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Die erste und letzte Lüge

„Und du kommst bestimmt mit?“
Mit seinen großen Augen sah er mich an, während in den Winkeln derselben schon erstes Nass glitzerte.
Ich drückte ihn an mich, konnte oder wollte ihm keine Antwort geben.
Und zum Glück ließ er sich schnell ablenken, denn sein bester Freund Phillip kam um die Ecke gesaust.
Rasant umkurvte er sämtliche Hindernisse, die es nun mal hier gab.
„Nico, kommst du? Es wird doch dieser neue Film gezeigt? Mark und Susanne sind auch schon da!“
Nicht, dass er etwa dabei still gestanden hätte. In seiner ganz eigenen Art umkreiste er uns beide, ungeduldig, aber nicht hektisch.
Er war einfach ein liebenswerter Kerl, dem man kaum irgendetwas übelnehmen konnte.
Und gerade jetzt war er mir eine willkommene Ablenkung von dem Gespräch, was Nico zuvor begonnen hatte.
Nico freute sich, ob über den Freund oder die Aussicht auf einen neuen, coolen Film, spielte keine Rolle.
Das Glitzern in seinen Augen war verschwunden, jetzt standen nur Aufregung und Erwartung darin.
„Geh nur, lass deine Freunde nicht warten.“, sagte ich und mit dem letzten Wort war er schon bei Nico.
„Darf ich mitfahren, komm, du hast es mir versprochen!“
Und ja, er durfte mitfahren auf diesem neuen Gefährt, was in sattem Rot glänzte und schon für reichlich Neid gesorgt hatte.
Ich rief beiden noch hinterher: „Wir sehen uns dann morgen, viel Spaß!“
Ob sie es gehört hatten? Ich denke nicht, aber das spielte momentan keine Rolle für mich.
Viel wichtiger war, beide sahen glücklich aus und das war selten genug.
Auf dem Weg nach Hause traf ich noch Phillip´s Eltern, wechselte einige Worte mit ihnen.
An sich immer dieselben, was sonst hätte man auch zum Gesprächsthema nehmen sollen.
Wie es geht, gibt es was neues, wie war die Nacht usw.
Nun blieb mir nichts anderes übrig, als zu versuchen, mich auch abzulenken.
Nur wie, womit, wie lange?
Nochmal Kind sein, schoß mir durch den Kopf.
Wie leicht es ihnen manchmal schien, vom tieftraurigen zum lachenden Zustand zu wechseln.
Obwohl oder gerade weil es ihnen schlecht ging.
„Mama, ich hab dich gestern doch was gefragt, weißt du noch was?“
Mit dieser Frage begrüße Nico mich am nächsten Morgen und überrumpelte mich gleichzeitig.
So, die Ablenkung funktionierte auch bei ihm nur zeitweise, stellte ich schmerzhaft fest.
„Ja, ich habe es nicht vergessen.“ Meine Antwort kam leise, aber ihm entging sie natürlich nicht.
„Und? Kommst du mit oder muss ich wirklich alleine gehen? Weißt du, ich hab mir überlegt, du kannst ja erst noch alles hier aufräumen und kommst dann nach. Ich warte auf dich.“
Während er das sagte, griff er nach meiner Hand, sah mich an und wartete.
Und er wartete verzweifelt auf meine Antwort, das war nicht zu übersehen.
Und für mich als seine Mutter ebenso spürbar.
„Ja, OK. So machen wir das. Ich komme mit, wenn ich hier alles erledigt habe. Du musst nicht alleine gehen, das verspreche ich dir.“
Hörte sich meine Antwort überzeugend an, klang sie ehrlich?
Es schien so, denn er lächelte, drückte mich und sagte: „Danke Mama. Dann brauch ich ja keine Angst zu haben.“

Zwei Monate später stand ich im Regen, schüttelte Hände, während Gesichter an mir vorbei zogen, die mir alle fremd erschienen. Worte, die an mir vorüber rauschten.
Bis Phillip vor mir stand oder besser gesagt, saß. In seinem roten Rollstuhl, geschoben von seinem Vater. Phillip selber hatte nicht mehr die Kraft so herum zu sausen, wie ich es von ihm kannte, aus der Zeit im Hospiz.
Er schaute mich an und sagte:
„Nico war ganz glücklich, weißt du. Ich hab ihn ja noch besucht, bevor … bevor er, ja, ich weiß, bevor er gestorben ist. Und er hat mir ins Ohr geflüstert: Meine Mama kommt mit, hat sie mir versprochen. Und du, du hast ja nicht gelogen, nicht richtig, finde ich.
Ich versteh das, bin ja auch schon 6 Jahre, älter als Nico.
Aber mich darf meine Mama dann auch anlügen, so nicht ganz echt anlügen, verstehst du?“
Ja, ich verstand ihn und vielleicht auch endlich mich, die Mutter, die ihren Sohn niemals angelogen hatte, in den 4 Jahren, die er bei mir war.
Phillip´s dünne Händchen griffen nach meinen und es waren die ersten, die ich an diesem Tag, auf dem Friedhof, spürte, wirklich spürte, bis ins Herz hinein.


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Texte: alle Rechte am Text liegen bei der Autorin Coverbild:Regenbogenbrücke ©PeterReinäcker/pixelio.de Quelle: www.pixelio.de
Tag der Veröffentlichung: 09.09.2011

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