etwas in der Dunkelheit ausfindig zu machen. Aber mit Ausnahme der lachenden Stimme, konnte sie nicht viel von dort unten vernehmen. Manchmal huschte etwas durch die Dunkelheit. Etienne konnte ein Schwert erkennen.

„Lass mich zuerst rein“, flüsterte Raffael und beinahe hätte sie ihn überhört, als es unten laut krachte, „Ich kann meinen Ring nutzen, mich wird nichts davon treffen. Zumindest so lange es physisch ist. Ich gebe dir dann ein Zeichen, wenn du nachkommen sollst. Und wenn er mich entdeckt, dann kann ich dir eine Chance geben, unbemerkt hereinzukommen.“

Etienne rieb sich unsicher die Finger. Das letzte Mal, als sie mit fremden Menschen zusammenarbeiten musste, war es eine Katastrophe gewesen. Und sie wusste nicht genug über ihn, um einzuschätzen, dass es diesmal nicht genauso werden würde. Aber er war hier im Haus und ist mit ihr hier heruntergekommen und auch wenn sie davon Ausging, dass seine Absichten ehrlich waren, woher sollte sie wissen, dass er in der Lage war seinen Vorschlag wirklich umzusetzen? Was, wenn er einen Fehler machte oder irgendetwas im Alleingang anstellte, was ihr zum Verhängnis werden würde?

Wartend auf eine Bestätigung wanderten seine Augen wieder nach oben. Etienne bemerkte, wie sie an ihren Händen hängen blieben und dann zu ihrem Gesicht. Fragend hob er die Brauen und Etienne presste unzufrieden die Lippen zusammen, weil sie nicht wusste, wie sie ihre Zurückhaltung verbergen sollte. Nach einem Moment schnaubte er belustigt, „Keine Sorge, ich werde dich nicht auflaufen lassen.“

„Das hab ich nicht gesagt“, erwiderte sie.

Er lachte leise, „Nein. Das brauchst du nicht.“

Raffael stand auf und drehte den Ring um seinen Finger und Etienne konnte sich nur zu gut daran erinnern, wie er so einen ähnlichen genutzt hatte, um den Wächter im Château de la Fortune zu fangen. Damals hatte Crom ihm direkt seinen als Ersatz gegeben.

„Was halten eigentlich deine Beschützer davon, dass du ohne sie hier bist?“, fragte sie ihn. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Gilgian ihn schützen würde, wenn es darauf ankäme.

„Wieso hast du deine Fähigkeit noch nicht genutzt?“, fragte er zurück.

Sie blinzelte mehrmals überrumpelt, „Woher kommt diese Frage jetzt?“

Lächelnd prüfte er seine Waffe, holte das Magazin kurz heraus und ließ es wieder einrasten und anschließend berührten seine Finger ein kleines, dreieckiges Symbol am Rand und ein Zauber wurde aktivierte. Die feine Magie, welche dabei kurz freigesetzt wurde, trieb ihr die Gänsehaut die Arme hinauf. Sie konnte noch nicht genau benennen, um welchen es sich hierbei handelte, aber sie würde es herausfinden, bevor es die Chance bekommen würde, es auf sie zu richten.

„Antwort gegen Antwort. Das hatten wir schon.“

„Gut“, sagte Etienne und unterdrückte die Ernüchterung, welche in ihr hochstieg. Sie würde bei ihm nicht weiter kommen.

Er lachte wieder leise und setzte sich hin, nahm ihr Hand und drückte ihr einen Ring rein, welchen er aus seiner der Innenseite seiner Jacke genommen hatte, „Ich bin mehr als bereit, mit anderen zusammenzuarbeiten. Aber nur, solange ich es auch im selben Maße zurückbekomme. Wenn du willst, dass ich dir Fragen beantworte, musst du das auch.“

„Nur damit das klar ist“, erwiderte Etienne und steckte den Ring ein, „Du bist derjenige, der einfach auftaucht und mir Schwierigkeiten bereitet. Wenn es nach mir ginge, würde ich euch alle gar nicht kennen.“

Er zuckte mit den Schultern, „Leider sind die Dinge nun so, wie sie sind. Zeit sich anzupassen. Muss ich auch.“

Sie schnaubte und ließ das Thema dann fallen, als sie lautes Gelächter unter sich vernahm, „Gilgian ich muss schon sagen, es ist immer wieder amüsant, dich beim Kämpfen zu betrachten. Ich kann es kaum erwarten, deine Kraft auszuprobieren.“

Sie seufzte schwer und resignierte. Ohne gute Ablenkung, war die Gefahr zu hoch, dort unten entdeckt zu werden und sie wusste nicht, was in den anderen Särgen drin war und ob der Geist es wecken konnte, wenn dort etwas drin war. Und sie würde Licht brauchen, ohne dass es an ihrem Hals hing. Etienne akzeptierte, dass sie es alleine nicht angehen würde und nahm ihre Kette und gab sie Raffael, „Du musst meine Lichtquelle sein. Ich erwarte aber, dass du mir das wiedergibst.“

Sie sah ihn ernst an, als er die Kette entgegennahm, das matte Licht noch immer schwach am leuchten, genug, dass sie ihre Gesichter sehen konnten, nicht genug, um zu hell zu sein.

„Versprochen. Wie nutze ich das?“

Ihre Schultern sanken hinunter und sie atmete erleichtert aus. Er hatte es versprochen. Sie würde es wiederbekommen.

„Drücke sie leicht zwischen deinen Fingern und stell dir Licht vor. Aktiviere es genau so, wie du einen einfachen Handwerkszauber aktivieren würdest. Wenn es nicht klappen sollte … nein. Es wäre schlecht, wenn es nicht klappen sollte. Versuche es bitte zu schaffen, selbst wenn es schwach ist. Sobald du es einmal geschafft hast, versuche dann darauf aufzubauen. Mach es aber nicht zu hell. Er soll die Regale nicht sehen können. Und ich muss die Statuen ausmachen können. Die meisten liegen am Eingangsbereich. Soweit müsste es reichen, also lass es etwas mehr in die Länge leuchten, ja? Schaffst du es?“

„Noch eine bestimmte Farbe?“, fragte er mit einem Grinsen und sie war sich nicht sicher, was er so lustig fand.

„Nein. Ich muss nur etwas sehen können.“

Er seufzte und nickte erneut, wickelte die Kette um seine Hand und legte den Talisman an seine Handfläche. Wiederholte leise ihre Anweisungen.

„Sonst noch was?“, fragte er dann und sie schüttelte den Kopf.

Dann beobachtete Etienne ihn dabei, wie er sich an dem Stein festhielt und sich dann langsam hinunterließ. Sie fühlte sich entblößt, als das matte Licht verschwand und sie in der Dunkelheit zurückließ.

Etienne entschloss sich herauszufinden, wie gut er im Kämpfen war. Es war offensichtlich, dass er nicht unfähig war. Er lehnte sich nicht zurück, während seine Untergebenen seine Arbeit erledigten, sondern packte selbst an und schien genug Vertrauen in seine eigenen Fähigkeiten zu haben, dass er sich hier hineingetraut hatte. Aber er warf sich nicht ins Geschehen wie sie. Er war viel zu vorsichtig, beinahe schon zögerlich und ein Bild von ihm, als vorsichtigen Planer, brannte sich in ihren Kopf. Ob er immer so war? Akribisch dabei seine Zeit zu verschwenden, jede Kleinigkeit durchzugehen?

„Ein starker Schlag kann dir keine Knochen brechen, aber sobald ein Messer angeflogen kommt, blutest du wie ein Schwein“, hörte sie den Geist sagen. Er schien sehr beschäftigt zu sein.

Sie beobachtete Raffael weiter dabei, wie er hinuntersprang und auf den Flügeln des Monsters landete. Er gab keine Geräusche von sich, sein Gesicht konzentriert in den Raum gerichtet und dann hob er einen Finger an den Mund und signalisierte leise zu sein. Etienne bemerkte, wie seine Augen durch den Raum huschten und nach einigen weiteren Sekunden sah er zu ihr hoch und deutete mit der Hand, ebenfalls hinunterzukommen.

Während sie das tat, hörte sie den Geist weiter sprechen, „Ich muss aufpassen, dass ich dich nicht ausbluten lasse. Es wäre eine Schande, deinen Körper zu übernehmen, nur um in ihm zu sterben. Und ich würde ungern noch mal sterben.“

Raffael hob seine Arme, um sie aufzufangen und sie ließ sich darauf ein, da dies die Chancen senken würde, dass sie auf etwas landete, was sie verriet.

Sobald sie im Raum war, sah sie sich kurz um. Der Geist war mit Gilgian beschäftigt, welcher sie beide sicherlich schon bemerkt hatte. Auch Meta blickte mit großen Augen zu ihr. Dies gab Etienne den Anstoß, sofort zu handeln. Sie stahl sich in die Dunkelheit, hinter die Regale. Wenn der Geist auf Meta aufmerksam werden würde, würde er nur noch Raffael entdecken. Ihre Augen wanderten durch das Zimmer und ihr Körper hatte sich mittlerweile an die Menge der Magie gewöhnt, welche sich im Zimmer angestaut hatte. Es fühlte sich an, wie ein nasser Tag voller Feuchtigkeit in der Luft, welche die Kleidung an der Haut kleben ließ. Nur dass es nicht feucht war. Sie atmete tief durch und ließ ihre Magie unter ihre Haut sickern. Weit genug, dass der Geist es durch die zweite Ebene ihre Farben nicht sehen würde, aber genug, um von der magiegetränkten Luft nicht beeinflusst zu werden. Das Gefühl der Schwere löste sich und sie konnte wieder leichter atmen.

Ihre Augen suchten die Statuen. Im dunklen Licht fiel es ihr schwer sie genau auszumachen. Vor allem nach dem Einsturz von einzelnen Teilen der Decke sah sie viel Gestein herumliegen, welches die Suche noch weiter erschwerte. Hoffentlich war keine von ihnen bereits begraben. Das würde die Suche ungemein erschweren. Unter Umständen sollte sie sich schon mal einen Plan B zurechtlegen. Meta als Erstes aus dem Haus zu bekommen, sollte das Hauptziel sein, denn danach könnte Etienne Catjill wieder zu sich nehmen. Als sie jedoch zu Gilgian blickte, war sie sich nicht mehr sicher, ob das der richtige Ansatz war. Er hielt sich seine Seite. Etienne hoffte, dass er nicht allzu schwer verletzt war, doch sie konnte es nicht deutlich erkennen.

Etwas huschte durch den Raum auf ihn zu, Gilgian packte es am Griff und warf es direkt an die Wand zu seiner rechten, wo es stecken blieb. Das Schwert, in welchem zuvor dunkle Schatten geendet hatten. Sie wechselte kurz den Blick in die zweite Ebene und war überrascht davon, wie erdrückend sich die Schatten im Raum verteilt hatten. Sie ließ den Blick fallen. Dort war nicht klar zu sehen.

Auf ein Mal leuchtete der Raum in warmen, gelben Licht auf und Etienne schloss reflexartig die Augen. Kurz darauf wurde das Licht etwas gedämmt und Etienne sah erschrocken zu Raffael, welcher entschuldigend zu den anderen lächelte, „Entschuldigung. Das war das erste Mal, dass ich es nutze.“

Immerhin hatte er nun die Aufmerksamkeit aller Personen auf sich, dachte sie mit einem pochenden Herzen. Sah vorsichtig zum Geist, aus Angst, er hätte sie in dem Licht auch gesehen, aber er sah nur zu Raffael.

Etienne wandte ihre Aufmerksamkeit auf die Statuen. Eine von ihnen stellte eine Person dar, welche auf allen Vieren auf den Schätzen kroch. Eine andere sah aus, als würde jemand um Hilfe flehen. Die nächste hatte die Hände über den Kopf. Und sie sahen sich alle von der Konsistenz her ähnlich. Sie würde unter dem Licht nicht ausmachen können, welche von denen echt waren und welche ein versteinerter Mensch sein sollte. Also musste sie zu Gilgian und ihn fragen.

38. Die Geister der McClaines: Einen Spuk zu unterbinden

 

„Wie hat es ein kleiner Junge wie du geschafft zu überleben?“, fragte der Geist und der Hauch seiner Stimmt trieb in Etienne das Gefühl seiner Überraschung entgegen.

„Ich bin auch verwundert“, meinte Raffael mit fester Stimme und einem leichten, belustigten Unterton. Doch Etienne konnte sehen, wie sehr seine Hand ihren Talisman umklammerte und die Knöchel weiß hervortraten.

„Aber mein Glück, dass dieses Ding unter mir so sehr beschäftigt war, dass es mich nicht hat kommen sehen.“

Etienne schlich sich langsam zu Gilgian. Unter dem Licht konnte sie nun erkennen, dass er zu bluten schien. Sein weißes Hemd war an der Seite rot angelaufen. Doch er stand noch immer. Er atmete nicht einmal schwer und seine Augen waren fest auf die Gestalt gerichtet. Das gab Etienne zu denken, denn solange er auf ihn starrte, war er davon abgelenkt, sich damit zu beschäftigen, welche Rolle sie in dem Ganzen hier spielte. Und sie wollte nicht, dass er sich dieser Frage widmete.

Dann sah er kurz zu ihr, als sie sich leise auf den Weg zu ihm machte und wandte seine Augen dann ab, sah wieder zu dem Geschehen vor sich.

Der Geist antwortete nicht direkt und Etienne sah wieder zu ihm, sah seine leuchtenden Augen, welche auf das Wesen unter Raffael fixiert waren. Raffael trat mit dem Fuß gegen einen Flügel, was den Geist dazu verleitete, wieder zu ihm zu sehen. Sie spürte eine neue Form von Anspannung in der Luft, gemischt mit Sorge und Anerkennung und dem Bedürfnis, sich zu rächen. Der Geist hatte noch nicht entschieden, welchem Gefühl es folgen wollte und Etienne beeilte sich, den Abstand zu Gilgian zu überwinden.

„Ich muss zugeben, ich bin überrascht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du es besiegt haben solltest.“

„Das hat er auch nicht“, warf Catjill ein und Etienne sah erschrocken zu ihm. Wieso entschloss sich ihr kleiner Djinn, ausgerechnet jetzt ins Gespräch einzusteigen?

„Ich bin immer für Überraschungen gut“, sagte Raffael langsam und auch seine Augen wanderten angespannt zum Djinn, „Das hat schon jemand anderes auch erleben dürfen.“

Seine Stimme war laut im Raum zu vernehmen, aber er schrie nicht. Etienne schlich weiter durch ihre dunkle Ecke. Ein umgestürztes Regal versperrte ihr den Weg und sie duckte sich unter diesem hindurch, ihre Hand umklammerte das kalte Metall einer Kette, welche drohte, laut gegen die Stange zu klimpern, sollte sie angestoßen werden. Es war nicht so schlimm, wie der dicht bewachsene Wald, in welchem sie Catjill gefunden hatte und es war bei weitem nicht so schwer hier unbemerkt hindurchzukommen, wie es gegen diese Hexe der Fall war, welche stetig nach ihr gesucht hatte.

„Du hast es nicht besiegt, aber dennoch liegt es tot zu deinen Füßen? Wie soll das gehen?“, fragte er und dann fingen seine Augen an, wachsam durch den Raum zu blicken. Etienne stahl sich tiefer unter ein Regal und hielt die Luft an. Verfluchter Catjill. Er versuchte wirklich, sie umzubringen. Nutzte der Djinn endlich die Möglichkeit, sie loszuwerden und sich einen neuen Gebieter zu besseren Bedingungen zu erschleichen? Anders konnte sie sein Einmischen nicht erklären.

„Nun“, sagte Raffael lauter, „Nichts von dem, was ich oben angetroffen habe, war in einem sonderlich guten Zustand. Und so erschreckend die Szene war, es hat scheinbar auch wirklich nicht viel gebraucht, dass das hier“, er trat noch einmal dagegen, diesmal fester, dass ein Teil der Gestalt gegen einen weiteren Gegenstand stieß, welcher klimpernd davonsprang, „nicht durch einen kleinen Fall endgültig verenden konnte.“

Etienne bemerkte, wie Metas Hand Catjills Fell umklammert, als er scheinbar erneut ansetzte, etwas zu sagen. Die Aufmerksamkeit des Geistes schlich durch das Zimmer. Etienne spürte sie, als Gänsehaut ihre Arme hinaufstieg, als seine subtile Magie in ihre Nähe kam und dann wieder zu Raffael glitt.

„Wieso bist du nicht aus dem Haus verschwunden?“, fragte der Geist ihn und sie atmete erleichtert aus, machte sich sofort wieder auf den Weg „Ich hätte es wahrscheinlich nicht einmal gemerkt, wie sich dein kleiner menschlicher Körper aus meinem Heim geschlichen hätte.“

„Oh natürlich. Aber ich wollte den Mann kennenlernen, welcher es geschafft hatte solch ein Wesen unter seine Führung zu bringen“, erwiderte Raffael.

Etienne kam bei Gilgian an. Sie hörte den Geist lachen und Raffael weitersprechen. Etienne stellte sich in die Dunkelheit hinter Gilgian und fand zum ersten Mal etwas Gutes an seiner riesigen Gestalt, als diese ihr Deckung bot. Als Raffaels laute Stimme erneut zu vernehmen war, fragte sie leise und hoffe, dass Gilgian sie verstand, „Welche der Statuen ist sein Körper?“

Er antwortete ihr nicht direkt und sie sorgte sich, ob er sie verstanden hatte oder, schlimmer noch, dass er eine Erklärung verlangen würde. Sie beobachtete von hinten, wie sein Kopf sich langsam drehte. Er blickte in den Eingangsbereich, zu den Statuen, welche verteilt im Raum waren. Dann sagte er leise, als der Geist Raffael antwortete, „Der kriechende Mistkerl. Soll ich ihn zerschmettern?“

„Bleib hier und beweg dich nicht zu viel“, sagte sie ihm. Aus der Nähe konnte sie sehen, dass seine Wunde deutlich schlimmer aussah, als sie es vermutet hatte. Sie drückte ihm den Ring in die Hand, welchen Raffael ihr gegeben hatte. Sollte er weitere Verletzungen vermeiden. Es würde deutlich schwerer werden, ihn hier herauszubekommen, wenn er schlimmer zugerichtet wäre. Dann ging sie zurück zwischen die Regale. Sah noch einmal mit einem Gefühl der Ehrfurcht zu den Gegenständen, welche im verstaubten Boden lagen anstelle in der Sicherheit von schönen Schmuckkisten, wo sie hingehörten. Doch besonders von Interesse war diesmal die schwere Stange, welche sicherlich einst dazu gedient hatte, die Decke über ihren Köpfen zu stabilisieren. Nun konnte Etienne sie für sich nutzen, nachdem der Geist sie ihr, in einem Versuch sie unter dem Gestein zu verschütten, so freundlich zur Verfügung gestellt hatte. Sie packte das Gestein leise zur Seite und hob die Stange hoch, dessen Gewicht schwer in ihrer Hand lag. War das Stahl? Woher hatte diese kleine Stadt so viel Zugang zu Eisen, dass sie sich Stahl als Gerüst leisten konnten? Dennoch war es genau das, was sie brauchte. Ein wertvoller Gegenstand, welcher seinen Zweck erfüllen würde. Ein gezielter Schlag und wenn er wirklich über seinen alten Körper mit der ersten Ebene verbunden war, dann würde es ihn genug stören, dass er sie zumindest nicht mehr mit verfluchten Gegenständen belästigen konnte. Seine Verbindung zur ersten Ebene zu kappen, war der sicherste Weg, ihn zu schwächen.

Sie hörte Raffael im Hintergrund seine Stimme erheben, ebenfalls lachend. Die gute Laune, mit welcher er den Geist ansprach, schien seine Aufmerksamkeit komplett auf sich zu ziehen, „Ich war schon lange nicht mehr wirklich so beeindruckt gewesen. Ich muss zugeben, ich kann Gilgian nicht wirklich gut leiden. Wenn du also wirklich seinen Körper übernehmen willst, dann würde ich das begrüßen.“

Etienne sah zu ihm und dann zu Gilgian, welcher ihm zwischen zusammengepressten Lippen einen herausfordernden Blick zuwarf, „Nur zu, Beltran. Ich kann es mit euch beiden aufnehmen.“

„Ich verstehe es nicht?“, sagte Catjill leise zu Meta, dennoch dröhnt seine Stimme durch die kurze Stille, „Wollen sie jetzt wirklich kämpfen?“

„Weißt du, was ich mich schon lange gefragt habe?“, sagte Raffael mit einer festen Stimme, seine Augen diesmal auf Catjill gerichtet. Etienne meint, dass sein Gesicht genervt verzogen war, was er jedoch schnell durch ein strahlendes Lächeln maskierte, „Ein Crawling zu sehen war schon beeindruckend genug, aber wie kommt eigentlich ein solch besonderes Geschöpf wie du hierher?“

Etiennes Herz fing zu pochen an, als Catjill sich nach einem zögernden Moment stolz aufrichtete. Er würde Raffael nicht die Frage beantworten, weil sie es ihm schon am Anfang ihrer Reise verboten hatte zu erzählen, wo er herkam. Aber allein dass es zum Thema wurde, bereitete in ihr eine unausstehliche Nervosität. Etienne schlich weiter durch die Schatten, auf die andere Seite des Raumes. Gilgian stand nicht in der Nähe an dem Körper, den er ihr genannt hatte, aber der Fokus war auf ihn gerichtet, als er erneut seine Stimmer erhob, „Soweit ich weiß, kommt eine Kanalratte aus der Kanalisation.“

Der Geist war zwischen ihnen, blickte von einem zum anderen, schien sich unsicher zu sein, wem er sich zuwenden sollte, als Catjill entrüstet seinen Namen und seine Gattung hinausposaunte und Raffael lachend eine Theorie erzählte, welche Catjill noch stolzer werden ließ.

Die meiste Aufmerksamkeit lag dennoch noch bei Raffael, welcher inmitten ihres Lichtes die ganze Mitte des Raumes einnahm. Etienne stellte fest, dass er es mit dem Licht genau so umgesetzt hatte, wie sie ihn darum gebeten hatte.

Er ging dazu über, dem Geist zu schmeicheln, ihn zu fragen, ob nicht der Djinn seiner eher würdig war, als ein Crawling, was Etienne wirklich nicht mochte. Sie ging nicht davon aus, dass die Menschen aus Calisteo genug über Djinns wussten, um sich dessen bewusst zu sein, dass sie ihn ihr konkurrieren konnten. Catjill hat es zu ihrer großen Überraschung auch nicht gewusst und es so zu behalten, war eine ihrer wichtigsten Aufgaben.

Etienne ging weiter, während Gilgian in Raffaels Richtung fluchte. Der Geist lachte, schien die Aufmerksamkeit zu genießen. Etienne war sich sicher, dass er einige Jahre allein in diesem Haus verbracht hatte. Es verlangte ihn sicherlich nach Geselligkeit. Soziale Bedürfnisse konnte ein Mensch nicht ablegen, wenn er als Geist wieder erschien. Sie waren der Nährboden für ihre Existenz und ohne menschliche Interaktionen, würde ihnen dieser Nährboden fehlen. Sie brauchten Gesellschaft, Liebe, Streit, Diskussionen und alles andere, was Menschsein mit sich brachte. Seinen Schatz zu schützen, würde ihn nicht erfüllen, wenn er niemanden hatte, gegen wen er ihn schützen konnte und so verhielt es sich mit seinem Bedürfnis nach Rache und Anerkennung, je nachdem, was sie im Lebens insbesondere angetrieben hatte.

Etienne stand nach einigen Schritten vor dem versteinerten Körper. Aus der Nähe konnte sie nun erkennen, dass er einen Bart hatte, welcher dem Geist glich. Auch seine Kleidung schien ähnlich zu sein. Dennoch blieb ihr nur die Mutmaßung, denn der Geist hatte sich nicht sehr gut manifestiert und der Körper war so verstaubt und das Gesicht in einem Moment der Angst verzogen, dass sie es nicht direkt mit dem Geist vergleichen konnte. Etienne hob die schwere Stange und schlug mit aller Kraft gegen den Kopf der Statue. Er zersprang in viele Einzelteile und zeitgleich schrie der Geist auf. Er verschwand jedoch nicht direkt. Etienne hob noch mal die Stange, doch diesmal flog das Schwert auf sie zu und Etienne nutzte sie, um es abzuwehren. Sie stolperte nach hinten, als das Schwert es traf, bekam Angst um ihre Finger, welche gefährlich nahe an der Klinge waren. Kaum hatte sie sich gefangen, folgten dem Schwert einige andere Gegenstände, welche sie nach hinten fallen ließen. Einige Dinge fielen mitten im Flug hinunter, ein Zeichen dafür, dass er schwächer geworden war. Seine Gestalt fing zu flackern an, verschwand kurz und tauchte wieder auf.

„Scheint zu funktionieren“, sagte Etienne in den Raum hinein und versuchte sich wieder aufzurichten.

Der Geist schrie auf, „Mein Körper! Wie kannst du es wagen, du Fremdling?“

Bei seinem letzten Wort bekam sie einen Schauer. Woher wusste er, dass sie nicht aus der Stadt war? Erneut erhoben sich Gegenstände in der Luft. Etienne entdeckte alles Mögliche. Von Steinbrocken, bis zu spitzen Waffen. Wahrscheinlich sah er sich nun genug bedroht, dass er sich nicht mehr zurückhalten würde. Oder er schlug einfach wild um sich. Etienne war sich nicht sicher, was sie gegen die Menge ausrichten sollte, der sie sich gegenüberstand. Sie überlegte sich, hinter die Regale zu springen, wollte jedoch nicht von diesen begraben werden, wenn sie umgestoßen werden sollten. Gilgian tauchte vor ihr auf. Als die Dinge auf sie zuflogen, prallten sie vor ihm ab. Der Ring, den Raffael ihr gegeben hatte, schützte ihn und er nutze diesen, damit sie nicht direkt getroffen werden würde. Sie war nicht im Radius drin, so wie Raffael ihr dies vor einigen Tagen gezeigt hatte, war dieser nicht so groß. Die Dinge prallten am Schutz ab und flogen in alle Richtungen davon oder zerbarsten. Etienne hob die Hände schützend über ihren Kopf und versuchte es zu vermeiden, vom Schutt getroffen zu werden, während Gilgian weiterhin vor ihr stand.

Gilgian lachte laut, „Was ist los, alter Mann? Sieht so aus, als würdest du jetzt keinen Körper mehr bekommen.“

Er trat langsam zu der versteinerten Gestalt und der Geist war nun auf ihn fokussiert.

„Ist es nicht lustig?“, fragte Gilgian, „Bei all den Schätzen, die du gesammelt hast, bist du selbst zum wertlosesten Gegenstand von allen geworden.“

Es hoben sich weitere Dinge, flogen auf ihn zu nur um dann kurz vor ihm abzuprallen. Das Gesicht des Geistes war eine Mischung aus Verwirrung und Wut. Dann setzte Verzweiflung ein, als Gilgian über seinem versteinerten Körper stand, „Geh da weg! Geh sofort zurück!“

Weitere Dinge flogen gegen ihn. Gilgian schenkte ihnen nicht mal mehr Beachtung.

Der Geist sah zu Raffael, „Halte ihn auf! Dann gebe ich dir alles, was du willst.“

Raffael hob mit einem Lächeln entschuldigend die Hände, „Für so viele Überraschungen bin ich nun auch nicht gut.“

Etienne sah Gilgians Rücken. Seine Hände waren zu Fäusten geballt und es dauerte einen Moment, in welchem er scheinbar auf den Körper starrte. Dann hob er die Faust und schlug auf diesen ein. Die Splitter flogen in alle Richtungen davon. Der Geist verschwand kurz, tauchte wieder auf und verschwand dann wieder. Gilgian zerschmetterte jedes Stückchen Stein, welches einst zum Geist gehört hatte und die lauten Geräusche hallten durch das Zimmer.

39. Die Geister der McClaines: Das erste Resultat

 

Etienne seufzte erleichtert. Es war zwar erst vorbei, wenn sie wirklich hier raus waren, aber nun würde der Weg nach Draußen deutlich einfacher werden. Sie saß an der Wand, lehnte sich tiefer in die Kälte hinein, welche den Schmerz in ihrer Schulter etwas linderte, und atmete tief durch. Dann noch einmal. Sie hatte nun ihren ersten Stein. Etienne konnte nicht anders, als zu grinsen, als sie endlich ihrem Ziel einen Schritt näher gekommen war. Und diesmal würde es ihr niemand wegnehmen.

Mit einem kurzen Blick durch den Raum, schätzte sie die Situation schnell ein. Der Geist war eindeutig eingeschränkt, er müsste sie nicht mehr allzu sehr belästigen dürfen. Catjill war immer noch bei Meta, welche einfach nur traurig Gilgian dabei zusah, wie er den Körper weiter zerschmetterte. Das beißende Gefühl der Schuld stach in Etiennes Brust. Sie hätte geduldiger sein müssen, etwas mehr Informationen sammeln und anschließend alleine mit Catjill gehen sollen. Ein leises Seufzen entschlüpfte ihr und sie wechselte den Blick in die zweite Ebene, in welcher die Schatten tobten und ihr die Sicht erschwerten. Der Geist war immer noch an Ort und Stelle. Schrie Gilgian weiter an, er solle aufhören. Solle sich seiner Rolle als kleiner Zahnrad seines mächtigen Lebens fügen und zur Seite treten. Eine interessante Aussage, von welcher sie sich nicht sicher war, was sie über diese denken sollte. Etienne ließ den Blick wieder fallen. Wie soll ich jetzt mit Gilgian umgehen?

Seine Fäuste stellten schon unglaublichen Krach mit den Steinen an, Etienne wollte sie nicht im Gesicht spüren. Sie war der Meinung, dass es noch immer keinen Grund dafür gab, dass er und Raffael hier aufgetaucht waren. Selbst wenn sie Etienne mit Meta vermutet hätten, hatten sie erstaunlich schnell zusammengezählt, dass sie mit ihr auf die Suche nach dem zweiten Stein von Expulsio sein würde.

Ihre Augen wanderten zu Raffael und entdeckte ihn dabei, wie er das Wesen unter sich betrachtete. Er hob seinen Kopf an einem Ohr an, runzelte die Stirn. Dann sah er seinen Nacken an, rieb die dunkle Flüssigkeit zwischen den Fingern sah zu Etienne. Sie hatte sich gewehrt und um ihr Leben gekämpft, dennoch fühlte sie sich ertappt, als wäre sie diejenige, welche das Monster überfallen hatte und ihre dunkle Tat wäre ans Tageslicht gelangt. Die Tatsache, dass sie nicht wusste, ob das Beseitigen von diesem Wesen ein Bruch ihres Versprechens an ihren Bruder war oder nicht, stresste sie zusätzlich.

„Du solltest aufpassen, dass es nicht wieder aufwacht“, sagte sie schlecht gelaunt und hoffte, ihn etwas zu erschrecken.

Er ließ den Kopf fallen und sah stirnrunzelnd wieder zu dem Wesen, „Kann es das?“

„Vielleicht“, sagte Etienne und hatte nicht das Gefühl, dass ihre schwachsinnige Warnung ihn groß davon ablenken würde, was sie mit dem Carwling gemacht hatte. Aber sie hatte nicht gelogen. Er müsste nur wenige Fragmente wieder in den Sarg legen, dann würde dieses Wesen wahrscheinlich nach einigen Jahren wieder auferstehen. So hatte es wohl auch Metas Vater gemacht. Hatte Überreste gefunden, alte Knochen oder vertrocknete Haut, und diese dort hineingelegt. Die Frage war nur, woher er das Wissen hierzu hatte und woher er wusste, wie die Särge zu verzaubern waren. Etienne war sich sicher, dass niemals ein kleiner unbekannter Herrscher von einer kleinen Provinz einer kleinen Stadt, welches sich maximal mit angeborener Magie auseinandersetzte, dieses Wissen besitzen würde. Und erst recht nicht, in welcher Konstellation und Anordnung die Symbole dieser Flüche gesetzt werden musste, um einen Crawling wieder aufblühen zu lassen. Er musste es von jemanden herausgefunden haben und Etienne wunderte sich, welches Individuum einer mächtigen Familie geplappert hatte.

Oder es war Tatinne?, fragte sie sich unruhig. Aber das war unwahrscheinlich. Diese alte Frau mochte in ihrem Leben viel Wissen durch ihre zwielichtigen Methoden angesammelt haben und wenn es eins gab, von dem Etienne sich sicher war, dann war es, dass es bei ihr nichts umsonst gab, nicht einmal für ihre Nichte.Niemals hatte dieser komische Mann auch nur etwas, was Tatinne haben wollen würde. Sie interessierte sich nicht für solche Sachen.

Raffael schlug sich die Hände sauber. Gilgian hatte aufgehört zu schlagen. Etienne konnte von der einstigen Statue nichts mehr erkennen außer Staub und Stein, von dem sie nicht mehr ausmachen konnte, was einst dem Körper zugestanden hatte. Dann wanderten zwei verstimmte Augenpaare zu ihr.

Etienne rappelte sich schnell auf und lächelte seinem düsteren Blick entgegen, „Fantastischer Zeitpunkt, von hier zu verschwinden, denkt ihr nicht?“

„Du hättest gar nicht erst hier auftauchen dürfen. Geschweige denn meine Schwester mitnehmen. Was nimmst du dir hier eigentlich heraus, du Fremdling?“

„Das war halb so wild, bis ihr hier aufgetaucht seid“, sagte sie, „Catjill, komm zu mir.“

Der Djinn flog von Metas Schulter und war schnell bei ihr. Er würde sie gegen Gilgian schützen und so seinen Vertrag ihr gegenüber erfüllen. Und das trotz dessen, dass er kurz zuvor noch versucht hatte, die Aufmerksamkeit des Geistes auf sie zu lenken. Und Etienne wollte sich hier nicht eingestehen, dass nachdem ein gemeinsamer Feind beseitigt wurde, sie selbst wahrscheinlich nun keine Verbündete in diesem Zimmer mehr hatte.

Sie trat näher zu Meta, um nicht allzu weit weg zu sein, wenn doch etwas passieren sollte. Etienne mied jedoch ihren Blick. Sie mochte Meta und noch war sie nicht bereit, ihre Abneigung zu sehen. Niemals würde Meta mit ihr noch etwas zu tun haben wollen.

„Halb so wild?“, fragte Gilgian mit leiser, drohender Stimme, „Und nun siehe dir den Schaden an.“

Etienne machte sich bereit, unter Umständen wegzulaufen. Sie würde ihr Versprechen nicht brechen, wenn Gilgian sie nie in die Finger bekommen würde. Auch wenn sie das lieber anders klären würde, so, dass er ihr nicht im Nacken saß.

„Du solltest mich das ansehen lassen“, wechselte sie das Thema und deutete auf seine Wunde.

Er sah sie warnend zurück, „Denkst du wirklich, ich würde dich da ran lassen? Mit deinen dreckigen Fingern, welche mit sonst was in Kontakt waren?“

Etienne zuckte mit den Schultern, vermied es, instinktiv ihre Hände anzuschauen, auch wenn es sie beleidigte, wie er über sie sprach. „Wie du willst. Aber es wird sicherlich niemandem helfen, wenn du hier verblutest.“

„Und der ganze Aufwand, euch beiden zu helfen, wäre umsonst“, warf Raffael ein und Etienne spürte eine kleine Erleichterung. Er schien gut im Reden zu sein. Vielleicht könnte er Gilgian etwas beruhigen, immerhin schienen sie etwas Geschichte miteinander zu haben.

Vorsichtig wandte Etienne sich halb zu Meta, während Gilgian seine Aufmerksamkeit Raffael zuwandte, „Ist alles in Ordnung bei dir? Ist dir etwas passiert, seit ich weg war?“

Meta saß immer noch am Boden und Etienne gab sich einen Ruck und sah sie an. Sie sah müde aus. Ihre Augen waren gerötet, auch wenn sie keine Tränen ausmachen konnte. Die Stirn war gekräuselt, die blutroten Lippen zu einem schmalen Strich zusammengepresst. Dann atmete sie durch und wisch sich mit den Händen über das Gesicht.

„Ist mein Vater immer noch hier?“, fragte sie mit einer leisen, dünnen Stimme.

Etienne sah noch mal in die zweite Ebene und entdeckte ihn schnell in der Nähe von Gilgian, ihn wütend anschreien und verfluchen. Dann weiteten sich ihre Augen, als sie ihn dabei beobachtete, wie er versuchte in Gilgian einzutauchen, nur um durch ihn hindurchzuschweben.

Versucht er seinen Körper zu übernehmen?, fragte sie sich ungläubig. Das war kein typisches Benehmen von einem Geist. Manchmal schafften sie es, sich an einen Menschen zu binden, aber den Körper zu übernehmen war unmöglich. Wenn Flächen und Formen miteinander wuchsen, dann veränderten sie sich gemeinsam. Was dachte er, was passieren, würde, wenn die Überreste seiner Seele in eine vollkommen fremde Form eintauchten? Das war so uninstinktiv, dass selbst die letzten Reste eines Wesens es niemals versuchen würden, den Körper eines anderen Geschöpfes zu übernehmen.

„Ehm ... ja, aber er wird nichts mehr tun können“, sagte sie ehrlich, vermied es darüber zu sprechen, was für sonderbare Dinge dieser Trottel tat.

„Wirklich?“, fragte Gilgian, „Was soll ich tun, damit er wahrhaftig verschwindet?“

„Darüber können wir uns gerne Gedanken machen, wenn wir hier raus sind“, sagte Raffael.

„Wir sollten uns wirklich deine Wunde ansehen“, fügte Etienne hinzu. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er den Weg nach oben schaffen würde. Oder zu Tatinne? Etienne entschied sich, dass sie all diese Menschen als Erstes zu Tatinne befördern würde.

„In der oberen Etage ist ein Badezimmer. Da wird es ein Erste-Hilfe-Kasten geben“, sagte Meta. Gilgian knurrte unzufrieden. Meta sah verärgert zu ihm, „Hör auf. Was soll ich tun, wenn du gleich umkippst?“

„Das werde ich nicht“, sagte er stur. Er und Meta sahen sich einige Momente in die Augen, dann seufzte er, „Meinetwegen.“

„Ich hole den Kasten. Wo muss ich hin?“, fragte Etienne und ging zum Spalt an der Decke. Meta erklärte ihr den Weg, während sie aufstand und stolpernd zu Gilgian ging.

„Brauchst du Hilfe?“, fragte Raffael.

Etienne nickte widerstrebend, „Wenn du mich hochhieven kannst. Und du kannst das Licht zunächst behalten.“

Er lachte, „Das sollte kein Problem sein. Bist du sicher, dass du das nicht brauchst?“

„Ich habe Catjill und ihr würdet hier mit nichts bleiben, wenn ich es mitnehme.“

Raffael nickte und suchte sich eine passende Stelle. Etienne sah noch mal zur Decke, „Bist du sicher? Das ist ganz schön hoch.“

Sie wollte nicht seinetwegen noch mehr blaue Flecken davontragen. Und sie wollte nicht vor all den Anwesenden auf ihrem Hintern landen.

„Wenn du Anlauf nimmst“, sagte er schulterzuckend, als wäre es allein ihre Verantwortung, nicht daran zu scheitern.

Etienne blickte abschätzend zur Decke, dann schickte sie Catjill vor, welcher schweigend nach oben flog. Sie nickte Raffael zu, welcher in die Knie ging und seine Hände ineinander verschränkte. Sie lief los, ging mit einem Fuß in seine Hände sprang mit seiner Hilfe so weit hoch, wie es nur ging. Etienne hielt sich am Gestein fest und nutzte den Schwung, um sich leichter hochzuziehen. Catjill wartete auf sie im Zimmer.

„Alles in Ordnung?“, fragte sie bei ihm nach und fragte sich, ob sie seinen Versuch, sie ins Verderben zu stürzen, ansprechen sollte.

„Hier ist alles gut“, sagte er und dann leuchtete er, ohne dass sie ihn fragen musste, in einem blauen Licht auf.

„Nein, ich meine, ob bei dir alles gut ist. Und was sollte das vorhin? Wieso mischst du dich in das Gespräch ein?“

„Was meinst du mit einmischen? Er hat dreist die Worte verdreht. Du hast einen Crawling besiegt, wieso sollte er den Ruhm an sich nehmen?“

„Was? Nein, Catjill-“, sie wusste nicht einmal, was sie dazu sagen sollte.

„Außerdem ergeben Menschen keinen Sinn, Etienne. Ihr seid alle komisch.“

Etienne betrachtete ihn von Hinten, als die Tür durch seine Magie aufschwang und sie in den Korridor führte. Sie war genervt von seinen Aussagen. Meinte er das ernst oder versuchte er sie hereinzulegen? Djinns waren bekannt dafür, ihre Meister in eine Falle zu locken und anschließend zu vernichten. Vielleicht war er noch etwas zu jung und stellte sich ulkig in seinem Vorgehen an? Etienne zögerte, leckte sich über ihre trockenen Lippen und wollte Ansetzen, etwas zu sagen, hielt sich dann doch zurück. Sie würde es sein lassen. Sollte er denken, sie hätte es nicht gemerkt.

„Ich habe alles von Meta ferngehalten“, sagte er dann und hob ganz stolz seinen Kopf nach oben. Diese Gefühlsregung glaubte sie ihn nun eher. Dieser Djinn hier war gerne stolz. Er erzählte ihr, was passiert war, davon, wie das Gespräch zwischen Gilgian und dem Geist verlief und davon, wie der Geist versucht hatte, Gilgians Körper zu übernehmen und wie er daran gescheitert ist und anschließend dazu übergegangen ist, ihn zu schwächen.

„Wollte er Gilgians Körper schon zu seinen Lebenszeiten übernehmen?“, fragte Etienne irritiert. Vielleicht hatte der Geist es genau deswegen auch versucht? Ihr Urteil darüber, dass er ein Trottel war, müsste sie so nun überdenken. Wenn die emotionalen Überreste von Metas Vater so waren, dass er in seinen letzten Jahren dieses Ziel wahnhaft verfolgt hatte, dann würde es sie nicht wundern, dass der Geist diesen unerfüllten Zwang nun zu vervollständigen versuchte.

Sie kam schnell bei dem Badezimmer raus, welches Meta wahrscheinlich gemeint hatte. Ein großer Raum mit verstaubten Fliesen, welche im Licht ihres Djinns erleuchteten. Eine mit Schnörkel verzierte Badewanne stand der einen Hälfte des Zimmers und ein langer Spiegel zierte die halbe Wand, reflektierte das Licht und blendete sie. Wo auch immer Metas Vater das ganze Geld her hatte, er hatte es für wirklich nervige Dinge ausgegeben.

Etienne sah mit der Hand über den Augen die Schränke durch und fand schnell einen rot leuchtenden Erste-Hilfe-Koffer. Etienne öffnete ihn und kontrollierte den Inhalt. Alles, was sie fürs Erste brauchen würde, war da drin. Sie seufzte und schloss kurz die Augen. Atmete tief durch. Sie hatte den Stein und sie hatten einen Geist besiegt, aber irgendwie fühlt sich das nur teilweise nach einem guten Tag an.

„Was ist los, Etienne“, fragte sie der Djinn.

Sie lächelte ihn an, „Alles in Ordnung, mach dir keine Sorgen. Du hast wirklich sehr gut durchgehalten heute.“

Er richtete sich stolz auf, „Das habe ich, nicht wahr? Aber es war nicht wirklich schwer. Hat sich eher angefühlt, wie ein unfallgefülltes Schauspiel, welches ich mir unfreiwillig angesehen habe. Mir hat nur etwas gutes Essen gefehlt.“

Etienne holte das Kästchen mit dem Stein heraus und öffnete dieses, „Du weißt, was jetzt folgt? Du musst ihn versiegeln.“

Er flog aufgeregt um sie herum, landete dann vor ihr auf dem Koffer, „Ich würde dir empfehlen, es gar nicht aus dem Kästchen zu nehmen. Das erledigt seine Arbeit schon ganz gut.“

„Welcher Stein ist es?“

Er legte seinen Kopf an den Stein und sie schloss die Augen, als es kurz sehr hell wurde. Dann legte sich ein blauer Schleier um den Stein und als Etienne ihn hochhob, konnte sie in Catjills schwachem Licht ein blaues Schimmern um den Stein erkennen.

„Der zur Bereinigung von Körper und Geist. Nicht der Gefährlichste der drei, aber du willst dennoch nicht, dass er dich aus Versehen von all deinen Zaubern bereinigt“, sagte er warnend und sie nickte.

Etienne packte den Koffer und machte sich auf den Rückweg, „Ich werde dir etwas wirklich Gutes zu Essen besorgen. Du darfst dir wünschen, was du willst. Und du kannst dich darauf freuen, denn ich werde deine Fähigkeiten gleich noch mal brauchen.“

„Was soll ich machen?“, fragte er aufgeregt. Etienne bedachte ihn aus dem Augenwinkel, verwundert über seinen Ehrgeiz, „Du bist ganz schön motiviert, wie kommt es dazu?“

„Du hast mich heute fast die ganze Zeit in den hinteren Reihen sitzen lassen. Nicht, dass ich meine Arbeit dabei schlecht gemacht habe, aber ein kleines Menschlein wie du sollte sich auf mich verlassen. Ich sollte an der Front kämpfen, immerhin haben wir einen Vertrag.“

Etienne lächelte und wunderte sich, ob er nun vorhatte, sie zu vernichten oder zu beeindrucken. Es schien manchmal ein schmaler Grat zwischen den beiden Dingen zu sein.

„Gut“, sagte sie und streichelte ihn erneut, „Ich muss Gilgian sicher zu meiner Tante bringen. Deine Aufgabe ist, dafür zu sorgen, dass ihn keiner sieht, wenn er mit uns beiden unterwegs ist. Bis ich dir sage, dass du von der Aufgabe befreit bist.“

Der Kater wurde wachsam und fragte vorsichtig nach, „Das wird jetzt keine Aufgabe bis ans Ende der Ewigkeit sein?“

„Nein“, sagte Etienne lachend, „Nur für heute oder für morgen, je nachdem, wie viel Zeit vergangen ist. Ich hab da so ein Gefühl, dass wir deutlich länger hier sind, als wir sein sollten.“

Er nickte, „Gut, das kann ich machen. Einen sicheren Weg gewähren, indem ich ihn von der Aufmerksamkeit anderer verborgen halte. Dafür will ich ein Erlebnis für einen Tag.“

Etienne atmete leise durch. Er verlangte immer so viel. Und Etienne hoffte so sehr, dass er dabei nicht nur den Weg zu Tatinne meinte, welchen sie vor der Beschreibung ihrer Aufgabe impliziert hatte. Denn wenn doch, dann hatte sie ihn erfolgreich hereingelegt, denn von einer Richtung war nicht die Rede gewesen. Sie hoffte aber, dass er es verstanden hatte, denn anders konnte sie sich den teuren Preis nicht erklären. Ein ganzer Tag für wenige Stunden …

„Du kannst dir etwas wünschen, vorausgesetzt es liegt in meinen Fähigkeiten und nichts Gefährliches. Ich warne dich.“

„Ich will ans Meer“, sagte er.

Etienne gab ein nachdenkliches Geräusch von sich, „Das ist einen halben Tag von hier entfernt. Lass mich sehen, wie ich meine nächsten Wochen plane. Und dann gebe ich dir Bescheid. Ansonsten wird es spätestens die Übernächste. Einverstanden?“

Er stieß aufgeregt seine Pfoten in ihre Schulter, „Ja! Ich war noch nie am Meer. Darf ich dann auch für ein paar Stunden darüber fliegen gehen?“

Etienne lachte, „Das werde ich mir noch überlegen. Ich will ja nicht meinen wunderbaren Djinn verlieren.“

„Können wir Segelboot fahren?“, fragte er weiter aufgeregt nach.

„Sammel ein paar Ideen und ich werde dir später eine Antwort geben“, sagte sie.

„Das mach ich!“, sagte Catjill und Etienne musste über seinen Eifer lächeln.

40. Die Geister der McClaines: Überzeugungsarbeit

 

Licht drang durch den Spalt in das Zimmer, bewegte sich langsam hin und her. Etienne sprang hinunter und hob lächelnd den Koffer hoch, „Habs gefunden.“

Gilgian sah unverändert aus. Wenn Etienne nicht das ganze Blut gesehen hätte, würde sie nicht vermuten, dass es ihm schlecht ging. Raffael stand weiterhin in der Mitte des Raumes, war nicht zu den beiden getreten, stattdessen macht er ihr nun lächelnd Platz, als sie vorbeiging und trat zu den Regalen.

Etienne ging vorsichtig zu Gilgian, sah ihn wachsam an und sagte, „Bitte versteinere mich nicht.“

Er stieß ein lachendes Geräusch aus, was jedoch genauso gut eine bedrohliche Ankündigung sein könnte, dass er genau das mit ihr tun würde.

Sie setzte sich neben ihm, Meta fast schon zwischen ihnen beiden, und öffnete den Koffer, „Zeig mal her.“

Er zögerte, sah sie noch mal aus wachsamen Augen an und Etienne bekam leicht Angst vor ihm. Es war, als würde sie vor einem wartenden Löwen sitzen, welcher noch nicht entschieden hat, ob er sie mit einem gezielten Biss vernichten wollte oder ob er es langsamer angehen sollte.

Er hob langsam sein Hemd und Etienne schluckte nervös, als sie unter dem ganzen Rot das Fleisch und Fettgewebe sah. Meta versteifte sich neben ihr und sie hörte ein leises Keuchen.

„Gut“, meinte Etienne, „ich werde das fürs Erste etwas stopfen, aber Tatinne sollte den Rest erledigen.“

„Tatinne?“, knurrte er fragend.

„Besser sie, als wenn dich jemand so in deiner Provinz sehen sollte“, rief Raffael zu ihnen hinüber, „Vor allem nach euren täglichen Machtkämpfen.“

Etienne sah zu ihm und entdeckte ihn neben einem Regal einen Gegenstand hochheben.

„Oh nein, fasse das nicht an“, rief sie ihm zu. Er legte das Ding wieder hin und Etienne fügte hinzu, „Fasse am besten gar nichts an.“

Raffael sah wieder zu ihr, eindeutig nicht glücklich mit der Situation, rieb seine Hände sauber und sah dann prüfend zu diesen hinunter.

„Bin ich jetzt verflucht?“

„Ja“, sagte Etienne trocken.

„Nein“, lachte der Djinn, „aber kann noch passieren. Du fühlst dich an, als wärst du ein besonderer Magnet für Flüche.“

Raffael runzelte irritiert die Stirn.

Etienne sah wieder zu Gilgian, „Um beim Thema zu bleiben: Es wäre am besten für euch. Tatinne ist sehr gut darin, Wunden zu versorgen. Und sie wird diskret sein.“

Und sie würde Etienne dabei helfen dafür zu sorgen, dass alle Beteiligte langsam zu vergessen anfangen würden.

Während Gilgian nachzudenken schien, öffnete sie den Koffer. Alles, was sie brauchen würde, schien da zu sein. Etienne nahm sich einen Moment, noch einmal den Blick zu wechseln. Der Raum war noch immer erfüllt von dunklen Schatten, welche nun bedrohlich langsam durch das Zimmer flogen. Sie konnte Raffael durch diese nicht erkennen, aber Meta, Gilgian und sie saßen zusammen in klarer Luft, wie im Auge eines Hurrikans. Der Geist saß neben ihnen. Genauer genommen neben Meta. Sein Gesicht war dich an ihrem, seine Lippen an ihrem Ohr und er flüsterte fanatisch Worte, welche sie nicht hören konnte. Etienne ließ den Blick fallen, horchte dafür in den anderen Raum hinein, neugierig, was er sagte.

Bleib hier, bleib hier, bleib hier. Mein Herz. Meine Sonne, bleib hier mit mir.

Er wiederholte sich, immer wieder und wieder. Seine Stimme nicht mehr, als ein unangenehmes, schnelles Flüstern.

Lauschst du?, schrie er dann in ihr Ohr und Etienne zuckte zusammen, kappte den Kontakt und rieb ihr schmerzendes Ohr. Verfluchter Geist. Immerhin war er nun harmlos.

Fragende Augenpaare sahen zu ihr, sie ignorierte diese jedoch und packte die Bandagen, machte sich dran, die Wunde zu betrachten. „Kann ich das anfassen?“, fragte sie Gilgian.

Er nickte, sichtlich unzufrieden. Etienne wollte nach Fremdkörpern schauen, entschied sich jedoch dagegen, da die Wunde noch immer blutete und sie wahrscheinlich nicht so geschickt wäre, wie Tatinne. Sie packte die Kompressen, presste sie an und wies ihn an, „Halt sie da fest.“

Er machte, wie sie sagte und nun wurde langsam ersichtlich, dass er Schmerz hatte. Sie fixierte die Kompresse und umwickelte sie dann mit einer Mullbinde.

„Gut“, sagte sie dann, „Das wird fürs erste reichen. Lasst uns das Haus verlassen.“

Sie stand auf wischte sich die Hände an einem Tuch ab, „Catjill kann euch in die obere Etage fliegen.“

„Wieso hat er das vorhin nicht gemacht?“, fragte Raffael.

„Weil es keinen Anlass dazu gab“, erwiderte sie ausweichend. Wieso stellt er andauernd Fragen?

Er schien zu registrieren, dass sie seiner Frage ausgewichen war, aber das war ihr egal. Um das zu erklären, müsste sie ihm etwas zu dem Vertrag mit ihrem Djinn erzählen. Das würde sie nicht, denn wenn das jemand ganz geschickt anstellte, dann könne ihr der Djinn konkurriert werden.

„Catjill wird auch dafür sorgen, dass keine Aufmerksamkeit auf euch fällt“, fügte sie hinzu.

Der Kater richtete sich auf, „Das werde ich. Meine Präsenz wird alle Aufmerksamkeit auf mich ziehen.“

Etienne sah ihn warnend an, „Du weißt, wie das Läuft.“

„Ja“, erwiderte er mürrisch, „Keiner wird uns sehen, auch mich nicht.“

Gilgian stand plötzlich energisch auf, „Ich brauche nicht die Hilfe einer Kanalratte.“

Catjill stahl sich hinter Etienne, welche an Gilgian gerichtet warnend sagte, „Vielleicht nicht um da hochzukommen, aber um unbemerkt zu Tatinne zu gelangen schon.“

Er knurrte sie an und Etienne erwiderte seinen Blick, „Es ist nur ein Angebot. Aber ein sehr gutes.“

Akzeptiere endlich, dachte sie gestresst.

„Gilgian, genug“, sagte Meta dann. Ihre Stimme war ein müder Hauch. Erneut lieferten sie sich ein Wettstarren und Gilgian gab seufzend nach, „Ich helfe euch hoch, dann kann dein Kater mir helfen.“

„Catjill“, sagte ihr Djinn korrigierend. Gilgians einschüchternder Blick fiel auf ihn und er duckte sich erneut hinter Etienne weg.

„Schick mich als erstes hoch, dann soll Meta folgen“, wies Etienne sie an.

Er sah immer noch mit zusammengekniffenen Augen zu ihnen herüber, tat dann aber, wie sie gesagt hatte. Etienne sprang mit Gilgians Hilfe hoch und nutzte dann Catjill, um Meta zu helfen, damit sie nicht herumgeworfen werden würde. Raffael folgte ihnen und anschließend tat Catjill dasselbe bei Gilgian, wie bei Meta. Gilgian schien nicht glücklich damit zu sein.

„Könnte eigentlich Spaß machen“, sagte Meta mit einem versöhnenden Lächeln.

41. Calisteo bei Nacht: Behandlung (1)

 

„Hör auf mich anzuschreien. Wieso kriege ich immer die Schuld?“, fragte Etienne ihre Tante aufgebracht.

Weil du so verdammt leichtsinnig bist!“, erwiderte diese wütend. Meta betrachtete Raffael immer misstrauisch aus dem Augenwinkel und schien unschlüssig, ob er half, oder ob er gleich ihren Bruder endgültig beseitigen würde. Tatinne hat sich den Verwundeten noch nicht einmal angesehen. Stattdessen hatte sie sich sofort über Etienne hergemacht. Diese hatte sich das eine Weile angehört, bevor sie scheinbar genug hatte.

Meta versuchte etwas einzuwerfen, hatte aber keine Möglichkeit, Gehör zu finden. Ihre dünne Stimme ging unter Tatinnes unter. Dann hörte sie Raffael laut loslachen, was ihm sofort zwei wütende Blicke einbrachte.

Was willst du überhaupt noch hier?“, fragte Etienne. Sie wurde jedoch von Tatinne übertönt, welche drohend die Stimme senkte, „Provoziere mich nicht, Beltran.“

Ganz ruhig“, meinte Raffael und hob beschwichtigend die Hände, „Ich wollte nur darauf aufmerksam machen, dass wir noch immer ein ernstes Problem hier sitzen haben.“

Welches es nicht gäbe, wenn ihr einfach draußen geblieben wärt“, flüsterte Etienne.

„Und welches ich nicht hätte, wenn ihr keinen blutenden Körper zu mir geschleppt hättet, nicht wahr, Etienne Schatz“, säuselte Tatinne drohend.

Bitte spuck jetzt kein Gift“, erwiderte Etienne trocken. Die Frau schnaubte und ging in ein Nebenzimmer, in welchem sie sich einige Sachen herausholte. Gilgian war mittlerweile grau im Gesicht. Er schien nicht mehr zu bluten, was immerhin eine gute Nachricht war.

Macht euch keine Sorgen“, sagte Etienne und sah Meta dabei an. Meta kam nicht umhin zu bemerkten, dass Etienne auch nicht gerade heile davongekommen ist. Die Sorge um Gilgian hatte sie jedoch so übermannt, dass sie nicht wirklich auf die anderen geachtet hatte. Bis ihr aufgefallen war, wie seltsam es war, dass ausgerechnet Raffael hier war und nicht Khalas. Wieso hatte Gilgian Raffael mitgenommen. Sie würde ihn später fragen… nachdem sie ihm freiwillig alles erzählen würde, was geschehen war. Sie hatte da so ein Gefühl, dass er sie fragen würde. Meta musste sich auch überlegen, wie sie ein gutes Wort für Etienne einlegen sollte. Wegen ihres Vaters hatte Etienne einiges durchzustehen und Meta wollte nicht, dass sie auch noch Ärger mit ihrem Bruder bekommen würde. Und auch wenn es so viele Dinge gab, welche in ihrem Hinterkopf kreisten und sich wie eine drohende Wolke über sie legten, ihr größtes Problem schien das zu sein, dass Etienne einen furchtbar schlechten ersten Eindruck von der Stadt bekommen hat. Egal wie sehr Meta sich anstrengte, an die wichtigen Sachen zu denken, sobald sie Etienne sah, kehrten die Gedanken dorthin zurück. Vielleicht war es aber gut so? Vielleicht sollte sie sich nicht einige Momente nehmen, eher sie an die schlimmen Erinnerungen des Tages dachte.

„Hast du ein Nähset?“, fragte Etienne ihre Tante.

„Ja, hol es oben aus meinem Zimmer. Linker Schrank ganz oben.“

Etienne sah kurz in die Runde, „Ich gehe dann hoch. Falls ihr mich braucht, ruft mich. Und sagt mir Bescheid, wenn ihr geht, ich werde Catjill mitnehmen.“

„Heißt das, ich bekomme noch einen Wunsch?“, fragte dieser aufgeregt.

„Nein“, erwiderte Etienne und verschwand schnell nach oben.

Meta sah dem Kater hinterher, welcher sich beschwerend beeilte, Etienne zu folgen.

„Also wirklich, Kinder“, sagte Tatinne, „Wieso legt ihr euch mit einem Geist an, für welchen ihr eindeutig nicht vorbereitet wart?“

Sie kam mit einer großen knisternden Decke heraus und breitete sie auf der Couch aus, nachdem sie Gilgian mit einem aufforderndem Kopfnicken zum Aufstehen gebracht hatte. Anschließend drückte sie ihn mit der Hand auf seiner Schulter wieder in die Sitze und Meta sah ehrfürchtig zu, wie er sich schweigend fügte. Tatinne war kleiner als Gilgian, aber sie schubste ihn herum und er ließ es sich gefallen.

„Soweit ich weiß, war es deine Nichte, die meine Schwester da hineingezogen hat“, warf Gilgian ein. Seine raue Stimme deutete darauf, dass es ihm nicht gut ging und Meta hatte das Gefühl, ihr würden die Schultern vor Anspannung brechen. Sie sah zu seinen Augen. Dieselbe Farbe, wie sonst auch. Kein Grau, welches zu ihr herüber starrte, ihr die Luft zu atmen nahm und ihr so kalt werden ließ, dass sie ihre Fingerkuppen nicht spüren konnte. Hatte sie sich das im Haus eingebildet? Das konnte nicht sein, denn Catjills Worte hatten impliziert, dass ihr Vater versucht hat, Gilgians Körper zu übernehmen. War das sein Ziel gewesen? Wie lange schon?

„Es mag sein, dass Etienne die Situation vorher hätte besser beobachten müssen. Aber es ist euer Haus“, sagte Tatinne und betonte die letzten Worte so stark, dass es sich anfühlte, als würde sie diese ihnen entgegenspucken, „Und ich entschuldige mich nicht, wenn ich zu direkt bin, aber solltet ihr nicht immer wissen, was in eurem Haus vor sich geht?“

Meta wollte etwas erwidern, hielt sich dann aber zurück. Es war das erste Mal, dass sie Tatinne der Spinne so nahe war. Sie fühlte sich eingeschüchtert von ihr und sie war auch eingeschüchtert von der Art und Weise, wie sie mit ihnen schimpfte. Meta wusste nicht, wann es das letzte Mal der Fall war, dass jemand so mit ihr oder Gilgian gesprochen hat.

„Genau genommen ist es deines, kleine Tochter des ursprünglichen Herrschers“. Als Meta ihren Blick hob, begegnete sie Tatinne intensiven braunen Augen, ein so tiefes Braun, dass es fast schon rötlich schimmerte.

„Deine Nichte…“, fing Gilgian an, doch Tatinne unterbrach ihn direkt, während sie die zwei Koffer unsanft auf den Tisch warf und öffnete, „Ich bin noch nicht fertig. Also unterbrich mich nicht. Ihr solltet es als Glücksfall betrachten, dass Etienne in ihrer typischen Manier da hineingestürmt ist. Ein Crawling hat da unten geschlafen. Ihr hattet Glück, dass er noch so klein war. Wenn er in einigen Jahren herangewachsen wäre, dann könnt ihr euch nicht einmal ausmalen, was er in dieser Stadt angerichtet hätte. Hast du eine Ahnung wie sich das anfühlt, einen geborenen Jäger in einer eng besiedelten Stadt zu haben, welcher nur dazu geschaffen ist, auf Menschen Jagd zu machen? Das wäre an blutigem Chaos nicht zu überbieten.“

Ihre Stimme war nicht laut, aber sie donnerte dennoch durch das dunkle Zimmer, welches in Etienne Beklemmung und Nervosität auslöste. Das ganze Rot der Wände mischte sich mit dem Rot von Gilgians Verletzung und löste in ihre Schwindel aus.

„Und er war in eurem Haus! Nicht in meinem oder in Etiennes. In eurem. Herrscher der dritten Provinz. Dafür, dass du als Herrscher alles genau im Blick haben solltest, war das ein fürchterlicher Patzer, den du dir nicht bieten solltest!“

Gilgian knurrte und Tatinne warf ihm einen warnenden Blick zu, „Wag dich so mit mir umzugehen du halber Meter!“

Meta schluckte und sah kurz zu Raffael, welcher sich erstaunlich still an die andere Seite des Raumes geschlichen und seine Augen fest auf die Muster der Decke gerichtet hatte. Die Schuljacke von ihm und Gilgian hatte er um seine Hände gelegt und sein Finger tippte nervös.

„Zieh das aus“, sagte Tatinne und deutete auf Gilgians Oberteil. Nachdem er ihrem Wort gefolgt war, schnaubte Tatinne, „Oh siehe mal diese fürchterliche Arbeit an. Lass mich raten. Das sieht aus, als wäre Etienne am Werken.“

Sie machte sich daran, die Verbände aufzuschneiden, ignorierte Gilgians unglückliches Knurren, und sah sich die Wunde an, „Sieht wenigstens nicht nach der Tat eines Crawlings aus. Wer von euch Kindern hatte das Vergnügen sich mit diesem auseinanderzusetzen?“

„Etienne und Raffael“, sagte Meta kleinlaut, als keiner Antwortete.

Tatinne schnaubte, „Natürlich hat Etienne nichts Besseres zu tun, als sich mit einem Crawling anzulegen. Aber besser sie, als ihr Kinder, welche nicht einmal wusstet, dass einer da war. Und ich kann es immer noch nicht fassen. Dass er es überhaupt geschafft hat, die Magie richtig zu verwenden. Hätte nicht gedacht, dass dieser alte Irre überhaupt noch genug Verstand dazu hatte. Auf der anderen Seite kann nicht von viel Verstand die Rede sein, wenn er dieses Monster in seinem Keller aufgezogen hat. Was für ein Trottel.“

Tatinnes Augen wanderten zu Raffael, welcher ihren prüfenden Blick mit einem neutralen Lächeln erwiderte, „Hast du Wunden von ihm?“

Er schüttelte den Kopf. Sagte nichts. Nicht so, wie Meta ihn kannte.

Tatinne seufzte und sah auffordernd zu Meta, „Bring ihr einen Verbandskasten hoch, sie soll überprüfen, ob sie von ihm etwas abbekommen hat. Dann soll sie mir später Bescheid geben.“

Meta zögerte. Sie wollte Gilgians Seite nicht verlassen. Sie hatte auch etwas Angst, Etienne unter die Augen zu treten. Sie wollte ihr wirklich helfen, als sie am Morgen mit ihr in das Anwesen ihres Vaters aufgebrochen ist. Nun hatte sie das Gefühl, dass sie alles um so vieles schlimmer gemacht hatte. Das war ein Grund, weshalb sie lieber ohne Freunde lebte. So konnte sie diese nicht enttäuschen.

„Auf!“, rief Tatinne ihr zu und Raffael trat dann vor und nahm den Koffer, „Ich kann das erledigen.“

Er sah Meta an und diese erwiderte überrascht seinen Blick, welcher ihr verriet, dass er ihr Zögern sehr gut wahrgenommen hatte. Und dann sah sie die Erleichterung, als er schnell nach oben verschwand. Er hatte Gilgian und sie mit dieser Frau sitzen lassen.

„Wenn du es wagst ihr irgendeinen Vertrag aufzutischen oder es gar nur zu versuchen, werde ich dich fertig machen“, rief Tatinne ihm hinterher und Gilgian knurrte, als sie etwas an der Wunde tat, was scheinbar fürchterlich weh tat.

„Stell dich nicht so an!“, fuhr sie Gilgian aufgebracht an. Sie nahm eine Flasche mit einer farblosen Flüssigkeit. Dann tropfte sie etwas von dieser auf seine Wunde und er knurrte erneut leise, als dunkler Rauch empor stieg. Meta sah nicht, dass sich sonst etwas änderte, aber Tatinne gab ein zufriedenes Geräusch von sich.

„Na siehst du. War gar nicht so schlimm. Sie ist direkt um die Hälfte kleiner geworden, siehst du? Was auch immer dich getroffen hat, war nur etwas verflucht. Das wird schnell heilen, erst recht bei einem Körper wie deinem. Immerhin kannst du dafür diesem Irren danken.“

Metas Augen wanderten irritiert von der Wunde, zu Tatinnes Hinterkopf, während diese weiter spracht, „Lange jung, lange stark, keine Krankheiten. Was hat er sich da nur für einen fabelhaften kleinen Körper geschaffen. Immerhin musst du dir keine Sorgen mehr darum machen, dass er ihn übernehmen könnte.“

Fassungslosigkeit stieg in Meta hoch. Woher wusste Tatinne davon? Ihre Augen wanderten weiter zu Gilgians und er sah sie an, presste die Lippen zusammen und sah dann weg. Und auf einen Schlag wurde ihr klar, dass er ebenfalls etwas zu wissen schien. Tatinnes Aussage überraschte ihn nicht.

„Was meinst du damit?“, fragte sie leise. Es fühlte sich alles noch immer, wie ein langer schlimmer Traum an.

„Wie bitte?“, fragte Tatinne ungläubig und sah zu ihr, „Wo warst du die letzten Jahre? Bist du hinter einem Stein groß geworden?“

„Lass es“, knurrte Gilgian. Tatinne sah wieder zu ihm, schwieg. Meta konnte ihr Gesicht nicht sehen, aber das von Gilgian, welcher starr nach oben sah und nicht zu ihr schaute.

„Ah Herrje“, meinte Tatinne dann, „sag mir nicht, wir haben hier eine graue Maus herumwandern, welche nicht die leiseste Ahnung von den Kämpfen hat, die in ihrem Haus stattgefunden haben.“

„Tatinne“, meinte Gilgian warnend und ein Gefühl von Verrat stieg in Meta empor. Sie unterdrückte es jedoch. Meta hatte Gilgian nie gefragt, was passiert war und wieso ihr Vater verschwunden war. Sie hatte erst heute herausgefunden, dass er tot war und in ihrem alten Haus herumspukte. Dennoch… Gilgian hatte sein Wissen nicht mit ihr geteilt. Sie hatte ihn nicht gefragt … wünschte sich aber, er hätte es dennoch mit ihr geteilt.

„Sei still“, sagte Tatinne streng und drehte sich dann zu Meta. Sie bedachte sie mit einem langen, intensiven Blick. Meta konnte schwören, ihre Augen würden glühen, als sie Meta langsam von oben bis unten betrachtete. Sie blieben an ihrem Gesicht hängen und Meta war sich für einen Moment nicht sicher, ob Tatinne sie noch ansah, bis ein dumpfer Knall und eine unklare, aber wütende Stimme Raffaels, sie zusammenzucken ließ. Auch Tatinne sah kurz zur Treppe, dann wieder zu Meta und ein leises Lächeln schlich sich auf ihr Gesicht, welches wieder verschwand, als sie sich Gilgians Wunde zuwandte.

„Seit Jahren hat dein Vater versucht Gilgians Körper zu übernehmen. Das war sein verzweifelter Versuch auf ein ewiges Leben. Ich schätze, der Tod von Petty hat ihn wirklich erschüttert.“

Meta zuckte zusammen, als sie den Namen ihrer Mutter hörte, welche verstarb, als Meta erst fünf war. Sie erinnerte sich nicht sehr gut an sie. Aber der Name war ihr durch ihren Vater ins Gedächtnis eingebrannt. Wie er nach ihr geweint hat, wie er sie vermisst und ihren Namen in die Nacht geschrien hat, selbst Jahre später noch, als Meta schon viel älter war.

„Auch wenn ich eher gedacht habe, dass er versuchen würde, sie wiederzubeleben oder eine andere Form des Schwachsinns dieser Art umzusetzen. Hätte nicht gedacht, dass es ihm mehr um sich ging.“

Meta versuchte kontrolliert zu atmen. Sagte nichts, schon wieder. Sie sollte Tatinne Fragen stellen, aber kein Wort schlich sich über ihre Lippen. Sie hatte nur einen Klotz im Hals, welcher ihr das Atmen erschwerte.

„Aber das Lustige an dieser ganzen Sache ist, dass ich mir ziemlich sicher bin, es war seine Intention, bevor er zu den Shurkiyaa-Spielen aufgebrochen ist. Aber nun gut, er wäre nicht der Erste, der seine Lebenseinstellung nach diesen geändert hat.“

„Was soll das heißen?“, fragte Meta atemlos, ihre Augen wanderten wieder zu Gilgian, welcher ebenfalls überrascht zu Tatinne sah.

Tatinne drehte sich wieder zu ihr um, hob mit ihren blutigen Händen etwas aus dem Koffer, während sie unverwandt Meta ansah, „Das soll heißen, dass ihm jemand dort einen guten Tipp gegeben hat, seinen Fokus woanders hinzulegen.“

„Wer?“, fragte Meta verwirrt und Tatinne schnaubte.

„Wenn ich dir das verraten soll, dann wird es etwas kosten. Mehr, als du dir leisten kannst.“

42. Calisteo bei Nacht: Behandlung (2)

 

Etienne sprang die Treppen nach oben und ignorierte den Schmerz in ihren Gliedmaßen. Sie wusste nicht, wo sie alles was abbekommen hatte, aber sie würde später noch genug Zeit haben, sich darum zu kümmern. Catjill flog ihr wütend hinterher, „Was soll das? Ich sollte noch einen Preis bekommen, wenn ich diesen rüpelhaften Riesen unbemerkt in sein Zuhause begleiten soll!“

Sie hätte wissen müssen, dass er es nicht verstanden hatte.

„Wir haben ausgemacht, dass so lange wir mit ihm unterwegs sind, du das machst“, erwiderte sie.

„Ja, wenn wir zu Tatinne gehen“, widersprach er ihr.

„Ich sagte, dass ich ihn zu Tatinne bringen muss. Und so lange wir mit ihm Unterwegs sind, hältst du ihn bedeckt. Und das für heute und morgen. Das war die Abmachung, der du zugestimmt hast.“

Sie ging in Tatinnes Zimmer und durchsuchte den Schrank, den sie ihr genannt hatte. Der Djinn sagte nichts und Etienne sah vorsichtig zu ihm. Er saß mit weit geöffneten Augen am Tisch. Dann richtete sich sein ganzes Fell auf und er rief, „Du bist so dumm, Etienne! Dumm, dumm, dumm!“

Er flog in ihr gemeinsames Zimmer davon. Etienne seufzte und lehnte den Kopf gegen die Schranktür. Sie würde sich überlegen müssen, wie sie sich später mit ihm vertragen sollte. Aber sie konnte sich einfach nicht noch mehr Wünsche von ihm leisten. Zwei standen noch ohne Gegenleistung aus. Diese würde sie nicht verschwenden. Zusätzlich konnte sie diverse kleine gegen Gegenleistung von ihm erbitten. Aber vor allem diese kleinen Wünsche bargen immer die Gefahr, dass er irgendein Schlupfloch suchen könnte, um ihr die anderen zwei nicht zu erfüllen. Das konnte sie nicht riskieren. Zusätzlich wollte er allein für einen Weg einen ganzen Tag haben. Sie konnte ihm einfach nicht noch mehr geben.

Bewaffnet mit ihrem Nähset und einem schweren Herzen, versuchte sie dieses unangenehme Gefühl zu verbannen und sich auf das wesentliche zu konzentrieren. Dann zog sie ihre Jacke aus und betrachtete diese. Etienne fluchte. Mal abgesehen davon, dass die dunkle Flüssigkeit des Crawlings einige nicht auszuwaschende Flecken hinterlassen würde, wies die Jacke einige Löcher auf, die eindeutig auf den Crawling zurückzuführen waren. Auch ihre Hose, wo es sie gepackt und hinter sich her geschleift hatte, hatte einige Risse in den Nähten. Beide Kleidungsstücke waren von robustem, hochwertigem Material und Etienne wusste nicht, wie sie das ersetzen sollte. Die Hose könnte sie so lassen. Sie hatte noch ein Paar Stiefel, welche sie über die Löcher tragen konnte. Somit wären ihre Beine weiterhin geschützt. Die Jacke hingegen…

Etienne hörte Tatinnes wütende Stimme und war froh, nicht unten bleiben zu müssen, wo sie ihr Geschimpfe aushalten musste. Tatinne konnte einen Menschen mit ihren Worten häuten, wenn sie es wollte und sie bisher immer noch erstaunlich nett gewesen.

Sie stand auf und ging zum Waschbecken. Warmes Wasser floss auf ihre Finger und Etienne schrubbte vorsichtig mit diesen alles ab, was freiwillig abzugehen bereit war. Den Rest würde sie zunächst nicht schrubben. Sie hatte Angst, dass die Nähte noch weiter aufgehen sollten. Stirnrunzelnd sah sie zu dem Nähset. Würde sie es schaffen, das zu nähen? Vielleicht könnte Tatinne ihr einen Rat geben, wie sie das flicken konnte. Nur wenn es absolut nicht umgänglich war, würde sie Tatinne danach fragen, ihr eine neue Jacke zu besorgen. Tatinne hatte zwar in den letzten Tagen besonders viel Einsatz gezeigt, Etienne alle möglichen Dinge zu besorgen, es waren aber nur die, welche sie aus ihrem begeisterten Impuls heraus gekauft hatte, weil sie Etienne auf die Schule schicken wollte. Mal abgesehen davon, hatten sie aber eine nicht so enge Beziehung zueinander. Es gab bestimmte Grenzen und Regeln. Sie einzukleiden gehört definitiv nicht zu den Dingen, die Etienne von ihr erwarten würde.

Die Tür wurde geöffnet und Etienne sah sich um. Raffael kam in den Raum, das Gesicht unglücklich verzogen. Mit einem letzten leidenden Blick nach unten, ließ er die Tür ins Schloss fallen und rieb sich gequält mit der Hand über die Stirn.

„Flüchtest du vor Tatinne?“, fragte sie ihn amüsiert und kümmerte sich dann wieder um ihre Jacke. Etienne konnte diesen Ausdruck bis in die Knochen spüren, erst recht, da sie Tatinnes schimpfende Stimme noch von unten vernehmen konnte.

„So ungefähr“, sagte er und sie hörte ihn seufzen, „Ich fühle mich wie in der sechsten Klasse, als O’Donnel mir zum ersten Mal gegenüber stand.“

„Hat sie auch mit dir geschimpft?“, fragte Etienne.

„Sie hat mit jedem geschimpft“, antwortete er, „Wir haben sie O’Donner genannt, weil sie uns alle jeden Morgen mit ihren Worten verprügelt hat.“

„Also ist diese Frau schon immer über unschuldige Schüler hergefallen?“

„Unschuldig?“, fragte er lachen, „Wir haben es selbstverständlich verdient. Und du nebenbei auch.“

Sie lächelte. Für einen kurzen Moment war sie ihm gegenüber nicht mehr abgeneigt, sondern empfand tatsächlich ein Gefühl von Kameradschaft.

„Was machst du da?“, fragte er.

„Meine Jacke flicken“, erwiderte sie und spürte die Müdigkeit. Sie würde am liebsten ins Bett.

Kurz hörte sie nichts von ihm und hoffte, dass er sich wieder um seine Angelegenheiten kümmern würde, doch dann sagte er in einer tiefen Stimme, welche sie alarmierte, „Ist das dein Ernst? Du kümmerst dich um deine Jacke?“

Sie sah wieder zu ihm und sah ihn nicht das gewohnte Lächeln. Stattdessen war sein Gesicht ausdruckslos. Etienne zögerte verunsichert, „Ja? Das ganze Zeug ist schon größtenteils getrocknet. Und die Risse sehen aus, als wären sie nicht wieder zusammenzubekommen. Ich kann froh sein, wenn ich überhaupt etwas davon retten kann.“

„Setz dich hin“, sagte er ruhig. Sie hörte jedoch die Wut in seiner Stimme, „Wir schauen uns jetzt deine Wunden an. Tatinne hat mich sowieso darauf angesetzt.“

Etienne schnaubte. Sie glaubte ihm kein Wort. Aber sie hatte jetzt keine Zeit, sich mit seinen Lügen auseinanderzusetzen. „Dafür habe ich jetzt keine Zeit. Die werden später schon noch verheilen. Die Jacke nicht.“

Sie hörte, wie etwas laut auf den Tisch knallte und sah sich wieder zu ihm um. Er hatte den Koffer, den Tatinne in ihrem Vorratszimmer lagerte, auf den Tisch geworfen und lächelte sie nun an. Doch diesmal fühlte es sich bedrohlich an. Beinahe schon, als würde er seine ganze Wut in dieses Lächeln legen, „Setz dich hin.“

Etienne drehte sich vollends zu ihm um und verschränkte die Arme. Sie sah ihn herausfordernd an, „Du kannst mir gar nichts befehlen.“

Auch sein Blick wechselte in den Kampfmodus, als würde er ihre Herausforderung annehmen, die sie nie ausgesprochen hatte.

„Gut. Das kann ich nicht. Aber ich verspreche dir hiermit, dass wenn du dich jetzt nicht hinsetzt und wir uns deine Wunden anschauen, ich den Stein von Expulsio nehme und ihn auf den Grund des Meeres befördern werde.“

Etienne hob ihr Kinn, „Na, wenn das mir nicht zugutekommt. Catjill wird ihn mir wieder herausholen können.“

„Wenn er das tun können würde, dann hätte er ihn dir aus dem Château geholt und aus dem Anwesen der McClaines. Da er beim ersten Mal erst dann angefangen hat zu agieren, als der Stein in deiner Nähe war, und beim zweiten Mal nichts getan hat, kann ich davon ausgehen, dass er ihn dir nicht einfach so mal holen gehen kann. Was wahrscheinlich auch der Grund ist, wieso er ihn nicht einfach von mir geholt hat. Wie sieht’s aus, Etienne. Willst du tauchen gehen?“

Etienne sah ihm prüfend ins Gesicht, versuchte einzuschätzen, wie ernst er seine Drohung meinte. Er legte nach einem kurzen Moment den Kopf schräg und sagte, „Ich meine das sehr ernst.“

Und diese Antwort, basierend auf seiner vorsichtigen Beobachtung, erschreckte sie. Etienne atmete wütend durch, als sie aufgab, schloss den Wasserhahn und sagte vorwurfsvoll, „Ich habe nur die eine.“

Er zog den Stuhl zurück und setzte sich hin. Mit einem Klacken öffnete sich der Koffer und mit einer ruckartigen Geste wurde er von ihm geöffnet. Ein Zeichen dafür, dass er noch immer wütend war.

„Ich hol dir eine neue.“

„Ich glaube nicht, dass du es dir leisten kannst“, sagte sie wütend und setzte sich auf den Stuhl hin, den er gedeutet hatte. Es war demütigend. Als hätte sie komplett versagt. Und schon wieder an diesem Tisch.

Raffael lachte, diesmal wieder das Lachen, dass sie bereits von ihm kannte, „Du redest hier mit einem Provinzherrscher. Was glaubst du, was ich mir hier nicht leisten kann?“

Etienne verschränkte die Arme vor der Brust und sah ihm dabei zu, wie er verschiedene Dinge herausholte. „Unabhängig davon, weigere ich mich, in deiner Schuld zu stehen.“

„Siehe es als Gegenleistung für den Crawling“, erwiderte er, „Keine Schuld.“

Sie überlegte sich, ob es das wert war. Dann dachte sie an all die Vorzüge der Jacke und daran, dass sie so umgehen konnte, Tatinne ihr eine neue besorgen zu lassen.

„Gut, aber das wird teuer“, sagte sie und spürte den Verlust, als sie an ihre alte dachte.

„Keine Sorge. Und nachdem wir das nun geklärt haben: Ich kann es nicht glauben, dass deine erste Handlung die ist, sich um eine Jacke zu kümmern. Hast du dich mal im Spiegel gesehen?“

„Ich habe Tatinne nach einem Nähset gefragt. Was dachtest du denn, wofür ich es brauche?“, verteidigte sie sich.

Sein Blick fiel auf ihre Wange und Etienne schnaubte, „Ist das dein Ernst? Mit einem Nähset?“, fragte sie ihn ungläubig.

Er verzog das Gesicht und seine Wangen färbten sich rot, „Was wohl der Grund ist, weshalb sich diese Schlussfolgerung so komisch angefühlt hat. Was denkst du, liegt es an mir oder an dir, dass ich es im Zusammenhang mit dir tatsächlich als eine Möglichkeit in Betracht gezogen habe?“

„Du kennst mich doch gar nicht“, erwiderte sie. Das war beinahe schon amüsant.

„Und dennoch traue ich es dir zu.“ Verunsichert schwieg sie dazu. Würde sie es im Fall der Fälle machen? Sie war sich nicht sicher.

Er dreht sich zu ihr und sah ihre Wange an, „Ist das von dem Crawling?“

Etienne schüttelte den Kopf, „Nein, eher von einem Schrank. Ich hab keine Wunden vom Crawling.“

„Bist du sicher?“, fragte er.

„Ich werde später nachschauen“, sagt sie schließlich. Sie war sich ziemlich sicher, dass sie hauptsächlich viele blaue Flecken davongetragen hatte. Es hatte sie jedoch am Bein gepackt und das würde sie sich genauer anschauen müssen.

Er sah sie mit erhobener Augenbraue an und wartete auf eine weitere Erklärung.

„Ich werde mein Bein später anschauen“, konkretisierte sie genervt. Sein Blick fiel auf ihre Beine und schon bald entdeckte er die Löcher in ihrem unteren Hosenbein. Er nickte dann schließlich und sagte trocken, „So lange du nicht vorhast, deine Hose zuerst zu behandeln.“

Sie verdrehte die Augen, „Deine Reaktion ist absolut übertrieben.“

„Ah ja? Ich habe noch so einen bei mir sitzen, der genau denselben Mist von sich gibt. Und dann ist er beinahe an einer Entzündung gestorben, weil er sich lieber um einen wertlosen Gegenstand kümmern wollte.“

Sie konnte erneut die Wut aus seiner Stimme heraushören. Er nahm ein Tuch und tränkte es mit dem Desinfektionsmittel. Etienne sah zu der Verpackung und war froh darüber, dass Tatinne nicht das aggressive Zeug eingekauft hatte.

„Das wird etwas weh tun“, sagte Raffael.

„Kein Problem“, erwiderte Etienne, „Nichts, womit ich nicht klarkomme. Sprichst du von Keyen?“

Er lehnte sich zu ihr und sie dreht ihren Kopf und wischte sich die Haare aus dem Gesicht. Als das Tuch ihre Wunde berührte unterdrückte Etienne beim Brennen ein Zusammenzucken. Sie merkte, wie vorsichtig er war, dennoch spürte sie den Schmerz bis in die Schultern hineinziehen.

„Ja. Sitzt in der Schule neben mir und tut so, als wäre er unantastbar. Und er ist so überzeugt davon, dass ich es ihm schon fast glaube… Hast du öfters Abenteuer, nach welchen du das machen musst?“, fragte er dann plötzlich.

„Ich beantworte dir die Frage, wenn du mir den Stein gibst“, sagte sie. Etienne mochte es nicht, dass es auf einmal wieder um sie ging. Und mit Ausnahme ihrer letzten Frage war er bisher auch nicht sonderlich mitteilsam.

Sie sah ihn an und sein Blick wanderte kurz zu ihren Augen und dann wieder zurück zu dem, was er tat. Er schwieg und seufzte dann, „So werden wir nicht weiter kommen.“

Er lehnte sich wieder zurück und meinte dann, „Kannst du das mehr ins Licht drehen.“

Sie tat, wie er anwies und er untersuchte die Wunde noch mal. „Da ist etwas drin“, sagte er dann und Etienne unterdrückte ein Seufzen.

„Ich frage mich langsam, ob du jemals etwas Gutes zu sagen hast“, sagte sie. Er lachte und nahm eine Pinzette aus dem Kasten.

„Ich bin mir sicher, dass ich gute Nachrichten hatte, als ich dich vor einem Fall bewahrt habe“, sagte er und machte sich dann daran, das aus ihrer Wunde herauszuholen, was auch immer er entdeckt hatte. Etienne biss die Zähne zusammen und versuchte so stillzuhalten, wie es nur ging.

„Es ist gleich vorbei“, sagte er und sie bemerkte, wie er die Pinzette immer wieder an dem Tuch abwischte. Als er sie wieder weglegte und erneut die Wunde anschaute, war sie erleichtert, als er zufrieden nickte. Er wandte sich wieder dem Koffer zu und holte weitere Gegenstände heraus. Etienne blickte zu dem Tuch und entdeckte einige kleine Holzsplitter, wahrscheinlich von dem Schrank, in welchem sie gelandet war.

„Ich bin mir nicht sicher, ob das genäht werden soll“, sagte er.

„Gibt mir den Spiegel“, sagte Etienne. Die Müdigkeit erreichte sie nun umso mehr, da sie saß.

Er holte einen kleinen runden Spiegel aus dem Koffer heraus, „Wieso ist da eigentlich ein Spiegel drin?“

„Tatinne macht sie rein, damit man sich selbst versorgen kann, wenn es nötig ist“, sagte Etienne, „Offensichtlich kann ich nicht alles sehen.“

Sie nahm den Spiegel entgegen und sah zum ersten Mal richtig ihre Wange. Es war kein tiefer Schnitt, dafür aber kein sauberer. Viele kleine Schürfwunden zierten ihren Wangenknochen.

„Ein paar Verschlussstreifen reichen“, sagte sie und legte den Spiegel wieder weg.

Raffael nickte und holte die entsprechenden Gegenstände heraus, schien zwischendurch unsicher, was genau er brauchte.

„Da sollte noch eine Büchse mit einer Creme drin sein. Gib sie mir“, sagte sie.

Er hielt sie nach kurzem Durchsuchen hoch. Sie war hübsch geschmückt und Etienne entdeckte Tatinnes Handschrift.

„Was ist das?“, fragte Raffael, während er es ihr reichte.

„Das hat Tatinne selbst gemacht. Ich kann dir nicht genau sagen was drin ist. Aber es wird helfen.“

„Selbst gemacht?“, fragte er und widmete sich wieder dem Koffer, während sie sich etwas von der Creme auf die Wange auftrug, „Ich hätte nicht gedacht, dass sie sich in so etwas gut auskennt.“

Sobald etwas von der Creme ihre Wunde berührte, spürte sie die Entspannung einsetzen, als der Schmerz gedämpft wurde. Etienne hörte Tatinne noch immer unten fluchen, dafür aber keinen Ton von Gilgian. So wütend wie sie war, würde es Etienne nicht wundern, wenn sie nicht sonderlich sanft mit ihrem Patienten umgehen würde. Umso beeindruckender, nichts von Gilgian mitzubekommen.

„Ich bekomme noch einen Ring von dir“, sagte er, als er sich ihr wieder zuwandte.

„Den hat Gilgian“, sagte sie, „Ich werde ihn dir die Tage über geben. Wenn ich die Jacke bekomme.“

Er grinste, „Natürlich. Wieso hast du ihn ihm überhaupt gegeben?“, fragte er dann, „Gilgian kann ziemlich viel einstecken. Von allen Leuten in dem Zimmer brauchte er ihn am wenigsten.“

„Dafür, dass er so viel einstecken kann, hat er gut was abbekommen.“

„Das stimmt. Ich schätze, er hat nicht richtig aufgepasst. Oder er hat sich entschlossen, gar nicht aufzupassen. Gilgian kämpft sehr direkt. Er nimmt auch gerne mal einen direkten Schlag entgegen.“

Er schien unsicher zu sein, wie genau er das mit den Pflastern machen sollte. Seine Bewegungen waren zögerlich. Raffael schien das nicht so häufig zu machen und Etienne spürte die Unsicherheit und Vorsicht in jeder seiner Bewegung. Er schien jedoch eine grobe Ahnung davon zu haben. Sie hielt still, während er sich an ihrer Wunde zu schaffen machte und entschloss sich, dies nicht anzusprechen. Zum Schluss holte er etwas Verband heraus, legte es zusammen und klebte es mit zwei Pflastern fest.

„Fertig“, sagte er.

„Nun sehe ich aus, als hätte man mir eine reingehauen“, sagte sie, als sie wieder in den Spiegel blickte.

„Vielleicht solltest du nicht alleine in gruselige Häuser gehen. Dann würdest du auch nicht so wieder herauskommen.“

Sie schnaubte, „Oh entschuldige, wenn ich das so direkt sage, aber ich glaube nicht, dass dich das irgendwas angeht, wo ich hingehe.“

„Das stimmt“, sagte er und packte die Sachen wieder in den Koffer, „Aber dann will ich auch keine Beschwerden über dein Aussehen hören.“

Etienne zuckte mit den Schultern, „Mich stört nur, dass es so offensichtlich ist.“

Er lachte schnaubend, sagte aber nichts weiter zu.

Vorsicht bedachte sie ihn und fragte dann, „Was hattest du mit Gilgian dort überhaupt zu suchen?“

43. Calisteo bei Nacht: Abmachungen

 

Er sah sie einschätzend an und Etienne war fest davon überzeugt, dass er sich weigern würde, ihr die Frage zu beantworten. Doch zu ihrer Überraschung tat er dies diesmal nicht. Er brach ihr Aufeinander treten an einer Stelle und sie wusste nicht, ob sie das mochte.

„Ich schätze, Gilgian ist aufgefallen, dass du und Meta miteinander unterwegs wart.“

„Ah wirklich? Ihm ist das aufgefallen?“, fragte sie nach.
„Vielleicht ist es auch mir aufgefallen und er hat Wind davon bekommen“, meinte er leicht lächelnd, legte den letzten Inhalt ordentlich in den Koffer.

„Und wie ist es dir aufgefallen?“, fragte sie weiter nach.

Er schloss den Koffer und wandte sich ihr zu, „Es war nicht schwer zu bemerken, dass du irgendwas ausgeheckt hast. Ich muss nur zugeben, ich bin sehr überrascht, dass du schon am nächsten Tag aufgebrochen bist. Wie hast du es überhaupt geschafft, Meta dazu zu bewegen? Sie ist nicht gerade dafür bekannt, leicht zugänglich zu sein.“

Etienne zögerte, mochte es nicht, wie sie zum Thema des Gesprächs wurde. Und Etienne hatte noch immer das Bedürfnis, es ihm für den Stein heimzuzahlen. Und für die Art, wie er sie hereingelegt und vor Tatinne bloß gestellt hatte. Das nahm sie ihm besonders übel.

Raffael lehnte sich zu ihr vor, „Komm schon. Ich möchte nur ein normales Gespräch mit dir führen.“

„Aber du hast damit angefangen. Mit allem.“

„Das habe ich und ich bin bereit mich zu entschuldigen. Und ich werde deine Fragen beantworten, ohne eine Gegenantwort abzuverlangen. Nicht alle, offensichtlich. Würde das als erste Versöhnung reichen?“

„Wenn du eine Versöhnung willst, dann wirst du mir den Stein geben müssen“, sagte sie eindringlich.

„Deswegen spreche ich auch nur von der ersten“, sagte er lächelnd und meinte dann weiter, „Ich werde dir den Stein wiedergeben. Nur nicht jetzt.“

„Und wann? Und was wirst du dafür haben wollen?“, fragte sie.

„Über das Wann können wir gerne sprechen, wenn du den zweiten hast. Bis dahin wirst du sicher noch auf ihn verzichten können.“

„Ich überlege es mir“, sagte sie unzufrieden. Solange sie wusste, wo der Stein war, konnte sie das Problem nach hinten verschieben. Er hatte recht damit. Sie würde sich sowieso noch damit beschäftigen müssen, wie sie den dritten bekommt. Aber sie wollte ihm keine Zeit geben, sich etwas auszudenken, was ihr Probleme bereiten würde.

„Ich könnte dir dabei helfen, ihn zu bekommen“, sagte er dann mit neuem Elan, stand auf und ging zum Waschbecken, in welchem noch immer ihre Jacke lag. Sie wäre beinahe aufgesprungen, als er diese hochhob und betrachtete. Wassertropfen fielen in die Pfütze am Becken und sah warnend seinen Rücken an.

„Es gibt viele Möglichkeiten, für mich nützlich zu sein“, sagte er weiter.

Etienne hob die Brauen. Sie glaubte ihm nicht, dass er ihr einfach so helfen würde, „Würdest du mir alles geben, worum ich verlange?“

Er lachte, „Auf keinen Fall. Wenn dein Vorgehen generell dem von heute gleicht, dann würde ich dir wirklich gerne nahelegen, so etwas anders anzugehen.“

„Ich sehe nicht, wo das Problem liegt. Ich habe einem Geist den Zugang in diese Welt verwehrt, hab meinen Stein bekommen und es wäre niemand verletzt gewesen, wenn du und Gilgian nicht aufgetaucht wärt.“

„Vielleicht wäre es anders gelaufen“, sagte er und sie sah ihm dabei zu, wie er die Jacke an einigen Stellen auswrang und dann ordentlich zusammenlegte, „Aber ich glaube es ehrlich gesagt nicht.“

„Was hast du vor?“, fragte sie ihn alarmiert und deutete auf die Jacke, als er sie sich unter den Arm packte.

„Ich nehme sie als Referenz mit.“

Etienne verzog das Gesicht und er lachte erneut, „Ich kann wohl kaum etwas in Auftrag geben, wenn ich nichts habe, an dem sich die Leute orientieren können.“

„Wann bekomme ich sie wieder?“, fragte sie misstrauisch. Seine Augen wanderten zur Decke, als er ein nachdenkliches Geräusch von sich gab. Dabei wippte er leicht vor und zurück, bis er schließlich sagte, „In zwei Tagen? Ja, ich denke, das sollte hinkommen.“ Seine Augen wanderten wieder zu ihr und er meinte lächelnd, „Was hältst du davon, wenn ich dich am Abend abhole und wir uns anschauen, ob sie dir passt?“

Misstrauisch starrte sie zurück und fragte, „Wieso nicht hier?“

„Weil ich nicht mit dieser wieder zurücklaufen werden, wenn sie doch nicht passt. Ich bin kein Laufbursche und ich habe deutlich wichtigere Sachen in meiner freien Zeit zu tun, als für dich durch die Gegend zu rennen.“

Die Vorstellung, mit ihm irgendwohin zu gehen, wo sie sich nicht auskannte, löste keine Freude aus.

Er seufzte, „Ich kann dir die Zurückhaltung nicht verübeln. Aber vielleicht kann ich dich davon überzeugen, dass nicht hinter all meinen Handlungen ein Hintergedanke steckt.“

Etienne lächelte schnaubend. Sie glaubte das nicht, denn er enthielt ihr noch immer den Stein. Früher oder später würde es darauf hinauslaufen, dass er etwas verlangen würde. Sie entschloss sich jedoch, zunächst die Versöhnung anzunehmen und sie zu ihrem Vorteil auszunutzen. Wie er richtig festgestellt hatte, musste sie immer noch einen Stein finden.

Eine Bedingung gab es aber. Die Situation von vorhin durfte sich nicht wiederholen. „Wenn du mir den Stein nicht mehr auf dieselbe Art über den Kopf hältst, wie gerade eben, werde ich mich darauf einlassen.“

Sein Finger fing zu tippen an und er schwieg, gab ihr nicht direkt eine Antwort. Das bestätigte Etienne in ihrer Vermutung. Er war nicht bereit die Kontrolle aufzugeben, die er in einem von ihr unachtsamen Moment an sich gerissen hatte. Und sie hatte die Vermutung, dass ihr seine Hilfe anzubieten, nur darauf hinauslaufen würde, noch mehr Kontrolle über die Situation zu bekommen. Das spornte sie jedoch an, es ihm heimzuzahlen, dass er sie so unterschätzte. Sie war vielleicht nicht sonderlich gut darin, mit anderen zu Verhandeln, aber sie weigerte sich, ein Fußabtreter zu sein, den man nach Belieben herumschubsen konnte.

„Und“, führte sie dann weiter aus, „du wirst mir sehr ausführlich erzählen, was du von mir willst.“

Diesmal hob er überrascht die Brauen, „Und ich hab mich schon gewundert, wann diese Frage von dir kommt.“

„Ich hab sie dir bereits gestellt, aber als Antwort habe ich Schwachsinn erhalten“, sagte sie und musste wieder an ihr erstes richtiges Gespräch denken.

Er grinste verschmitzt, „Das stimmt. Da habe ich noch nicht entschieden, wie ich mit dir umgehen soll.“

„Und nun weißt du es?“, fragte sie.

Er zuckte mit den Schultern, „Vielleicht. Aber ich akzeptiere deine Bedingungen. Ich werde den Stein nicht mehr gegen dich verwenden und ich werde dir erzählen, was ich von dir für den Stein erwarte.“

Sie spürte, wie ihr Gesicht sich verdüsterte. Er erwartete etwas. Wie er das so dreist und selbstverständlich sagte, als würde er ein Recht darauf haben, von ihr etwas zu erwarten.

Raffael lachte, als er ihren Ausdruck sah und das machte sie noch wütender. Daraufhin hob er beschwichtigend die Hände, „Ich will mich nicht streiten. Aber wohl kaum betreibe ich den ganzen Aufwand, nur um dich zu ärgern. Denkst du nicht?“

„Ich merke es mir“, sagte sie und stand dann auf. Sie musste sich noch vorbereiten, „Ich muss mich umziehen. Vielleicht solltest du wieder nach unten gehen. Und lass mir meinen Talisman auf dem Tisch.“

Er seufzte, „Sei nicht sauer.“

„Bin ich nicht“, sagte sie und ging dann durch die Tür nach oben. Sie war genervt, aber nicht sauer, dafür war sie zu müde. Wäre nicht das erste Mal, dass jemand aus heiterem Himmel auftaucht und etwas verlangt, als wäre deren Leben der Mittelpunkt des Universums. Aber es war in Ordnung. Etienne würde herausfinden, wie sie damit umgehen sollte. Doch zunächst verlangten andere Dinge ihre Aufmerksamkeit. Eines davon war die Schuld, die sie gegenüber Meta empfand. Es hatte sich nur zu deutlich herauskristallisiert, dass sie nicht genug Rücksicht auf sie genommen hat. Meta war kein starker Mensch. Sie gehörte zu den Schwachen, zu denen, welche beschützt werden mussten. Etienne schuldete ihr eine Wiedergutmachung und hatte keine Ahnung, wie diese aussehen sollte.

Und dann war da noch Catjill, welcher unter ihrer Decke auf dem schmalen Bett lag. Darum müsste sie sich jetzt auch kümmern. Etienne ging durch den engen Weg zum breiten Schrank. Tatinne hatte ihr eine Schublade frei gemacht, in welcher sie noch ein paar gute Kleidungsstücke hatte. Diese waren nicht so gut, wie die Jacke oder die aktuelle Hose. Etienne hatte letztere erworben, als sie dringen robuste und sichere Kleidung für ihre kleinen Abenteuer benötigt hatte und als die alte, welche sie nun in der Hand hielt, zu wenig Schutz geboten hatte, als dass sie damit in den verfluchten Wald gehen wollte, in welcher der Djinn versteckt war.

Etienne zog sich aus und sah die blauen Flecken. Diese sahen fürchterlich aus. Sie hatte einige an ihren Oberschenkel und an der rechten Seite ihrer Hüfte. Auch ihr Rücken sah nicht verschont aus. Etienne seufzte und sah dann zu ihrem Bein. Sie entdeckte einige Kratzer und Löcher rund um ihren Knöchel. Allein von der Anordnung der Wunden her konnte sie erahnen, wo das Wesen sie gepackt hatte. Und allein die Tatsache, dass ihr nicht das halbe Bein fehlte, sprach für den Schutz, den ihr ihre Hose geboten hatte. Sie wollte nicht auf sie verzichten, aber für den Abend würde ihr die alte ausreichen.

Die alte Kleidung fühlte sich unsicher auf ihrer wunden Haut an. Etienne vermerkte sich, dass Tatinne ihr Bein anschauen musste. Dieser Gedanke ließ sie erschaudern. Wenigstens konnte sie das auf später verschieben und wäre somit nicht den Augen ihrer Gäste ausgesetzt. Die Bakterien des Crawlings wirkten langsam und die Wunden waren nicht so schlimm, als dass sie viele von diesen abbekommen haben sollte.

Etienne trat zum Bett und atmete tief durch. Sie zog die Decke zurück und begegnete zwei wütenden Augen eines flauschigen Balls.

„Also wirklich, als Djinn musst du das doch von Weitem kommen sehen“, meinte sie.

Er fauchte sie an. So wie er gerade war, würde sie ihn nicht anfassen wollen. Es wäre ein Leichtes ihm befehlen, sich zu benehmen, aber das würde sie nur im Notfall tun. Als sie ihn kennengelernt hatte, hatte sie nicht vorgehabt, so zimperlich mit ihm umzugehen. Ihre Gedanken kehrten zu Raffael zurück und sie seufzte. Sie konnte wohl nicht weiter wütend auf ihn sein, wenn sie mit ihrem Djinn genauso umging, wie er es mit ihr versuchte. Aber ein Djinn war etwas anderes. Sie waren von Natur aus darauf ausgelegt zu nutzen und genutzt zu werden. So hatten sie sich nach dem Zusammenbruch der alten Welt entwickelt. Catjill würde sie ohne mit der Wimper zu zucken auflaufen lassen, wenn er geschickt genug dafür wäre. Aber er war noch jung und das war der einzige Vorteil, den sie ihm gegenüber hatte. Raffael hingegen war schwerer einzuschätzen. Er war ein Mensch, der nach eigenen Regeln agierte.

Die Art, wie sich zu Gilgian benahm, wie er ihre eine Jacke zugesichert hatte und danach handelte, schien zu zeigen, dass er sich aufrichtig an das hielt, was er sagte. Genau das machte ihn so gefährlich.

Ein Mensch der Aufrichtigkeit ist ein Heuchler, hörte sie ihren Vater sagen. Es würde nur eine Frage der Zeit sein, bis Raffael sich gegen sein Wort zu handeln entschloss. Und er hatte das Potenzial, folgenlos damit durchzukommen. Catjill nicht.

Etienne verwarf die Gedanken wieder. Sie war nicht sauer auf Raffael, weil er so mit ihr umging, sondern weil er gut genug dabei war, dass sie sich im Nachteil ihm gegenüber fühlte. Zu dem Djinn hingegen hatte sie sehr gemischte Gefühle. Als sie ihn im Wald aufgesucht hatte, war sie nach all den Strapazen bereit gewesen, so hart wie nötig mit ihm umzugehen. Aber nach kurzer Zeit hat er sich nicht als das herausgestellt, was sie erwartet hatte, nicht wie das, worüber sie gelesen und geforscht hatte. Er war tollpatschig und schien nicht konkret zu wissen, was er eigentlich tat. Und schon bald hatte Etienne die Vermutung gehabt, dass er mehr von ihr erwartete, als nur eine klar definierte Beziehung von Meister und Untergebener auf Zeit. Das verunsicherte sie, denn sie wusste nicht, wie sie mit ihm umgehen sollte. Er stellte ihr andauernd Fragen, wollte mehr von der Welt um sie herum entdecken und war so neugierig, dass sie stetig Angst hatte, ihn irgendwo zu verlieren. Es überraschte sie auch, wie verraten er sich fühlte, wann immer sie ihn an ihre fest gesetzten Verhältnisse erinnerte. So wie eben. So handelte ein Djinn nicht und sie verstand, dass sie ihn verletzt haben musste, aber sie verstand nicht, wieso er so auf etwas reagierte, was normal sein sollte.

Wie wäre es damit“, sagte sie und hockte sich auf Augenhöhe zu ihm hin, hoffte, dass er nicht mit seiner Klaue nach ihrem Gesicht greifen würde, „Wir bringen die beiden gleich weg. Und nachdem ich eine kleine Erledigung erledigt habe, können wir uns eine Stelle irgendwo oben suchen und den Ausblick auf die Stadt und die Sterne genießen. Dort oben könnten wir auch das Essen essen, welches ich dir für deine großzügige Hilfe mit Meta schulde und ich werde dir einen Nachtisch besorgen.

Sein Schwanz schlug hin und her, „Woher weiß ich, dass du das wirklich machst?“

Ja, das ist die Frage bei uns allen, dachte sie.

Er hörte sich so misstrauisch an, aber sie konnte hören, wie sein Interesse geweckt wurde. Er wollte so sehr etwas erleben. So sehr, dass er immer wieder vergaß, wie er und Etienne zusammenhingen. Und das verunsicherte Etienne im Umkehrschluss, denn sie war mit fester Absicht in dieses sonderbare Verhältnis reingegangen, sich nicht zurückzuhalten, wenn es um den Umgang mit einem Djinn ging. Sie taumelte in ihrer Handlung und begab sich auf einen Umgang mit ihm, der sehr gefährlich war.

„Ich verspreche es dir, dass wir das heute machen“, sagte sie, „Du wirst mir jedoch vertrauen müssen, denn ich werde heute keine neue Abmachung mit dir eingehen. Ich habe keine Energie dafür.“

„Woher weiß ich, dass du dich daran hältst?“

„Ich halte immer ein Versprechen ein.“

Er setzte sich langsam auf, dachte über das nach, was sie ihm gesagt hatte. Ihr Herz pochte schmerzhaft in ihrer Brust und kalter Schweiß trat an ihrem Gesicht aus. Sie hatte ihm soeben ein Angebot außerhalb des verpflichtenden Verhältnisses von einem Angebot und Preis geboten. Sie hatte ihm etwas freiwillig angeboten.

„Ich bin immer noch sauer auf dich. Aber ich, als das großartige Geschöpf, das ich bin, bin bereit so gnädig zu sein und einem dummen Menschen wie dir zu verzeihen“, er richtete sich stolz auf und Etienne lächelte müde. Sie hatte soeben ihre Beziehung auf eine Ebene gehoben, welche weit über das einfache, feste Verhältnis mit Regeln ging und er schien es nicht einmal zu merken.

Sie strich ihn mit der Hand über den Kopf, spürte das weiche Fell zwischen ihren Fingern und er streckte sich ihrer Bewegung entgegen, „Das ist sehr gnädig von dir. Ich werde dir das nicht vergessen.“

Er flog wieder hoch und umkreiste sie, „Wann gehen wir los?“

Ihr Körper beschwerte sich, als sie wieder aufstand. Heute würde noch ein langer Abend werden.

„Lass uns schauen, wie weit sie da unten sind.“

44. Calisteo bei Nacht: Ein ehrliches Lächeln

 

Catjill flog durch den dunklen Gang der engen Treppe wieder nach unten und Etienne folgte ihm, bewunderte sein blaues Fell, welches in der Dunkelheit zu leuchten schien. Unten entdeckte sie Raffael, noch immer mit ihrer Jacke, am Küchentisch sitzen, sein Gesicht in die Hand gestützt. Auch er sah etwas erschöpft aus, hatte die Augen geschlossen, bis sie hineingetreten waren. Tatinnes Stimme war in der Stille umso deutlicher zu vernehmen. Wahrscheinlich der Grund, weshalb er noch nicht nach unten gegangen war.

Raffael sah zu ihr hinauf, seine Mundwinkel hoben sich leicht, „Und? Gibt es noch mehr Wunden, um die wir uns kümmern müssen?“

„Nichts, worum du dich kümmern könntest“, sagte sie ausweichend.

Sie trat von einem Fuß auf den anderen, bedachte kurz Catjill, welcher um den Tisch herum schwebte. Er schien genauso unschlüssig, wie sie selbst. Etienne bezweifelte jedoch, dass ihm dasselbe zu schaffen machte, wie ihr.

Als sie wieder zu Raffael sah, entdeckte sie seinen wartenden, auffordernden Blick und zwang dann verlegen heraus, „Danke, für das Andere.“

Nach einem überraschten Blinzeln lächelte er ihr entgegen und sein Gesicht schien für einen Moment regelrecht zu strahlen, erfüllt von einer Wärme, die sie bei ihm noch nicht gesehen hatte. Sie war sich nicht sicher, ob sie diese überhaupt je bei einem Menschen gesehen hatte. Etienne hatte zum ersten Mal das Gefühl, dass es ehrlich und aufrichtig war und das überforderte sie.

„Gern geschehen“, sagte er und schien wirklich froh darüber sein, dass sie sich bei ihm bedankt hatte.

Das ist doch keine normale Reaktion?

Sie verspürte das Bedürfnis zurück zu lächeln und stand wie versteinert da, hielt den Atem an, verwirrt und unwissend, was sie tun sollte. Ob sie weggehen sollte oder ob sie etwas sagen sollte. Catjill flog dann an ihr vorbei zu ihm auf den Tisch. An diesem lag ihr Talisman, wie sie es verlangt hatte.

Catjills Aufregung war in seinem ganzen Auftreten zu spüren, als er mit seinen Pfoten auf dem Tisch tippte. „Raffael, weißt du wo hier die Aussicht auf die Stadt am besten ist?“

Raffaels Aufmerksamkeit wanderte zu dem Kater und Etienne fühlte sich, als würde sie wieder aufatmen können.

„Die Aussicht? Was hast du denn vor?“, fragte er den Djinn und Etienne bemerkte, dass er ihm tatsächlich interessiert zuhörte, während dieser ihm davon erzählte, was sie heute Abend vorhatten. Er plapperte es einfach aus, als wäre es nichts. Als Raffaels Aufmerksamkeit dann wieder auf sie fiel, spürte sie erneut die Anspannung aufsteigen.

„Ich kenne einige Orte mit guter Aussicht“, sagte er.

„Catjill und ich sollten los. Wir kommen schon alleine klar“, sagte sie schnell und ging an ihm vorbei zu der Treppe. Sie hörte, wie der Stuhl zurückgeschoben wurde und er folgte. Catjill flog über ihrem Kopf an ihr vorbei in das große Zimmer, steuerte direkt Meta an, welche sich vor ihm erschreckte, dann aber lächelnd seine Gegenwart annahm. Gilgian saß aufrecht an der Couch. Geschlossene Auge und die graue Haut zeigten Etienne ganz deutlich, dass es ihm nicht gut ging. Er sah schlimmer aus, als vor der Behandlung aber irgendwie auch besser.

„Sieht so aus, als könnten wir los“, meinte sie, vielleicht etwas zu hastig. Tatinne schnaubte, während sie ihre Hände an einem Tuch abwischte, „Bleib morgen zu Hause Gilgian. Sag deinen Beratern Bescheid, wenn es sein muss. Und siehe zu, dass keiner die Situation ausnutzt.“

Etienne bedachte neugierig ihre Tante. Es war überraschend, dass sie solche Ratschläge gab, da Etienne sie immer eher als wahrhaftig neutral eingeschätzt hat. Deswegen lebte sie auch im neutralen Provinz. Welchen Gefahren Gilgian ausgesetzt sein sollte, könnte ihr egal sein. Aber das war nicht der Fall und so wie Etienne sich erinnerte, schien auch Raffael immer wieder Andeutungen von sich gegeben zu haben, welche auf die Sicherheit von Gilgian und Meta schließen ließen. Meta hingegen schien misstrauisch. Etienne vermutete eine Dynamik, in welche sie und Meta nicht eingeweiht waren.

„Bist du in der Lage zu laufen?“, fragte sie an Gilgian gewandt. Er funkelte sie an, doch sie hatte das Gefühl, dass es mehr daran lag, dass er Schmerzen hatte, als dass er wirklich wütend auf sie war.

„Das sollte kein Problem sein“, antwortete Tatinne an seiner Stelle, „Es war nicht so schlimm und er stellt sich deutlich zimperlicher an, als er sollte. Was ist mit dir, Etienne? Brauchst du noch irgendwas?“

„Ein Tee, wenn ich wiederkomme, sollte mir reichen“, sagte sie. Und trat zu den anderen. Gilgian stand auf. Mit Ausnahme von seinem grauen Gesicht, sah er nicht so aus, als hätte er gerade eine anstrengende Behandlung hinter sich.

Etienne nickte Catjill zu und sie gingen hinaus.

 

☆ ☽ ☆

 

Es war mittlerweile dunkel und die Lichter der Straßenlaternen leuchteten in den einsamen Straßen am Rand des neutralen Stadtteils. Etienne hatte festgestellt, dass diese mit Elektrizität bedient wurden, nicht mit Magie, wie es in den anderen Städten der Fall war. Anstelle der schwebenden Energiebälle, welche durch einen wiederregenerierenden Zauber, der sich stetig der Energie des Sonnenlichts bediente, hatten diese Laternen Leitungen, die sie mit Energie fütterten und noch dazu ein Glasgehäuse.

Wenn sie sich recht erinnerte, hatten die Bewohner Calisteos vor vielen Jahrzehnten Wasser- und Windräder gebaut, mit welchen sie ihre Stadt mit Strom versorgt hatten. Eine ungewöhnliche Vorgehensweise, da heutzutage alles durch alternative Energieflüsse versorgt werden konnte. Ein Kreis für die Ewigkeit und ein Viereck für einen Fluch und die richtige Kombination aus den befehlenden Worten und schon wäre der wiederregenerierende Zauber hergestellt. Natürlich würde ein Magori etwas von seiner Magie hergeben müssen, bis sie irgendwann im fortgeschrittenen Alter ausgelaufen war, aber was war schon dieser Preis, wenn die Gesellschaft davon profitierte. Und wertvolles Metall musste nicht verbraucht werden, für große Geräte, welche regelmäßig gewartet werden musste.

Aber es fühlte sich frischer an. Während in den anderen Städten die Magie der Welt Etienne unter die Haut ging und ihr die Luft zum Atmen nahm, fühlte sich diese Stadt nach Sauberkeit an. Es fühlte sich wie reine Natur an. Nur die violett glühenden Kugeln, welche in größeren Abständen zueinander weit über den Dächern der Stadt ragten, strömten etwas Magie aus, welche sie in einem leicht sauren Gefühl auf ihrer Haut spüren konnte. Und die schwachen Wellen derer Energie, gaben ihr zu verstehen, dass die Menschen hier Fernsehen und Radio nutzen mussten. Ob sie auch die Kommunikation zu anderen Städten hielten? Telefonierte gerade jemand mithilfe der aufgestellten Signale? Und hatten sie ebenfalls einen Magori in der Stadt, welcher die Signalkugeln wartete? Waren diese die einzigen Gegenstände, die durch Magie angetrieben wurden?

Etienne wollte hinaufklettern und die Muster an der Oberfläche der Kugeln genauer untersuchen. Was würde da stehen? Vielleicht ja Vheruna? Bestimmt sahen sich die Menschen in Calisteo Unterhaltungskanäle dieser Stadt an. Oder vielleicht auch Achare, ein Zauber, welcher für Kommunikation der Telefone zuständig war? Und woraus bezogen die Kugeln ihre Energie? Sonnenlicht? Aber dafür, dass sie stetig funnktionieren mussten, würde die Nacht zu viel Energie abverlangen. Diese Sphären musste ständig Energie zugeführt werden, nicht so wie bei den glühenden kleinen Kugeln der magischen Laternen, welche tagsüber Energie speichern und dann nachts nutzen konnten. Dann Wind? Sicherlich musste es Wind sein, denn so nah am Meer wehte dieser häufig über Calisteo hinweg.

So wie auch jetzt, als die kalte Herbstluft durch die Straßen fegte und Etienne traute umso mehr der Jacke hinterher, welche sich noch immer unter Raffaels Arm befand. Catjill saß auf Metas Kopf. Keiner der Menschen, an denen sie vorbeigegangen waren, hatte auf sie geachtet. Nur Raffael wurde hier und da nett gegrüßt. Manchmal hörte Etienne auch Getuschel und unfreundliche Worte. Nicht immer hatten die Leute hinter seinem Rücken was Nettes zu sagen. Er war der Einzige, auf den der Zauber sich nicht auswirkte. Der Djinn hatte entschlossen, besonders penetrant darauf zu achten, nur das zu erfüllen, dem er zugestimmt hatte.

Desto näher sie an Gilgians Provinz kamen, desto ruhiger wurden die Straßen. Etienne konnte das Rascheln der Blätter hören, welche leise bewegt wurden und jedes Mal schauderte es sie, da der Wind auch sie erreichte.

Calisteo bei Nacht schien zumindest in diesem Gebiet sehr ruhig zu sein. Es gefiel ihr, wenn kaum jemand auf den Straßen war, wenn sie durch die Dunkelheit der Laternen gehen konnte, welche durch die Elektrizität ihren eigenen Charme auf sie ausübten. Es gab ihr ein Gefühl von Ruhe und Sicherheit.

Ganz anders war es im Herzen des neutralen Stadtteils. Dort waren die Straßen erleuchtet von bunten Lichtern. Menschenmengen tummelten sich vor verschiedenen Schenken, welche mit dem heimischen Bier, Gebäck und Fisch prahlten. Stände waren aufgebaut gewesen und Etienne hätte diese gerne aufgesucht, wenn sie allein gewesen wäre.

Wie sie die Sterne mit Catjill jedoch betrachten wollte, erwies sich als eine schwer zu beantwortende Frage. Bei dem ganzen Licht, welches von der Stadt ausgestrahlt wurde, würden sie nicht viel sehen können. Sollte sie mit ihm auf die erste Mauer hinaus wandern? Das würde Stunden in Anspruch nehmen.

Etienne lief hinter Meta und Gilgian, welche sich leise unterhielten. Sie konnte manchmal einzelne Gesprächsfetzen heraushören, aber sie versuchte nicht allzu sehr auf den Inhalt zu achten. Diese beiden wollten sicherlich ihre Privatsphäre. Und wenn es wichtig war, würde ihr Djinn sie darüber schon informieren.

Raffael holte zu ihr auf. Sie warf ihm aus dem Augenwinkel einen verstohlenen Blick zu, während er in buntes Papier, welches er irgendwo auf der Straße aufgetrieben hatte, etwas hinein kritzelte. Er hatte ihre Jacke noch immer unter seinem Arm geklemmt und Etienne blickte sehnsüchtig zu ihr. Sie wusste, er würde es nicht von alleine merken, wenn sie ihn nicht darauf aufmerksam machen würde. Aber zeitgleich wollte sie ihm nicht die Blöße zeigen.

„Wir sind gleich in Gilgians Provinz. Ich werde mich am Eingang verabschieden“, sagte er.

Sie hatte sich schon gewundert, wann er gehen würde.

„Du solltest besser nicht mit mir reden. Die Menschen werden denken, dass du Selbstgespräche führst“, sagte sie trocken, „Der Herrscher der zweiten Provinz hat den Verstand verloren, werden sie sagen.“

„Es ist doch keiner mehr hier“, sagte er lachend.

„Du kannst nie wissen, wer gerade zuhört“, erwiderte sie.

Er drückte ihr das Papier in die Hand. Es handelte sich um eine Karte von der Stadt. Sie war nicht sehr detailliert, hauptsächlich war nur der neutrale Stadtteil darin verzeichnet. Dieser Bereich der Stadt war schon immer die Hauptanlaufstelle für Besucher aus anderen Städten gewesen. Es gab sogar so etwas wie Tourismus, welcher jedoch nie sonderlich stark in all den Jahren gedeiht hatte. Calisteo war einfach eine zu weit entfernte Stadt und hatte zu wenig Relevanz, als dass sich die Menschen viel dafür interessiert hatten. Was gut war, wie Etienne fand. Ein Gleis, welcher direkt hierher führte, war eigentlich schon einer zu viel.

„Hier sind die Orte, die du meiden solltest“, sagte er und zeigte mit dem Finger auf einige eingekreiste Stellen, „Und mit meiden meine ich wirklich, dass du da nicht alleine hingehen solltest. Egal, ob dein Djinn dich bedeckt halten kann oder nicht. Leg es nicht darauf an, in Gefahr zu kommen. Für heute sollten die Abenteuer reichen. Außer, du willst auch die andere Seite deines Gesichts zu symmetrischen Zwecken verzieren.“

Nachdem sie ihm einen bösen Blick zugeworfen hatte, betrachtete Etienne die eingekreisten Orte und las still die Namen. Manche kannte sie bereits von Tatinne. Andere nicht.

Er öffnete eine Seite der Karte und zeigte dann auf einige in Grün markierten Kreise, „Die beste Aussicht auf die Sterne gibt es wo anders, aber diese Orte sind gar nicht mal so schlecht, um die Stadt zu sehen. Die Stadtmauern würde ich euch nicht empfehlen, die Wachen sind nicht sonderlich erfreut davon, wenn sich die Leute da hoch schleichen. Das könnte in einer Festnahme enden. Nicht lange jedoch. Wahrscheinlich nur über Nacht.“

„Du gibst erstaunlich viele Informationen für jemanden, der bisher so sparsam war.“

„Ich meine das mit der Versöhnung ernst“, sagte er und zeigte dann wieder auf die Karte, „Und wenn du Hilfe brauchst, hier findest du mich, was du wahrscheinlich sowieso schon von Tatinne weißt.“

„Kennst dich wohl gut aus“, meinte sie zu ihm.

„Ich bin hier geboren. Und ich war nie wirklich die Art von Person, welche sich brav in seiner Provinz befand. Dafür bin ich zu neugierig.“

„Das hätte ich nie von dir gedacht“, erwiderte sie sarkastisch.

„Ich war nie der Einzige“, sagte er lachend, doch ein sonderbarer Unterton ließ sie zu ihm aufblicken. Sie konnte an seinem Gesicht jedoch nichts entdecken, nur die nervtötende Feststellung, dass er sich nicht niederstarren ließ. Das war wirklich ungewohnt.

45. Calisteo bei Nacht: Zwei Ratschläge

 

Etienne bedachte wieder die verschiedenen Orte. Schnell entschied sie sich für einen, welcher in der Nähe am Stadtzentrum war. Es war eine Art kleiner Dom, welcher zu diesen Zeiten wahrscheinlich geschlossen war. Es war aber unwahrscheinlich, dass es ein Gebäude der neuen Religion war. Gut für sie, denn dann müsste sie sich nicht rechtfertigen, wieso sich eine Exorzistin nicht gemeldet hatte. Kein Mitglied der Ekklea würde unangenehme Fragen stellen können, wenn sie sich nicht in der Stadt befanden, in welcher Etienne sich befand. Ein guter Ort, um sich mit ihrem Djinn in Ruhe dort hineinzuschleichen und einige Stunden auf dem Turm zu verbringen. Das sollte doch reichen, um ihn zufriedenzustellen?

„Du solltest nicht zu lange machen“, sagte Raffael, während sie sich langsam dem Torbogen näherten, welcher den Eingang der Provinz markierte, „Morgen wird O’Donnel sicherlich einen Test machen. Ich hoffe, du bist fit genug dafür.“

„Woher weißt du das?“, fragte Etienne und klappte die Karte wieder zusammen. Auf einmal vernahm sie hinter sich mehrere leise Schritte. Ein Blick zu den Fenstern, welche in der Dunkelheit die Straße spiegelten, ließ sie drei Gestalten ausmachen.

„Sie tut es immer, wenn jemand Neues in die Klasse kommt. Es ist zwar schon etwas her, seit wir das letzte Mal jemand neuen hatten, aber bisher war das Muster bei ihr immer zu beobachten. Ich glaube nicht, dass es diesmal anders sein wird.“

„Dann sollte ich morgen vielleicht einfach zu Hause bleiben“, meinte sie seufzend und wandte sich wieder der Karte zu. Er hatte ihr sogar markiert, welche Geschäfte um diese Uhrzeit noch offen waren.

„Dann wird sie es einfach verschieben. Sie wird es sich nicht nehmen lassen, dich auf deine Fähigkeiten zu prüfen. Wahrscheinlich hatte sie das heute schon vor. Nun, da du nicht da warst, bekommst du morgen was zu hören.“

„Sie scheint eine sehr strenge Frau zu sein“, meinte Etienne mürrisch. Bei all den Dingen, die sie zu tun hatte, war es, sich mit einer Lehrerin zu streiten, sicherlich nicht das, wofür sie Zeit und Energie verschwenden wollte. Wieso hat Tatinne sie nur in diese Schule gesteckt?

„Man gewöhnt sich dran. Wenn du gute Noten schreibst, kannst du dir bei ihr einiges leisten. Wenn nicht, dann solltest du dich darauf gefasst machen, dass sie dich runtersteigen lassen wird.“

Etienne seufzte und überlegte sich, ob es nicht wert wäre, genau das machen zu lassen. Aber sie hatte ihre nächsten Ziele schon vor Augen und das war die Gruppe von Elias, welche in ihrer Klasse saß. Es wäre gerade jetzt eine schlechte Idee, sich von ihnen zu entfernen. Im Gegenteil, sollte sie nach einer Möglichkeit suchen, mit ihnen in Kontakt zu treten.

„Was muss ich alles bestehen, damit sie mich in Ruhe lässt?“, fragte sie Raffael.

„An sich reichen die Hauptprüfungen“, sagte er, „Dir würde ich aber empfehlen, auch bei ihren Prüfungsleistungen gut abzuschneiden. Sie lässt nur die Provinzherrscher vom Haken, bei dir wird sie das nicht tun.“

„Ah ich sehe schon. Provinzherrscher müsste man sein, um mit allem durchzukommen“, sagte sie leicht lachend.

„Nicht wahr?“, stimmte er ihr zu und sie begegnete seinem wachsamen Blick, „Vielleicht kommst du auch mal auf den Genuss. Die Zeiten ändern sich schnell.“

Sie schnaubte belustigt, „Oh, wenn ich eine Wahl habe, dann würde ich solch einen Job nicht einmal mit Handschuhen anfassen.“

„Manchmal hat man nicht wirklich eine Wahl. In solchen Momenten ist besser, bestmöglich vorbereitet anzutreten.“

„Natürlich hat man eine Wahl“, erwiderte Etienne, „man kann sich einfach umdrehen und weggehen.“

„Das würde nur zur Folge haben, dass irgendein Abschaum an die Macht gelangt.“

„Das wäre nicht mein Problem“, sagte sie trocken, „Das Leben hat genug Herausforderungen anzubieten, wieso sollte ich freiwillig solch eine annehmen?“

„Um die Menschen zu schützen, die nichts für das Ganze können“, erwiderte er, beinahe schon aufgebracht, „Es sind immer die Schwachen, die bei solchen Machtkämpfen zu Schaden kommen.“

„Ist das Grund genug für dich? Es für die Menschen zu machen?“

Dass die Schwachen geschützt gehören, darin stimmte sie ihm zu. Sie selbst war sich ihrer Stärke bewusst. Aber sie war sich auch dessen bewusst, dass sie ihre Kräfte gut einteilen musste, um denen zu helfen, denen sie helfen musste. Calisteo und ihre Bewohner gehörten nicht dazu.

Raffael antwortete ihr nicht direkt. Schwieg einen Moment. Dann nickte er.

Etienne zuckte mit den Schultern, „Dann schätze ich mal, dass du diese Stadt wirklich magst.“

Ein erneuter Blick in die Fenster eines Schuhladens sagte ihr, dass die Gestalten noch immer hinter ihnen waren, aber im guten Abstand. Und weiter hinten entdeckte sie noch eine Gestalt. Die Schemen des Schattens. Er diesmal etwas weiter weg als sonst. Im Haus hatte sie ihn nicht gesehen, was sie im Nachhinein verwunderte. War der Abstand nicht erreicht gewesen? Etienne verstand noch nicht so ganz, nach welchen Regeln er agierte.

„Ich liebe sie“, sagte Raffael ernst, diesmal mit dem Fehlen jeglicher Belustigung.

Etienne lächelte ihm entgegen, „Wie schön das dann für die Menschen sein muss, dich dazuhaben. Belassen wir es doch dabei, dass es so bleibt. Viel Erfolg weiterhin.“

Schweigen. Zu Hören gab es auch nichts mehr. Es war sehr wahrscheinlich der Fall, dass Raffael bald kein Provinzherrscher mehr sein würde. Und Etienne konnte sich verschiedene Szenarien ausmalen, in denen er die Macht verlor. Keines davon war sonderlich friedlich. Das müsste er wahrscheinlich auch gedacht haben, als Tatinne ihm von der Vorhersehung berichtet hatte. Gut für Etienne, dass sie wusste, dass es sich nicht um sie handeln würde. Selbst wenn ihr die Macht auf einem Silbertablett präsentiert werden würde, sie würde nicht danach greifen. Denn im Gegensatz zu Raffael, hatte sie dieser Stadt nicht mehr entgegenzubringen, als Desinteresse und maximal die Anerkennung, dass der neutrale Stadtteil ganz hübsch aussah.

„In zwei Tagen“, sagte er dann leise und sie wurde etwas nervös, als sie seinem intensiven Blick begegnete, „werden wir uns darüber etwas deutlicher unterhalten. Aber ich kann dir versichern, dass wenn ich die Macht über meine Provinz verliere, das zu meinen Bedingungen passieren wird.“

Sie seufzte. Etienne hat nicht beabsichtigt, ihn wütend zu machen. Aber sie konnte sehen, dass sie ihre Worte mit mehr Bedacht hätte wählen können.

„Ich sehe nicht, was es da viel zu bereden gibt. Ich würde definitiv nicht deinen Job übernehmen wollen. Oder deren“, sie deutet auf Gilgian und Meta, „Schieb das an jemand anderen ab.“

Raffael lachte leicht, doch sein Ausdruck hatte noch immer etwas Verärgertes, „Es gibt sehr viele Menschen hier, die genau das wollen. Siehst du die Gruppe da hinter uns“, fragte er und deutete an die Glasfenster zu ihrer Linken.

„Ja“, sagte Etienne, „Ich will wetten, die werden es auf dich abgesehen haben.“

Immerhin musste er sich keine Sorgen um den Schatten machen. Dieser war ihretwegen da.

„Unter normalen Umständen, würden sie sich das nicht einfach so trauen. Aber um diese Uhrzeit, eine Person, die einem Provinzherrscher sehr ähnlich sieht, allein in der Stadt… Keine Chance, dass nicht irgendjemand aus seinem Loch gekrochen kommt und sein Glück versucht.“

„Dann solltest du dich auf den Heimweg machen“, sagte sie. Er holte ein Handy hervor und Etienne blinzelte überrascht, „Das hast du?“

Er sah kurz lächelnd zu ihr, während er es anschaltete und etwas eintippte, „Du weiß, was das ist?“

„Gibt es Menschen, die das nicht wissen?“, fragte sie ausweichend und verfluchte sich für ihr zu schnelles Mundwerk.

Diese Menschen gab es nicht, aber die Meisten wussten nicht, wie eins aussah. Die Prioritäten lagen einfach auf anderen Gegenständen und es war nicht so, als könnte man viele produzieren lassen. Und so, wie sie sich hier auf die Produktion von Elektrizität und anderen elektrischen Geräten fokussierten, wunderte es sie nicht, dass Handys, welche noch immer durch andere Mittel ersetzt werden konnten, eher weniger produziert waren. Wenn eine Sphäre für Kommunikation in der Stadt angebracht war, dann gab es sicherlich auch Sphären, welche in den Häusern ihren festen Platz gefunden hatten. Ein Handy war eher ein Luxusgut, bereitgestellt für die Wohlhabenden, welche die alte Zeit simulierten. Etienne fragte sich, ob dieses auch eine Kamera beinhaltete, oder ob Bilder und Videos auf diesem abgespielt werden konnten oder ob es nur zum Telefonieren diente. War es auch mit der Sphäre verbunden, als eine Mischung aus Technik und Magie? Offensichtlich, denn es wäre ihr neu, dass Calisteo es irgendwie geschafft haben sollte, einen Satelliten zu bauen und diesen in den Orbit aufsteigen zu lassen. Daran scheiterten selbst die Cerreaner und Vheruna war bisher auch nicht sehr erfolgreich darin gewesen.

Raffael sah noch mal zu ihr, diesmal wieder mit diesem vorsichtig beobachtendem Blick, als wäre sie zu analysieren, bevor er angreifen würde. Er würde seine Schlüsse aus ihrer Antwort ziehen. Noch immer funkelte leise Wut in seinen braunen Augen.

„Viel Erfolg heute Nacht. Ich hoffe ihr habt einen guten Ausblick. Ich wäre wirklich gerne mitgekommen, aber ich hoffe du kannst es mir verzeihen, dass ich nicht dabei sein kann“, sagte er mit guter Laune und sie blinzelte verwirrt.

„Ich hab dich nicht eingeladen“, erwiderte sie.

Raffael zwinkerte ihr wieder auf seine übliche Art mit beiden Augen zu und ignorierte ihren Einwand, „Ich werde mich für diese Vernachlässigung meinerseits revanchieren. Du kannst dich auf das Treffen in zwei Tagen freuen.“

Etienne konnte den Ärger noch immer in seiner Stimme hören. Nun, da sie ihn einmal gehört hatte, wusste sie, worauf zu achten war. Und nun wunderte sie sich, ob er das mit Absicht tat. Wollte er sie auch verärgern? Es nervte sie, dass es ihm gelang.

„Wir holen nur meine Jacke.“

„Natürlich“, stimmte er ihr lächelnd zu und sie glaubte ihm keinen Moment.

Er hielt sie an, indem er ihren Ellenbogen packte, „Eine Sache noch. Die Anderen haben mir erzählt, was in der Halle mit Meta passiert ist. War mein Fehler, dass ich nicht aufmerksamer war. Und so sehr ich es missbillige, was sie machen, will ich dir dennoch raten dich nicht in die Angelegenheiten zwischen Provinzmitgliedern einzumischen. Erst recht nicht, wenn du keine Ahnung über mögliche Regeln hast. Wenn du dir unsicher bist, sag es mir und ich werde mich darum kümmern.“

Etienne schnaubte, „Natürlich. Wenn ich sehe, dass jemand in der Ecke zusammengeschlagen wird, werde ich erst nach dir suchen.“

Er sah sie herausfordernd an, „Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass, selbst wenn du dich einmischst, du die Situation schlimmer machen wirst.“

„Ich sehe nicht, wo ich es bei Meta schlimmer gemacht habe“, verteidigte sie sich und erwiderte seine Herausforderung.

Seine Stimme wurde etwas sanfter, „Du hattest Glück, dass es sich hier um relativ ungefährliche Individuen gehandelt hat. Wir haben genug von denen in der Schule, die es nicht sind. Leg dich nicht unnötig mit diesen an.“

Unsicher, was sie antworten sollte, schwieg sie. Es war nicht so, als wollte sie sich unnötig irgendwo einmischen. Und es war auch nicht so, als hätte sie ein dringliches Bedürfnis danach, den Helden zu spielen. Sie sah sich selbst definitiv nicht als die Art von Mensch an, der jedem beliebigem zur Rettung eilte. Und seltsamerweise merkte sie, dass sie genau das machen würde, nur weil er ihr gesagt hat, dass sie es nicht soll. Sollte sie das machen, solange sie in Calisteo war? Einfach nur, um ihn zu nerven.

„Bitte“, fügte er auf einmal hinzu, „Der Ärger ist es nicht wert und ich kann helfen, die Situation ruhig zu entschärfen.“

Das überraschte sie mehr als sie erwartet hätte. Diese Aussage schien ehrlich und ernst und ohne jegliche Belustigung. Seufzend gab sie nach, „Hör bitte auf so zu tun, als würde ich mir die Auseinandersetzungen suchen. Aber ich werde mein Bestes geben.“

Seine Gesichtszüge wurden sanfter und er ließ ihren Ellenbogen los, „Würdest du es auch versprechen?“

Sie musste zum ersten Mal lachen, überrascht von dieser absurden Bitte, „Auf keinen Fall. Ich glaube nicht, dass es je dazu kommen wird, dass du mein Versprechen für überhaupt irgendwas bekommst.“

Er schien überhaupt nicht beleidigt zu sein und sie war sich sicher, dass er sich dessen wohl bewusst war.

„Ich hätte ja Glück haben können“, sagte er grinsend, „Ich will dir in der nächsten Zeit aber zeigen, dass man sich auf mich verlassen kann. Und es ist nur diese eine Sache, um die ich dich bitte.“

„Um die du mich heute bittest“, korrigierte sie, „Aber ich habs verstanden. Ich werde mein Bestes geben.“

Auf einmal war Scarlett da. Etiennes Kopf wirbelte zu ihr herum, als diese wunderschöne Frau, gekleidet in Schwarz, neben ihnen auftauchte. Ihr Blick traf auf Raffael und Etienne blieb vor Schreck kurz die Luft weg, als sie die Wut und die Sorge in diesem erkannte, und zwar so deutlich, wie man den Mond am klaren Himmel sehen konnte, „Bist du eigentlich verrückt geworden?“

Ihre Stimme war ruhig, aber diese Wut in der Ruhe ließ Etienne erschaudern. Es fühlte sich an, wie das Donnern eines weit entfernten Sturms von dem man ganz genau wusste, dass er bald auf einen Treffen würde. Dennoch erkannte sie eine Ähnlichkeit zu Raffael. Genau so hatte er sich vorhin auch angehört. Vielleicht war Scarlett ja der Schlüssel für Etienne, ihn besser einschätzen zu können? Sie waren sich ähnlich, sahen sich ähnlich, hatten eine ähnliche Mimik. Wenn Etienne Scarlett besser einschätzen könnte, dann könnte sie das sicherlich auch bei Raffael, egal wie gut er seine Absichten und Gefühle verbergen konnte.

Sie entdeckte Etienne nicht. Oder es wäre besser zu sagen, dass sie Etienne sicherlich im Hinterkopf registrierte, ihr aber keine Beachtung schenkte. Das lag an Catjills Magie. Ein subtiler Weg, um unter den Menschen zu wandern.

„Lass uns nach Hause gehen“, sagte Raffael lachend, nachdem er sie kurz betrachtet hatte, und steckte das Handy wieder weg. Es schien ihm absolut nichts auszumachen, dass Scarlett so wütend war.

„Da kannst du drauf wetten“, sagte sie und schloss die Augen und dann waren sie verschwunden.

Der Schatten zwischen den Laternen und die Ablenkung, welche Raffael mit seinem Verschwinden ausgelöst hat, waren genau die notwendigen Dinge, um aus dem Blickfeld der Gestalten zu verschwinden. Diese tuschelten aufgeregt über das Geschehen, Scarletts Name fiel und Etienne war sich sicher, ihre eigene Präsent war wahrscheinlich schon vergessen.

Das Gespräch mit Raffael hatte es unmöglich gemacht, dass die subtile Magie ihres Djinns Etienne weiterhin vor Aufmerksamkeit schützen würde. Also wartete sie ab, sah ihnen dabei zu, wie sie sich umsahen. Ihre Augen streiften sie, aber sie beachteten sie nicht. Die Magie ihres Djinns gewann wieder die Überhand. Wenn Etienne sich nicht zu sehr preisgab, dann würden diese Menschen sie weiterhin übersehen. Nach einigen weiteren Momenten beeilte sie sich Meta und Gilgian aufzuholen, blieb jedoch weiterhin im angemessenen Abstand. Sie betraten die Provinz und Etienne folgte ihnen schweigsam weiter. Etienne legte die Arme um sich, als sie fröstelte. Gilgians Provinz war erstaunlich dunkel, auch wenn das Licht aus den Fenstern der Gebäude zu der Straße drang.

46. Calisteo bei Nacht: Sich zu Entschuldigen

 

Die Nachtluft wurde nicht wärmer und wenn es etwas gab, was Etienne noch weniger mochte als Kälte, dann war es Kälte, gepaart mit schmerzenden Gliedern und Müdigkeit.

Sie wusste nicht, wie lange sie schon gelaufen waren, als Gilgian plötzlich stehen blieb und sich zu ihr umdrehte. Seine Augen bedachten sie von oben bis unten und dann seufzte er sehr, sehr schwer, „Pass auf. Ich hatte vor dich auseinanderzunehmen, nachdem du Meta in dieses verfluchte Haus mitgeschleppt hast.“

„Gilgian!“, sagte Meta protestierend dazwischen.

„Aber ich werde darauf verzichten. Weil du mich auf ein Problem aufmerksam gemacht hast, welches ich angehen werde. Mach das aber nicht noch mal.“

Etienne gab ihm ihr bestes Lächeln, „Das ist sehr großzügig von dir.“

Er schnaubte, „Das wird nicht noch mal vorkommen. Weiterhin sehe ich es nicht ein, in deiner Schuld zu stehen. Was willst du?“

„Es gibt nichts, wofür du mir etwas schuldig wärst. Ah, aber ich brauche den Ring wieder.“

„Was willst du für die Begleitung zu Tatinne und zurück“, sagte er knurrend, holte den Ring hervor und warf ihn ihr zu. Etiennes Lächeln fror ihr im Gesicht fest, als sie vorsichtig den Ring in die Hosentasche steckte. Sie stellte fest, dass sie wirklich leicht von ihm einzuschüchtern war und vermutete, dass es an seiner Körpergröße war. Etwas an seiner ganzen Art schien unnatürlich und das machte es so bedrohlich. Noch dazu schien er leicht reizbar zu sein, wenn er nicht direkt eine Antwort bekam.

„Lasst uns einfach befreundet sein“, sprudelte es aus ihr heraus und sie hoffte, dass er das als so abstrus betrachten würde, dass er sie damit in Ruhe ließ. Sie brauchte keinen Gefallen von ihm und sie verstand nicht, wieso das jetzt das Thema sein sollte. Er sollte einfach nach Hause gehen, damit sie ihren Abend endlich zu Ende bringen konnte.

„Versuchst du mich zu veräppeln?“, fragte er sie mit zusammengekniffenen Augen. Etienne erwiderte seinen Blick, ihr Kopf war jedoch wie leergefegt. Ihr fiel nichts ein, was sie erwidern sollte. Hilfesuchend sah sie zu Meta, welche den Kopf in den Händen versteckt hatte. Etienne blickte wieder zu Gilgian, „Gut, wie wäre es damit. Ich schulde Catjill ein ausgiebiges Essen. Kannst du eine Empfehlung aussprechen?“

Sie unterdrückte es, nervös von einem Fuß auf den anderen zu treten, als er angewidert zu ihr hinunterstarrte. Irgendwann wandte er den Blick auf, fuhr sich mit der Hand durch die kurz geschorenen Haare und seufzte wieder schwer. Aus der hinteren Hosentasche holte er ein Geldbeutel hervor und warf ihr einige Geldscheine entgegen.

„Ich brauche kein Geld, nur eine Empfehlung!“, sagte sie aufgebracht. Auch wenn sie in ihrer aktuellen Lebenssituation nicht sehr wohlhabend war, bedeutete das nicht, dass sie ihre Schulden nicht alleine begleichen konnte.

„Ich übernehme seinen Preis“, sagte Gilgian und drückte ihr dann das Geld gegen die Brust, sodass ich nichts anders blieb, als es aufzufangen, wenn sie es nicht vom Boden aufheben wollte.

„Und der Weg bis nach hierhin reicht. Wir brauchen deine Begleitung nicht mehr. Und für die Empfehlung, frag Meta.“

Er drehte sich um und ging davon.

„Würdest du das bitte wieder zurücknehmen?“, fragte Etienne Meta.

„Nein“, sagte Meta und sah zu ihr wieder hoch, nur um dann von Etiennes genervten Blick zusammenzuzucken. Etienne setzte wieder ein Lächeln auf. Es lag nicht in ihrem Interesse, Meta noch mehr einzuschüchtern. Sie war sicherlich froh, mit Etienne nichts mehr zu tun haben zu wollen. Und das konnte sie ihr nicht verübeln. So war ihr Leben. Überfüllt mit riskanten und leichtsinnigen Abenteuern und doch war es etwas, was sie täglich meisterte und von dem sie nicht vorhatte, dass es sich ändern würde. Sie agierte am besten im Chaos, denn so hatte sie es gelernt.

Meta atmete tief durch, sah auf den Boden und kickte einen Stein, welcher sich jedoch kaum rührte.

„Ich bin dir auch dankbar für deine Hilfe. Unsere Provinz ist nicht wirklich glücklich mit Gilgian und mir und deine Begleitung hat uns den Heimweg sicherlich leichter gemacht.“

„Ein Danke reicht mir“, sagte Etienne, „Mal abgesehen davon: Es ist das Mindeste, was ich tun kann, nachdem, was heute passiert ist.“

War das der Moment, wo sie sich entschuldigen musste? Die Gedanken fingen auf einmal an, sich zu überschlagen. Etienne hatte sich nicht häufig entschuldigt, aber sie hat gehört, dass es bestimmte Regeln gab. Sie sollte mit ihrem Bedauern anfangen und dann ihre Fehler aufzählen, wobei es genau einen gab, denn sie hat aus der Situation das Beste gemacht. Dann musste sie ihr erklären, wie sie es künftig besser machen würde, doch ihr Gedanke stockte hier. Wie sollte sie es besser machen, wenn Meta höchstwahrscheinlich nicht mehr an solchen Situation teilhaben würde, sie selbst jedoch nicht das geringste Interesse darin hatte, ihr Vorgehen zu ändern? Vielleicht sollte sie eher eine Wiedergutmachung ansprechen?

Etienne stellte fest, dass Meta sie schweigend ansah. Ihr Gesicht war eine unergründliche Maske, was ungewohnt war, denn Meta schien bisher nicht deutlich gut darin gewesen sein, ihre Gefühle zu verbergen.

Schritt für Schritt, dachte Etienne und spürte, wie ihr das Herz in der Brust pochte.

Sie öffnete den Mund, um ihren ersten Punkt abzuhandeln, doch dann stockte sie, „Ich...“

Was wenn Meta das nicht annehmen würde? Etienne mochte Meta. Sie war ruhig und unkompliziert, nicht so schrill, wie Tatinne mit ihren ganzen Ideen und nicht griesgrämig, wie Gilgian und sie sorgte nicht dafür, dass Etienne sich dauerhaft auf der Hut fühlen musste, wie bei ihrem Djinn und Raffael und Tatinne und wahrscheinlich noch einem Haufen anderer Menschen, die sie noch nicht kannte. Etienne wollte mehr Zeit mit ihr Verbringen, zumindest so lange sie noch in dieser Stadt war.

Meta atmete dann tief durch, trat etwas näher an Etienne und nahm ihre Hände in die ihren. Metas Hände waren kalt, nicht so war, wie die von Raffael.

„Es tut mir wirklich leid, was mein Vater getan hat. Ich wünschte mir, ich könnte das ändern.“

Etienne blinzelte mehrmals verwirrt, überrascht und unschlüssig, was sie mit dieser Aussage anfangen sollte. Sie drückte ihre Hand zurück und stotterte, „Nein, warte-“

Von allen Beteiligten hatte sie am wenigsten zur Situation beigetragen. Selbst wenn Meta nicht mitgekommen wäre, Etienne hätte einen anderen Weg in die Villa gefunden. Es wäre vielleicht etwas schwerer gewesen, die ganzen Zauber zu umgehen, aber sie machte es nicht zum ersten Mal und hatte ihre eigenen Tricks, wie sie sich Einlass hätte verschaffen können.

Meta lächelte ihr traurig entgegen und sprach hastig weiter, als versuchte sie ebenfalls schnell ihr Herz auszuschütten, nur dass es ihr gelang, „Bitte tue mir nur den Gefallen und halte mich nicht für meinen Vater. Ja? Ich bin nicht er. Wirklich nicht. Auch wenn es Menschen gibt, die das denken und ich kann es ihnen nicht verübeln, wir haben dasselbe Blut, ich bin ihm entsprungen … ich verstehe das. Ich bin aber nicht wie er.“

Das Gespräch wandte sich in eine Richtung, welche Etienne nicht erwartet hätte. Aber dazu ließ sich leichter etwas sagen, „Offensichtlich bist du nicht wie er. Ich meine, schaut dich an, du sieht ganz anders aus und bist ganz anders und mal abgesehen davon sollte man sich eh nie mit einem Geist vergleichen. Sie sind nur vergangene Gefühle, meistens. Nicht immer, aber meistens. Es gibt da noch andere Kategorien … das ist egal. Ich…“

Etienne zögerte wieder. Das war nicht das, worüber sie reden wollte. Meta schien kaum zu reagieren bei ihren Worten. Nur ein müder Ausdruck war an ihr Gesicht getreten. Sie ließ Etiennes Hände los und trat zurück. Bevor sie sich jedoch verabschieden konnte beeilte Etienne sich schnell weiterzusprechen.

„Eigentlich will ich mich bei dir entschuldigen. Ich weiß nur nicht wie“, brach sie heraus und spürte, wie ihre Wangen sich rot färbten, „Ich glaube, ich sollte damit anfangen, dass ich das wiedergutmachen werde. Nein, dass es nicht wieder vorkommen wird. Also, ich entschuldige mich, dass das passiert ist. Dass ich dich in das Haus mitgenommen habe.“

Als Metas Gesicht sich in einem Ausdruck des Schmerzes verzog, schwieg Etienne wieder. Dann sagte sie vorsichtig, „Ich… sehen wir uns in der Schule?“

„Wir sehen uns bald in der Schule“, bestätigte Meta leise. Danke für die Begleitung und komme gut nach Hause. Und falls du meine Hilfe bei etwas benötigst, dann hoffe ich, dass es das nächste Mal etwas ist, wo ich dir wirklich helfen kann.“

Sie trat zurück und packte Catjill von ihrem Kopf, welcher sie dann zu sich herumdrehte, „Auch dir vielen Dank Catjill. Ohne dich wäre ich verzweifelt.“

Für einen Moment rührte Catjill sich nicht. Etienne war sich sicher, dass es die Art war, wie Meta mit ihm umging. Catjill riss sich dann von ihren Händen los und flog zu Etienne, „Du kannst mir deine Dankbarkeit gerne in Form einer Belohnung zeigen.“

„Nein“, unterband Etienne dies sofort. Sie sah dann wieder zu Meta und sah Gilgian hinter ihr an der Straßenecke warten.

Meta kicherte und sah zu ihm hinauf und Etienne merkte, wie sein Zauber nicht bei ihr wirkte. Es war die Art, wie sie ihn direkt ansah, ganz genau registrierte, was er war und dass er da war. Meta nickte ihr noch einmal zu und ging dann zu Gilgian, welcher nach einem kurzen Blick zu ihr, einen wütenden Blick zu Etienne warf. Ihr war nicht bewusst, was sie falsch gemacht hatte.

„Wir machen noch einen kurzen Zwischenstopp“, sagte Etienne an Catjill gewandt, „dann gehen wir zurück in den neutralen Stadtteil. Ich hab uns schon einen Ort rausgesucht. Ich hoffe, du hast die Augen offen gehalten nach etwas, was du essen willst.“

Etienne würde Meta später noch sehen. Bis dahin würde sie sich mehr Zeit nehmen, sich genau zu überlegen, was sie sagen würde. Vielleicht würde sie bei Tatinne nachfragen, wie sie vorgehen sollte. Doch sie verwarf den Gedanken so schnell, wie sie ihn bekommen hatte. Sich zu entschuldigen war ein Zeichen der Schwäche und Tatinne würde es sie wissen lassen. Wen konnte sie sonst fragen? Anaki? Alberto? Auf keinen Fall Raffael. Und auf einen Schlag überwältigte sie der Scham. Sie fuhr sich mit den Händen über das Gesicht. Wie hatte sie nur so versagt?

Die Pfoten zuckten aufgeregt an ihrer Schulter und er fuhr die Krallen ein und aus. Herausgerissen aus ihren Gedanken, musste sie bei seiner Freude lächeln.

„Was müssen wir erledigen?“, fragte er voller Tatendrang.

Etienne lief an den Menschen vorbei, welche sie nicht beachteten. Zu einigen von denen gehörten die Männer, welche ihnen zuvor gefolgt waren. Etienne bedachte sie kurz und entdeckte, dass sie an ihren Armen unter den kurzen Westen Tattoos hatten, welche einander ähnlich sahen. Diese Zeichen schienen jedoch nicht dieselben zu sein, welche die Zugehörigkeit zu den Provinzen markierten. Etienne wartete, bis sie an ihnen vorbeigegangen war. Sie würden sie zwar dank der Magie ihres Djinns nicht wahrnehmen, aber sie wollte es nicht riskieren, dass sie dennoch auf sie aufmerksam wurden. Diese Magie wirkte subtil, genauso wie die, welche Etienne ohne ihren Djinn nutzte. Wenn Etienne es darauf anlegen würde, bemerkt zu werden, dann würden sie Etienne bemerken. Und sie kannte sich gut genug mit solcher Magie aus, um es gut einschätzen zu können.

„Du musst gar nichts erledigen“, sagte sie einige Schritte weiter, „Warte einfach auf mich. Ich werde bald da sein.“

47. Calisteo bei Nacht: Das besondere Abendessen

Etienne stieg mit Catjill die Treppen des Turmes hinauf. Sie war durch ein Fenster hineingeklettert, welches offengestanden hatte. Anschließend war sie mit Catjill an den wenigen Menschen, welche dort scheinbar arbeiteten, vorbeigeschlichen. Die Treppen zu dem Turm waren schnell gefunden und nun lief sie seit einigen Minuten in der Dunkelheit hinauf. Mit einer Hand an der kalten, rauen Wand, welche hier und da etwas Moos zwischen den Steinen wachsen hatte, folgte sie dem Weg nach oben. Sie hatte Catjill nicht befohlen, Licht zu machen, da sie keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollte. Ihre Gedanken waren schnell zum Talisman gewandert und sie fragte sich, was in sie gefahren war, diesen bei Tatinne liegen gelassen zu haben. Sie war sich sicher, dass Raffael es ihr auf den Tisch gelegt hatte, wie sie es verlangt hatte. Sie war jedoch zu hastig nach unten gegangen. Es war etwas her, seit sie das letzte Mal so aus der Ruhe gebracht wurde.

Die verpackten Tüten in ihren Händen verströmten einen Geruch von heißem Essen. Es bot einen Kontrast zu dem Geruch des feuchten Steins, welcher sich an diesem Ort festgesetzt hatte. Catjill flog vor ihr her, aufgeregt endlich nach Oben zu kommen. Sie hatte ihm nicht erlaubt, sich zu weit zu entfernen. Und so spürte sie seine Aufregung, als er sie anspornte schneller hinaufzulaufen.

„Beweg deine menschlichen Beine, Etienne.“

Etienne war zwar müde, aber ihn so aufgeregt zu sehen brachte sie zum Lächeln. Es war besser, als ihn wütend zu sehen.

Als sie oben ankamen, war die Tür verschlossen. Sie ließen sich davon jedoch nicht aufhalten. Catjill ließ eifrig das Schloss aufschnappen und sie traten hinein. Die kalte Luft strömte ihnen entgegen. Es gab keine Fenster, nur steinerne Bögen um sie herum. Etienne blickte durch diese hindurch. Sie konnten zwar keine Sterne sehen, aber um diese Uhrzeit erstrahlte die Stadt unter ihnen, als wäre sie ein eigener kleiner Sternenhimmel. Etienne liebte den Ausblick. Eine ihrer schönsten Erinnerungen war die, wie sie damals mit ihrem Vater einen Berg bestiegen hatte. Es war ein steiler, anstrengender Weg, doch als sie sich umgedreht hatte, hatte ihr die Aussicht mehr Luft geraubt, als der Aufstieg selbst. Sie waren so weit oben gewesen, dass die Luft so dünn war, dass sie Schwierigkeiten gehabt hatte zu atmen. Sie wurden von wilden Tieren bedroht und es gab Wesen, welche sie noch nicht gekannt hatten. Und doch war das die schönste Erfahrung, die sie je gehabt hatte. Es war traumhaft gewesen. Das waren die schönsten eineinhalb Jahre in ihrem Leben.

Während Catjill um den Turm herumflog, setzte Etienne sich hin und öffnete das Essen. Sie legte die Sachen aus und war doch froh über das Geld, das Gilgian ihr gegeben hatte. Catjill hat sich nicht zurückgehalten. Etienne hätte es sich zwar leisten können, aber ihr Budget war beschränkt und sie wollte nicht zu tief in die Taschen greifen. Vor allem nun, wo sie durch Tatinnes Unterkünfte und Einkäufe etwas sparen konnte, waren unnötige Ausgaben nur hinderlich für sie. Selbstverständlich könnte sie noch eine Aufgabe der Ekklea übernehmen. Nicht umsonst nannte sie ihren Nebenjob Exorzismus. Aber es war auch nicht der Fall, dass sie viel Zeit zur Verfügung hatte. Sie musste sich schnell die Steine besorgen. Demnach bedeutete dies, dass sie sich ihre Abmachungen mit Catjill besser einteilen sollte. Sie sollte nach Möglichkeiten vermeiden, Gefallen für andere Menschen einzulösen. Das bedeutete, dass sie ihn nicht mehr dazu nutzen würde, jemanden zu schützen oder anderwärtig zu helfen. Nicht, dass sie es jemandem schuldig war. Es war manchmal nur die einfachste Art und Weise, für möglichst wenig Aufsehen zu sorgen. Wenn Meta etwas passiert wäre, würde Gilgian sie nicht so einfach davonkommen lassen. Und wenn Gilgian etwas passiert wäre, könnte dies die Machtverhältnisse in der Stadt stören, was ihr unter Umständen mehr schaden, als helfen würde. Wie Raffael gesagt hatte, es lohnte sich seine eigenen Bedingungen vor einer Veränderung zu etablieren. Dasselbe galt für Etienne, wenn sie für Chaos sorgen wollte, in welchem sie sich am leichtesten Bewegen konnte. Kurz huschte Raffaels Gesicht vor ihrem inneren Auge auf, wie er seine Liebe zu der Stadt bekundet hatte. Schlechtes Gewissen setzte ein. Vielleicht würde sie sich doch Mühe geben, nicht zu allzu drastischen Maßnahmen zu greifen. Sie würde es jedoch nicht für ihn tun. Immerhin ist er schuld, dass sie hier festsaß. Und ein Blick nach unten, auf die vielen Menschen, welche wie kleine Ameisen durch die belebten Nachtstraßen Calisteos herumschwirrten, zeigte ihr sehr deutlich, wieso sie nicht übertreiben sollte. Sie seufzte schwer.

Catjill flog zu dem Essen. Er setzte sich hin und wurde umhüllt von blauem Rauch. Dann saß ein kleiner Junge vor ihr, mit langen, blauen Haaren und hell leuchtenden Augen, mit kreuzförmigen Pupillen, welche nur so von Magie strotzten. Er packte das Essen und zog die Folie ab. Mit seinen Händen schob er sich das heiße Essen in den Mund. Etienne lachte. Er benahm sich genauso wie bei ihrem ersten Treffen, als er sich über ihre Vorräte hergemacht hatte, weil er noch nie zuvor den Geschmack von menschlichem Essen genießen konnte.

„Catjill, iss ordentlich. Es gibt Besteck.“

„Ich brauche kein Besteck“, rief er aus und seine glücklich leuchtenden Augen blickten kurz zu ihr, nur um dann weiter zu schlingen. Etienne schaute ihm dabei zu. Er sah klein aus, aber sein Alter war nicht nach menschlichen Maßstäben zu messen, genauso wenig, wie seine geistige Reife. Wenn Tatinne von einem Herrscher gesprochen hatte, dann musste es sich um Catjill handeln. Diese Schlussfolgerung hatte Etienne direkt nach Tatinnes Erzählung geschlossen. Etienne konnte Raffael nicht erzählen, dass sein Fokus wahrscheinlich auf der falschen Person lag. Sie hatte sich so viel Mühe gegeben, die ganze Arbeit, einen Djinn zu erhalten. Und Raffael drohte ihr indirekt, ihn ihr wegzunehmen. Unter den Umständen musste sie seine Aufmerksamkeit entweder auf sich lenken oder auf jemand anderen. Noch hatte sie den Vertrag mit Catjill, doch es könnte Möglichkeiten geben, ihn ihr wegzunehmen. Er war nicht vollends davon abgehalten, Verträge mit anderen zu schließen. Er glaubte es aber und Etienne beließ ihn gerne in den Glauben. Wenn er dahinter kommen sollte, dann müsste sie sich unter Umständen mit den Anderen um ihren Djinn prügeln. Auf lange Sicht bedeutete dies, dass sie jeden von ihrem Djinn ablenken musste. Was an sich vielleicht gar nicht so schwer zu meistern wäre, da der Djinn durch seine Magie sowieso vor zu neugierigen Blicken geschützt war. Die Menschen hinterfragten ihn nicht. Das würde jedoch nicht ewig halten. Früher oder später würden sich die Leute wundern. Mit Ausnahme von einer Person, welche Etienne überrascht hatte.

„Weißt du, ob Meta immun ist gegen deine Magie?“, fragte Etienne ihn vorsichtig.

Seine leuchtenden Augen blickten nicht mal zu ihr auf, als er sich über das zweite Gericht hermachte. Etienne öffnete auch ihr Essen. Es war das Erste, was sie heute hatte und ihr Magen knurrte unangenehm.

„Nur mentale Magie“, sagte er mit vollem Mund, „ich habe das direkt bei ihr gespürt. Du wirst sie mit Illusionen oder Beeinflussungen ihrer Gefühle nicht dran kriegen. Sie wird das direkt durchschauen. Auch wenn ich nicht glaube, dass sie es bewusst machen wird. Ich glaube ehrlich gesagt nicht mal, dass sie Magie wahrnimmt, außer es fliegt direkt in ihr Gesicht.“

Etienne nahm nachdenklich etwas Essen in den Mund und dachte über das Gesagte nach. Sie erinnerte sich daran, wie Meta ihr davon erzählt hatte, dass sie mit vielen verfluchten Gegenständen in Kontakt gekommen war. Sonderbar war jedoch, dass sie, wie Etienne, auf den Geist reagiert hatte, welchen Catjill als nicht Existent betitelt hat.

„Erinnerst du dich noch an den ersten Geist, dem wir im Gang begegnet sind?“, fragte Etienne bei ihm nach.

Catjill lachte, „Da war nichts Etienne. Es war kein Geist.“

„Was dann? Wenn der Fluch rein mentaler Natur wäre, dann hätte Meta nichts sehen sollen.“

„Der war nicht rein mentaler Natur. Es haben sich nur die Gegenstände bewegt. Den Rest hast du dir eingebildet. Und dieses scheue Reh auch. Kein Wunder aber, es ist jedes Mal was passiert, wenn sie rauswollte.“

Etienne aß weiter. Zu dem Schluss war sie auch schon gekommen. Immer wenn sie zu lange an einem Ort waren oder wenn Meta meinte, sie würde wieder rausgehen wollen, war etwas aufgetaucht, was sie zum Weiterbewegen gezwungen hatte.

„Und wieso hat sie den Hund gesehen?“

„Dieser bestand aus manifestierter Magie. Er war so etwas wie ein Lebewesen und ein Geist zugleich, wie die Wesen im Château.“

Etienne sortierte die Informationen in ihrem Kopf. Wenn etwas lange genug mit Magie getränkt wurde, dann nahm es nach und nach eine reale Gestalt an. Dieser Prozess passierte in den dunklen Jahren der neuen Welt schlagartig. Ein Kind konnte sich ein Monster vorstellen und schon war es als Entität da, welche zwischen den Welten wandern konnte. Mittlerweile passierte es viel langsamer, dank der harten Arbeit der übriggebliebenen Menschen der alten Welt.

Ähnlich war es bei Zaubern, welche etwas Reales erzeugten. So konnte die Magie, welche einen Stein bewegte, Meta wahrscheinlich nichts tun, der Stein dafür umso eher. Oder Feuer, welches durch Magie erschaffen wurde, tobende Luft, Stürme, ...

„Ich bezweifle aber, dass Meta die Schatten wahrgenommen hat. Dafür ist ihr Blick in die magische Welt zu abgestumpft“, führte Catjill weiter aus und hustete dann, als er sich am Essen verschluckte.

Sie spürte die Müdigkeit hinter ihren Augen einsetzen. Es war schon späte Nacht. Nachdem Catjill sein Essen verschlungen hatte, leckte er sich die Finger. Etienne war froh drum, sie hatte nämlich kein Interesse, es für ihn zu übernehmen, sie sauberzumachen.

„Catjill“, sagte sie dann, „Erinnerst du dich noch an unsere Regeln?“

Sein wachsamer Blick traf den ihren. Sofort verwandelte er sich in einen Kater. Sie lächelte, „Es ist keiner hier. Mach dir keine Sorgen, ich wollte dich nicht bedrängen.“

„Wieso fragst du dann nach den Regeln nach?“, fragte er misstrauisch.

„Ich wollte nach dem heutigen Tag nur noch mal betonen, dass du in der Nähe der Anderen niemals deine Gestalt wechseln solltest“, sagte sie sanft.

„Ich habe mich bisher immer an alle Regeln gehalten. Wieso sagst du das jetzt?“, fragte er und sie konnte einen beleidigten Unterton in seiner Stimme hören.

Etienne seufzte und stellte das Essen wieder weg. Sie würde später mehr essen. Sie hatte zwar keinen Hunger, aber sie wusste, sie brauchte die Nährstoffe.

„Catjill, ich wollte diese Regel nur noch mal hervorheben. Nimm das nicht persönlich. Und genieße deine Zeit hier oben. Wir müssen bald zurück.“

Er blickte noch einige Momente zu ihr, sein Schwanz zuckte hin und her. Dann entschloss er sich, ihrem Ratschlag folge zu leisten und sich weiter umzuschauen. Etienne atmete leise durch, als er sich abzulenken schien. Sie wusste, dass er ihren Befehlen Folge leisten würde. Sie wollte nur noch mal sichergehen, dass er das im Hinterkopf behielt. Immerhin war er manchmal viel zu eifrig und viel zu unachtsam in dem, was er sagte.

Etiennes Gedanken wurden unterbrochen, als sie ein lautes Geräusch und anschließend das ferne Schreien von Menschen hörte.

Mit vor Erschöpfung zittrigen Beinen stand sie auf und trat zu Catjill an die steinernen Balken. Der Wind wehte durch die Bögen und sie hörte um sich herum pfeifende Geräusche, in welche sich die weit entfernten Schreie mischten. Ihr Haar, das viel zu lang geworden war, flog um sie herum und sie versuchte die Strähnen aus dem Gesicht zu halten.

Dicke Rauchschwaben stiegen weit entfernt empor. Es war in Gilgians Provinz. Unter ihnen versammelten sich die Menschen am Platz und schienen besorgt in Richtung des dunklen Rauchs zu schauen.

Wir gehen zurück“, sagte sie zu Catjill. Er kletterte auf ihre Schultern, als sie den ganzen Müll einsammelte und in eine Tüte stopfte. Sie sollten sich beeilen herauszukommen, bevor der Platz unter ihnen von Leuten nur so wimmeln würde.

48. Kontrahenten: Eine kleine Auseinandersetzung

 

Etienne wusste nicht mehr, wie lange sie da an der Tür stand. Sie hatte verschlafen und war zu spät gekommen. Zu ihrem Unglück, war in der ersten Stunde O’Donnel ihr Lehrer gewesen, welche nach den letzten zwei Tagen sowieso nicht sonderlich gut auf Etienne zu sprechen war. Und heute hatte sie Etiennes Zuspätkommen genutzt, um richtig über sie herzufallen. Raffaels O’Donner ergab auf einmal Sinn.

Etienne ließ es über sich ergehen, hörte ihr mit einem halben Ohr zu, während sie versuchte sich nicht anmerken zu lassen, dass ihr der schrille Unterton in den Ohren weh tat. Selbst Catjill hatte die Ohren angelegt, schlief aber weiter unbekümmert, als wäre diese alte Frau nur eine lästige Fliege. Die Klasse, die zunächst sehr belustigt schien, war nun auch am Leiden, sehr zu Etiennes Befriedigung. Es gab keinen Grund, wieso sie das alleine aushalten musste.

Etienne war aufgefallen, dass Gilgian und Meta fehlten, was sie schon erwartet hatte. Doch es fehlten auch Raffael, Keyen, Elias und Meng, was Etienne überraschte. Sie wunderte sich, ob ihre Abwesenheit etwas mit dem Knall in der Nacht zu tun hatte.

Ein Lineal knallte plötzlich gegen die Tür hinter ihr. Hatte sie diesen gerade wirklich nach ihr geworfen? Etienne sah ungläubig zu der Frau vor sich.

Hörst du mir überhaupt zu?“

Etienne antwortete ernst, „Natürlich, Madame.“

Sie hatte sie am Vortag „Miss“ genannt und die erste unfreundliche Ansage kassiert. Raffael hatte sie daraufhin ausgelacht und Anaki hat ihr die Anrede aufgeschrieben, die O’Donnel erwartete. Madame.

Was hab ich gerade gesagt?“

Da sie die Frage nicht beantworten konnte, blieb Etienne nichts übrig, als ihr entgegenzulächeln. Sie hörte Scarlett seufzen.

Setzt dich auf deinen Platz!“

Ja“, meinte Etienne und versuchte nicht das Gesicht zu verziehen.

Nun konnten ihre Augen endlich wieder voll und ganz in die Klasse blicken. Eine Mischung aus genervter und gelangweilter Stimmung schlug ihr entgegen. Es schien kalt und abweisend zu sein und etwas in diesem Zimmer löste erneut ein unangenehmes Gefühl vom tief sitzenden Unwohlsein in ihr aus. Es fühlte sich an, als wäre sie in einem Krankenzimmer, dessen Luft von Krankheiten verpestet war. Aber am Ende des Raumes schien die Luft etwas leichter zu werden. Anaki lächelte ihr entgegen und diese freundliche Geste, ließ das erdrückende Gefühl etwas leichter werden.

Als sie sich setzte, meinte sie flüsternd zu ihm, „Das hab ich doch ganz gut gemeistert, was meinst du?“

Sein Körper schüttelte sich etwas, als er ein Lachen unterdrückte. Schließlich schüttelte er den Kopf und flüsterte, „Unglaublich.“

„Überraschungstest!“, sagte O’Donnel mit einem wütenden Unterton in der Stimme.

Etienne seufzte. Es war, wie Raffael es ihr gesagt hatte. Wahrscheinlich wussten es auch die anderen, denn keinen schien es zu wundern. Und da sie die einzige Person war, die davon überrascht werden konnte, schien es keine Überraschung mehr zu sein.

Anaki hob fragend die Augenbraue und Etienne flüsterte, „Ich weiß ja noch nicht einmal was für Unterrichtsstoff ihr durchgenommen habt.“

Wenn du nicht geschlafen hättest, würdest du es jetzt wissen“, erwiderte Anaki trocken.

Etienne sah sich Zettel, welche die Frau wütend vor sie auf den Tisch geknallt hatte.

„Lass schauen, ob hinter deiner Bequemlichkeit auch etwas Talent steckt“, sagte sie und sah sie bedrohlich an, „Doch unabhängig davon, hoffe ich, dass du versagst.“

Etienne lächelte sie an. Das würde sie für ihre reizende Lehrerin einrichten. Dann seufzte sie wieder. Dieses Fach war langweilig. Mit der Müdigkeit vom Vortag gab es nichts, was ihr in diesem Moment sinnloser erschien, als eine Schülerin schauspielern. Sie kritzelte die Lösung der ersten Aufgabe und musste dann gähnen. Sie hatte nicht viel Schlaf bekommen. Nach wenigen Minuten hatte sie aufgegeben, um ihre Aufmerksamkeit zu kämpfen und angefangen etwas zu kritzeln, während sie nervös zu den leeren Plätzen von Elias und Meng schielte. Wenn sie nicht da waren, dann gab es keinen Grund für sie, ebenfalls hier zu sein. Sie schielte weiter zu Anaki, welcher hoch konzentriert das Blatt ausfüllte. Dann wanderten ihre Augen weiter zu Scarlett, welche sich ebenfalls Mühe zu geben schien, und Keyen, welcher sich nur verwirrt den Kopf kratzte.

Die Standpauke ging nach der halben Stunde wieder los. Anscheinend war der Überraschungstest doch nicht so witzig wie sie es gehofft hatte. Zu Mindestens nicht für O’Donnel. Ihr aber die Möglichkeit zu nehmen, nach ihren Regeln zu spielen, löste in Etienne ein befriedigendes Gefühl aus. Sie würde sich nicht von dieser Frau herumschubsen lassen.

Als es zur Pause klingelte, ließ sie sich erleichtert in den Stuhl fallen. Ihre Schulter tat noch immer furchtbar weh. Aber es war schön mal einen entspannten Gegner vor sich zu haben. O’Donnel schien überhaupt nicht kompliziert, nur etwas nervig.

„Diese Schule ist witzig, wie du es gesagt hast.“

Witzig?“, fragte Anaki ungläubig, „Du spinnst doch.“

„Wieso?“, fragte Etienne. Sie fand die Schule tatsächlich witzig. Sie hatte das Gefühl, dass sie nirgendwo sonst ohne Konsequenzen davonkommen konnte, wie hier. Vielleicht würde der Test ein Nachspiel haben, aber viel zu spät, als dass es einen Unterschied machen sollte. Als Tatinne ihr in der Nacht noch ihr Bein behandelt hat, hatte Etienne sie gefragt, wie das mit den Abstufungen funktionieren würde. Sie würde das erst in Monaten erleben müssen. So lange hatte sie nicht vor zu bleiben.

„Wer findet das witzig? Ganz bestimmt niemand der von O’Donnel schon am ersten Tag und dann auch noch am dritten angeschrien wurde. Willst du wissen, wieso ich den zweiten Tag gerade übersprungen habe? Ganz einfach, weil du geschwänzt hast.“

Etienne musterte Anaki, „Es hört sich an, als würdest du mit mir schimpfen.“

Er lächelte nett, „Scheint so. Aber es ist nicht meine Absicht. Du wurdest heute genug ausgeschimpft.“

Etienne gähnte und Anaki sprach weiter, „Brauchst du Hilfe?“

Wo?“, fragte sie.

„In Mathematik.“

Etienne legte ihren Kopf in die Arme, „Eigentlich brauche ich nur etwas Schlaf.“

Ihr Djinn hatte es gut. Er schlief den ganzen Morgen schon auf ihren Schultern.

Anaki lachte, „Wie ich sehe, hast du nicht vor das ernst zu nehmen.

Etienne blinzelte und wollte Antworten, als dann die Tür aufgestoßen wurde und sie sich unweigerlich auf die nächste Katastrophe gefasst machte. Doch es war Anakis genervtes Seufzen, welches sie dazu verleitete überrascht zu ihm zu blicken. Sein so freundliches Gesicht war unglücklich verzogen und sie beobachtete ihn, wie er tief durchatmete. Er war nicht der einzige in der Klasse, welcher ein genervtes Gefühl zum Ausdruck brachte. Zwei Schüler, welche immer bei Elias waren, Colin und Valtin, standen auf. Keyen stellte sich vor Scarlett, welche wütend zu der Person an der Tür schaute. Ihr Blick wanderte dann besorgt zu Etienne und Anaki, was Etienne dazu verleitete sich anzuspannen. Sicherlich war die Person nicht ihretwegen hier. So lange war sie nicht da, um jemanden gegen sich aufzubringen. Mit Ausnahme von Gilgian vielleicht. Sie sah wieder zu der Tür und entdeckte hellblonde Haare. Das Zweite, was ihr auffiel, war seine weiße Kleidung. Ein Kampfanzug?

„Guten Morgen, liebe Klassenkameraden“, sagte er grinsend in die Runde. Die abweisenden Blicke schienen ihn nicht im Geringsten zu stören.

„Wer ist das?“, fragte Etienne.

Eine Nervensäge“, antwortete Scarlett, so laut wie sie nur konnte.

Der Junge grinste sie an, „Zickig wie eh und je. Aber eine Schönheit wie du scheint sich das leisten zu können.“

Scarletts Blick verdüsterte sich und sie funkelte ihn wütend an.

„Lass sie in Ruhe Halil“, sagte Keyen und Etienne stellte fest, dass es eine sehr sanfte Stimme hatte. Halil beachtete ihn nicht mal und sah sich langsam weiter um, als würde er die Menschen allein mit seinen Augen zu bedrohen versuchen. Schnell entdeckte er Etienne, „Ein neues Gesicht.“

Etienne lächelte ihn an und hob grüßend die Hand, „Ich bin Etienne. Nett dich kennenzulernen.“

Er legte den Kopf schief und sagte, „Ebenfalls erfreut. Ich bin Halil, der Leiter des Karate Clubs unserer Schule.“

Seine Stimme hatte etwas Beunruhigendes und Etienne entschloss sich nichts zu erwidern. Sie hatte Angst, dass sie an seine schlechte Seite geraten würde. Dafür lächelte sie etwas breiter und hoffte, dass welcher Grund auch immer es sein sollte, wegen des er hier war, sie damit nichts zu tun haben müsste.

Catjill richtete sich auf. Sein Fell kitzelte in ihrem Ohr. Er betrachtete die Lage, schnaubte dann so leise, dass nur sie es hören konnte, und legte sich wieder schlafen.

Halils grüne Augen wanderten weiter, bis sie bei Anaki stehen blieben. Er senkte den Kopf und sie konnte die Feindseligkeit sehen, Wo ich nun wieder auf den Grund meines Erscheinens zurückkomme“, er zeigte mit dem Finger auf Anaki und sagte „Ich schulde dir noch Prügel.“

Scarlett stand auf, „Verschwinde von hier. Was denkst du, wer du bist, in unsere Klasse zu kommen und hier einen Kampf anzufangen?“

Valtin stimmte ihr zu, „Es wäre besser, wenn du diesen Mist woanders machst.“

Halil lachte, „Und was wollt ihr tun? Es mir verbieten hier zu sein? Ah, das könnt ihr nicht, denn heute ist keiner von euren mächtigen Meistern anwesend. Wie schade.“

Etienne legte ihre Hände flach auf den Tisch und war bereit aufzuspringen. Das Gefühl, dass die Situation eskalieren könnte, verstärkte sich und sie sah schnell zu Anaki, welcher grau im Gesicht aussah. Er stand auf und sah trotzig zu Halil, „Lass uns einfach herausgehen.“

„Wieso?“, fragte Halil, „Hast du Angst bloßgestellt zu werden?“

Er ging langsam auf sie zu und Etienne blickte zu Uhr. Die Pause würde noch etwas dauern. Dann sah sie zu ihren Klassenkameraden und musste betrübt feststellen, dass keiner Anstalt machte, sich ihm in den Weg zu stellen. Sie blieben alle an Ort und Stelle und Etienne fragte sich, ob sie vorhatten ihren Provinzherrschern alles akribisch zu berichten. Und was sollte sie jetzt machen? Sollte sie zu Raffael in sein Heim rennen?

Das hat er sich wirklich gut überlegt, dachte sie frustriert.

Es war, als hätte sie zu lange geblinzelt, denn plötzlich war er vor ihrem Tisch. Etienne blickte verwundert zu ihm hinauf, überrascht von dieser Geschwindigkeit, welche sie ihm nicht zugetraut hatte. Ihr Körper spannte sich an, bereit zu reagieren und ihre Schulter fing durch die Anspannung erneut zu schmerzen an. Anaki wich einem gezieltem Faustschlag nur knapp aus, fiel auf den Boden und stand schnell wieder auf. Halils Hand krachte auf die Wand und hinterließ Risse. Etienne blieb sitzen, als der Putz in ihre Richtung flog, und betrachtete den Schaden. Dieser war nicht so schlimm, wie der von Gilgian. Immerhin eine gute Nachricht.

49. Kontrahenten: Magie der Angst

 

„Aber, aber, meine Kinder!“, rief plötzlich eine angenehme Frauenstimme in den mit schwerer Luft verpesteten Raum.

Eine etwas kleine, dafür aber eine elegante Frau mit einer bunten Brille an der kleinen Nase und hellroten, kinnlangen Haaren stand am Eingang der Tür. Sie klatschte in die Hände, was Anaki zusammenzucken ließ. Etienne bedachte ihn besorgt und sah dann weiter wachsam zu Halil, welcher sich nach der kleinen Dame herumgedreht hatte.

„Wir wollen doch nicht zu Gewalt greifen.“

Madame Warlen“, grüßte Scarlett und Etienne konnte die Anspannung in ihrer Stimme hören.

Misch dich nicht ein, blöde Kuh.“

Sie lachte, „Ah, Halil Schatz. Wie immer charmant. Wieso wundert es mich nicht, dass du heute hier bist, um Ärger zu machen? Du und unser liebster Anaki müsst darauf acht geben, dass kein Ärger passiert. Nicht den Ärger anstiften.“

Etienne blickte zwischen den Beteiligten hin und her, unsicher, welche Regeln und Gegebenheiten daran beteiligt waren, dass Halil nicht auf eine Lehrerin hörte und diese sich das auch noch gefallen ließ.

Die graublauen Augen der Frau fielen auf sie, „Du bist unsere neue Schülerin. Willkommen! Ich hab mich schon gefreut, als ich von dir gehört habe. Lass uns eine schöne Zeit hier verbringen.“
Etienne strahlte sie angespannt an, erfreut über die ganz andere Behandlung, als die, die sie von O’Donnel bekommen hatte und verunsichert über den Zeitpunkt der Grüße.

„Ich freue mich schon!“ Ihre Stimme wurde übertönt von einem lauten Geräusch, welches von Halil stammte. Er hatte mit dem Fuß aufgestampft.

Die Frau lächelte zufrieden Etienne zu und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder zu Halil und Anaki. Auch Etienne sah wieder zu Halil, bedachte den Schaden am Boden. War er von sich aus so stark oder hatte er verborgene Fähigkeiten, die ihm das erlaubten, auf solch kurze Entfernung solch einen Schaden anzurichten? Sie spürte kaum Magie von ihm ausströmen. Wenn, dann war da nur ein sanfter Zug, welcher darauf vermuten ließ, dass sie in seinem Körper floss, aber es schien nicht so zu sein, dass sie nach außen Drang. War es vielleicht nichts Angeborenes? Nutzte er etwas, einen Gegenstand? Schummelte er sich durch?

„Also wirklich, wer soll das reparieren?“, schimpfte Warlen.

Halil funkelte sie wütend an. Zeitgleich schien er jedoch die Situation einzuschätzen, bedachte sie vorsichtig und grinste dann wieder, „Soll der Versuch deine Anwesenheit zu präsentieren mich von irgendwas abhalten? Du gehörst Raffaels Provinz an.“

Dann drehte er sich wieder zu Anaki um, welcher die Hände hob, „Nur zu, ich werde mich nicht wehren.“

Etienne sah besorgt zu ihm. Dass die Lehrerin nichts tat, um ihn aufzuhalten, irritierte sie.

„Natürlich nicht, ansonsten müsstest du ja zugeben, dass du nie gegen mich gewinnen könntest.“

„Hast du mich nicht bereits besiegt?“

Etienne atmete tief durch und sah noch mal zu der Uhr. Würde er nach der Pause wieder verschwinden? Er war immerhin erst in dieser aufgetaucht.

„Halil, ich finde, du solltest wieder in deine Klasse gehen“, sagte Warlen und Etienne beobachtete, wie er genervt die Augen verdrehte und wieder zu ihr sah.

„Und was willst du machen, wenn nicht? Willst du meinem Onkel davon erzählen? Oder meinem Vater? Ah natürlich, würde mich überhaupt nicht wundern, wenn er seine Finger hier mit im Spiel hat. Oder in dir? Ah ja, wir wissen alle nur zu gut, dass er sich nicht von Frauen fernhält. Nicht wahr?“

Er drehte sich bei der Frage wieder zu Anaki, sah ihn mit Verachtung und Wut an und Etienne stellte fest, dass sie nur Sekunden hatte zu entscheiden, was sie tun wollte. Es lag nicht in ihrem Interesse, sich in einen Kampf einzumischen. Anaki war aber der Erste, der wirklich nett zu ihr war. Er hatte ihr ohne Gegenleistungen zu verlangen seine Hilfe angeboten. Er war lieb, harmlos, hilfsbereit und es würde sie in ihrer Ehre verletzen, wenn sie ihm nicht helfen würde.

Als er sich wieder vollends zu Anaki drehte und einen Schritt auf ihn zu ging, atmete Etienne tief durch, stand auf und trat mit erhobenen Händen zwischen sie. Sie hörte Scarlett fluchen und sah, wie sie aufstand.

„Was auch immer es ist, sicherlich können wir das friedlich klären“, sagte sie lächelnd. Sie bemerkte, wie der Djinn sich im Schlaf unruhig bewegte, als Halils bedrohlicher Blick auf sie fiel, „Ich habe gehört, das ist dein dritter Tag. Willst du dir wirklich mich zum Feind machen?“

„Wir könnten auch Freunde werden“, warf sie ein.

„Wir werden keine Freunde, wenn du dich zwischen ihm und mir stellst“, sagte er und grinste sie boshaft an, „Wobei. Ich würde es mir überlegen, wenn du mir einen Gefallen tust.“

Sie wurde von Anaki zur Seite geschoben und nun fand sie sich auf einmal hinter ihm.

„Lass sie in Ruhe, Halil. Es gibt wirklich gar keinen Grund all diese Menschen hier hineinzuziehen. Lass uns einfach rausgehen.“

Noch bevor er richtig zu Ende gesprochen hatte, ging er keuchend zu Boden, als Halil ihm die Faust in den Magen rammte. Halil lächelte zufrieden zu ihm hinunter und sah dann wieder zu Etienne, „Also, der Gefallen.“

„Verrenne dich nicht“, hörte sie Scarlett sagen, „Es gibt eine Grenze von dem, was du dir erlauben kannst.“

Er lachte und drehte sich zu ihr um, was Keyen dazu verleitete, sich noch mehr vor sie zu stellen.

Etienne ging in die Hocke und legte die Hand an Anakis Rücken, während er weiter nach Luft schnappte. Sie konnte sein gerötetes Gesicht ausmachen, welches vor Schmerz verzogen war, und Speichel floss sein Kinn hinunter. Sie strich mit der Hand beruhigend seinen Rücken hinunter, hoffte, dass er bald wieder normal atmen konnte.

Sie stupste Catjill an, welcher daraufhin aufwachte und leise an ihrer Schulter die Situation betrachtete, während Halil Scarlett auslachte, „Ah, kümmere dich um deinen eigenen Kram. Hast du nicht noch alte Männer zu verführen?“

Scarletts Gesicht rötete sich und sie hob trotzig das Kinn. Etienne sah ihren verletzten Blick, welcher sodann wieder von Keyen verdeckt wurde, „Es reicht Halil. Du machst das Ganze noch zu Raffaels Problem, wenn du so weiter machst.“

„Oh entschuldige, mir war nicht bewusst, dass Raffael eine Diktatur führt, in welcher wir armen Mitglieder der neutralen Provinz nichts sagen dürfen, was wir wollen. Wollen wir schauen was passiert, wenn er sich einmischt?“

„Du weißt, dass ich das so nicht meine“, erwiderte Keyen aufgebracht.

„Kannst du stehen?“, fragte Etienne Anaki. Dieser nickte unter Schmerzen.

„Dann lass uns dich zur Krankenschwester bringen“, meinte sie.

„Was glaubst du, was du da tust?“, fragte Halil an sie gewandt.

Etienne lächelte ihn an, „Genau das, was ich gesagt habe. War nett dich kennengelernt zu haben. Wir sehen uns sicher die Tage über.“

„Warte Etienne…“, flüsterte Anaki kaum merklich. Etienne musste sich keine Sorgen um Halil machen. Er war ein Mensch. Ihr Djinn beschützte sie vor Menschen. Sie wusste nur noch nicht, wie. Die Abmachung hatte sie vor Monaten mit ihm geschlossen. Er hatte sich geweigert, sie im selben Maße gegen magische Wesen zu schützen. Aber Menschen waren kein Problem. Etienne hatte zwar nie verstanden, was dabei solch einen Unterschied für ihn machte. Menschen waren nicht um so vieles harmloser, wie er es immer darstellte.

„Ist gut jetzt“, sagte sie lachend und zog ihn hoch. Dieses Zimmer fühlte sich noch mehr nach Krankheit an, als vorhin. Musste sie das nun jeden Tag durchstehen? Sie wusste nicht, wie sie die Situation gewaltlos lösen sollte. Somit konnte sie ihrem Bruder gegenüber nicht ihr Versprechen einhalten. Sich auf ihren Djinn zu verlassen, war ihre beste Möglichkeit, diese Situation zu bewältigen, dabei ihre Neutralität möglichst zu wahren und ihr Versprechen einzuhalten.

„Du denkst wirklich, du kommst damit durch?“, fragte Halil und trat zu ihr. Scarlett schob Keyen beiseite und schien zu ihnen treten zu wollen, wurde jedoch von Keyen abgehalten. „Nur damit das klar ist“, rief sie Halil zu, „Wenn du sie verletzt, wird das kein privates Problem unter Mitgliedern der gleichen Provinz mehr.“

Etienne blickte zu ihr, leicht überrascht von ihrem Versuch sie zu beschützen.

Halil schien kurz zu zögern und Etienne drückte Anaki sanft, aber bestimmt, zur Tür. Es war still, als sie zu dieser gingen.

Halil wiederholte leise Scarletts Worte und sein Tonfall trieb ihr eine Gänsehaut den Rücken hinauf. Anaki lief gekrümmt, schien kaum Kraft zu haben, sich gegen sie zu wehren. Etiennes Sinne waren auf Halil konzentriert, von welchem sie sich langsam entfernten. Sie spürte die Blicke der anderen, welche die Situation genau beobachteten.

„Ah stimmt“, hörte sie Halil dann sagen, „Das interessiert mich bei weitem nicht so sehr, wie euch.“

Sie hörte schnelle Schritte, wollte sich aus ihrem Instinkt heraus herumdrehen und zuschlagen, eher er es konnte. Gänsehaut schoss ihr den Nacken hinunter und sie war bereit sich zu verteidigen, als Catjill ein lautes Brüllen von sich stieß, während er von ihrer Schulter sprang und seine Gestalt sich vergrößerte. Er schnappte nach Halil mit seinen nun langen, scharfen Zähnen. Sie Gestalt schien zu wachsen, sein blaues Fell wurde dunkel. Schwarzer Rauch umgab ihn, während er so tief knurrte, dass sie das Beben tief in ihrem Inneren spürte. Schlagartig wurde es dunkel im Zimmer. Es war, als hätte jemand in tiefster Nacht das einzige Licht ausgeschaltet, welches die Monster von einem fernhielt. Und genauso wie es gekommen war, war es auch wieder verschwunden.

Halil stolperte zurück und fiel hin. Etienne blickte mit großen Augen zu Catjill, welcher sich langsam wieder zurück in seine kleine Katzengestalt begab. Zufrieden leckte er sich über die Pfote. Ein Gefühl kroch tief aus ihr empor und sie unterdrückte es, indem sie ihren Atem kontrollierte und sich vor Augen führte, dass es seine Magie sein musste. Die Angst war jedoch scharf und ließ ihr kalten Schweiß den Rücken herunterlaufen.

Sie ist nicht echt, rief sie sich in Erinnerung, versuchte sich durch ihr Wissen zu beruhigen.

Ein kurzer Blick in das Zimmer und sie entdeckte Scarlett und Keyen an der anderen Seite des Raumes neben Warlen kauern. Colin hatte seine Waffe gezogen, Valtin stand hinter dem Tisch, hielt dieses wie eine Barriere zwischen sich und Catjill.

„Wir gehen dann mal“, sagte Etienne leise, vertraute ihrer Stimme nicht, dass sie nicht zittern würde. Dann drückte sie Anaki schnell Richtung Tür. Sie musste ihren Djinn dringend aus den Augen der Leute schaffen.

50. Kontrahenten: Ein Sprung in die Verwirrung

 

Ihr Herz pochte. Die Krallen ihres Djinn schnitten ihr in die Schulter. Ganz hinten in ihrem Kopf meldete sich ihre vernünftige Stimme und sagte ihr, dass er wahrscheinlich furchtbar Stolz mit seiner Leistung war und deswegen ganz erfreut seine Krallen ein- und ausfuhr. Aber Etienne fürchtete sich. Die kalte Angst ließ sie in Schweiß ausbrechen. Dieselbe Angst war auch bei Anaki zu sehen, welcher immer wieder mit großen Augen zu Catjill sah, mehrmals verwirrt blinzelte und dann wieder wegsah. Nur um dann erneut alarmiert wieder zu ihm zu blicken.

Magie, rief sie sich ins Gedächtnis, wiederholte das Wort wie ein Mantra, versuchte sich wieder aus dem Bann zu ziehen.

Catjill hatte den Menschen nicht unbedingt gezeigt, wie gefährlich er war, aber er ließ sie dennoch um ihr Leben zittern. Die meiste Zeit über war er still und ruhig gewesen. War von zu neugierigen Blicken und Fragen abgeschirmt, hatte dafür gesorgt, dass er nicht zu viel Aufmerksamkeit bekam. Was, wenn es zu viel gewesen war? Wenn es jetzt in ihren Köpfen zu rattern anfangen würde, sich langsam ihre Gedanken durch die Magie kämpften, dann könnten sie plötzlich zur Realisation kommen, dass es sich wahrhaftig um einen Djinn handelte. Sie würden verstehen, was für ein besonderes Wesen er war, anstatt sich einfach nur damit zufriedenzugeben, dass es sich um ein Anhängsel von Etienne handelte.

„Was zum Teufel,-“, spuckte Anaki atemlos aus. Er beendete den Satz nicht und sah dann zu dem Djinn an ihren Schultern, welcher weiterhin Stolz und Selbstzufriedenheit ausstrahlte. Neben der Angst setzte nun Panik bei Etienne ein.

„Was genau hat Halil gegen dich?“, fragte sie ihn schnell, versuchte seine Aufmerksamkeit von dem Djinn abzulenken, damit sein Zauber wieder subtil zu wirken anfing.

„Was?“, fragte er und sein panischer Blick wanderte wieder zu ihr, schien seine Schmerzen für einen Moment vergessen zu haben.

„Ich hätte nicht gedacht jemanden an dieser Schule zu treffen, der so schnell und agil scheint“, plapperte sie los, „Und mit so jemandem hast du einen Streit? Und wieso hat die Lehrerin sich nicht eingemischt? Und wieso kam Halil heute zu dir?“

Sie bombardierte ihn mit Fragen und merkte, wie er langsam sich mehr und mehr auf ihre Stimme konzentrierte. Sein Blick wurde wieder etwas klarer. Seine Hände zitterten weniger, die Atmung beruhigte sich. Der künstlich erzeugte Schleier der Angst, welcher sich um sie alle gelegt hatte, wurde langsam ersetzt durch den Schleier der unfreiwilligen Ignoranz und Ahnungslosigkeit. Sie würden ihn bald vergessen. Und auf einen Schlag war sie so glücklich darüber, dass Raffael nicht anwesend war. Etienne war sich wirklich nicht sicher, ob er es wieder vergessen würde, nicht bei seinen stetig prüfenden Blicken.

Anaki stöhnte plötzlich schmerzerfüllt auf, als sie die Treppenstufen hinunterstiegen. Etienne sah besorgt hinter sich, aber die Klassentür war noch geschlossen. Ihr Hirn fing wieder zu funktionieren an. Sie sollten schnell weg, bevor Halil ebenfalls zu sich kam.

Schnell und besorgt, half sie Anaki hinunter. Auf dem Weg zur Krankenstation, von denen es, wie sie erfahren hatte, ganze vier gab, begegneten sie anderen Schülern und neugierigen Blicken. Einer fragte Anaki sogar lachend, ob er sich wieder mit Halil angelegt hatte, woraufhin Anaki nur ein müdes Lächeln zustande brachte.

„Scheinen ja alle zu wissen, worum es geht“, meinte Etienne dann. War das ein seltsames Spiel zwischen ihnen, von dem alle wussten und sich deswegen nicht einmischten?

Ein schwaches Seufzen und dann eine leise Antwort, „Ich hatte noch nie mit jemandem aus der Schule einen Streit. Aber als ich dann doch einen hatte, habe ich mir natürlich den besten Gegner herausgesucht.“

„Könnt ihr euch nicht einfach wieder vertragen?“, fragte Etienne.

Ein Husten, noch mehr schmerzerfüllte Blicke. Anaki hielt sich weiterhin die Seite, lief gekrümmt, „Er will sich nicht vertragen.“

Etienne blickte besorgt zu ihm und wechselte dann das Thema, indem sie auf die Stelle deutete, wo er ihn geschlagen hatte, „Wie schlimm ist das?“

Er antwortete ihr nicht. Dann sah er tadelnd zu ihr, „Ich weiß, ich hab gesagt, mit dir wurde heute genug geschimpft, aber ich habe hierzu meine Meinung geändert.“

Sie hörte die Glocke klingeln, welche das Ende der Pause ankündigte. Etienne hoffte, dass wenn sie in die Klasse zurückkehrte, dort keine weiteren unangenehmen Überraschungen auf sie warten würden.

Also war es an der Zeit, Anaki loszuwerden, erst recht, wenn er wütend sein wollte.

„Ich bin immer noch der Meinung, dass es genug war.“

Er lächelte leicht, „Du bist in der neutralen Provinz, oder? Überlege dir vielleicht für die Dauer deines Aufenthalts die Provinz zu wechseln. Halil wird dich nicht belästigen können, wenn du in einer anderen bist.“

Etienne lachte, „Das werde ich definitiv nicht tun. Sonst muss ich einem von denen noch Frage und Antwort stehen.“

„Besser, als von Halil zusammengeschlagen zu werden“, sagte Anaki.

Etienne dachte nach. Dachte dann daran, wie es wäre, in Raffaels Provinz zu sein. Oh, er würde sie sicher drangsalieren mit seinen besserwisserischen Vorstellungen von dem, was sie tun und lassen sollte. Ihr Herz fing schnell zu schlagen an, als ihr eine andere Sorge bewusst wurde. Raffael würde wütend werden.

„Nein“, sagte sie, „Das ist auf alle Fälle ein Nein.“

„Dann hättest du dich nicht einmischen dürfen! Wie die anderen auch.“

Er ächzte und legte sich die Finger an den Nasenrücken. Sie war sich nicht sicher, aber sie glaubte, diesmal lag es mehr an ihr, als an seinen Schmerzen.

„Nun ist es eh egal. Es ist schon passiert“, sagte Etienne, während sie langsam zu der Tür des Krankenzimmers kamen.

Er wird wütend werden, dachte sie erneut, Raffaels Gesicht vor ihren Augen. Sie hatte ihm zugesichert keinen Ärger zu machen. Und es hat nicht einmal einen Morgen gedauert.

Sie lächelte Anaki so breit an, wie es ging, „Mal abgesehen davon, kann ich gut auf mich aufpassen.“

Er seufzte schwer und verzog dann vor Schmerz das Gesicht.

„Gut, genug davon. Lass uns schnell reingehen“, sagte Etienne und öffnete dann die Tür zu dem Krankenzimmer. Es roch nach Desinfektionsmittel und Brokkoli.

Ein sehr nett aussehender Mann drehte sich vom Schreibtisch zu ihnen um, schluckte sein Essen hastig hinunter, während er seine Brille aufsetzte. Er erblickte zuerst zu Etienne, welche hineinging und inspizierte die blauen Flecken und Verbände, welche sie vom Vortag hatte. Dann wanderte sein Blick zu Anaki und Etienne konnte es ihm ansehen, dass er genau zu wissen schien, was vorgefallen war.

 

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Etienne hatte Catjill zurück zu Tatinne geschickt und war wieder vorsichtig in die Klasse gegangen. Die Gedanken um Raffaels Wut, dessen Zeuge sie in Tatinnes Küche geworden war, kreisten in ihrem Kopf.

Erleichtert hatte sie festgestellt, dass Halil nicht mehr da war und Warlen ihren Unterricht führte. Die Nervosität war der älteren Frau anzusehen, doch sie kommentierte es nicht, dass der kleine Djinn nicht mehr da war. Nach einem zögerlichen Momente hatte sie Etienne strahlend begrüßt und während die anderen ihre Arbeit fortgeführt hatten, hatte sie sich zu ihr gesetzt und war mit ihr gemeinsam die Themen durchgegangen. Etienne hatte betrübt feststellen müssen, deutlich mehr abverlangt wurde, als sie es sich je hätte vorstellen können. Es war ein Zusatzfach. Nichts, was wirklich wichtig war. Aber dennoch musste sie auch hier gute Leistungen erbringen und ihr entschloss sich nicht, wie sie diese alte Sprache in wenigen Wochen lernen sollte. Somit überdachte Etienne noch einmal ganz genau, ob sie sich ihr Verhalten bei O’Donnel weiter leisten sollte. Nicht, dass sie es doch irgendwie zu Stande bringen würde, sie vorher zu verbannen.

„Um Himmels willen, da liegt einiges an Arbeit vor uns“, hatte Warlen gesagt. Etienne hatte ihr entgegengelächelt. Trotzt dessen, dass sie kein Wissen in den alten Sprachen hatte, hatte sie erstaunlich viel Spaß daran, über sie zu lernen. Zu ihrem Glück, konnte sie eine besonders gut lesen, wenn auch nicht fehlerfrei sprechen. Diese hatte einen wichtigen Stellenwert in der Welt der Flüche und Zauber gehabt, sodass Etienne nie etwas anderes übrig geblieben war, als sie zu erlernen. Immerhin konnte sie hier Punkten. Jedoch nur, solange es im Zusammenhang mit den entsprechenden Themen war. Warlen hatte schnell ihr Interesse in diesem Bereich bemerkt und die anderen Themen vom Tisch gefegt. Warlen hatte sie anschließend alle früher entlassen. Scarlett hatte die Chance ergriffen und war sofort zu ihr gekommen. Etienne hatte noch einen Protest von Keyen gehört und dann war die Welt auf einen Schlag bunt, dann hell und dann verschwamm die Sicht. Übelkeit stieg in ihr auf. Sie rieb sich die Augen, während die Sicht langsam zurückkehrte. Etienne lächelte Scarlett unzufrieden an, „Eine Vorwarnung wäre ganz nett gewesen.“

Scarlett zuckte entschuldigend mit den Schultern, „Nur ein kleiner Nebeneffekt.“

„Wo sind wir?“, fragte Etienne.

„Im zweiten Gebäude der Schule.“

„Und wieso hast du mich hergeholt?“, fragte Etienne, während sie sich nun neugierig umblickte. Sie war nur daran vorbeigelaufen und Miss Arvon hatte ihr nicht viel dazu erzählt. Sie wusste nur, dass es hinter der Schule lag und ziemlich leer stand. Es sollten Renovierungen vorgenommen werden, diese wurden jedoch angehalten. Als Etiennes Blick sich langsam klärte, konnte sie die große Halle erkennen, welche von Plastikplanken und Gerüsten gefüllt war. Der Geruch von Putz erfüllte den Raum.

„Damit Halil nicht noch einmal hineinschneit und dich belästigt, nachdem du so erfolgreich seine Aufmerksamkeit von Anaki auf dich gelenkt hast. Und nach deiner seltsamen Aktion vorhin wird er zu tausend Prozent auf dich zurückkommen. Eher früher als später.“

Sie bedachte Etienne mit einem langen Blick. Die Übelkeit verschwand nach einigen Momenten und als Etienne ihren Blick erwiderte, sank sie nach einem Moment den ihren auf ihre Fingernägel.

„Was ist?“, fragte Etienne.

Scarlett sah wieder zu ihr und meinte dann lächelnd, „Ich mache mir langsam etwas Sorgen um dich. Erst Gilgian, nun Halil. Mir scheint, du bist ein Magnet für Menschen mit nervigen Eigenschaften.“

„Hat mit deinem Cousin angefangen“, erwiderte Etienne trocken. Zu ihrer Überraschung lachte Scarlett, „Das kann ich nicht leugnen. Muss fürchterlich gewesen sein, auf einmal drei Gestalten vor dir zu haben, welche etwas von dir wollen und die du noch nie zuvor gesehen hast.“

„Und noch dazu habt ihr mich bestohlen, das machte es deutlich schlimmer“, fügte Etienne hinzu.

Scarlett zuckte mit den Schultern und grinste dasselbe Grinsen, dass Etienne schon von Raffael kannte, „Zeig uns an.“

Ihr Handy klingelte und Scarlett versteifte sich für einen Moment und holte es dann seufzend hervor. Sie schaute aufs Display und schien nicht so recht zu wissen, was sie tun sollte.

„Ruft Raffael an, damit du ihm alles erzählen kannst?“, fragte Etienne lächelnd und spürte, wie etwas, was Angst ähnelte, in ihr hochstieg. Sie hatte erst am Vortag mit ihm darüber gesprochen und ihm versichert, keinen Ärger zu machen. Es wunderte sie nicht, dass sie das nicht einhalten hat können. Es war nur viel früher passiert, als sie gedacht hatte.

Scarlett blickte zögerlich zu ihr und drückte dann den Anruf weg, „Keyen hat ihn wahrscheinlich direkt angerufen, nachdem ich mit dir weg bin. Er wird immer so panisch. Ein Grund mehr für meinen kleinen Überfall. Er hätte uns sonst nicht gehen lassen.“

„Ist er so was wie dein Bodyguard?“

„Oh nein. Ich komme ganz gut alleine klar. Er ist eigentlich ein langjähriger Freund von uns. Wir wohnten früher Nebeneinander“, erzählte sie Etienne, „Ich will ihn nicht unnötig in das Ganze reinziehen. Er tendiert dazu, sich Hals über Kopf hineinzustürzen und keine Rücksicht auf sich zu nehmen.“

„Hat er euch dabei geholfen, den alten Herrscher zu stürzen?“, fragte Etienne. Tatinne hatte ihr erzählt, dass Raffael dies in wenigen Wochen geschafft hatte. Hatte aber nicht alle Einzelheiten herausgefunden, nur, dass Raffael einige Wochen zuvor die Ehefrau von Nexim aufgesucht hatte.

Scarletts Ausdruck versteinerte sich und Etienne merkte, wie die selbstsichere, ruhige Fassade bröckelte. Sie lächelte schief und ihr Augen wanderten von einer Ecke des Raumes in die andere. Etienne wunderte sich, ob Raffael mit seiner Machtübernahme zu konfrontieren zu derselben Reaktion bei ihm führen würde. Vielleicht sollte sie ihn damit bombardieren, bevor er die Möglichkeit bekam, sie in die Mangel zu nehmen.

Scarlett seufzte und rieb sich dann mit der Hand den Nacken, „Nein. Aber das ist eine lange Geschichte. Frag Raffael.“

Etienne lächelte und ließ ihre Augen im Zimmer wandern, damit sie sich nicht zu sehr von ihr eingeschüchtert fühlte. Ihre Stiefmutter hatte ihr das mal geraten, da sie der Meinung war, dass Etiennes Augen die Menschen zu sehr einschüchterten. Scarletts Augen waren im Vergleich zu ihren in einem dunklen, warmen braun. Sicherlich hatte sie nicht diese Wirkung auf andere.

„Was machen wir jetzt, nachdem wir hier gelandet sind?“

„Die Pause aussitzen. Wir könnten nach ganz oben aufs Dach gehen. Früher sind wir oft dorthin gegangen“, sagte Scarlett.

„Bekomme ich eine Führung?“, fragte Etienne lächelnd.

Scarlett lächelte und schien ihre Selbstsicherheit wieder zurückbekommen zu haben.

„Die Treppe hoch, dann den Gang links halten, dann nach rechts die Treppe nach ganz oben nehmen“, sagte Scarlett ihr aufgeregt.

„Ah ja?“, fragte Etienne verwirrt zurück. Scarlett trat nervös von einem Fuß auf den anderen.

„Ich bin noch etwas… desorientiert.“

„Ah“, sagte Etienne verständnisvoll. Der Nachteil des Raumspringens. Das erklärte auch, wieso Scarlett sich nicht von der Stelle gerührt hatte oder das sanfte Wackeln ihres Körpers von einer Seite zur anderen. Sie würde wahrscheinlich links und rechts nicht auseinanderhalten können. Oder oben und unten. Etienne konnte sich nicht vorstellen wie furchtbar sich das anfühlen musste, sich auf seine Orientierungssinne schlagartig nicht mehr verlassen zu können. Aber jede Magie, angeboren oder nicht, hatte einen Preis und dieser hier war Scarlett zugeschrieben. Und Scarlett schien die Nachteile gut aushalten zu können.

51. Kontrahenten: Sich verewigen

 

„Es fühlt sich an, wie eine Ewigkeit, seit ich das letzte Mal hier war. Als Raffael und ich auf die Schule gekommen sind, haben wir uns mit den Anderen immer hierhin geschlichen. Wir wären beinahe rausgeschmissen worden. Das Gebäude steht schon seit einer Ewigkeit geschlossen. Seit dem gibt es einen Wachmann“, erzählte sie und Etienne meinte, Stolz aus ihrer Stimme herauszuhören.

Irgendwann hatte Scarlett die Führung wieder übernommen. Schon bald entdeckten sie den gelangweilten großgewachsenen breiten Mann, welcher singend den Gang mit schleifenden Schritten entlang schlenderte. Scarlett führte Etienne zu einer unverschlossenen Tür in einem anderen Flur und sie versteckten sich dort, bis er an ihnen vorbeigegangen war. Dann schlugen sie den Weg weiter zum Dach an. Als sie oben ankamen, traf Etienne der kalte Wind. Am Horizont erstreckte sich eine dunkle Wolkenfront. Es sah nach einem Gewitter aus, welches vom Meer zu ihnen herübergetragen wurde.

Während Scarlett direkt einige Abdeckplanen ansteuerte, sah Etienne sich um. Eine dunkelbraune und kahle Bäumefront erstreckte sich vor ihr. Hinter sich konnte sie das Hauptgebäude der Schule ausmachen. Es war deutlich höher. Der Turm, welcher mit dem Gebäude vor Jahrzehnten noch eine andere Funktion hatte, erstreckte sich hoch über ihr. Von dort würde sie nicht nur ganz Calisteo sehen, sondern auch weit hinter die Stadt blicken können. Die Höhe übte eine Faszination auf sie aus und das nächste Mal wollte sie dorthin.

Etienne lief an der halbhohen Wand entlang, welche sie an ein Mosaik erinnerte, gefüllt mit der Geschichte der vergangenen Jahre. Nur dass es nicht vergleichbar war mit dem Gebilde in Vheruna, welches sich über die ganze Front des Parlamentsgebäudes erstreckte und die Geschichte von der dunklen Stunde bis hin zum ersten Licht erzählte. Hier, bei dieser selbstgemachten Miniaturausgabe, entdeckte Etienne verschiedene selbstgemalte Bilder. Mache waren fürchterlich schlampig, andere mit viel Mühe und Detail. Aber sie alle waren bunt und hoben sich besonders von der grauen Wand und des grauen Gefühls des stürmischen Tages ab. In den Wänden war flache Beleuchtung eingebaut. Auch diese war mit Sprüchen und Namen bekritzelt. Etienne entdeckte auch den ein oder anderen Wunsch. Jemand hatte geschrieben, dass er Künstler werden wollte, ein anderer, dass er nach Vheruna und dort eine Schneiderei aufmachen wollte. Jemand anderes hatte Familie aufgeschrieben. Ein weiterer wollte reich werden. Etienne entdeckte weitere Sätze, überflog sie alle. Von besonderen Begehren zu kleinen Wünschen, alles war dabei.

Ein gefundenes Fressen für einen Djinn, dachte sie lächelnd.

Zwischen den Sätzen konnte sie auch Namen ausmachen. Sie entdeckte sehr schnell Scarletts Namen, sowie den von Raffael. Sie sah auch Keyens Namen. Zu ihrer Überraschung sah sie jedoch auch welche, den sie nicht erwartet hatte. Einer davon war der von Elias. Auch Valtin war dabei. Etienne sah zu Scarlett, welche unter der dreckigen, grünen Planen eine Kiste herauszog und öffnete. Neugierig ging sie zu ihr und sah ihr über die Schulter. Es waren diverse Gegenstände in der Kiste zu finden. Etienne entdeckte einige Notizhefte, welche sehr alt aussahen. Sie sah ein Plüschtier und Nagellack, einige Filzstifte.

„Was ist das?“, fragte sie und Scarlett zuckte zusammen. Etienne sah sie entschuldigend an.

„Habe ich mir über die Jahre hinweg zusammengesammelt.“

Sie hielt Etienne grinsend einen Filzstift hin und sprach weiter, „Willst du dich auch verewigen?“

Etienne schüttelte den Kopf, „Ich passe.“

Scarlett lachte, „Ah komm. Bisher haben sich fast alle überreden lassen. Du brichst eine richtig unwichtige Tradition. Außerdem könnte ich damit angeben, dass ein künftiger Herrscher mit mir hier oben war. Ganz allein. Die werden denken, ich wäre ganz wichtig.“

Etienne hob abwehrend die Hand, „Nein.“

Scarlett warf den Stift wieder in die Kiste, welcher klackernd von der Ecke zurücksprang und zwischen den Heften landete.

„Vielleicht änderst du ja irgendwann deine Meinung.“

„Hast du vor mich öfters hierhin zu bringen?“, fragte sie und kalter Wind wehte beinahe ihre Worte davon.

Scarlett setzte sich anders hin und zog die Kiste auf ihren Schoß, „So wie es aussieht, ja. Ich werde mal die Tage über schauen, inwiefern Halil vorhat, sich dich herauszupicken. Wenn er es auf dich abgesehen hat, dann werden wir uns öfters hier wiederfinden.“

Etienne unterdrückte es, das Gesicht zu verziehen. Sie konnte ihre Zeit nicht damit verschwenden, sich hier oben zu verstecken. Sie musste herausfinden, wie sie mit Meng oder Elias in Kontakt treten konnte.

„Habt ihr eure Namen auf die Lichter geschrieben.“

Scarlett nickte, während sie ein kleines, buntes Fläschchen herausholte und neben sich stellte, „Nachts haben hier früher die Lampen geleuchtet. Manchmal macht die Stadt das noch. Zum Neujahrsfest lassen wir sie aufleuchten. Dann heben sich die Namen vor dem Licht richtig schön ab. Vor allem, wenn es schneit, sieht es traumhaft aus. Warst du schon mal beim Fest?“

Etienne schüttelte den Kopf, „Nein. So lange werde ich aber auch nicht bleiben.“

Scarletts Augen wanderten zu ihr und sie grinste, „Wir werden sehen. Falls aber doch, dann schreibst du deinen Namen auf.“

Etienne lächelte und antwortete ihr nicht. Scarlett wartete auch keine Antwort ab, sondern wandte sich wieder ihrer Kiste zu.

Die Notizbücher lagen achtlos neben ihr. Etienne war neugierig, was sie drin lesen würde.

Scarletts Handy klingelte erneut. Sie schnalzte mit der Zunge und sah wieder auf das Display, „Er will aber auch nicht aufgeben.“

Sie drückte ihn erneut weg und schrieb einen Text.

„Also, Etienne“, fing Scarlett zu sprechen an und warf ihr einen neugierigen Blick zu, „Wie findest du es hier in Calisteo bisher?“

„Ganz nett für ein paar Tage, aber ich persönlich würde mich hier nicht niederlassen.“

„Wie schade“, sagte Scarlett, „dabei ist es eigentlich eine solch ruhige kleine Stadt. Zumindest im Vergleich zu den anderen. Hab ich gehört.“

Sie kramte ein weiteres, diesmal grünes, Fläschchen aus der Kiste und legte es zur Seite neben das braune.

„Warst du schon mal in einer anderen Stadt?“, fragte Etienne. Sie zweifelte es an.

„Nein“, sagte Scarlett kopfschüttelnd, „Aber ich will irgendwann nach Vheruna. Es war schon immer mein Traum, dort zu leben.“

Etienne lächelte. Wenn Scarlett vorhätte, in Vheruna in die Politik einzusteigen, dann konnte sie sich auf was gefasst machen. Vheruna war politisch gesehen der Inbegriff eines Schlachtfelds. Es war eine große, wohlhabende Stadt und wie Calisteo, war sie neutral. Damals, als die alte Welt zusammengebrochen war, war sie der Zufluchtsort für all die Menschen, die versucht haben die Monster zu überleben. Blue Moon hat über sie geherrscht, bevor sie im Angesicht der Spaltung zur vollständigen Neutralität übergegangen und Blue Moon zurückgetreten war. Aber die historische und politische Relevanz von Vheruna war noch immer so immens, dass die anderen Familien versuchten, Einfluss auszuüben. Vor allem da der Rat, welcher dem Herrscher unterstand, in regelmäßigen Abständen neu gewählt wurde. Es ab viele offene und verborgene Kämpfe. Den Überblick über all das Geschehen zu behalten, schien beinahe unmöglich. Dennoch, schien es dem aktuell amtierenden Herrscher zu gelingen.

„Wird schwer nach Vheruna zu kommen, wenn du eine Provinz zu regieren hast“, sagte Etienne.

Scarlett zuckte mit den Schultern, „Wird schon klappen. Vor allem, wenn wir sowieso bald abgelöst werden.“

„Was willst du dort machen?“, fragte Etienne weiter nach, „Schneiderin werden?“

Scarlett blickte überrascht zu ihr hoch, „Woher weißt du das?“

Etienne lächelte, „Habe nur geraten.“

Scarlett sah sie aus zusammengekniffenen Augen an und Etienne merkte, wie sie nachdachte. Nach einem Moment sah sie zu der Wand hinter Etienne und dann lächelte sie, „Geraten? Hätte nicht gedacht, dass du dieses alte Gekritzel siehst. Das steht da schon seit Jahren. Aber du hast recht. Ich habe tatsächlich vor, eine Schneiderei zu eröffnen. Ich lerne bei Alberto das Handwerk, schon seit Jahren. Und ich hoffe, dass ich es für den Rest meines Lebens machen kann.“

Scarletts Augen schienen zu leuchten und Etienne trat unangenehm von einem Fuß auf den anderen. Sie verstand nicht, wieso Menschen eine Obsession über einfaches Handwerk ausbildeten.

„Dieser mürrische Mann hat einen Schüler?“, fragte sie dann, mehr gezwungen, irgendetwas zu erwidern, als wirklich eine Antwort zu wollen.

Scarlett lachte, „Du hast ja gar keine Ahnung, was ich alles durchmachen musste, um ihn zu überzeugen, mich zu unterrichten. Ich hab zunächst nur bei ihm gearbeitet und das Atelier sauber gehalten. Und dann bin ich ihm jahrelang bettelnd hinterhergelaufen. Er konnte mich nicht rausschmeißen, weil hinter diesem grummeligen alten Mann ein weiches Herz steckt und er es niemals über sich gebracht hätte, eine Weise vor die Tür zu setzen, dessen Adoptivfamilie noch dazu nicht sonderlich wohlhabend war. Also hat er sich das angehört, bis er aufgegeben hat.“

Etienne hätte über die freche Art und Weise gelacht, wenn Scarlett sie nicht plötzlich erwartungsvoll angeschaut hätte.

52. Kontrahenten: Emotionsgewalt

 

„Welche Farbe willst du haben?“

Etienne blinzelte verwirrt, überrascht von der Frage. Es gab ein helles Grün und ein mattes Braun.

„Ich glaube nicht, dass wir die Zeit dafür haben“, warf sie ein.

„Für eine Hand wird’s reichen“, erwiderte Scarlett grinsend.

Für einen Moment herrschte Leere in ihrem Kopf. Sie starrte die zwei Farben an und war sich nicht sicher, was sie Scarlett antworten sollte. Sie wusste, wofür das war. Ihre Tante nutze einige davon. Ebenso wie ihre Stiefmutter und ein Teil der anderen Frauen in ihrer Familie. Sie nutzten diesen jedoch nicht, um schöne Nägel zu haben. Zumindest nicht nur.

„Hast du das schon mal gemacht?“, fragte Scarlett sie.

Etienne schüttelte zögerlich den Kopf. Sie gehörte nicht zum Teil der Familie, der das machte.

„Na dann wirds Zeit für ein erstes Mal. Welche Farbe magst du?“, sie schüttelte die Fläschchen, „Das Grüne passt zu deinen Augen, das Braun ist eher etwas dezenter.“

Ihr Mund sprach schneller, als sie denken konnte, „Braun.“

Sie trat zur Scarlett und setzte sich vor sie, wunderte sich, was sie da eigentlich tat. Scarlett legte das eine Fläschchen weg und schüttelte das andere ausgiebig. Sie schraubte den Deckel auf und betrachtete die Farbe, „Es ist ganz schön alt.“

„Wie wurde das hergestellt?“, fragte sie zögerlich, „Aus Öl?“

Die Basis für fast alles.

Scarlett schnaubte, „Aus ein paar Kartoffeln, Mais und einigen Eisenerzen, dessen kleine Mengen ich mir damals von meinem Nachbarn hab mitbringen lassen. Keyens Vater arbeitet in einer Mine, dort hat er mir einige Krümmel mitgebracht. Niemals könnten wir es uns leisten, das Erdöl dafür zu verwenden. Die wenigen Mengen, die wir haben, nutzen wir hauptsächlich für die Maschinen. In Vheruna machen sie es anders, oder? Ich habe gehört, sie haben eine Fabrik aufgebaut, welche es verarbeitet und sie bekommen daraus ganz viele verschiedene Sachen aus denen sie ganz viele verschiedene andere Sachen machen. Leider muss ich dich enttäuschen, bei mir gibt es Nagellack nur aus Kartoffeln.“

„Also“, meinte Etienne langsam und versuchte das Gespräch zurück zum für sie Wichtigem zu lenken, „du hast vor nach Vheruna zu gehen. Das bedeutet, du und Raffael habt vor, den Job an mir abzuschmieren und die Stadt zu verlassen.“

Scarlett schaut kurz zu ihr hoch, nahm dann ihre Hand in ihre etwas kalten Finger und fing an, ihre Fingernägel mit der braunen Farbe zu bemalen.

„Es ist nicht ganz so einfach. Ich werde früher oder später auf jeden Fall von hier verschwinden. Eigentlich war mein Plan, nach dem Abschluss loszuziehen. Aber da Raffael nun Herrscher ist, will ich ihn damit nicht alleine lassen. Ich muss zugeben, ich war sehr aufgeregt zu hören, dass er abgelöst werden sollte. Sollen sich doch die Erwachsenen darum kümmern, welche es in den letzten Jahren nicht gebacken bekommen haben, uns vor dem Monster zu schützen.“

Etienne konnte die Ernüchterung in ihrem Gesicht ausmachen, während Scarlett sich auf ihre Tätigkeit konzentrierte. Sie war sicherlich enttäuscht gewesen, Etienne im Château vorzufinden. Vor allem Raffael musste sich die Haare raufen. Etienne war sich sicher, dass er die Herrschaft nicht einfach so abgeben würde, zumindest nicht ohne Vorkehrungen getroffen zu haben. Und sie konnte sich sehr gut vorstellen, dass er den Stein gegen sie verwendete, um sich Zeit zu verschaffen, die nötigen Vorkehrungen zu treffen. Stellte sich die Frage, welche genau es waren.

„Und was hat er vor, wenn er nicht mit dir nach Vheruna gehen wird? Ihr zwei scheint einander sehr nahe zu sein.“

Scarlett zuckte mit den Schultern, „Ah, er wird diese Stadt nicht verlassen. Das ist mir genauso klar, wie es ihm klar ist, dass ich nicht hier bleiben werde. Aber das macht nichts. Wir können uns auch aus der Ferne unterstützen. Und was ist schon eine kleine Reise von Vheruna nach Calisteo, wenn ein geliebter Mensch mal Hilfe braucht?“

Etienne lächelte. Mit dem Zug würde es eineinhalb Tage dauern. Und es würde teuer werden. Die Gleise für diese lange Reise mussten instand gehalten werden, was in der gefährlichen Wüste, welche zwischen Calisteo und dem Rest der Welt lag, eine große Herausforderung war. Dafür mussten die Reisenden zahlen. Einer der Gründe, weshalb Calisteo es wirtschaftlich nicht einfach hatte.

„Wieso habt ihr die Herrschaft übernommen, wenn ihr sie nicht wolltet?“, fragte Etienne. Sie wusste von Tatinne, dass die beiden eher reingeschlittert waren, als das sie es wirklich gewollt hatten.

Scarlett machte ruhig weiter und widmete sich dem nächsten Fingernagel. Etienne bemerkte jedoch, wie ihre Schultern sich anspannten und ihr Lächeln aus dem Gesicht verschwand. Die Glocke läutete, doch Scarlett merkte es nicht. Sie atmete tief durch, blickte noch immer starr auf Etiennes Hand, als wäre sie nicht in der Lage zu ihr hochzuschauen. Etienne konnte in ihrem Gesicht Scham ausmachen, gemischt mit Angst.

„Es war einfach eine komische Zeit“, sagte sie schließlich, noch immer in einer ruhigen Stimme, welche nicht zu dem Ausdruck in ihrem Gesicht passte. Etienne merkte sich diesen. Vielleicht würde sie ihn bei Raffael auch sehen. Und wenn er es zu verstecken versuchen würde, dann wusste sie, worauf sie achten konnte. Es war erstaunlich. Die beiden waren sich ähnlich. Es war offensichtlich, dass sie verwandt waren. Aber Scarlett war viel leichter zu lesen, als Raffael.

„Hattet ihr keine Wahl?“, fragte Etienne weiter nach. Sie wollte Scarlett fragen, ob Halils Kommentar etwas damit zu tun hatte. Aber sie konnte sich nicht überwinden. Sie erinnerte sich an den verletzten Blick von ihr und entschied, dass es noch nicht notwendig war.

Scarlett seufzte, als sie den letzten Finger vornahm, und sagte, „Nexim und seine Frau Alva waren furchtbar gewesen. So sehr ich diesen Job hier hasse, ich würde ihn nochmal machen, solange diese beiden weg sind. Sie und ihre kleinen Speichellecker, welche unsere Provinz terrorisiert haben. Einige von ihnen versuchen es noch immer, aber es sind weniger geworden. Es gab so einige gute Menschen, die nur allzu bereit waren sich für das Gute einzusetzen. Für unsere Freiheit. Und als wir die Chance dazu hatten, haben sie die Chance auch ergriffen. Nun sind wir mehr gute Menschen, als schlechte.“

„Haben die schlechten gestern Nacht zufällig etwas in die Luft gesprengt?“, fragte Etienne nach.

Das entlockte Scarlett ein tiefes Seufzen und nun konnte Etienne Wut in ihren Augen sehen. Ein Funken, den sie am Vorabend bei Raffael ähnlich beobachtet hatte. Doch während Raffael die Wut hinter einem Lächeln versteckt hatte, schien Scarlett sie in all ihrem Sein nach Außen zu tragen. Ihre Wangen färbten sich rot vor Aufregung, die Augen sahen aus, als würden sie Funken sprühen.

Sie sah nun zu Etienne hoch, während sie das Fläschchen wieder verschloss, „Es gibt noch immer einige betrübte Loser, welche sich in Banden zusammengeschlossen haben. Nun terrorisieren sie weiter und denken, dass sie damit Gehör bekommen. Es ist leider nicht ganz unwirksam“, fügte sie dann säuerlich hinzu, „Das Hauptproblem sind die anderen Provinzen. Auch nach Gilgians Machtübernahme, haben sich viele Persönlichkeiten, welche bei der Leitung der Provinz beteiligt waren, gegen ihn gewandt. Wir vermuten, dass sie zusammenarbeiten, dafür gibt es ein paar Indizien. Es ist dann nie ganz klar, wer aus welcher Provinz welche andere Provinz angegriffen hat. Vor zwei Jahren hätte das noch für einen großen Kampf gesorgt. Raffael und Gilgian haben sich aber verständigen können, wahrscheinlich diskutieren sie noch mit den Anderen um die Folgen des Angriffs und wie künftig damit umzugehen ist.“

„Was ist mit eurem Stadtwächter?“, fragte Etienne und Scarlett sah sie verständnislos an.

Plötzlich richtete sie sich stocksteif auf und sah Etienne schweigend an. Ihre Augen wurden groß vor Sorge und sie fragte, „Hat es schon geklingelt?“

Etienne zuckte lächelnd mit den Schultern, „Ich bin mir nicht sicher.“

Es war schon beinahe witzig. Scarlett trug jede Emotion in ihrem Gesicht. Von Scham zu Wut zu Panik, alles war deutlich zu sehen und so ausdrucksvoll, dass an der Emotion nicht gezweifelt werden konnte. Scarlett war sicher fürchterlich bei Kartenspielen.

Scarlett sprang auf, „Verflucht. Das tut mir leid, mir ist das gar nicht aufgefallen.“

Etienne beobachtete sie dabei, wie die Sachen wieder in die Kiste packte. Während sie die Kiste dann erneut unter der Plane verstaute, blickte Etienne zu ihrer Hand. Der Lack war sauber an ihren kurzen Nägeln aufgetragen, die Farbe war dezent. Es sah hübsch aus, als das Tageslicht reflektiert wurde

„Gefällt es dir?“, fragte Scarlett auf einmal und Etienne blickte zu ihr hoch. Auf Scarletts stolzen Blick hin strahlte Etienne sie breit an.

„Natürlich. Du bist sehr gut darin“, sagte sie, ohne zu wissen, was sie sonst sagen sollte.

Scarlett hob eine Braue und betrachtete sie forschend. Etienne grinste sie weiterhin breit an, wartete, bis Scarletts Interesse über Etiennes Reaktion zu ihrer Hand nachließ.

„Na komm“, sagte Scarlett, „beeilen wir uns. Ich werde die Schuld auf mich nehmen. Du hast heute schon genug Ärger abbekommen. Und lass uns bitte bei der vorderen Tür reingehen, dann finde ich nach dem Sprung den Platz leichter.“

Etienne stand auf und diesmal warnte Scarlett sie, bevor sie mit ihr von dem Dach zu dem Klassenzimmer verschwand.

53. Kontrahenten: Ein offenes Fenster

 

Meta wachte auf und dachte, ihr Körper wäre verschwunden. Als wäre sie untergegangen in Staub und Münzen, welche sie verschlungen und nach und nach zerbröselt haben, bis sie selbst zu Staub und Münzen wurde.

Als sie sich aus dem Bett schälte, spürte sie den Muskelkater des vergangenen Tages und Erleichterung durchströmte sie. Keine kalten Münzen, kein mehliger Staub. Nur sie und ihr Körper. Sie legte den Kopf in die Knie und atmete tief durch. Ihre Hände zitterten. Und dann war diese eine kleine Stimme in ihrem Kopf, welche ihr zuflüsterte und ihr sagte, dass etwas gewaltig schiefgelaufen war.

Sie konnte sich nicht daran erinnern, wie sie in die Position gekommen war, in der sie nun war. Stetig hatte sie brav alles erfüllt, was andere Menschen ihr vorgesagt haben. Sie war gehorsam ihrem Vater gegenüber und der Nanny, welche sich immer um sie gekümmert hatte. Sie hat Gilgian mit offenen Armen im Haus willkommen empfangen, nachdem seine Eltern tragisch verschwunden waren. Und sie war für ihn da gewesen, als er klein und hilflos schien. Ein Lachen erreichte ihre Kehle, drang aber nicht aus, als sie sich den acht jährigen Gilgian vorstellte, welcher damals noch kleiner war, als sie selbst. Er hatte eine große Brille getragen und anstelle eines Teddybären, welchen sie immer bei sich hatte, hatte er ein Buch in der Hand gehabt. Er hatte so viel gelesen. Jetzt, wo sie zurückblickte, merkte sie auch, wie sonderbar seine Veränderung war. Seine angeborene Fähigkeit war das Versteinern, aber nicht zu einem Riesen heranzuwachsen, welcher mit Leichtigkeit Steine zerschmettern konnte. Nichts hatte ein Indiz dafür gegeben, dass seine Veränderung aus seinem Inneren heraus kam. Und sie konnte sich noch so so gut daran erinnern, unter welchen Schmerzen er gelitten hatte. Der Arzt hätte gemeint, dass er so schnell wächst, dass seine Knochen nicht immer mitgekommen waren. Er hatte nicht selten Brüche zu behandeln.

Meta ließ sich wieder ins Bett fallen. Ihr Zimmer war klein. Sie liebte es. Alles, was sie brauchte, war hier drin. Ein Bücherregal, ein Schreibtisch, ein Bett. Sie hatte mehr als die meisten Menschen in ihrer Provinz. Aber sie fühlte sich, als hätte sie nichts. Wollte ihr Vater wirklich Gilgians Körper übernehmen? War das sein Ziel gewesen, sich so ein ewiges Leben zu sichern, nur mal kurz die menschliche Hülle wechseln und dann weiter machen wie bisher. Sie hatte immer Angst gehabt, dass er ohne ihre Mutter nicht leben wollen würde. So viele Klageschreie waren durch ihr damaliges Haus gerufen worden, Nacht für Nacht, Tag für Tag. Wollte er sein Dasein ohne sie weiterführen? Wollte er nach einer Möglichkeit suchen, sie zurückzuholen? In die Welt der Lebenden? Meta konnte sich noch so gut an den warmen Schein erinnern, den ihre Mutter immer über sie gelegt hatte. Ihre Liebe war zu spüren, wie die Hitze eines Feuers, welches leidenschaftlich brannte.

Meta richtete sich wieder auf und ging ans Waschbecken. Wusch ihr Gesicht, rieb sich müde die Augen. Sie wollte nicht aufstehen, ihre Beine weigerten sich. Dennoch konnte sie nicht den ganzen Tag im Bett verbringen.

Als sie sauber angekleidet und müde aus dem Zimmer trat, sah Gilgians Tür an der Wand ihr gegenüber. Sie starrte diese eine Weile an, wollte anklopfen und hineingehen und sich vergewissern, dass es ihm gut ging. Aber wenn er schlief, dann wollte sie ihn nicht wecken. Und wenn er wach war, dann wollte er bestimmt durchatmen und seine Gedanken sortieren. Was sollte sie überhaupt sagen? Sich schon wieder entschuldigen? Sie seufzte leise und ging weiter. Folgte dem Geruch von frischem Brot am frühen Morgen. Auch Kaffee konnte sie riechen, der einzige Luxus, den Gilgian sich gewährte. Sie selbst mochte Früchtetee viel lieber. Erdbeerstücke, Hibiskus, Rooibos und einige Orangenschalen. Nichts beruhigte sie mehr als der süße Geruch, welcher sich langsam durch das ganze Zimmer ausbreitete.

Was waren die Pläne ihres Vaters für sie gewesen? Wollte er sie als Tochter weiter in seiner Nähe haben? Oder hatte er sie komplett vergessen, wie damals auch, als Gilgian in ihr Haus kam. Existierte sie überhaupt für ihn?

Sehr gut gemacht, kleiner Sternenschein, hörte sie seine Stimme in ihrem Kopf geistern. Ihre Mutter war immer der Sonnenschein, Meta war der kleine Stern, welcher auch zum Sonnenschein heranwachsen sollte. Sie ist es nur nicht. Er hatte sie so oft gelobt, bevor ihre Mutter verstorben war. Ab und zu hat er es auch noch nach ihrem Tod und sie konnte sich noch gut daran erinnern, wie sie nach jedem Fünkchen Aufmerksamkeit lechzte und sich noch Monate lang daran erinnert hatte, wenn es denn mal vorkam. Sie konnte sich noch heute an all die Momente erinnern, es waren vielleicht zwei Handvoll.

Sie trat zu dem bedeckten Tisch, wurde liebevoll aber neutral von den Bediensteten gegrüßt. Sie hassten Meta nicht, waren aber auch nicht sonderlich entgegenkommend und kommunikativ ihr gegenüber.

Meta setzte sich hin. Es war alles wie immer, aber nichts fühlte sich wie immer an. Sie war anders. Ihre Angst war neu. Ihr Hass gegen sich selbst war neu entflammt. Sorge, Trauer, Orientierungslosigkeit. Zu viele Gefühle und zu wenig Verständnis sich selbst gegenüber.

Meta schielte hoch zu der älteren Dame. Ihre Nanny war irgendwann verstorben und Meta vermisste sie fürchterlich. Immer wieder dachte sie an sie und jedes Mal endeten ihre Gedanken darin, ob sie denn nicht von ihrem Vater umgebracht worden war. Aber vielleicht war es ja gar nicht ihr Vater. Was, wenn das ganze Geschehen eingefädelt wurde, von den Menschen, die er getroffen hat. Würde diese Theorie aber zeitlich überhaupt aufgehen?

Als sie an ihrem Tee nippte, verbrannte sie beinahe ihre Zunge. Schwere Schritte und schmerzerfülltes Ächzen ließ sie aufblicken. Gilgian, voll angekleidet und mit grauem Gesicht, trat gerade hinunter.

„Was machst du denn so früh hier?“, fragte sie. Sie selbst hatte genug Albträume hinter sich, dass sie nicht noch länger im Bett liegen bleiben wollte. Aber er musste sich ausruhen.

„Irgendein Arsch hat gestern Nacht in unserer Provinz einen Wassertank hochgejagt. Rate mal, mit wem ich mich jetzt abgeben muss“, sagte er schlecht gelaunt.

Sie wollte protestieren, presste aber schweigend die Lippen zusammen. Es führte nichts daran vorbei, er musste sich mit den anderen treffen. Besser, als wenn der fragile Frieden auf einen Schlag zusammenbrechen würde.

Seine Augen trafen die ihren und er sah sofort weg. Das versetzte ihr einen schmerzenden Stich. Sie senkte den eigenen Blick auf die dampfende Tasse. Der süße Geruch beruhigte sie diesmal nicht.

„Lass uns reden, wenn ich später wieder komme“, sagte Gilgian auf einmal. Sein Gesicht drückte Aufrichtigkeit und Entschlossenheit aus. Aber zeitgleich sah sie eine Unsicherheit, die ihr bei ihm noch nie aufgefallen war.

„Willst du das wirklich?“, fragte Meta nach, „Du sollst nicht meinetwegen schmerzliche Erinnerungen wieder hervorholen.“

Er schnaubte lächelnd, „Du bist die Letzte, die sich darum sorgen sollte. Und es ist mal an der Zeit, dass wir uns einige Dinge vom Herzen sprechen. Du und ich. Wir haben das schon sehr lange nicht mehr gemacht.“

Eine Welle frischer Luft wehte durch das Zimmer. Meta merkte aus dem Augenwinkel, dass ein Fenster offen stand.

„Sehr gerne“, sagte sie an ihn gewandt, „Ich würde mich freuen.“

Giglian lächelte schwach und zog dann seine Jacke an. Elfried, der Fahrer, welcher seit Generationen für die Familie arbeitete, stand abwartend an der Tür und begleitete Gilgian hinaus. Und sie war schon wieder allein. Aber sie fühlte sich nicht mehr ganz so allein wie am Morgen.

54. Kontrahenten: Ein unerwarteter Besuch

 

Gilgian knurrte und gab einen Fluch von sich, als er lautes Rufen und das Bellen von Befehlen seiner Sicherheitsmänner im Flur hörte. Auch Meta warf einen verwunderten Blick Richtung Tür. Dabei hatten sie solch einen ruhigen Abend gehabt.

Mit Mühe stand er auf und stapfte zur Tür, welche er aufriss und Etienne im Gang mit einigen seiner Wachmänner ringend vorfand. Er wurde sich für einen Moment unsicher, ob seine Leute so nachlässig waren, dass sie Etienne so weit in sein Anwesen haben eindringen lassen oder ob sie sich unsicher waren, eine junge Frau von seiner Schule durchzulassen und im letzten Moment gekniffen haben.

„Was zur Hölle machst du da?“, fragte er.

„Ich wollte euch besuchen“, sagte Etienne lächelnd.

„So?“, fragte Gilgian knurrend nach. Dann schickte er seine Leute zurück auf ihren Posten. Kurz überlegte er sich, dieses Balg wegzuschicken, doch dann dachte er an das Gespräch mit Meta und dachte, dass sie sich vielleicht freuen würde, sie zu sehen. Er ging zurück in sein Zimmer und spürte, wie Etienne ihm folgte. Meta saß auf einem Stuhl und sah verwirrt zu ihnen hinauf, „Etienne?“

„Hallo Meta! Wie geht es dir?“

„G-gut“, antwortete sie überrascht. Nachdem Gilgian sich am Morgen zu einem Treffen mit den Anderen geschleppt hatte, um über die Ereignisse der gestrigen Nacht in der Stadt zu sprechen, hatte er den ganzen Abend damit verbracht, sich mit Meta zu unterhalten. Gilgian war aufgefallen, dass es das erste Mal seit langem war. Eine ausnahmsweise gute Auswirkung von der gestrigen Wahnsinnstat der verrückten Neuen.

„Ich habe euch was zu essen mitgebracht. Ich hoffe, es schmeckt euch“, Etienne hob die weiße Tüte hoch und Gilgian nahm sie entgegen.

„Was willst du?“, fragte er dann.

„Nur meine Klassenkameraden besuchen“, sagte Etienne strahlend, „Ist daran etwas verkehrt?“

„Es ist unüblich“, erwiderte Gilgian und gab Meta ein Päckchen des Essens. Meta schaute zunächst ganz überfordert. Genauso wenig wie er war auch sie je in dieser Position gewesen. Ein Besuch von jemandem Fremden. Für die längste Zeit waren sie nur untereinander gewesen und Gilgian hatte gedacht, dass das so passen würde. Doch nach ihrem Gespräch fragte er sich, ob es auch wirklich das Richtige für sie gewesen war.

Metas Lippen verzogen sich zu einem schüchternen Lächeln und ein Stich ging ihm durchs Herz. Er brauchte nicht viele Menschen in seinem Leben und er hatte gedacht, bei ihr wäre es genauso. Aber sie war wahrscheinlich einsamer, als er es wahrgenommen hatte.

Gilgian setzte sich auf sein Bett und beobachtete aus schmalen Augen, wie Etienne durch das große Zimmer ging und sich umsah. Bei dieser Neugierde wunderte es ihn nicht, dass sie geradewegs in das alte Haus der McClaines gegangen war. Das würde sie aber nicht noch einmal machen. Diesmal würde er nicht davon überrumpelt werden. Er war sich sicher, dass Etienne gezielt auf Meta zugegangen war. Und Meta hatte solch ein schlechtes Selbstwertgefühl, dass sie leicht zu überzeugen war, wenn man nur genug auf die Tränendrüse drücken würde. Das bedeutete nicht, dass sie unbedingt Mitleid mit den Menschen hatte. Sie wollte nur nützlich sein. Immerhin war das etwas, was er sicher über sie wusste.

„Das wundert mich irgendwie nicht“, sagte Etienne und riss ihn aus seinen Gedanken, „ihr seid alle nicht sonderlich hilfsbereit einander gegenüber.“

Sie trat an seinen Schreibtisch und betrachtete das Durcheinander aus Papieren. Gilgian ließ das Meiste die Menschen machen, die sich schon seit Jahren um die Provinz gekümmert hatten. Doch es gab leider noch immer Angelegenheiten, um die er sich nicht drücken konnte. Aber seine einzig wahrhaftige Aufgabe bestand darin, darauf zu achten, dass keiner Meta oder ihm in den Rücken fiel.

Soll sie nur schauen, dachte er dann. Es war nicht so, dass er Geheimnisse haben musste. Er hatte seinen Leuten gut genug demonstriert was passieren würde, wenn ihn jemand hintergehen würden. Und wenn dieses Balg die Herrschaft über alle Provinzen übernehmen sollte, konnte sie sich schon mal mit den nervigen Angelegenheiten vertraut machen.

„Offensichtlich sind wir alle keine Freunde“, erwiderte er.

Sie schnaubte lächelnd, „Das habe ich gemerkt. Heute ist ein Halil in der Klasse aufgetaucht.“

Gilgian spürte, wie ein wütendes Gefühl sich in seiner Brust ausbreitete. Er war so sehr mit den anderen Problemen beschäftigt, dass er vergessen hatte, dass es auch noch diesen Ärger gab, welcher immer unterschwellig in der Schule lauerte.

„Oh nein“, höre er Meta besorgt sagen, „Wurde Anaki verletzt?“

Das fragte er sich auch. Er mochte Anaki nicht unbedingt, aber er wertschätzte ihn. Er war ein ruhiges Gleichgewicht in dieser nervenaufreibenden Klasse. Und er gab ihm nie das Gefühl, dass er ihn hinterrücks angreifen würde.

„Ja“, sagte Etienne, „Aber ich bin mir nicht sicher, wie schlimm es ist. Nachdem ich ihn im Krankenzimmer abgeliefert habe, habe ich ihn nicht mehr gesehen.“

Gilgian knurrte, „Halil ist ein hinterhältiger Spinner. Er hat wahrscheinlich mitbekommen, dass keiner von uns da war. Wie ist Anaki so glimpflich davon gekommen?“

Sie hob die Hand und zog einen schwarzen Umschlag unter den Papieren hervor. Kurz sprang Gilgian der Gedanke durch den Kopf, wie dreist sie war. Bevor er das sagen konnte, ergriff sie jedoch das Wort, „Ich hab ihn mit Catjill erschreckt. Und dann sind Anaki und ich zur Krankenstation.“

Gilgian sagte für einen Moment nichts. Er blickte kurz zu Meta, welche mit einem schockierten Gesichtsausdruck zu Etienne sah. Sie war blass geworden und er konnte es verstehen. Dennoch, er selbst fing zu lächeln an.

„Du hast dich mit Halil angelegt?“, fragte Gilgian und Genugtuung breitete sich in ihm aus, „Ich glaube, ich kann dir nun den gestrigen Tag verzeihen.“

Etienne sah zu ihm und strahlte ihn dann an, „Darf ich das haben? Ich mag die Muster und sammle neuerdings besondere Umschläge.“

Sie hob den Umschlag und er konnte sich nicht weniger um ihn kümmern.

„Nur zu“, sagte er grinsend.

Sie steckte ihn schnell in ihren Rucksack und antwortete, „Wie kommt es, dass du dir bei Anaki Sorgen machst, während du dir bei mir regelrecht zu freuen scheinst?“

Gilgian widmete sich wieder dem Essen zu, „Du weißt wieso.“

„Etienne, du hast so viele Wunden von gestern mitgenommen. Selbst dein Bein scheint es abbekommen zu haben. Es ist eine furchtbare Idee, mit Halil zu kämpfen“, sagte Meta und ihre besorgte Stimme trübte Gilgians Freude. Säuerlich blickte er zu ihr und entdeckte die Sorge auf ihrem Gesicht.

Er sah wieder zu Etienne, welche zum Fenster ging. Es stimmte, sie hatte tatsächlich eine Bandage mehr gehabt, als am Vorabend. Ihr Bein war unten verbunden und er fragte sich, wieso ihm das nicht aufgefallen war.

„Oh, bitte sprich mich nicht auf meine Wunden an“, sagte sie seufzend, „Ich würde Tatinnes Behandlung gerne wieder vergessen.“

Sofort wanderten seine Gedanken wieder zu dieser alten Schachtel zurück. Es schauderte ihm.

Etienne öffnete die Vorhänge und sah hinaus. Nach einem kurzen Moment rief sie aus, „Wie cool! Von deinem Zimmer aus kann man zum Eingang des Hauses sehen. Und direkt nebenan ist der kleine Turm. Ich hab ihn von draußen gesehen. Die Aussicht muss fantastisch sein.“

Gilgian nahm wieder das Essen zu sich. Er wollte mit ihr nicht darüber reden. Das war ursprünglich das Haus seiner Eltern gewesen. Es war kleiner, als das von Meta, aber er fand es auf eine natürliche Art und Weise sicherer. Durch sein Zimmer konnte er in den Turm und entweder nach ganz oben oder nach unten zu einem weiteren, versteckten Ausgang gelangen. Und er konnte immer ausmachen, wer sich zu seinem Haus bewegen wollte.

„Etienne“, sagte Meta, „Vielleicht solltest du die Provinz für eine Weile wechseln.“

„In meine kommst du nicht“, sagte Gilgian direkt. Meta warf ihm einen verärgerten Blick zu und er zuckte ihr grinsend mit den Schultern entgegen. Wenn es Meta wirklich wichtig wäre, dann würde er es erlauben.

„Nicht nötig“, sagte Etienne, „Das wäre aktuell für mich nicht tragbar.“

Gilgian sah Metas enttäuschtes Gesicht. Die Sorge war ihr noch immer anzusehen.

„Wieso bist du eigentlich hier?“, fragte Gilgian und wechselte das Thema. Es war kein kurzer Weg von der Schule zu seinem Zuhause. Und da sie nicht sehr wohlhabend aussah, konnte sie nicht die wenigen Busse genutzt haben, um über die Hauptstraßen zu ihnen zu kommen. Wahrscheinlich war sie gelaufen. Oder eher gejoggt, wenn er die Uhrzeit bedachte. Vielleicht hat sie sich ein Pferd gemietet?

Sie drehte sich mit einem entschuldigendem Lächeln zu ihnen um, „Ich habe gestern Abend noch mal einen kurzen Abstecher zu dem Haus gemacht.“

Gilgian spürte, wie die Wut sich in ihm regte. Heftig.

55. Kontrahenten: Über Durcheinander, Magie und Religion

Gilgians Augen wanderten unweigerlich zu ihr und er war bereit, sie dafür zu bestrafen, dass sie sich in sein Revier und in seine Angelegenheiten weiter einmischte. Er spürte Metas Hand an seinem Oberarm und versuchte die Wut zu unterdrücken. Etienne sprach weiter, „Ich bin nicht reingegangen. Ich war nur unsicher wegen den ganzen Flüchen und der ganzen Magie des Geistes, die bei unserem Aufenthalt aufgewirbelt wurde, dass ich nur nachschauen wollte, ob das langfristige Auswirkungen hat.“

„Und was hast du festgestellt?“, fragte er knurrend. Er hatte mit Meta nur angeschnitten, was sie mit dem Haus machen wollten. Weiter waren sie nicht gekommen, als Etienne aufgetaucht war. Aber an erster Stelle sollte die Reinigung des Hauses von gefährlichen Wesen stattfinden. Er hatte sich schon lange nicht mehr wie ein kleines Kind gefühlt, als wie gestern, als Tatinne ihn wegen dem Crawling auseinander genommen hatte.

„Es ist alles sehr durcheinander. Ich habe meine Vermutungen, wie es dazu gekommen ist, kann aber nichts davon konkret bejahen oder verneinen. Es sieht aber so aus, als würden Flüche und Magie miteinander konkurrieren.“

„Das bedeutet?“, schnitt er ihr leise ins Wort, noch immer wütend.

Sie blinzelte kurz, legte den Kopf schief, als würde sie nachdenken und erklärte dann, „Jeder verfluchte Gegenstand und einige magische Gegenstände brauchen es, dass man sie auf eine bestimmte Art und Weise versiegelt. Wenn dies nicht passiert, dann fängt ihre Magie zu sickern an. Sie tritt aus und in den meisten Fällen fängt der Gegenstand zu wirken an. Wenn jetzt nicht ein Haufen anderer Gegenstände in der Nähe sind, welche unter Umständen genauso mächtig sind, dann fangen sie zu konkurrieren an. Man kann sich das so vorstellen, dass sie anfangen einander und alles andere, was magisch ist, zu verschlingen. In eurem Haus findet gerade ein Festmahl statt. Bleibt abzuwarten, was übrig bleibt.“

„Vorher war nichts davon aktiv. Wieso sollte da auf einmal ein Kannibalismus stattfinden?“, fragte er und fühlte sich von ihr veräppelt.

Sie antwortete ihm, ohne sich beirren zu lassen, „Ich glaube nicht, dass es so war, dass sie nicht aktiv waren. Es war nur für eine Weile keiner da, um es zu beobachten. Das ist das eine. Das andere ist, dass dein Onkel sehr zielgerichtet am gestrigen Tag die Gegenstände aktiviert hatte. Wenn er eines davon erwischt hat, welches in sich besonders mächtig ist, dann kann es gut sein, dass die ausströmende Magie ausreicht, um die Siegel der anderen Gegenstände zu brechen. Siegel sind eine bestimmte Form von Segen … oder eine bestimmte Form von Flüchen, je nachdem, wie sie gestrickt wurden… naja, für Flüche ist das alles nur eine weitere Energiequelle, welcher sie sich bedienen können. Und ab da an ist eine unkontrollierte Kettenreaktion.“

„Was genau bedeutet das für uns?“, fragte Meta. Gilgian legte sich die Finger an den Nasenrücken. Er wusste nicht viel über Magie, aber das hörte sich nach einem fürchterlichen Durcheinander an. Und es gab andere Dinge, um die er sich kümmern wollte.

„Nicht viel“, sagte Etienne unbekümmert, „Der Ort könnte für Menschen gefährlich werden. Wenn ihr also etwas aus dem Haus retten wollt, dann solltet ihr Catjill und mich um Hilfe bitten. Ich kann mit Catjill geschützt rein.“

„Ich habe kein Interesse an den Gegenständen in diesem Haus. Vielleicht sollten wir es einfach verbrennen?“, er sah fragend zu Meta. Sah das Zögern in ihren Augen. Das gab ihn Anlass, die Idee fürs Erste zu verwerfen. Vielleicht könnte er sie später überzeugen.

„Dann lasst es einfach für ein paar Wochen ruhen. Drei Wochen sollten reichen. Um ganz sicherzugehen, vielleicht so fünf“, sagte Etienne, „Bis dahin werden die Gegenstände untereinander ihren Kampf ausgetragen haben. Es werden einige übrig bleiben, die weiterhin ihre Flüche im Haus ausüben könnten. Dafür werdet ihr dann jemanden brauchen, der sie versiegelt. Ihr könntet jemanden aus Vheruna anfragen. Ein Priester oder ein Magorí. Aber an sich sollte das weniger gefährlich sein, als wenn ihr es jetzt betreten würdet.“

„Nein“, sagte Gilgian. Weder das eine, noch das andere. So wie er es mitbekommen hatte, hatte sein Onkel einige beachtliche Sachen in diesem Haus. Wenn er einen Priester holen würde, würde ihm die Religion am Hals sitzen. Wenn es ein Magorí wäre, dann wahrscheinlich die ganze Gesellschaft der Magiepraktizierenden. Vor allem beim Letzteren könnten einige Familien auf sie aufmerksam werden und das wollte und würde er nicht riskieren. Das konnte er wirklich nicht gebrauchen.

Sein Blick fiel auf Etienne, „Wieso soll ich die Aufmerksamkeit von nervigen Individuen auf mich ziehen, wenn du diese Aufgabe genauso gut erledigen kannst?“, fragte er.

Sie zuckte mit den Schultern, „Wenn sich Zeit finden lässt.“

Ihm fiel auf, dass das keine eindeutige Antwort war. Er würde im Verlauf der Wochen jedoch dafür sorgen, dass sie eine eindeutige gab.

Kurz fragte er sich, ob sie, als Exorzistin, nicht ebenfalls den Priestern dieser nervigen neuen Religion Frage und Antwort stehen müsste. Dieser Job unterstand deren Aufsicht. Und dann fiel ihm ein, dass allein ihre Suche nach den Steinen dafür sorgen würde, dass sie die Geschehnisse im Haus weitergeben müsste. Seine Sorge stieg, als er sie dabei beobachtete, wie sie sich unbekümmert auf den Fenstersims setzte.

„Was berichtest du deinen Vorgesetzten?“, fragte er sie. Sie sah ihn überrascht an und Verständnislosigkeit machte sich auf ihrem Gesicht breit. Er hob eine Braue und wartete ab, überrascht davon, dass jemand wie sie, der ständig etwas zu melden hatte, auf einmal schwieg. Dann blinzelte sie und er sah Verständnis in ihrem Gesicht, „Ah, du meinst die Zuständigen der Ekkleâ. Offensichtlich kann ich ihnen nichts berichten, da ihr keine Eklâ in eurer Stadt habt. Wenn die früheren Herrscher denen erlaubt hättet, das heilige Gebäude zu bauen und Priester einzustellen, dann wäre das eine andere Sache. Die Levines hatten aber mächtig Probleme damit, hab ich gehört.“

„Was wirst du ihnen berichten?“, fragte Meta. Er mochte es nicht, seine Fragen zu wiederholen und war ihr dankbar, dass sie es für ihn übernommen hatte.

Etienne schweig für einen Moment, dann zuckte sie mit den Schultern, „Ich muss ihnen gar nichts berichten.“

Beide sahen sie verständnislos an. Etienne lächelte und führte aus, „Die Ekkleâ ist zwar zuständig für die Exorzisten, die meisten von ihnen werden jedoch von der Straße aufgelesen und in diesen Job geschmissen. Diejenigen, die eine gute Ausbildung genießen, bekommen andere Arbeit. Nicht, dass ich einen von denen haben wollen würde. Sie müssen sehr früh aufstehen. Die erste Gebetsstunde findet um sechs statt. Was mich daran erinnert, morgen muss ich auch früh aufstehen, früher als sonst. Seid ihr ab morgen wieder da?“

„Nein“, sagte Gilgian. Es störte ihn etwas. Er musste sich auf die Prüfungen vorbereiten. Sein Ziel war es immer noch, aus dieser Stadt zu verschwinden. Dafür brauchte er einen Titel, der ihm Möglichkeiten eröffnen würde. Er hatte bereits gute Rückmeldungen zu diversen Kampfsportarten bekommen. Aber er würde mehr brauchen.

„Zu schade“, sagte Etienne, „Ich habe gehört, dass du und Halil zu ähnlichen Zeiten die Turnhalle belegt. Ich hätte gehofft, du könntest mir etwas über seine Routine erzählen.“

Sein Grinsen kehrte zurück, „Du wirst schon sicherlich mit ihm klarkommen.“

Etienne lächelte zurück, „Vergiss dabei bitte nicht, dass wenn du willst, dass ich in ein paar Wochen dein Haus reinige, ich dafür unter Umständen unverletzt sein sollte.“

Er widmete sich wieder seinem Essen zu. Sie hatte recht. Aber das würde er nicht einfach so akzeptieren.

„Gilgian“, sagte Meta tadelnd.

„Wieso nimmst du die ganze Zeit ihre Seite ein?“, fragte er genervt.

Sie sah ihn verständnislos an, „Ich nehme nicht ihre Seite ein, aber es gibt auch kein Grund, dass du dich so benimmst. Sie hat gestern fürchterliches durchgemacht.“

Er sah aus dem Augenwinkel, wie Etienne bei dieser Aussage überrascht die Brauen hob. Das war einer der Gründe, weshalb es so sauer auf sie war. Meta gab sich schon immer die Schuld für die Dinge, die ihr Vater tat. Selbst für Dinge bei welchen sie nicht einmal anwesend war. Es hat früh angefangen, als sie noch ein Kind war und es hat nie aufgehört. Und der gestrige Tag, hatte viele alte Wunden aufgerissen, die noch nie die Möglichkeit hatten, richtig zu heilen.

„Ich tendiere dazu meistens zu Hause zu trainieren. Eben weil ich sein Gesicht nicht sehen will. Oder eines der anderen Mitglieder. Aber er ist meistens morgens um fünf in der Turnhalle und macht seine Routine.“ Ihr angewiderter Blick verschaffte ihm etwas Befriedigung. „Finde selbst heraus, wie gut er das kann“, sagte er und war nicht erfreut darüber, nachgegeben zu haben. Das Gewitter, welches draußen einsetzte, bestärkte seinen Unmut.

56. Kontrahenten: Ausspähen

 

Etienne saß leise im Schatten der hintersten Ecke der obersten Reihe der Halle. Ihre dunkle Kleidung erlaubte es ihr, unentdeckt zu bleiben und die weißen Streifen der Uniform hatte sie mit der dunklen, schicken Jacke bedeckt, welche Tatinne ihr ausgeliehen hatte. Gilgian hatte ihr am Vorabend den Tipp gegeben, nachdem sie und Meta ihn so lange genervt hatten, bis er sich zu etwas mehr hat hinreißen lassen, als ihr nur leere Ermutigungen zu geben… oder eine falsche Uhrzeit, denn sie wartet nun schon seit über einer Stunde.

Es war noch dunkel draußen und es fiel nur spärlich Licht in den Raum. Die Tage waren kürzer und grauer geworden. Und so gab ihr vor allem diese Ecke, welche in der Nähe einer Tür war, eine gute Deckung, um nicht von Halil entdeckt zu werden. Sie war durch die hinteren Gänge hineingekommen und hatte ihre warme Jacke vermisst. Die von Tatinne war hübsch, aber nicht sehr warm. Etienne hatte sich seltsam gefühlt, sie anzuziehen. Sie hatte noch nie eine schöne Jacke gehabt und manchmal war sie neidisch auf Tatinnes Kleiderschrank.

Etienne hatte Catjill bei Tatinne gelassen. Das würde sie für ein paar Tage so handhaben, einfach nur, damit er durch seine passive Magie etwas in Vergessenheit geriet. Sie hätte ihn gebrauchen können, um in die Halle zu kommen. Stattdessen hatte sie sich den Schlüssel des Hausmeisters besorgt. Nachdem sie die Tür geöffnet hatte, hat sie ihn anschließend unbemerkt zurückgegeben. Der Mann hatte geschlafen, war wohl die ganze Nacht an der Schule gewesen. Auch diese Information hatte sie indirekt von Gilgian bekommen. Und nachdem sie sich ihren Platz herausgesucht hatte, hat sie gewartet. Ab und zu hatte sie Schritte an der Treppe hinter der Tür vernommen, welche jedoch nicht in die Halle gegangen sind. Das hatte sie dazu ermuntert, sich etwas weiter von der Tür wegzusetzen, damit sie nicht direkt entdeckt werden würde, wenn jemand sich doch dazu entschloss hineinzugehen. Nach über einer Stunde, gegen sechs, war Halil in die Halle getreten. Er hatte fürchterlich wütend ausgesehen. Sie hat ihn dabei beobachtet, wie er einige Matten ausgelegt hatte. Dann hatte sie ihm dabei zugeschaut, wie er sich aufgewärmt hatte. Seine Wut schien nach und nach verschwunden worden zu sein und nach dem Aufwärmen war er dazu übergegangen die Übungen durchzuführen, die er laut Gilgian scheinbar jeden Morgen übte.

Sie hatte am Abend des Vortages festgestellt, dass er versucht hatte, sie abzufangen. Wie Scarlett vorhergesehen hatte, schien er es nicht gutzuheißen, dass sie sich zwischen ihn und Anaki gestellt hatte. Also hatte sie sich schnell dazu entschieden, dem Ganzen nach Möglichkeit ein schnelles Ende zu bereiten. Und dafür hatte sie sich zunächst vorgenommen herauszufinden, was er alles konnte und vor allem, was er nicht konnte. Er war, wie sie bereits wusste, sehr schnell. Etienne konnte auch die Kraft hinter seinen Tritten und Schlägen vermuten. Sie hatte aber auch schnell festgestellt, dass er sehr streng den Bewegungen folgte, die ihm beigebracht worden sind. Sobald er einen Fehler machte, wiederholte er die Bewegung mehrmals und fing dann mit seiner Routine von vorne an. Sie stellte die Vermutung auf, dass er nicht sehr kreativ war. Er würde vielleicht nicht flexibel auf Figuren außerhalb seines Könnens reagieren. Etienne fragte sich, ob er welche außerhalb seines Gebietes überhaupt kannte. Doch so verbissen er an einigen von denen zu arbeiten schien, die sie bereits auch schon kennengelernt hatte, glaubte sie das nicht. Etienne war bei weitem kein Experte in diesem Gebiet. Aber sie kannte sich gut genug darin aus, um herauszufinden, wie sie jemanden besiegen konnte, der stärker war als sie. Und nach und nach beschlich sie das Gefühl, dass sie bei ihm keine Probleme haben würde.

Und desto mehr sie ihn dabei beobachtete, wie er schnell und gezielt, aber stumpf die gleichen Bewegungen immer und immer wieder durchführte, desto leichter fiel es ihr, weitere Schwächen auszumachen. Er war etwas schwächer auf seinem linken Bein. Sein Gleichgewicht war bei manchen Bewegungen nicht sicher. Er schlug besonders gerne mit der rechten Faust zu. Irgendwann hatte sie das Gefühl, sie würde seine ersten Schritte sehr gut kennen. Blieb abzuwarten wie er sich in einem Zweierkampf schlagen würde. Und nachdem eine Stunde vergangen war, sah sie weitere Mitglieder des Karateclubs die Halle betreten. Sie unterhielt sich mit ihm und nun konnte Etienne eine andere Seite an ihm beobachten. Ihnen gegenüber war er nett. Hörte aufmerksam zu, wenn sie ihm etwas sagten. Als sie miteinander trainierten, nahm er sich die Zeit ihnen zu helfen, ihre Stellungen zu korrigieren. Er benahm sich ihnen gegenüber professionell, sie witzelten sogar gemeinsam. Als er dann anschließend an einem Zweierkampf teilnahm, konnte Etienne zufrieden feststellen, dass auch hier seine Bewegungen vorhersehbar waren. Er war etwas dynamischer als bei seiner Routine. Doch auch hier verwendete er nur eine Handvoll von verschiedenen Angriffen, die sie alle bereits kannte.

Sie hörte weitere Schritte durch die Gänge hinter ihr. Menschen trudelten in die Schule ein. Einmal trat jemand durch die Tür und Etienne entdeckte ein paar Mädchen, welche sich nach ganz vorne setzten und das Training beobachteten. Perfekt für sie, denn sie würden die Aufmerksamkeit auf sich lenken und somit weg von Etienne. Etienne vernahm, wie Halil sie grüßte und sie kicherten.

Eine halbe Stunde vor Unterrichtsbeginn, verschwanden sie alle durch die Tür, welche aus der Halle führte und Etienne rührte sich nicht, als die Mädchen durch dieselbe Tür verschwanden, durch die Etienne gekommen war. Sie sprachen ganz aufgeregt über ein Ereignis an der Schule und verschwanden, ohne ihr auch nur einen Blick zu schenken.

Etienne blieb noch etwas sitzen. Nahm sich Zeit, bevor sie in ihre Klassen gehen würde. Bis dahin überlegte sie sich, wie sie ihm für heute am besten aus dem Weg gehen sollte. Am Abend würde er noch mal trainieren. Sie würde erneut die Schatten dieser Ecke nutzen, um ihm dabei zuzuschauen. Und morgen früh, wenn keiner da wäre, würde sie ihn konfrontieren und ihm eine Wette vorschlagen. So arrogant wie er schien, würde er sie sicherlich annehmen. Das wäre die beste Möglichkeit dafür zu sorgen, dass er ihr vom Hals blieb, damit sie in Ruhe den Kontakt zu Meng und Elias suchen konnte.

Sie schloss die Augen und sortierte in ihrem Kopf das Wissen, dass sie über Halils Fähigkeiten erlangt hatte. Noch mehr Schritte drangen aus dem Treppenhaus zu ihr durch. Sie hörte Geräusche von der Halle zu ihr empor dringen und öffnete leicht die Augen. Ein Mann putzte den Boden. Sie schloss sie wieder und dachte weiter nach. Was wäre der beste Wetteinsatz? Sie könnte sich wünschen, dass er sie für die Dauer ihres Aufenthalts in Ruhe ließ. Aber sie würde etwas höher setzen. Niemals würde er erwarten, dass sie ihn besiegen würde. Sie hatte ihren Djinn genutzt, um sich zu schützen und dieser hatte Eindruck hinterlassen. Hinter ihm sah sie aus, wie ein schmähliches kleines Mädchen. Also sollte sie sich etwas mehr herausnehmen. Sie könnte sich überlegen, ob es Informationen gab, die sie von ihm bekommen könnte. Aber so, wie die Beziehung zwischen ihm und den anderen Mitschülern schien, glaubte sie nicht, dass er ihr etwas Nützliches geben konnte.

Die Schritte, die sie vernahm, endeten vor der Tür und Etienne drückte sich wieder tiefer in den Sitz, als die Tür geöffnet wurde und wieder ins Schloss fiel. Ihre Gedanken wanderten zu Anaki. Sie unterdrückte ein Seufzen. Es war offensichtlich, wonach sie fragen sollte.

„Na wenn du nicht aussieht, als würdest du eine Lebenskrise durchmachen. Bist du nicht zu alt für einsame Momente in der Dunkelheit?“

Ihr Kopf fuhr herum und sie sah Raffael, welcher auf sie zuging. Für einen Moment war es still in ihrem Kopf, als der Schock sie übernahm. Dann rasten die Gedanken. Sie konnte es nicht fassen, dass er hier war, denn es gab nichts, was auch nur ansatzweise darauf deuten ließ, dass sie sich hier befand.

57. Kontrahenten: Ungewohnte Defensive

 

Raffael hob eine Braue, während er sich eine Reihe unter ihr setzte und seinen Rucksack auf den Boden warf. Ein Schwall von frischer Luft begleitete ihn und brachte ein Gefühl von nassem Wetter in die Halle.

„Das ist ein neuer Gesichtsausdruck. Was überrascht dich so?“

Sie sah ihn einen Moment sprachlos an und ihr Kopf fing vor Schrecken an, sehr schnell zu arbeiten. Normalerweise war dies besonders hilfreich, wenn sie in gefährlichen Situationen steckte. Sie war sich nicht sicher, ob das eine war, denn während sie sich in ihrer ruhigen Dunkelheit sicher gefühlt hatte, war er auf einmal aufgetaucht.

Etienne stellte fest, dass er dunkle Ringe unter den Augen hatte. Er sah sehr müde aus und sie konnte sich gut vorstellen, dass er seit ihrem Abenteuer in der Villa nicht viel Ruhe bekommen hatte. Seine Jacke war etwas nass. Wahrscheinlich nieselte es draußen.

„Was machst du hier?“, fragte sie ihn und ihre Stimme hörte sich zum Glück ruhiger an, als sie sich fühlte. Sollte er reden, während sie sich von der Überraschung erholte und sich überlegte, wie sie sich am besten diesem Gespräch stellen sollte.

Er sah sie prüfend an und dann breitete sich ein verstehendes Lächeln in seinem müden Gesicht aus.

„Ich hab vermutet, dass ich dich hier finde“, sagte er. Sie wartete ab, dass er weiter redete, doch er sagte nichts. Er erklärte ihr nicht, wie er auf diese Schlussfolgerung gekommen war. Oder was genau er davon hielt, dass das Erste, was sie am nächsten Tag nach ihrem Gespräch getan hatte, es war, sich mit jemandem anzulegen.

Sie starrten sich an, bis sie schließlich nachgab und das Wort ergriff, „Muss ich noch mehr Fragen stellen, um eine verständliche Antwort zu bekommen?“

Versuchs. Vielleicht beantworte ich ein paar. Oder auch nicht. Mir ist gerade nicht wirklich danach, Fragen zu beantworten.“

Sie hörte einen wütenden Unterton in seiner Stimme. Etienne unterdrückte das Bedürfnis, sich unter seinem Blick nervös zu winden. Bei O’Donnel hatte sie sich nicht so gefühlt. Ihre Gedanken huschten zum Stein und dem Grund des Meeres. Er hatte gesagt, er würde das nicht machen.

Dann sollten wir besser in die Klasse“, sagte sie und versuchte zu überdecken, dass sie sich eingeschüchtert fühlte. Die beste Art, dieser Situation zu entkommen, war es, nicht mehr allein mit ihm zu sein.

Cruz hat die ersten Stunden heute. Und er ist morgens nie da. Außer er muss“, sagte er, „Von unserer ganzen Klasse bist du aktuell allein da. Leichte Beute für Halil.“

Sie behielt ihr Lächeln aufrecht, als er mit solch einer Betonung den letzten Satz aussprach, dass sie allein deswegen glaube, sie wäre Halil nicht gewachsen.

Dann werde ich mich wohl auch verabschieden. Etwas Ruhe würde mir bei den furchtbaren Wunden guttun, die ich nach der Villa erhalten habe.“

Er verschränkte die Arme über die Lehne, „Das kann ich mir vorstellen. Muss furchtbar wehtun, oder?“

Sie nickte, „Fürchterlich.“

„Dann sollten wir wohl zur Krankenstation. Sie könnten sich noch mal alles anschauen und sichergehen, dass nichts übersehen wurde.“

Sie starrte ihn an und er erwiderte abwartend ihren Blick. Dann lächelte er, „Nur zu. Was hast du noch zu bieten? Ich habe den ganzen Tag Zeit.“

Sie lächelte ihm entgegen und sagte nichts. Verflucht sei er und sie auch, weil sie sich wirklich von ihm in die Ecke drängen ließ. Sie könnte einfach aufstehen und gehen, aber sie hatte nicht das Gefühl, dass sie damit durchkommen würde.

„Was willst du von mir?“, fragte sie dann säuerlich und verschränkte die Arme vor der Brust.

Er hob belustigt eine Braue, „Was, sind wir schon fertig? Keine Fluchtversuche mehr?“

Sie hob trotzig ihr Kinn und weigerte sich, ihm darauf eine Antwort zu geben. Wenn er sie den ganzen Morgen über schweigend anstarren wollte, nur zu. Sie würde sich schon zu beschäftigen wissen. Warlens Buch wartete nur darauf, dass Etienne es sich ansah.

Er nahm sich noch einen Moment und es schien ihr, als wollte er sie länger in ihrer Unruhe winden lassen. Dann sprach er und sie hörte wieder die Wut in seiner Stimme, „Ich weiß ehrlich gesagt nicht, wo ich anfangen soll.“

Sie probierte es noch mal, „Dann lass es uns einfach vergessen und es für heute sein lassen.“

Diesmal erwiderte er ihr Lächeln nicht. Er sah sie einen Moment genervt an und sagte dann wütend, „Ich habe dir genau zwei Ratschläge gegeben. Und es hat nicht mal einen Morgen gebraucht, bis du gegen beide gehandelt hast. Obwohl du mir dein Wort gegeben hast.“

Es nervte sie, wie vorwurfsvoll und verraten er sich anhörte.

Sie lehnte sich zurück in ihren Sitz und wandte den Blick ab.

„Ich habe gesagt, ich gebe mein Bestes, nicht mein Wort“, dann zögerte sie und sah wieder zu ihm, „Was meinst du mit zwei?“

Sie bereute es direkt, als sie sein grimmiges Gesicht sah. Die Müdigkeit ließ ihn noch düsterer aussehen.

„Wieso musstest du dich mit der einzigen Lehrerin anlegen, welche es sich zur leidenschaftlichen Aufgabe machen wird, dich aus der Klasse zu werfen?“

Für einen Moment verstand sie nicht, was er meinte. Dann erinnerte sie sich an das andere Gespräch mit ihm und all die Informationen, die er ihr über O’Donnel gegeben hatte.

„Wieso geht es jetzt darum?“, fragte sie verständnislos, „Wolltest du dich nicht über Halil beschweren? Was nebenbei nicht meine Schuld ist.“

„Keine Sorge, darüber reden wir gleich noch“, sagte er, „Aber dir sollte doch eigentlich bewusst sein, wie dumm das war. Und das aus mehreren Gründen. Wieso musstest du sie so unnötig provozieren?“

Etienne weigerte sich, bei dieser Frau auch nur einen Moment nachzugeben, „Dann soll sie nicht so mit mir sprechen.“

Er gab ein lachendes Schnauben von sich, „Und? Ist das der einzige Grund? Eine einzige gute Leistung hätte gereicht, damit sie nachsichtiger mit dir wäre. Aber du sprengst das komplett. Was hast du jetzt damit gewonnen?“

„Lass mich dich daran erinnern, dass der einzige Grund, weshalb ich überhaupt hier bin, der ist, dass du mich bestohlen hast“, verteidigte sie sich, „Mir ist es herzlichst egal, ob ich heruntergestuft werde oder nicht. Denn ich habe nicht vor, hier zu bleiben.“

Sie merkte, wie sein Kiefer sich anspannte, „Gut. Sagen wir, es ist egal, ob du dir O’Donnel zum Feind machst oder nicht. Aber ist dir klar, dass wenn sie dich herunterstufen lässt, du niemanden in der Klasse haben wirst, der Halil davon abhält, dir einen Besuch abzustatten? Der einzige Grund weshalb er gestern aufgetaucht ist, war der, dass jeder von den Provinzherrschern nicht anwesend war. Und nun hast du ihn dir nicht nur zum Feind gemacht, sondern auch dafür gesorgt, dass er sich bald leichter mit dir anlegen kann. Hast du so weit nachgedacht?“

„Zu dem Zeitpunkt war mir nicht bewusst, dass ein Halil zum Problem werden würde“, verteidigte sie sich. Aber selbst nach dem Konflikt hatte sie diese Möglichkeit nicht betrachtet. Sie hatte nur daran gedacht, wie sie weiterhin den leichtesten Kontakt zu Elias und Meng schaffen konnte. Nichtsdestotrotz. Nur weil ihr diese Option entfallen war, hieß es nicht, dass es dazu kommen würde. Das Problem mit Halil würde bald gelöst werden.

Er seufzte schwer und rieb sich mit der Hand die Augen, „Ganz ehrlich. Du suchst dir den Ärger doch freiwillig aus. Was ist es? Ein tief verankertes Bedürfnis nach Lebensgefahr?“

„Das stimmt nicht“, sagte sie empört, „Außerdem habe ich bisher alles wunderbar lösen können.“

Er hob eine Braue und sah sie herausfordernd an, „Ah ja? Als ich dich im Château de la Fortune getroffen habe, hattest du nicht mal einen Fluchtplan. Und in der Villa der McClains wusstest du nicht mal, was auf dich dort wartet. Und nun das.“

Ich bin in beiden Fällen perfekt klargekommen“, sagte sie stur und versuchte ihre Unruhe zu überdecken, versuchte, ihr Gesicht wieder in den Griff zu bekommen. Wieso fühlte sie sich so in der Defensive? So schlimm wie er es darstellte, war es nun auch nicht.

Und das soll ich dir glauben?“

Sie grinste, „Du musst nicht. Aber du kannst. Immerhin bin ich noch am Leben. Und das mit Halil wird auch kein Problem darstellen.“

Sie sah ihm im Gesicht an, dass er wenig von ihren Worten hielt. Ihre Ausflüge waren vielleicht nicht perfekt organisiert, aber sie hatte bekommen, was sie wollte, und es gab keine Toten. Das war nach ihrer Definition eindeutig erfolgreich.

Ausgerechnet mit Halil“, sagte er leise und fuhr dann in einer ruhigen Tonlage fort, „Du hast gesagt, es ist nicht deine Schuld. Erzähle mir, was passiert ist. Vielleicht kann ich etwas finden, um ihn dir vom Hals zu halten.“

Sie zögerte. Das hätte sie nicht sagen sollen. Er blickte wieder misstrauisch zu ihr und sie spürte, wie sie die Unruhe erneut packte, „War es deine Schuld oder nicht?“

„Er ist in Catjill gelaufen, der nur seine Aufgabe mir gegenüber erfüllt und mich beschützt hat“, sagte sie und hoffte, dass er das Thema fallen lassen würde.

„Wie ist er gegen ihn gelaufen?“

„Ich stand zufällig zur falschen Zeit am falschen Ort.“

„Ah, war es zufällig zwischen Halil und Anaki?“

„Unter Umständen“, bestätigte sie säuerlich, wandte den Blick ab. Er würde wieder wütend werden. Sie wollte das nicht, machte sich jedoch innerlich darauf bereit.

„Und wie bist du dahin gekommen?“, fragte er und sie hörte seiner Stimme an, dass diese Frage überflüssig war. Er wusste es und wollte nur noch bestätigt haben.

Seine Augenringe stachen heraus und seine Mundwinkel waren heruntergezogen. Er sah nicht aus, als wäre er wütend, eher resigniert.

„Hast du nicht deine zwei kleine Untergebene, die dir sowieso schon alles berichtet haben.“

„Ich lasse dich nicht überwachen“, sagte er empört, „Und das sind auch nicht meine Untergebenen, das sind meine Freunde.“

Sie zuckte mit den Schultern, „Du bist Herrscher, da hat man keine Freunde.“

Als er ihr nicht direkt etwas daraufhin erwiderte, bereute sie ihre Worte. Sie beobachtete, wie sein Gesichtsausdruck sich wandelte. Von Überraschung, zur Nachdenklichkeit, bis hin zu einem Verstehen, von dem sie sich sicher war, dass es auf Grundlage falscher Schlüsse zustande kam.

„Ist es das, was du übers Herrschen denkst? Denn ich kann dir versichern, dass es sicherlich nicht der Fall ist.“

Sie verdrehte die Augen, „Oh bitte. Interpretiere nicht zu viel in diese Aussage hinein. Mal abgesehen davon, woher sonst weißt du das alles, wenn dir nicht alles direkt erzählt wird?“

„Das mit Halil ging mittlerweile durch die ganze Schule. Dafür muss mir niemand was erzählen. Keyen hat mich aber vorgewarnt. Und Scarlett hat es sich nicht nehmen lassen, sich über O’Donnel auszulassen. Sie fand die Situation zu komisch.“

„Hört sich nach Überwachen an“, meinte Etienne trocken. Angriff war die beste Verteidigung. Vielleicht würde er ja ablassen.

Doch Raffael verdrehte nur die Augen, „Wenn du Sachen machst, die jeder mitbekommt, dann brauchst du dich nicht zu wundern, wenn das auch wirklich jeder mitbekommt.“

„Ich weiß ja nicht…“, meinte sie und stand auf, versuchte das Gespräch schnell zu beenden.

58. Kontrahenten: Gerüchte

 

Raffael packte ihre Hand und sah sie eindringlich an. Seine Haut fühlte sich heiß auf ihrer an, dass sie beinahe zusammenzuckte. Sie gab sich Mühe, nicht eingeschüchtert zu sein. Es funktionierte nicht wirklich und sie wusste nicht, woran das lag. Vielleicht an dieser dunklen Ecke.

„Lass uns fertig reden, bitte“, sagte er ruhig und ließ sie los, als sie sich nach kurzem Zögern wieder setzte. Etienne vermied es, sich nervös die Hände zu reiben. Seine Wärme war noch immer zu spüren. Sie verschränkte die Arme wieder vor der Brust, sah ihn diesmal aber auffordernd an. Was auch immer noch kommen sollte, sie würde das einfach anhören und sich vorerst fügen. So hatte sie das früher immer gemacht und die Situation ging am schnellsten vorbei, wenn sie sich nicht wehrte.

Nach einem Moment des Schweigens wandte er den Blick ab und seufzte wieder. Sie hörte das Klingeln der schweren Glocke. Er machte keine Anstalt aufzustehen und sie vermutete, dass das mit Cruz stimmen musste. Was bedeutete, dass wenn sie ihn nicht bald loswerden würde, sie ihn für die nächsten Stunden am Hals hätte.

Als er wieder zu ihr sah, war keine Wut mehr in seinem Gesicht zu sehen. Er rieb sich erneut über das Gesicht, es scheint, als versuchte er, die Müdigkeit loszuwerden. Dann sah er ihr direkt in die Augen, „Unabhängig von dem, was wir untereinander ausgemacht haben. Danke, dass du Anaki geholfen hast. Ich hätte wissen müssen, dass das passiert und mir vorher etwas überlegen sollen. Die Situation ist teilweise meine Schuld. Und dafür entschuldige ich mich.“

Ungläubigkeit bereitete sich in ihr aus und dann folgte dieser der Ärger, „Was genau willst du eigentlich? Du bist sauer, weil ich mich eingemischt habe und bedankst dich dann dafür. Was soll ich damit anfangen?“

Ein müdes Lächeln breitete sich in seinem Gesicht aus und er legte dann seinen Kopf in die Arme, „Aktuell will ich nur etwas schlafen. Was bis heute Abend wohl nicht passieren wird. Was dich angeht: Wie hast du vor, mit Halil umzugehen?“

Sie blickte seine braunen Haare an. Erst vor einigen Minuten hatte er herausgefunden, wo sie war und sich beinahe an sie angeschlichen. Und im nächsten Moment zeigte er eine solch wehrlose Seite und es war, als wäre der Ärger vergessen. Sie wusste nicht, was sie mit dieser Dynamik umgehen sollte. Wichtiger wäre jedoch herauszufinden, ob er ihr die ganze Situation später noch vorhalten würde.

„Ich bekomme das schon hin“, sagte sie.

„Hoffentlich nicht wieder überstürzt.“

„Was meinst du, wieso ich hier im Dunkeln sitze.“

Er sah hoch und grinste sie an, „Lebenskrise.“

„Definitiv nicht davon“, sagte sie schnaubend und wechselte dann das Thema, „Du redest wirres Zeug. Vielleicht solltest du nach Hause gehen.“

„Nein“, sagte er sofort und legte den Kopf wieder in die Arme, „Zuerst finden wir eine Lösung auf das Problem. Und bis dahin schauen wir, dass Halil dir fernbleibt.“

Sie lachte zum ersten Mal an diesem Morgen, „Hast du dich mal angesehen? Was willst du heute leisten können?“

„Meine Anwesenheit wird schon reichen“, sagte er, „Auch wenn Halil das vielleicht anfechten wird. Bleib einfach den Tag über in meiner Nähe und er wird ruhig verlaufen. Du hast sowieso Aufgaben für den Unterricht zu erledigen. Ich werde dich nicht stören.“

Sie seufzte und legte den Kopf in den Nacken, „Nur so lange kein Unterricht stattfindet. In der Klasse lässt du mich in Ruhe.“

Er lachte, „Einverstanden. Und bis wir in der Klasse sind, bleibst du an meiner Seite.“

Sie stimmte seufzend zu.

Noch immer drang das Geräusch von Schritten aus dem Treppenhaus zu ihr herüber. Mittlerweile sollten aber alle in den Klassen sein, somit schloss Etienne, dass es Mitarbeiter der Schule sein mussten. Oder weitere Schüler, die den Unterricht nicht besuchten. Sie blickte zu der Halle und sah wieder den Mann, welcher dabei war, seine Sachen zu packen. Vielleicht hatte er mitbekommen, dass sie hier waren. Das Gespräch war sicherlich nicht zu überhören gewesen. Sie sah wieder zu Raffael, der sich kaum rührte. Etienne beobachtete ihn einen Moment, merkte, wie sich seine Schultern leicht hoben und sanken.

Dann stand sie leise auf und nahm ihre Tasche. Sicherlich würde er es ihr verzeihen, wenn sie sich jetzt wieder um ihr kleines Problem kümmern würde. Und er war so müde. Bestimmt war es besser, wenn sie ihn in Ruhe ließ. Dann zögerte sie. Er würde wütend werden, wenn sie sich schon wieder nicht an ihr Wort hielt. Doch dann zwang sie sich dazu, sich wieder zusammenzureißen. Sie vertraute ihm nicht. Und sie war ihm nichts schuldig. Erst recht keine Aufrichtigkeit, immerhin hatte er sie bestohlen. Also würde sie jetzt gehen und sich später überlegen, wie sie sich bei ihm entschuldigen würde. Und wenn sie das Problem lösen würde, bevor sie wieder auf Raffael traf, dann würde er sicherlich nicht so sauer werden. Vielleicht würde sie stattdessen etwas Anerkennung bekommen?

Sie drehte sich herum und war bereit zu gehen und musste dann schon wieder innehalten. Seine Worte über die Angriffe auf Provinzherrscher geisterten in ihrem Kopf. Wenn sie ihn hier schlafend allein lassen würde, dann gab es keine Garantie dafür, dass er aufwacht, sollte er schlafend und allein entdeckt werden. Sie fühlte sich zwiegespalten und während sie versuchte herauszufinden, was sie tun sollte, passierten mehrere Sachen auf einmal. Zunächst hörte sie einen lauten Knall von Holz aus der Halle heraus, gefolgt von einem Fluch, der durch den ganzen Raum hallte. Zu gleichem Moment, als sie zusammenzuckte, merkte sie auch, wie Raffael den Kopf ruckartig hochhob und erschrocken zu ihr blickte. Sofort packte er sie erneut an der Hand und blinzelte sie verschlafen an. Etienne warf dem Mann, welcher seinen Besen fluchend aufhob, einen bösen Blick zu. Dann schielte sie zu Raffael, welcher immer noch nicht die Situation erfasst hatte.

„Ich musste mir nur kurz die Beine vertreten.“

Er blinzelte ein paar Mal, sah sie weiterhin verständnislos an.

Die Tür wurde aufgerissen und sie blickten beide zu den zwei Menschen, welche hineintreten wollten. Auch diese entdeckten sie direkt und eine von ihnen schnappte nach Luft und zog den anderen wieder hinaus. Die Tür fiel wieder zu und Etienne vernahm von der anderen Seite die aufgeregte Stimme, welche sich geschwind wieder entfernte. Sie hatte jedoch noch mithören können, wie das junge Mädchen etwas von Raffael und seinem neuen Skandal erzählte. Langsam sah sie wieder zu ihm. So viel zum Thema, in seiner Nähe zu bleiben.

Raffael starrte noch immer zur Tür. Er schien etwas langsam das Geschehene zu verarbeiten und Etienne konnte beobachten, wie ihm von dem einen Moment auf den anderen klar wurde. Er sprang auf und machte Anstalt, ihnen zu folgen, was Etienne nicht gutheißen konnte.

„Stopp“, rief sie aus und diesmal packte sie ihre Hand fester, bevor er sie loslassen konnte, „Was hast du vor?“

Er sah zu ihr und versuchte sich loszumachen, „Ich kann sie noch einholen, bevor sie zu Bianca oder Dia geht und sie anfangen, Gerüchte zu streuen und uns zu belästigen. Ich brauche nur einen Moment.“

„Auf gar keinen Fall“, sagte Etienne, „Wenn du sie jetzt versuchst aufzuhalten, wird es sie nur in dem bestätigen, was sie sich ausmalt. Und dann wird das nur schlimmer.“

Etienne hatte es schon mal mitbekommen, wie Gerüchte dazu genutzt wurden, um gezielt einzelne Personen unter Druck zu setzen. Je ungeschickter sie sich wehrten, desto schlimmer wurden sie gegen sie genutzt. Und bei solch einem Fall wäre es einfacher zu zeigen, dass sie falsch lagen und sich der Tratsch von allein als unwahr herausstellte. Sie würden sowieso schnell gelangweilt werden, wenn es keine Reaktion gäbe. Ansonsten könnte sie Raffael in der Öffentlichkeit auch schlagen, das würde auch die Gerüchte zum Schweigen bringen. Und obwohl sie diese Idee normalerweise gutheißen würde, mochte sie es diesmal jedoch nicht.

Raffael sah sie prüfend an. Dann ging sein Blick wieder zu der Tür und sie konnte sehen, wie unentschlossen er war.

„Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist. Bist du sicher, dass du das so willst?“, fragte er dann nach und etwas an seiner Stimme schien sie anzuflehen, ihn loszulassen, „Denn sie sind nicht sehr zimperlich, wenn sie erst loslegen.“

Sein Griff wurde so fest, dass es wehtat, und die Sorge war ihm ins Gesicht geschrieben.

Sie setzte sich wieder hin und zog ihre Hand zurück, „Ja. Alles andere würde es nur zu dramatisch machen.“

Er seufzte schwer, schwerer als sonst und legte sich nach einem letzten kurzen Zögern in die Sitze, „Das wird anstrengend.“

Etienne konnte sich nicht vorstellen, dass es so schlimm werden würde. Aber er hingegen schien überhaupt nicht glücklich zu sein.

„Für dich oder für mich?“, fragte sie.

Er schwieg einen Moment und dann hörte sie noch ein Seufzen, „Das hängt davon ab, wie du mit Gerüchten klarkommst.“

„Sie werden keinen Einfluss auf mein Leben haben. Stören sie dich?“

„Meistens nicht“, sagte er säuerlich. Etwas an der Art, wie er ihr die Fragen beantwortete, ließ sie aufhorchen. Es war, als läge dort keine richtige Antwort drin. Aber sie hörte keine Lüge heraus. Irgendwas schien ihm zu schaffen zu machen, aber die Gerüchte waren es nicht.

„Wer war das?“, fragte sie.

„Das war Mallory. Sie ist erst in der Neunten, du solltest sie also eigentlich kaum sehen, außer sie ist mit Bianca unterwegs. Was sehr häufig passiert. Sie verehrt sie regelrecht.“

Seine Stimme hörte sich ernüchternd an. Und auf einmal kam ihr der Gedanke, dass die Situation vielleicht für ihn belastender war, weil es sich um Menschen handelte, die er kannte? Sie wusste nichts über seine Dynamik mit den anderen Schülern außerhalb ihrer Klasse. Aber er war sehr zugänglich und ging auch auf andere zu. Wahrscheinlich kannte er viele. Tatinne hatte ihr erzählt, dass er sehr beliebt in seiner Provinz war. Sie hatte ihr auch erzählt, dass viele Geschichten über ihn mit anderen Frauen herumgingen und er sie teilweise mit Absicht zu beflügeln schien, bis das vor einigen Monaten schlagartig etwas ruhiger wurde. Doch seine Reaktion machte es ihr schwer, das zu glauben. Für jemanden, der sich in dem Image des geliebten Provinzherrschers zu sonnen schien, war das nicht das, was sie erwartet hätte. Eher, dass er einen schlechten Witz reißen und die Annahme der jungen Frau umso eher bestätigen würde, nur um Etienne zu ärgern.

Sie lehnte sich über die Rückenlehne in die untere Reihe und sah zu ihm. Er starrte die Decke an und schien in Gedanken zu sein.

„Hey“, sagte sie und seine Augen wanderten zu ihr. Sie wollte ihn fragen, was genau ihm zu schaffen machte. Dann huschte ihr der Gedanke durch den Kopf, dass es sie eigentlich nichts anging, „Egal.“

„Was ist?“, fragte er nach.

„Geht weiter schlafen“, sagte sie und lehnte sich zurück in ihren Sitz.

„Jetzt, wo du das ansprichst“, sagte er langsam, „Du hast vorhin versucht, mich hier sitzen zu lassen, nicht?“

„Ich weiß nicht, was du meinst und ich muss jetzt wichtige Sachen machen“, sagte sie und holte das Buch heraus, das Warlen ihr empfohlen hatte. Ihr wäre es lieber, er würde das glauben, als dass er herausfinden würde, dass sie kurz davor war, doch zu bleiben und aufzupassen. Normalerweise würde sie sich nur für Schwächere einsetzen und ein Provinzherrscher war es nicht. Aber die Art, wie harmlos er beim Schlafen schien, zerbrach das Bild.

Er lachte und richtete sich wieder auf, bedachte, was sie tat und fragte, „Soll ich dir dabei helfen?“

Warlen hatte Etienne am Vortag aufgefunden, bevor die Schule geendet hatte und ihr eine Projektaufgabe und zwei Bücher gegeben. Dies würde ihr die besten Chancen geben, eine gute Note zu bekommen und auch wenn Etienne diese nicht brauchte, ihr Ehrgeiz war geweckt und sie wollte die bestmögliche Leistung erbringen. Und es gab ihr eine gute Ablenkung, sich nicht weiter mit ihren Gedanken zu beschäftigen.

„Nein“, sagte sie setzte sich gemütlicher hin, „Ich bekomme das schon hin.“

59. Kontrahenten: Versöhnliche Worte

 

Er hatte sie in Ruhe ihre Aufgaben machen lassen, wie er es ihr gesagt hatte. Aber er war nicht wieder eingeschlafen. Stattdessen hatte er eigene Bücher gelesen. Bevor es zur nächsten Pause klingelte, hatte er ihr vorgeschlagen, in die Bibliothek zu gehen. Als sie ihn nach dem Grund fragte, hatte er ihr gesagt, dass höchstwahrscheinlich bald einige Leute wussten, dass sie hier waren und er vermeiden wollte, dass die Nervigen es ausnutzen. Damit hatte er explizit Halil gemeint, dennoch drangen sich weitere Namen in seinen Kopf, mit welchen er sich in seinem jetzigen Zustand nicht befassen wollte. Er wusste aber, dass er es unweigerlich tun musste.

Zu seiner Überraschung war Etienne ihm ohne Widerstand durch die Flure gefolgt. Er hatte ihr einen Sitzplatz in den oberen Reihen der Bibliothek gezeigt, von wo der ganze innere Bereich gesehen werden konnte. Und auch dieser Ort war im Schatten der Regale versteckt. Er hatte ihr erzählt, dass er hier immer hinging, wenn er seine Ruhe haben wollte, und auch wenn es ihm widerstrebte, ihr sein Versteck zu zeigen, so hatte er das Gefühl, dass sie das nicht herumerzählen würde. Und es war ein ausgezeichnetes Versteck. Es gab mehrere Wege dorthin und alle waren klar zu sehen. Weiterhin hatte man einen Blick auf die zwei Eingangsbereiche. Sie würden niemanden übersehen, der versuchen würde, zu ihnen zu kommen. Keiner würde sich an sie anschleichen können und wenn sie jemanden entdecken sollten, dann gab es genug Fluchtwege, die sie nutzen konnten. Er fühlte sich fast schon wieder so, wie vor ein paar Jahren, wo er sich Leichtsinnigkeit erlauben konnte.

Es hatte geklingelt, als sie die Bibliothek betreten hatten und er konnte davon ausgehen, dass sie wahrscheinlich weiterhin die letzten Besucher für die Pause wären.

„Ich bin ehrlich, es scheint mir zu gut, um wahr zu sein, als dass es einfach so zufällig konstruiert wurde“, sagte sie.

Den hat Dustin heimlich gemacht. Adelle weiß auch davon“, antwortete er ihr. Dustin hatte sich seiner angenommen, als er an die Schule gekommen war. Sie hatten nur ein Jahr gemeinsam hier verbracht, aber er hatte ihm alles gezeigt, was wichtig war. Das war noch lange, bevor er zum Provinzherrscher wurde.

Ich weiß nicht, wer Dustin ist“, sagte sie trocken und er musste lächeln. Es lag nicht in seinem Interesse, sie zu überfordern, zeitgleich wünschte er sich aber, dass sie sich schnell an alles gewöhnen würde. Es würde ihn noch einige Überzeugungsarbeit kosten, sie in der Stadt zu behalten, aber er hatte schon eine Idee, wie er es am morgigen Abend anfangen würde.

Er ist ein Alumnus dieser Schule. Ich habe ihn gestern erst wiedergesehen. Seine Leistungen waren extrem gut, er hätte überall hin gekonnt. Aber er ist in Calisteo geblieben und leitet eine Sicherheitsabteilung in meiner Provinz.“

Ermittelt er wegen der Explosion?“, fragte Etienne und es überraschte ihn nicht, dass sie es mitbekommen hatte. Am Vortag hatte er sich gesorgt, ob sie mit ihrem Djinn in der Nähe war. War aber erleichtert gewesen von Scarlett zu hören, dass dem wohl nicht so war. Es gab einige Verletzte, zum Glück aber keine Tote.

„Ja“, sagte Raffael, „Er ist die beste Person dafür. Mal abgesehen davon, dass er seine Arbeit sehr gut macht, ist er charismatisch genug, um sich Freunde in anderen Provinzen zu machen. Mit ihm weiß man, dass alles getan wird, um die Schuldigen zu finden und das in Zusammenarbeit mit Gilgians und vielleicht sogar Elias’ Sicherheitsrevieren.“

Elias’ Namen auszusprechen, versetzte ihm noch immer einen verletzenden Stich. Er fragte sich, ob er je über den Verrat von ihm hinwegkommen würde.

Er beobachtete Etienne dabei, wie sie sich umsah. Ihr Blick wanderte von einer Ecke zu der anderen und langsam bestätigte sich sein Verdacht, dass sie durchaus aufmerksamer und systematischer war, als er sie zunächst eingeschätzt hatte. Der Verdacht war ihm gekommen, als er die Wunden des Crawlings zu seinen Füßen gesehen hatte, welche, mit Ausnahme von einer, alle gezielt gesetzt worden schienen. Damit konfrontiert zu sein war, als hätte man ihm einen Schleier vom Gesicht gerissen, welcher ihn davon abgehalten hat, klar zu sehen. Und er überlegte sich nun, wie genau er seine Vermutung weiter bestätigen konnte. Denn wenn sie stimmte, stand vor ihm wahrscheinlich kein so großer Chaot, wie er vermutet hatte, und Tatinnes düstere Worte würden sich vielleicht als falsch herausstellen.

„Sollen wir die Pause hier ausharren?“, fragte sie ihn. Er spannte sich etwas an. Am Morgen hatte er vorgehabt, sie bei Tatinne abzufangen und dafür zu sorgen, dass sie sicher in der Schule ankam. Nachdem diese ihm erzählt hatte, dass sie schon länger weg war, hatte er auf dem Hinweg sich Gedanken darüber gemacht, wo sie hingegangen sein konnte, und der Gedanke an den Crawling hatte ihn nicht losgelassen. Also war er, nachdem er einen Abstecher bei Warlen gemacht hatte, seinem Instinkt gefolgt.

Als sie sich langsam zu ihm umwandte und ihn wachsam betrachtete, fiel ihm auf, dass er zu lange geschwiegen hatte. Das lag daran, dass er so müde war. Selbst das Denken fiel ihm schwerer. Sein Kopf pochte immer wieder und er wünschte sich nichts sehnlicher, als in sein Bett zu kriechen und dieses für eine lange Zeit nicht zu verlassen. Er wusste, dass es ihm bei diesem Wetter zum Verhängnis werden würde, wenn er seinen Körper so strapazierte. Er tendierte dazu, schnell krank zu werden, vor allem in diesem Monat.

„Ich habe Warlen darum gebeten, die Klasse für heute zur selbstständigen Arbeit anzuleiten“, sagte er und merkte, wie ihr Gesicht sich verdüsterte. Er unterdrückte noch einen Seufzer. Es lag nicht in seiner Absicht, sie hinters Licht zu führen, aktuell wusste er jedoch nicht, wie er anders handeln sollte, vor allem weil sie scheinbar nicht vorhatte, sich an das zu halten, was sie ihm kommunizierte. Solch ein Biest.

Ein Lächeln erschien auf ihrem Gesicht, und er grinste zurück. Er konnte sehr gut die Wut in ihren Augen sehen. Wenn sie dachte, sie könnte ihn damit hinters Licht führen, dann wünschte er ihr viel Erfolg. Er selbst hatte es im letzten Jahr perfektioniert, seine Emotionen zu verbergen. Dennoch hatte es etwas Tröstliches zu wissen, dass sie sich in diesem Punkt sehr ähnlich waren.

Und du hattest nicht vor, es mir früher zu sagen?“, fragte sie.

Er zuckte mit den Schultern und fing an seine Sachen auszupacken, „Wenn du nicht so unkooperativ wärst, hätte ich es dir viel früher gesagt.“

Du bist unerträglich“, sagte sie, drehte sich wieder zu der Bibliothek um.

„Gleichfalls“, erwiderte er. Raffael selbst war immer noch wütend auf sie. Sie hatte ihm zwar nicht direkt ihr Wort gegeben, aber sie nutzte es nur zu gerne aus, ihn in dem Glauben zu lassen und dann, sobald er nicht hinschaute, direkt etwas anders zu tun. Und es war teilweise seine Schuld. Er hatte die Situation zu Anfang falsch eingeschätzt und nun musste er zusehen, wie er die Wogen wieder glätten konnte. Denn wenn sie die Herrschaft übernehmen sollte, konnte er es sich nicht leisten, ein schlechtes Verhältnis zu ihr zu haben. Also musste irgendeine Vertrauensbasis her, was momentan unmöglich schien.

„Du könntest weiter an deinem Projekt arbeiten“, sagte er und hoffte, dass sie sich hinsetzen würde. Die letzten zwei Stunden waren ruhig gewesen. Es war ihm schwergefallen, nicht einzuschlafen. Aber sie vor sich arbeiten zu sehen, würde ihn davon ablenken. Er war neugierig, welche Aufgaben Warlen ihr gegeben hatte. Aber selbst in diesem Thema schien sie keine Informationen teilen zu wollen. Er hätte wissen müssen, dass sie schwer zugänglich wäre. Immerhin wollte sie lieber aus dem Fenster springen, als drei Fremden zu vertrauen. Und auch wenn er ihr Misstrauen in dieser Situation verstehen konnte, war das doch etwas übertrieben gewesen.

Etienne antwortete ihm nicht und machte auch keine Anstalt, sich hinzusetzen. Er sah frustriert zu ihr. Ihm war klar, dass sie wütend werden würde, dennoch kam der Gedanke, ihr nichts dazu zu sagen, schneller. Sie beide schafften es einfach nicht, auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen, der für sie funktionierte. Dabei fand er, dass sie in der Villa der McClains gut zusammengearbeitet hatten und das trotz des ganzen Misstrauens.

Er stand auf und trat zu ihr, „Es tut mir leid. Ich habe es mehr aus Impuls nicht gesagt, als das ich es geplant habe. Und wenn ich ehrlich bin, sind meine Planungsfähigkeiten aktuell nicht sehr gut.“

Sie blickte weiter in die Bibliothek, „Ist in Ordnung. Ich hätte damit rechnen sollen.“

Er spannte sich an und dass sorgte dafür, dass erneut ein unangenehmes Pochen durch seine Schläfen ging. Das war keine Antwort, die er haben wollte. Aber er konnte es ihr auch nicht verübeln.

„Eigentlich wünsche ich mir, dass wir solch einen Umgang nicht miteinander führen müssten. Vielleicht könnten wir beide anfangen, etwas nachgiebiger miteinander umzugehen?“, fragte er und folgte ihrem Blick. Er entdeckte Meta in der Halle, mit Adelle zu sprechen. Sie hatte ihre Uniform nicht an, also ging er davon aus, dass sie nur kurz vorbeigekommen war. Sowohl sie, als auch Gilgian, hatten sich für ein paar Tage von ihrer Anwesenheit freigesprochen. Würden zur Theaterprobe aber wieder anwesend sein. Immerhin das. Bald würde das Stück stattfinden und er konnte es kaum erwarten, diesen Batzen Arbeit hinter sich zu bringen und Anjelika eine sichere Zukunft zu sichern.

„Du kannst ja anfangen“, sagte sie und er musste unweigerlich lächeln.

„Und mich von dir herumschubsen lassen?“

Sie zuckte grinsend mit den Schultern, „Ich finde, das hättest du für eine Weile verdient. Du kannst mir natürlich auch den Stein einfach wiedergeben. Dann könnten wir das mit dem Umgang auch gleich lassen.“

Sie ließ aber auch nicht locker, „Das kann ich nicht und das werde ich nicht. Vorerst.“

„Weißt du, wenn ich wirklich Herrscher werden würde, dann würde ich es dir heimzahlen, dass du mich beklaut hast.“

„Deswegen hoffe ich auch, dass wir besser miteinander umgehen. Es wäre wirklich tragisch, wenn jemand so Talentiertes wie ich in den Abgründen von Nexims Gefängniskeller verschwinden würde. Stell dir vor: Ich, hinter Gittern, in diesen dreckigen Zellen.“

Sie kicherte und er war sehr zufrieden mit sich, das geschafft zu haben.

„Gibst du dir deswegen so viel Mühe, Halil von mir fernzuhalten? Ich kann mir vorstellen, du hättest jetzt Besseres zu tun, als mit mir hier herumzulungern.“

Er presste unzufrieden die Lippen zusammen und sobald er es merkte, versuchte er sich wieder zu entspannen. Eigentlich wollte er diese Frage nicht beantworten, denn er hatte das dumpfe Gefühl, dass sie die Antwort früher oder später gegen ihn nutzen würde. Aber wenn er ihr nicht antworten würde, dann würden sie nur wieder in diesem elenden Kreislauf enden, wo sie einander alles verschweigen und an Ort und Stelle traten. Sie war erstaunlich stur. Er war es auch, war aber bereit, dynamischer in der Ausführung seiner Sturheit zu sein.

„Ich finde, dass ich Teil der Schuld trage, dass du an ihn geraten bist. Mal abgesehen davon, dass ich gestern Vorkehrungen hätte treffen können und daran gescheitert bin, bist du an dieser Schule, weil du von mir dazu gedrängt wurdest. Das Problem mit Halil wäre ohne mein Zutun gar nicht erst entstanden. Das tut mir leid.“

Sie gab ein nachdenkliches Geräusch von sich und er sah in ihrem Gesicht, wie sie etwas ausheckte.

„Wenn ich so genau darüber nachdenke“, sagte sie langsam, „Dann wäre die beste Art und Weise, mich zu schützen, mir einfach den Stein zu übergeben und mich von dem Besuch dieser gefährlichen Bildungsstätte zu befreien. Nicht?“

Er musste lächeln. Er hatte gewusst, dass irgendwas in dieser Form als Antwort kommen würde. Freches Biest.

„Oh, du kannst gerne den Mist ausbaden, den du verzapft hast. Wenn du so große Angst vor Halil hast, dann wechsel die Provinz. Das wäre die einfachste Art. Aber ich will wetten, das wirst du nicht tun.“

Sie grinste weiterhin, während sie nach unten sah, „Ich hab mich schon gewundert, wieso dieser Vorschlag nicht früher von dir kam.“

„Es ist kein Vorschlag“, sagte er, „Aber wenn das als Option stehen würde, dann hätte ich dich schon längst dazu überredet, in meine Provinz zu kommen.“

Sie schnaubte lächelnd und ausnahmsweise fühlte es sich gut an, solch ein Gespräch mit ihr zu führen, ohne dass einer von ihnen beiden aus irgendeinem Grund wütend oder verärgert mit dem Anderen war. Er wollte mehr davon. Sich normal mit ihr unterhalten, ohne Streit und den stetigen Versuchen, einander hereinzulegen.

Das hatte er gedacht, bis ihr Blick sich auf einmal verdüsterte. Zunächst dachte er, es würde an ihm liegen. Doch dann hatte er gemerkt, dass sie fest in eine Ecke des Raumes sah. Er folgte ihrem Blick und entdeckte ein Gesicht, dass er eher selten an der Schule, aber schon häufiger im letzten Jahr bei Veranstaltungen der wohlhabenden Familien in Calisteo gesehen hatte. Er versteckte sich hinter den Regalen und es war auf den ersten Blick zu erkennen, dass er Meta beobachtete, während diese mit der Bibliothekarin sprach. Er hatte sein Handy in der Hand und hatte es auf sie gerichtet. Raffael brauchte einen Moment, bis er verstanden hatte, was vor sich ging und runzelte irritiert die Stirn.

60. Kontrahenten: Neues Ziel

 

„Er ist da schon eine Weile“, sagte Etienne und er bemerkte, dass sie ihn ansah, „Wer ist das?“

Er versuchte seinen Gesichtsausdruck zu bewahren und sah wieder zu ihm, „Das ist Braad. Er ist nicht häufig an der Schule. Und er ist nicht gerade gesellig.“

„Weißt du, wieso er das macht?“, fragte sie.

„Keine Ahnung. Ich habe nicht so viel mit ihm zu tun, um ihn gut einschätzen zu können. Vielleicht ist er in sie verknallt und malt sich Chancen aus. Meta ist genauso sehr ein Außenseiter wie er.“

„Wusste gar nicht, dass man so seine Liebe gesteht“, sagte sie und er hörte die Missbilligung heraus.

„Hast du vor, dich einzumischen?“, fragte er. Das war die Frage, die ihn wirklich interessierte. Braad war nicht kompliziert, aber er war es auch nicht wert, sich mit seiner Familie anzulegen. Diese waren auch nicht kompliziert, aber könnten nervig werden.

„Sollte ich?“, fragte sie zurück, „Sag du es mir, da du scheinbar sowieso alles besser weißt.“

Er warf ihr einen säuerlichen Blick zu, doch sie grinste einfach nur vor sich hin.

„Wenn wir es Gilgian sagen, wird er ihn zusammenschlagen“, sagte Raffael, „Er ist in Elias’ Provinz. Das wird Konsequenzen haben. Und wahrscheinlich einen Toten. Ehrlich gesagt möchte ich es Gilgian gar nicht wissen lassen.“

„Was tun wir dann?“, fragte sie und es fühlte sich wie ein Test an.

Er legte seinen Kopf auf seine Arme und sah von unten zu ihr herauf. Ihre grünen Augen stachen in dem dumpfen Licht besonders unter den schwarzen Haaren hervor. Sein Blick fiel auf ihre blasse Narbe und er wunderte sich, woher sie diese hatte, doch dann verschwand die Frage aus seinem Kopf, als er ihren herausfordernden Blick sah. Und er weigerte sich bei ihr einen Rückzieher zu machen.

„Sollen wir etwas tun?“, fragte er.

„Du hast gesagt, ich soll zu dir rennen, wenn etwas passiert. Zeig was du kannst.“

Ihre Augen blitzten auf, als sie den Blick wieder von ihm abwandte und sich dem Geschehen unter ihnen wandte.

„Lass uns sein Handy klauen“, schlug er vor.

Sie lachte, „Schon wieder Diebstahl? Wieso wundert mich das nicht.“

„Es ist nicht so, als würden aktuell viele produziert werden“, erklärte er, ohne darauf einzugehen, „Er wird mächtig Ärger bekommen, wenn er es verliert. So viel kann sich seine Familie auch nicht leisten. Und wenn er ein Zweites bekommt, tun wir dasselbe. Und dann wird er fürs Erste keines mehr haben. Und es wird keine Toten geben.“

Sie lächelte zufrieden, „Und wie willst du das anstellen?“

„Einer von uns lenkt ihn ab, der andere holt es sich. Er wird uns gleich sowieso zeigen, wo er es verstaut. Mich hasst er leidenschaftlich und zeigt das auch sehr gerne. Also werde ich ihn damit gut ablenken können, wenn ich mich einfach vor ihn stelle. Dich kennt er noch nicht, aber ich will wetten, wenn die hübsche Neue ihn anspricht, wird er ganz hin und weg sein.“

Sie blinzelte überraschte und er verspürte Genugtuung, an ihrem nichtssagenden Lächeln gerüttelt zu haben. Beobachtete sie dann weiter dabei, wie sie es überdeckte und es ihr schnell gelang, aber nicht schnell genug, dass sie es verbergen konnte.

„Ich will nicht, dass er mich sieht.“

Und wenn er bedachte, wie Braad gerade mit Meta umging, wollte er es auch nicht.

„Dann werde ich ihn ansprechen. Und du erledigst den Rest“, sagte er und beobachtete ihn dabei, wie er das Handy in eine hintere kleine Tasche seines Rucksacks steckte, „Und nachdem wir unseren Plan erfolgreich hinter uns gebracht haben, was hältst du davon, wenn wir danach über einen zu Halil sprechen?“

Auf einmal drehte sie sich zu ihm um und sah ihn direkt an, „Ich mache dir ein Angebot.“

„Ah ja?“, fragte er überrascht.

„Gib mir Zeit bis morgen Abend und ich werde dir einen guten Plan zu Halil präsentieren. Du wirst sehr überrascht sein.“

„Werde ich das?“, fragte er und richtete sich auf, „Und wenn nicht?“

Sie grinste, „Ich versichere dir, du wirst sprachlos sein, wie einfach ich dir eine Lösung präsentieren werde. Und nachdem du mir deine zu diesem Problem gezeigt hast, ist es nicht fair, mir dieses hier zu lassen?“

Sie hatte bereits etwas ausgeheckt. Sein Instinkt sagte es ihm. Und er vertraute ihr keinen Moment, dass sie ihm morgen Abend etwas präsentieren würde. Blieb nur für ihn zu klären, ob er bereit war, ihr das in die Hand zu geben oder nicht. Das Bild des Crawlings schoss ihm durch den Kopf und er wurde nur zu neugierig, wie sie das Problem angehen würde. Und seine Neugierde war groß genug, dass er sich darauf einlassen wollte.

„Gut“, sagte er, „Aber dann will ich morgen Abend alles dazu hören.“

Sie strahlte ihn an und er kaufte es ihr nicht ab, „Einverstanden.“

„Und wir werden über Verbesserungsmöglichkeiten sprechen. Uns austauschen und das Beste daraus machen.“

Sie nickte feierlich,. „Natürlich.“

Er schnaubte und sah dann wieder hinunter. Meta machte sich auf den Rückweg mit einem Haufen Bücher, welche sie sich ausgeliehen hatte. Sie war immer so ernst, was das Lernen anging, und sie war nicht schlecht darin. Wenn sie nicht mit Gilgian verwandt wäre, würde er versuchen, sie ihm abzuwerben.

Braad duckte sich hinter den Regalen und Raffael seufzte, als er das sah. Unmöglich, das Meta ihn nicht merkte. Aber sie tat es wirklich nicht.

„Sollen wir bis nach der Pause warten?“, fragt er

Etienne nickte grinsend. Er merkte, dass sie es zu genießen schien, aktiv zu sein. Kein Wunder, dass sie sich mit Halil angelegt hatte. Mittlerweile glaubte er, dass sie sich selten wirklich zurückhalten konnte oder es überhaupt wollte. Nicht das, was er in diesem Maß von einem Herrscher wollen würde.

Sie warteten, bis es geklingelt hatte, und er hatte sich in der Zeit ein Buch als Alibi herausgesucht. Meta schien auch die Pause abzuwarten, denn sie ging erst durch die Tür nach draußen, nachdem einige Minuten vergangen waren. Mitleid flammte in seiner Brust auf. Er wusste, dass sie es nicht einfach an der Schule hatte, aber ihm war nicht bewusst, wie sehr sie die anderen Menschen zu meiden schien. Er hatte es auch nie wirklich mitbekommen, nur Geschichten gehört. Nachdem Gilgian Herrscher wurde, wurde es etwas leiser um sie und er hatte es dann nach all den Ereignissen, welche in seinem Leben stattgefunden haben, vergessen.

Sie beobachteten kurz, ob Braad Meta folgen würde, doch er tat dies nicht. Stattdessen setzte er sich an einen hinteren Tisch in der Bibliothek. Raffael sah sie auffordernd an und Etienne nickte ihm zu. Sie hatten sich kaum darüber ausgetauscht, was sie jeweils vorhatten zu tun. Es fühlt sich sonderbar für ihn an, denn normalerweise plante er mit seinen Leuten jeden Schritt akribisch und ging dann in Aktion, wenn er wusste, wer wo stehen und was derjenige tun würde.

Er sah zu ihr, wie sie zwischen den Regalen ging und musste grinsen. Das erinnerte ihn so sehr an ihr Abenteuer von vorgestern. Und irgendwie zweifelte er nicht daran, dass es funktionieren würde.

61. Kontrahenten: Alte Wunden

 

Raffael wandte sich an Braad, welcher auf sein Handy starrte und unterdrückte es, ein missbilligendes Geräusch von sich zu geben, welches auf ihn aufmerksam machen würde.

Raffael atmete noch einmal tief durch. Und dann trat er vor Braad. Ohne ihn zu fragen, zog er den Stuhl zurück und setzte sich vor ihm hin.

„Guten Morgen! Bin ich froh, noch ein bekanntes Gesicht hier zu sehen.“

Braad zuckte zusammen und ließ sein Handy auf den Tisch fallen. Seine Augen sprangen gehetzt und panisch zu ihm und seine Wangen färbten sich rot. Schnell schnappte er sich das Handy wieder und schaltete den Bildschirm aus. Um Misstrauen zu vermeiden, blickte Raffael weg davon und öffnete sein Buch, „Ich hoffe, es stört dich nicht, wenn ich mich dazu setze. Es ist den ganzen Morgen einfach viel zu ruhig hier. Es ist so langweilig, ich könnte einschlafen.“

„Heute kein Schwarm von Menschen um dich herum?“, fragte er und Raffael fiel schon wieder dieser gehässige Ton in seiner Stimme auf, welchen er immer aufsetzte, sobald er mit ihm sprach. Raffael wusste nicht, wieso er ihn so sehr hasste, aber es war seit der ersten Begegnung so gewesen und es hatte nie aufgehört. Aber er machte sich nichts draus. So war es manchmal.

„Alle sind mit ihren Aufgaben beschäftigt. Warlen hat besonders viel ausgeteilt. Wie läuft’s bei dir? Ich habe dich schon lange nicht mehr gesehen. Ist deine Familie noch beim ‚Traum der Meere‘ zu Besuch? Wie geht’s deiner Mutter? Ich hab gehört, sie hat einen neuen Vertrag in Goldvail geschlossen. Scarlett hat sie erst vor kurzem wieder gesehen und mir davon erzählt. Sie kann es kaum erwarten mit den ganzen Stoffen zu arbeiten, welche mit der nächsten Lieferung ankommen.“

„Ihr geht es gut, glaube ich“, sagte Braad unsicher und schien Schwierigkeiten dabei zu haben, den ganzen Fragen zu folgen, „Wieso willst du über den neuen Handelsvertrag sprechen?“

Er blinzelte verwirrt und schien von einem Moment auf den anderen entschlossen zu haben, dass Raffael ihn scheinbar aushorchen wollte. Er schien jedoch dabei den Fehlschluss getroffen zu haben, dass er etwas haben würde, was es sich zum Aushorchen lohnen würde. Raffael bezweifelte es sehr stark, dass seine Familie mit ihm wichtige Inhalte ihrer Geschäfte teilen würde. Es war eher seine ältere Schwester, welche sich leidenschaftlich an der Arbeit der Familie beteiligte, und es würde sehr wahrscheinlich der Fall sein, dass sie das Familiengeschäft übernehmen würde.

„Oh, ich muss nichts dazu wissen. Ich habe aber gehört, dass sie echt eine schöne Zeit in Goldvail hatte.“

Ein weiter Weg, den er dieser Familie, trotz der Zugehörigkeit zu Elias Provinz, wirklich hoch anrechnete. Die Handelsrouten waren mittlerweile etwas sicherer als noch vor einigen Jahren. Es wurden zwei neue Schienen gebaut, welche direkt in die erste Provinz von Calisteo führten. Die Vorherrschaft der ersten Provinz bei Handelsbeziehungen war Raffael ein Dorn im Auge. Sie waren abhängig davon, dass die Provinz ihnen die Güter überließ, welche sie brauchten. Dünger, Saat, Öl, mechanische Teile für die Maschinen und vieles andere ging immer zunächst durch die erste Provinz durch, bevor es in den anderen zwei Provinzen ankam. Zeitgleich konnte die erste Provinz es sich aber auch nicht leisten, die anderen zwei Provinzen zu verstimmen. Immerhin waren sie von den Nahrungsmitteln, Wasserversorgung und anderen Ressourcen abhängig, welche in diesen Provinzen produziert wurden. Es war diese gegenseitige Abhängigkeit, welche für einen fragilen Frieden sorgte. Zeitgleich war es genau das, was immer wieder neue Reibungen verursache. So war es beispielsweise nicht zu übersehen, dass es den Mitgliedern der ersten Provinz insgesamt besser ging. Sie waren wohlhabender, manchmal beinahe schon verschwenderisch. Es war offensichtlich, dass in der Hinterhand andere Geschäfte liefen, als die, welche vereinbart waren.

Er merkte, wie Etienne ihn hinter Braad abwartend ansah und stellte fest, dass Braad noch immer sein Handy fest in der Hand hatte. Er wusste aber schon, wie er darauf das Thema wechseln konnte.

„Nebenbei, Tatinne hat mir davon erzählt, dass sie in der Nähe von Vheruna einige Minen zurückerlangt haben. Auch eine mit Kupfervorkommen soll dabei gewesen sein. Sie hat sich direkt einen Vertrag für kleine Mengen gesichert. Ich frage mich, woher sie die ganzen Leute kennt. Aber unabhängig dessen, sicherlich können wir bald mehr Elektronisches produzieren.“

Er deutet auf sein Handy, dass er noch immer in der Hand hielt, „Du weißt schon, falls es dir abgenommen werden sollte, weil du es in der Schule hast.“

Braad sah ihn erschrocken an und blickte dann panisch zu Adelle, „Willst du es ihr erzählen?“

Raffael lachte, „Nein, ich will dich nur vorwarnen. Du weißt, wie Merlian ist. Tatsächlich ist er in den letzten Wochen noch strenger geworden. Du hast sicherlich davon gehört, was passiert ist. Er hat ganz schön darauf herumgeritten. Habe ihn schon lange nicht mehr so brüllen gehört. Dabei sollte man meinen, er hätte seinen Zenit jeden Montag nach unseren Briefen erreicht.“

Braad blinzelte verwirrt und nickte verunsichert. Raffael unterdrückte ein Schnauben, denn es war gar nichts passiert. Aber Braad würde das nicht wissen, denn er war sowieso selten da und hatte beinahe nie eine Ahnung davon, was in der Schule vor sich ging.

„Er lässt sie neuerdings auch durchsuchen. Pass also auf, dass du es künftig nicht mitnimmst.“

Raffael beobachtete ihn dabei, wie er es eher ungeschickt in seine Tasche stopfte und sah kurz zu Etienne, welche noch immer an der Wand einige Schritte hinter Braad stand. Ihre grünen Augen beobachteten jede seiner Bewegungen und Raffael hatte nicht das Gefühl, dass ihr etwas entging. Ob sie auch andere auf diese Art beobachtete? Ihn? Welche Schlüsse zog sie?

Er sah schnell wieder lächelnd zu Braad, bevor dieser seinen Kopf hob und ihn ansah.

„Was machst du heute eigentlich hier?“, fragte Raffael und beobachtete, wie Braads Blick noch abweisender wurde, als zuvor. Raffael spürte, dass es da wohl etwas gab, was Braad nicht gerne teilen würde und fragte sich, ob es mit Meta zusammenhing. Aber das bezweifelte er, denn Meta hätte heute theoretisch gar nicht hier sein sollte.

„Wieso willst du das wissen?“, fragte er zurück. Raffael merkte, wie Etienne sich hinter ihm hinhockte und sich an seiner Tasche zu schaffen machte. Beinahe erschreckte ihn diese Handlung. Braad war groß und sie war klein. Sie wurde komplett von ihm verdeckt und wenn Raffael nicht gewusst hätte, dass sie da war, hätte er sie vielleicht nicht bemerkt.

„Ich habe dich schon lange nicht mehr hier gesehen. Wie kommt’s? Familienangelegenheiten?“

Seine Wangen wurden erneut rot, doch diesmal war sein Gesicht vor Wut verzogen. Und Raffael war sich nicht ganz sicher, wieso.

„Das geht dich gar nichts an“, er spuckte ihm die Worte regelrecht ins Gesicht, „Ich werde ja wohl ab und zu noch hier hinkommen dürfen?“

Raffael blinzelte verwirrt, überrascht von der Wut, die ihm entgegenschlug. Aber es war nichts, was er nicht schon kannte. Die meisten Gespräche mit ihm waren so abgelaufen.

„Ich wollte nur mal nachfragen. Immerhin waren wir eine Weile in derselben Klasse und deine Schwester hat uns mit Dustin Anweisungen zum Umgang mit O’Donnel gegeben.“

Braad schlug mit der Faust auf den Tisch, „Du meinst, sie haben dir alles hinterhergeworfen und mich dir Arbeit machen lassen?“

Raffael sah abschätzend zu seiner Faust. Es war das erste Mal, dass er in seiner Anwesenheit Gewalt ausübte, selbst wenn das nur gegen einen Gegenstand war. Raffael blickte prüfend in sein Gesicht, „Ist etwas vorgefallen?“

„Kannst du einfach verschwinden?“, spukte Braad ihm entgegen, „In erster Linie wäre ich dir dankbar, wenn du nicht deine Nase in alle möglichen Angelegenheiten anderer Leute stecken würdest.“

Raffael entschloss sich, sich zurückzuziehen. Etienne entfernte sich bereits zwischen den Regalen und er vermutete, dass sie das Handy hatte. Und Braad war offensichtlich fürchterlich auf ihn zu sprechen. Was auch immer ihm zu schaffen machte, er ließ es an ihm aus und Raffael sah keinen Grund, in den Streit einzusteigen. Er war sowieso nicht in der Position, sich das leisten zu dürfen. Es würden nur schlechte Gerüchte entstehen, dass er, ein Provinzherrscher, sich auf Schulstreitereien einließ.

„Ok“, sagte Raffael und hob lächelnd die Hände, „Lass mich dich nicht weiter stören. Du hast sicherlich ganz wichtige Dinge zu erledigen.“

„Wichtiger, als hier herumzulungern und so zu tun, als würde ich etwas in der Schule lernen“, erwiderte er, als Raffael das Buch schloss. Er verschränkte grinsend die Arme vor der Brust und sah zu ihm, als hätte er einen Kampf gewonnen. Raffael würde ihn in dem Glauben lassen. Er blinzelte ihm grinsend zu, eine fürchterliche Angewohnheit, die er von seiner Mutter übernommen hatte und er würde sie nie hergeben, weil sie von ihr war.

„Dann lass dich bei diesen ganz wichtigen Angelegenheiten nicht stören.“

Er schob den Stuhl zurück und war bereit zurückzugehen, als er erneut Braads Stimme vernahm, „Lass mich dir mal einen Tipp gehen. So vom Älteren zu Jüngeren. Du solltest dich nicht so herumschubsen lassen.“

Raffael verdrehte die Augen. Er wollte weiter gehen. Es wäre es nicht wert, sich diesen Schwachsinn anzuhören. Er wusste, dass Braad sich das nur herausnahm, weil Raffael zurücktrat. Doch es gab eine Grenze von dem, was er anderen durchgehen lassen konnte. Früher wäre er lachend weggegangen. Und eigentlich war niemand hier, der ihm dieses Gespräch zum Nachteil auslegen konnte, außer vielleicht Etienne, die er aus den Augen verloren hatte. Auf der anderen Seite jedoch, würde Braad vielleicht herumposaunen, dass Raffael, der Provinzherrscher, vor ihm davonlief. Und so leid es ihm tat, er hielt ihn tatsächlich für so blöd, dass er das tun würde. Also drehte er sich zu ihm und stützte sich leicht lächelnd am Tisch ab, „Und wer, denkst du, schubst mich herum? Du? Weil ich so nett war, zurückzutreten?“

Er bemerkte zufrieden, wie Braad die Augen auf seine Finger senkte. Unter seinen Fingernägeln war Dreck, welchen er zu entfernen versuchte. Doch es hielt ihn nicht davon ab, weiterzusprechen, „Ich meine ja nur. Du bist viel zu weichherzig. Wenn du etwas weniger nachgiebiger wärst, dann würden sich die Leute nicht so viel bei dir erlauben. Das kann wirklich ein Problem werden. So wie damals mit Josef-“

„Nimm einen tiefen Atemzug und denk nach“, fuhr Raffael dazwischen, kaum in der Lage, die Wut zu bändigen, die in seiner Brust aufloderte. Gefolgt von dem Schmerz, welcher bis vor wenigen Monaten noch dafür gesorgt hatte, dass er als ein trauriges Häufchen Elend zusammengekauert in der Ecke des Zimmers gelegen hatte, welches zu dem verfluchtem Haus gehörte, in dem er leben musste. Aber er würde sich dazu zwingen, diese Gefühle zu unterdrücken, denn er konnte nicht eine Prügelei anfangen, wie er es vor einem Jahr noch getan hätte. Und das, worauf Braad anspielte, war es wert ihn windelweich zu schlagen, „Denk jetzt genau darüber nach, was du sagen willst, bevor das Gespräch wirklich zu einem Problem für uns beide wird.“

Er beobachtete, wie Braad bleich im Gesicht wurde und sein Blick kurz zu ihm wanderte, nur um dann auf den Tisch zu fallen. Raffael merkte, wie es in seinem Kopf ratterte und er nach und nach zu verstehen schien, was er da von sich gab.

„Es tut mir leid“, sagte er mit zittriger Stimme.

Raffael schwieg. Nicht, weil er ihn zappeln lassen wollte, sondern weil er wirklich Sorge hatte, dass er ihn am Kragen packen und schlagen würde. Er atmete durch. Und dann dachte er an Etienne und daran, dass er ihr ein Vorbild sein musste. Wenn sie die Herrschaft übernehmen würde, musste sie besonnen sein. Sich nicht aus der Ruhe bringen lassen. Nicht so, wie er gerade. Aber es war nicht mal ein Jahr her, seit seine Mutter gestorben war und dieser Mistkerl wagte es, ihm die Schuld dafür zu geben. Er merkte, wie seine Hände zu zittern anfingen und griff stärker nach dem Tisch, „Jetzt, wo du darüber nachgedacht hast. Solltest du schnell verschwinden. Und am besten für eine Weile außerhalb meines Blickfeldes bleiben.“

Er beobachtete Braad dabei, wie er hastig seine Tasche packte und mit hochrotem Kopf aus der Bibliothek rannte. Die Tür fiel ins Schloss und Raffael senkte den Kopf, versuchte an etwas anderes zu denken, nur um ihm nicht hinterherzulaufen und doch in sein Gesicht zu schlagen. Er versuchte, die Vernunft einsetzen zu lassen. Was würde passieren, wenn er das tat? Er würde für einen Moment sehr zufrieden sein. Und dann würde er sich mit Braads Familie auseinandersetzen müssen und damit zwangsläufig mit Elias, den er unter diesen Umständen wirklich nicht sehen wollte. Weiterhin würde das Einfluss auf Scarlett und Alberto haben, welche erst kürzlich einen Vertrag mit seiner Familie geschlossen haben. Das würde auch Einfluss auf seine Provinzmitglieder haben, denn die Spannungen zwischen den Provinzen könnten stärker werden. Die Zeitungen würden ihn auseinander nehmen, vor allem in Elias’ Provinz. Raffael atmete tief durch und fühlte sich nicht besser. Er vermisste seine Mutter. Sie würde mit einem einfachen Spruch dafür sorgen, dass er sich besser fühlen würde. Oder ihm erzählen, wie er Braad einen fiesen Streich spielen konnte und ihm dann verschwörerisch zuzublinzeln.

Eigentlich hatte er gedachte, dass er mit seinem Schmerz gelernt hatte umzugehen. Doch es schien, als würde nur ein Funken reichen, um ihn wieder an einen dunklen Ort zu befördern.

62. Kontrahenten: Der Einfluss des menschlichen Geistes

 

Raffael richtete sich auf, versuchte tief durchzuatmen und bewegte sich langsam Richtung Treppe. Die Wut war dem Schmerz gewichen, welcher seine Knie schwach werden ließ. Das strahlende Lächeln seiner Mutter leuchtete vor seinen Augen auf. Er zwang den Gedanken an das alles jedoch beiseite. Er verdrängte es, wie er es in den vergangenen Monaten getan hatte, um funktionieren zu können. Denn aktuell drängten ihn andere Probleme. Er würde sich jetzt mit Etienne beschäftigen müssen, dem wahrscheinlich künftigen Herrscher seiner geliebten Stadt. Dann mit Halil, welcher jegliche Brücken zu allen verbrannt hat und immer wieder für neuen Ärger sorgte, von dem Raffael nicht nachvollziehen konnte, wieso. Dann am Abend mit Dustin, der ihm hoffentlich gute Nachrichten überbringen würde, bezüglich der Suche nach den Menschen, welche Gilgians Provinz angegriffen haben. Dann würde er sich um eine weitere Provinzangelegenheit kümmern, die Eldan nicht alleine erledigen konnte. Und anschließend würde er Eldan beschämt fragen, ob sie auf ihre abendliche Lehrstunde heute verzichten könnten. Raffael brauchte wirklich dringend den Schlaf. Aber wie seine Familie immer schön zu sagen pflegt: eines nach dem anderen. Er hoffte nur, dass Etienne dieses blöde Handy sich geschnappt hatte, denn sonst wäre das Ganze umsonst gewesen.

Als er oben ankam, sah er Etienne im Schatten der Regale am Tisch sitzen. Erleichterung durchströmte ihn, denn er hätte beinahe damit gerechnet, einen leeren Tisch ohne ihre Tasche vorzufinden. Er spielte wirklich nicht gerne ihren Babysitter, aber er musste sie überzeugen in Calisteo zu bleiben und herausfinden, wie sie an die Macht kommen würde. Schleichend oder schnell, das war ihm alles egal, was Tatinne da von sich gegeben hat. Wichtig war nur geordnet, sicher, ohne unnötige Opfer, wie es bei ihm passiert war oder bei Gilgian. Und ohne sinnlose Kämpfe zwischen den Provinzen auszulösen. Hierfür wäre es nicht produktiv, wenn sie von Provinzmitgliedern zusammengeschlagen wird. Sei es ein Gilgian oder ein Halil.

Er setzte sich zurück an den Tisch und schloss die Augen, bevor er ihrem Blick begegnen konnte. Eigentlich hatte er vorgehabt, dass nachdem er sie öffnen würde, er wieder sein Lächeln aufsetzen konnte, doch er schaffte es nicht sie zu öffnen. Ihr war das Ganze sicher aufgefallen. Würde sie es ausnutzen? Er hoffte so sehr, dass sie das mit Josef nicht gehört hatte. Diese Wunde seines naiven Vertrauens, welcher den Tod seiner Mutter zur Folge hatte, war er nicht in der Lage zu teilen.

„Erzähle mir was“, forderte er auf, stellte selbst fest, dass seine Stimme viel zu rau war. Er durfte jetzt nur nicht losheulen. Er brauchte eine Ablenkung und sie war im Moment die Einzige, die hier war.

„Was willst du hören?“, fragte sie zurück.

„Ist mir egal“, sagte er.

„Wie viel weißt du über Magie?“

„Nicht viel“, erwiderte er und verschwieg, dass es ein Gebiet gab, in welchem er sich ganz gut auskannte … so gut es den Umständen entsprechend möglich war. Denn es war einfach nicht Calisteos Schwerpunkt. Die Stadt bildete keine Magori aus oder Priester, welche Segen zaubern konnten. Es gab in den letzten fünfzehn Jahren genau fünf Magori in der Stadt, zwei waren im letzten Jahr gestorben, nicht zuletzt wegen der Machtkämpfe. Hierzu gehört der Einzige, welcher Raffaels Provinz angehörig war und der einzige aus Gilgians. Derjenige, der noch am Leben war, gehörte der neutralen Provinz an und beschäftigte sich mit der Grundausbildung. Und die letzten beiden gehörten Elias’ Provinz an. Einer davon war Elias’ Mutter.

Ob und wie die Menschen ihre Fähigkeiten weiter ausbildeten, lag nach der Grundausbildung in ihrer eigenen Verantwortung. Seine Gedanken wanderten wieder zu seiner Mutter. Sie hatte ihnen beiden oft lachend erzählt, wie verzweifelt Scarletts Eltern durch die Stadt gelaufen waren, als das kleine Kind von einem Moment auf den anderen plötzlich bei Raffaels altem Zuhause gelandet war, dessen Ort sie vom Sehen her kannte. Damals ein Grund für Schrecken, heute eine heiß begehrte Fähigkeit, welche ihr schon vor Jahren eine Aufmerksamkeit beschert hat, welche sie nie hätte erlangen dürfen. Und die Aufmerksamkeit war geblieben, weil Scarlett früh gelernt hat, ihre Fähigkeiten zu kontrollieren.

„Das habe ich mir schon gedacht“, sagte Etienne, riss ihn aus seinen Gedanken wieder heraus, „Als ich den Stundenplan gesehen habe, ist mir direkt aufgefallen, dass hier ziemlich viel an alten Wissenschaften gelehrt wird. Nicht, dass daran etwas verkehrt wäre, aber wenn alte Gesetze nicht mehr ganz so funktionieren, wie sie sollten, dann ist es teilweise etwas zweitrangig.“

Er schnaubte, „Willst du sagen, wir verschwenden hier unsere Zeit? Lustig, bedenkt man, wie begehrt unsere Menschen in anderen Städten sind.“

Er hörte ein bisher seltenes Lachen, „Keineswegs. Genau genommen ist es so, dass um Magie zu praktizieren genau die alten Wissenschaften einen perfekten Ankerpunkt liefern. Wenn man versteht, wie etwas funktioniert, dann kann man es umso besser nach seinem Willen bändigen. So zumindest ist es bei Magie zweiter Art der Fall. Beispielsweise kommt mir das hier zugute. Ich hab vollen Zugriff auf sein Handy, ohne den Code eingeben zu müssen. Er hat interessante Inhalte drauf.“

Er öffnete überrascht die Augen und sah auf den Tisch. Das Handy lag auf einem weißen Blatt Papier. Er blickte zu ihr hoch und sie grinste ihn schelmisch an, „Ich will wetten, dass du das nicht kannst.“

Er lachte, überrascht und volle Neugierde. „Wie hast du das gemacht?“

Sie schob das Handy beiseite, dessen Bildschirm direkt ausging, und deutete auf das Papier, auf welchem ein kleines Dreieck abgebildet war, in welchem weitere Symbole verarbeitet waren, „Das ist Magie, welche eher im Handwerklichen angelegt ist, also Magie zweiter Art. Das weißt du oder? Die Sorte von Magie, welche auf den Naturgesetzen aufbaut.“

Er nickte. So viel zu den Grundlagen.

„Und das ist ein echt altes Modell von einem Handy. Wenn du weißt, wie diese funktionieren und eine Vermutung hast, welche Materialien drin verbaut sind, dann kannst du den entsprechenden Zauber schreiben, welcher bestimmte Sicherheitslücken ausnutzt, um hineinzukommen. Ich kenne jetzt zwar sein Passwort nicht, aber so lange es auf dem Symbol liegt, brauche ich dieses nur aktiviert zu halten und wird es das Passwort nicht abfragen. Es gäbe auch andere Möglichkeiten, aber diese scheint mir unter diesen Umständen die einfachste zu sein.“

Er bedachte das Symbol, welches sie gezeichnet hatte, „Funktioniert das bei jedem Gerät so?“

„Bei vielen Geräten auf die gleiche Art und Weise. Manche Metalle haben auch Einfluss. Aber das ist keine hochkomplexe Magie. Das Symbol ist meistens dasselbe. Nur bestimmte Einzelheiten müssen geändert werden. Und ab da an, ist es einfach nur ausprobieren, bis es funktioniert.“

Sie schob die Hand beiseite und zeigte ihm zwei andere Symbole, von denen er ausging, dass sie mit diesen zuvor probiert hatte, den Code zu umgehen.

Neugierig sah er sie an, verglich sie miteinander und entdeckte die Unterschiede, die sie angesprochen hatte.

„Dreieckssymbole halten immer nur für eine kurze Zeit. Oder? Brauchen sie nicht stetig Energie?“, fragte er nach. Ein Zeichen der Stabilität, aber eher selten natürlich vorkommende Form. Im Rahmen der Magienutzung muss sie durch den menschlichen Körper hergestellt werden und mit dem Geist des Menschen, mit einem Sinn ausgestattet werden.

„Sie halten, bis das Symbol zerstört wird. Was die Energie angeht, nun, dafür gibt es viele Möglichkeiten. Sein Handy ist fast voll aufgeladen und das ist auch eine Art von Energie. Ich hab den Zauber darauf angepasst, hier.“ Sie zeigte auf ein kleines Viereck in der unteren Ecke einer Spitze.

„Das wird so lange daran ziehen, bis der Akku leer ist.“

„Beeindruckend“, sagte er. Er wusste, dass Magie mit Vierecken als Grundbaustein hauptsächlich für Flüche genutzt wurde, da diese stetig aus der Umgebung Energie zogen. Zu sehen, wie das ineinander kombiniert wurde, beeindruckte ihn, „Weißt du, was mich immer gewundert hat? Cruz meinte, dass es Indizien in alten Schriften der alten Welt gibt, welche Quadrate und Vierecke als Symbole der Stabilität darstellen. Ist da was dran?“

Etienne zuckte mit den Schultern, „Kann sein, dass es mal so war. Es gibt Salze, welche von ihrer Struktur her auch quadratisch sind. Mit ihnen können Flüche neutralisiert werden und von dieser Betrachtungsweise her ist das gar nicht so abwegig.“

„Wieso wird diese Grundstruktur dann für Flüche genutzt? Ist das nicht mehr Instabilität?“

„Es ist das, was die Menschen nach dem Zusammenbruch der alten Welt daraus gemacht haben. Magie erster Art folgt nicht den Naturgesetzen, sondern dem menschlichen Geist. Einer hat damit angefangen, dann ein anderer und viele weitere haben angefangen, daran zu glauben und den Glauben zu verbreiten. Und nun sind wir hier, wo es unanfechtbares Allgemeinwissen geworden ist, dass diese Symbole wohl niemals eine andere Bedeutung bekommen würden… nicht ohne viel Arbeit zumindest.“

„Beeindruckend“, sagte Raffael erneut, verspürte ein Drang, sich noch mehr damit auseinanderzusetzen, „Beinahe bereue ich es schon, nicht mehr dazu gelernt zu haben.“

„Ehrlich gesagt, kann ich das nicht so ganz nachvollziehen. Diese Magie ist nicht kompliziert. Und mittlerweile ist sie so vielfältig, dass es keinen Beruf gibt, wo sie nicht aushelfen könnte. Verstehe mich nicht falsch. Alberto hat beeindruckendes Talent, mit welchem er fantastische Arbeit leistet. Aber damit würde er deutlich weiter kommen. Und Magie zweiter Art ist echt nicht kompliziert zu erlernen.“

Raffael lachte, „Er ist sehr stur. Wahrscheinlich weiß er davon, aber wird nur so arbeiten, wie er es als richtig betrachtet. Bis vor einer Weile wollte er nicht mal einen Schüler.“

Sie legte das Handy wieder auf das Symbol und tippte es mit dem Finger an. Das Handy leuchtete auf und Etienne betrachtete erneut die Bilder drauf.

„Ist es in Ordnung für dich, wenn ich es an mich nehme?“, fragte sie ihn.

Er zuckte mit den Schultern, „Du warst diejenige, die es haben wollte.“

Das Handy interessierte ihn nicht. Am liebsten würde er die ganze Konfrontation mit Braad vergessen. Bis ihm erneut aufgefallen war, dass sie beide durchaus in der Lage waren, etwas gemeinsam zustande zu bringen. Diese Erkenntnis war vielleicht etwas Positives, was er aus der Situation ziehen konnte.

Er beobachtete sie dabei, wie sie ein Bild nach dem anderen betrachtete. Ihr Gesicht sagte nicht viel aus, bis er ganz kurz eine Regung entdeckte, die ihn neugierig machte.

„Was ist?“, fragte er nach. Sie sagte ihm nichts und die Regung war verschwunden. Ihre Finger wischten schnell über den Bildschirm. Sein Blick fiel auf das Handy. Er legte die Hand auf das Papier und zog es zu sich. Sie hielt es fest und sah ihn warnend an. Er ignorierte es jedoch und versuchte auszumachen, was auf dem Bildschirm zu sehen war. Nach einem Moment entdeckte er auf diesem lange braune Haare, die zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden waren.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 27.10.2012

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