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Ein Recht auf Wahrheit




Ich starre das leere Blatt Papier an, welches noch immer ohne ein geschriebenes Wort vor mir auf dem Tisch liegt. Im Moment fällt es mir schwer, meine Gedanken zu ordnen. Die Ereignisse des heutigen Nachmittages sind noch immer sehr präsent und drängen sich immer wieder in meine Gedanken. Dabei hätte ich erahnen müssen wie sich das alles entwickelt.

"Bist du dir sicher, dass du es heute tun willst?", fragend sehe ich meine Mutter an. Es ist schon ein paar Wochen her, dass ich sie zum letzten Mal gesehen habe. Aber heute wirkte sie irgendwie älter als sonst. Es ist zwar ihr Geburtstag, aber so schnell konnte sie nicht gealtert sein. Mein Blick suchte den ihren, wobei mir die tiefen, schwarzen Augenringe und die Sorgenfalten auf ihrer Stirn nicht verborgen blieben.
"Ja, ich denke heute und jetzt ist ein guter Zeitpunkt dafür." beantwortete sie meine Frage. "Dein Bruder wird immerhin in ein paar Monaten schon 25. Er hat das Recht endlich die Wahrheit zu erfahren." fügte sie schnell noch hinzu, drehte sich um und ging in die Küche.
"Komisch, dachte ich mir. Waren das nicht eigentlich meine Worte?" Die ganzen letzen Jahre lag ich ihr ständig damit in den Ohren, meinem Bruder endlich die Wahrheit zu sagen. Womöglich auch, damit ich nicht mehr schweigen muss. Immerhin kenne ich die Wahrheit bereits seit 14 Jahren. In all dieser Zeit nagte es ständig an mir, mit jemandem darüber zu reden, meine Gedanken, meine Fragen, meine Ängste laut auszusprechen. Heute sollte also der Tag sein, an dem es endlich soweit war.

Das Kaffeetrinken mit der gesamten Familie verlief diesmal ruhiger, nachdenklicher. Mein jüngster Bruder versuchte von Zeit zu Zeit mit einem Witz die angespannte Situation aufzulockern, doch so recht gelingen sollte ihm das heute nicht. Mir war nicht zum lachen zu Mute, ich kaute an meinem Stück Kuchen herum und meine Blicke wanderten nachdenklich von meinen beiden Brüdern, zu meiner Mutter und meinem Vater. Mein Vater, auch er wusste, was meine Mutter heute vorhatte. Welche Gedanken ihm wohl gerade durch den Kopf gingen? Und mein jüngster Bruder, wie er wohl reagieren würde? Aber am meisten kreisten meine Gedanken um die Reaktion meines Bruders Andy. So oft schon hatte ich mir die bevorstehende Situation ausgemalt und jetzt wo es fast soweit war, hatte ich ein wenig Angst vor der Reaktion meines Bruders. Würde er mir Vorwürfe machen? Würde er verstehen, warum ich all die Jahre geschwiegen habe? Auf einmal verspührte ich keinen Hunger mehr. In meiner Magengegend war nur noch ein ängstliches, mulmiges Gefühl zu spühren.

Gerade als mein jüngster Bruder Niko aufstehen wollte um den Tisch abzuräumen, bat meine Mutter ihn sich noch einmal hinzusetzen.
"Ich muss euch etwas sagen." setzte sie an.
Die eh schon angespannte Situation schien sich ihrem Höhepunkt zuzuwenden. Mein Blick löste sich von meinem Bruder und wanderte zu meiner Mutter. Hatte ich vorhin gedacht, sie sehe älter aus als noch vor ein paar Wochen so emfand ich diesen Gedanken jetzt mehr denn zuvor. Aber in diesem Moment sah meine Mutter nicht nur älter aus, nein sie sah sorgenvoll und ängstlich aus.
Ich wendete meinen Blick von ihr ab und sah zu Andy. Auch er wirkte auf einmal sehr angespannt. Konnte er ahnen, was jetzt kommen würde? Das ängstliche, mulmige Gefühl in meiner Magengegend schien sich ebenfalls dem Höhepunkt zuzuwenden.
"Ich habe lange überlegt, wie ich es euch sagen soll." setzte meine Mutter erneut an.
"Bist du etwa schwanger?" versuchte mein jüngster Bruder einen Witz zu reißen. "In deinem Alter? Also mir reichen meine zwei Geschwister!" fügte er noch hinzu und sah sich in unserer Familienrunde zuspruchsuchend um.
Alles was er jedoch zu hören bekam war: "Halt doch endlich mal für einen Moment deine Klappe, Niko!" es kam aus meinem Munde und klang sehr gereizt. Dazu bekam mein Bruder einen sehr bösen Blick von mir.
Sichtlich verärgert darüber, dass sein Scherz bei niemandem ankam verzog er seine Mine verärgert und verschränkte die Arme vor der Brust.
"Andy und Denise sind nicht von Papa. Sie haben einen anderen Vater." brachte meine Mutter endlich heraus. In ihrer Stimme konnte ich die Erleichterung, es endlich ausgesprochen zu haben, hören.
Für ein paar Sekunden heerschte eine eisige Stille. Dann sprang Andy plötzlich auf. Diese Reaktion von ihm ließ den Stuhl, auf dem er gerade noch gesessen hatte zu Boden stürzen. In diesem Augenblick störte sich niemand daran.
"Ich habe es gewusst!" schrie er meiner Mutter direkt ins Gesicht. "Die ganzen Jahre hast du uns also angelogen!"
Ich sah zu meinem Bruder auf und ihm direkt ins Gesicht, das immer noch meiner Mutter zugewandt war. Deutlich konnte ich seine Gesichtszüge erkennen, Wut, Enttäuschung und Tränen spiegelten sich darin wieder.
Jetzt konnte ihn nichts mehr halten, mit Tränen in den Augen lief er nach oben in sein Zimmer.
Nach der anfänglichen Stille wurde nun auch mein jüngster Bruder Niko laut. "Wie konntest du uns das antun?" schrie auch er meine Mutter an. Auch in seinem Gesicht konnte ich deutlich die Enttäuschung und die Tränen sehen. Obwohl er von der Situation nicht direkt betroffen war, setzte ihm die Tatsache, dass seine älteren Geschwister nicht vom selben Vater sind sehr zu.
Meine Mutter hatte sich von den ersten Reaktionen ihrer Söhne erholt und sprang nun ebenfalls auf um Andy hinterherzulaufen.
Obwohl ich mit einer solchen Reaktion gerechnet habe, ergriff mich das alles trotzdem sehr. Ich stand auf und ging zu meinem jüngsten Bruder um ihn in den Arm zu nehmen und ihn zu trösten.
Mein jüngster Bruder, der bisher seine Gefühle immer gut im Griff hatte weinte nun wie ein kleines Kind in den Armen seiner grossen Schwester. Ich hingegen, bin ein sehr emotionaler Mensch und konnte deshalb meine Tränen ebenfalls nicht verbergen. Nachdem wir nun einige Minuten so da gestanden haben, sah ich zu meinem Vater. Wenn ich eines noch nie konnte, dann war es Männer weinen zu sehen. Denn auch mein Vater saß am Tisch auf seinem Stuhl und weinte lautlos.
Ich gab Niko noch einen Kuss auf die Stirn, flüstert ihm ins Ohr: "Es ändert nichts an der Tatsache, dass wir Geschwister sind. Das wird immer so bleiben!" und löste mich aus seiner Umarmung um zu meinem Vater zu gehen.
Auch ihn nahm ich in die Arme und versuchte ihn zu trösten. Dabei überlegte ich, ob ich meinen Vater bisher jemals weinen gesehen habe. Ich kam zu dem Ergebniss, dass ich mich zumindest nicht daran erinnern konnte. "Warum gerade heute?" hörte ich meinen Vater flüstern. "Ich weiß es nicht, es war ihre Entscheidung." antwortete ich ihm daraufhin. "Aber gerade heute? An ihrem Geburtstag? Sie hätte es genauso gut an einem anderen Tag machen können!" fügte er hinzu. Ich hatte das Gefühl, dass er sich mittlerweile wieder einigermaßen gefangen hatte und löste mich somit auch aus dieser Umarmung.
"Er will nicht mit mir reden." es war meine Mutter die mittlerweile wieder bei uns in der Küche war. Auch in ihrem Gesicht waren die Tränen nicht verborgen geblieben.
"Ich gehe zu ihm. Wenn er jetzt mit jemandem redet, dann mit mir." gab ich als Antwort und wendet mich ab um zu meinem Bruder ins Zimmer zu gehen.

Ich klopfte einmal zaghaft an die Zimmertür von Andy. "Geht weg, ich will mit niemandem reden! Ich will alleine sein!" schrie er mir mit weinerlicher Stimme entgegen.
Aber so schnell wird er mich nicht los, das sollte er eigentlich langsam wissen, dachte ich mir und drückte die Klinke seiner Tür runter. Die Tür war nicht verschlossen, also betrat ich das Zimmer meines Bruders.
Der Anblick der sich mir bot, ergriff mich sehr schnell. Mein jüngerer Bruder saß in der Ecke seines Zimmers neben dem Bett. Ein Häufchen Elend, so meine Gedanken. Die Tränen stiegen mir abermals in die Augen. "Wie geht es dir?" brachte ich eine völlig überflüssige Frage heraus. Die Antwort darauf war deutlich in seiner Haltung und seinem Gesicht zu sehen.
Ich bekam darauf keine Antwort also schloss ich die Tür hinter mir und setzte mich auf sein Bett.
Eine Weile saßen wir schweigend einfach nur so da. Ich fragte mich, was ich wohl sagen könnte um meinen Bruder zum reden zu bringen. Doch diese Überlegung hatte sich im nächsten Moment erledigt.
"Ich habe es geahnt." fing mein Bruder an zu sprechen. "Oftmals lag ich abends in meinem Bett und hatte das Gefühl, dass ich nicht wirklich in diese Familie gehöre." sprach er weiter.
"Aber das ist doch Blödsinn!" entgegnete ich ihm. "Natürlich gehörst du in diese Familie, genauso wie ich es tue! Die Gefühle zu unserem Bruder und unseren Eltern ändern sich doch nicht schlagartig! Wir sind eine Familie, auch wenn wir beide einen anderen Vater haben." beendete ich meinen Satz.
"Du siehst gar nicht so geschockt aus!" brachte mein Bruder auf einmal hervor und sah mich mit Misstrauen an.
Ich senkte den Blick um ihm nicht direkt in die Augen zu gucken. Wie sollte ich jetzt sagen, was ich mir so oft schon ausgemalt hatte. Wie würde er darauf reagieren? Würde er mir Vorwürfe aufgrund meines Schweigens der ganzen Jahre machen?
"Naja, weist du..." begann ich zu sprechen. "Ich weis es bereits seit ich 11 Jahre alt bin. Oma Rosi hat es mir damals gesagt, bevor wir hier her gezogen sind." beendete ich meinen angefangenen Satz. "Aber so wirklich verstanden habe ich es damals noch nicht, ich war ja noch ein Kind! Die Worte die sie mir damals gesagt hatte, habe ich erst viele Jahre später verstanden." fügte ich nachdenklich noch hinzu.
"Du weist es also schon so lange?" mein Bruder klang verletzt. "Warum hast du es mir nicht gesagt?" fragend sah er mich an.
"Ich habe mit Mutti darüber gesprochen, oftmals schon. Seit vielen Jahren habe ich sie gebeten, dir endlich die Wahrheit zu sagen. Es war nicht meine Aufgabe, dir das zu sagen. Ich war sehr oft kurz davor, dir die Wahrheit zu erzählen, damit auch ich mit jemandem darüber sprechen kann. Auch für mich war es nicht einfach, dieses Geheimnis mit mir herumzutragen. Verstehst du das?" ich blickte Andy nun direkt in die Augen. Langsam nickte er.
Ich habe meinen Bruder noch nie so verletzt, aufgewühlt und enttäuscht gesehen. Wieder konnte ich sehen, wie die Tränen ihm über die Wangen liefen. In mir regte sich ein Gefühl der Verbundenheit. Noch niemals in den bisher 24 Jahren unseres Lebens fühlte ich mich mit meinem Bruder so verbunden wie gerade in diesem Augenblick. Andy war noch nie sehr gefühlsbetont und hat immer versucht, seine Gefühle und Ängste zu verbergen. Doch in diesem Augenblick konnte ich ganz tief in ihn hinein sehen. Ich war ergriffen von dieser Situation, stand von seinem Bett auf und kniete mich vor meinen Bruder um ihn ihn die Arme zu nehmen. Andy ließ es zu, was er bisher noch nie getan hat. Bisher habe ich noch nicht mal eine Umarmung von ihm bekommen, wenn ich monatelang nicht zu Hause war und dann plötzlich zu Besuch erschien.

Minuten vergingen in denen wir in dieser Umarmung verweilten und lautlos unseren Tränen und Gedanken freien Lauf ließen. Dann hatte ich das Gefühl, dass Andy sich gefangen hatte und löste mich aus dieser Umarmung.
"Bist du sauer auf mich, dass ich es dir nicht gesagt habe?" wollte ich von ihm wissen.
"Nein, nicht wirklich. Du hast Recht, Mutti hätte es mir sagen müssen. Das war nicht deine Aufgabe. Warum hat sie so lange damit gewartet?" fragend schaute er mich wieder an.
Ich musterte meinen Bruder einige Minuten ohne ihm auf seine Frage zu antworten. Ich kannte die Antwort meiner Mutter auf diese Frage, auch wenn ich der Meinung bin das sie es sich damit sehr leicht gemacht hat.
"Aus Angst." antwortete ich schließlich. "Sie dachte, du würdest irgendeinen Blödsinn machen, nicht mehr nach Hause kommen, deine eigenen Regeln hier im Haus aufstellen und vor allem Papa nicht mehr als Vater akzeptieren." fügte ich hinzu.
Zugegeben, so abwägig waren die Ängste meiner Mutter nicht. Andy war schon immer ein bisschen schwierig. Probleme in der Schule, oftmals die falschen Freunde und auch dem Alkohol ist mein jüngerer Bruder leider nicht abgeneigt. Nichts desto trotz hätte meine Mutter das Gespräch schon vor Jahren suchen müssen.
"Aber das stimmt doch nicht." gab Andy von sich. "Papa bleibt doch unser Vater, wir haben halt zwei. "
Mit so einer Antwort hatte ich nicht gerechnet und konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. "Zwei Väter" schoss es mir durch den Kopf. "So habe ich das bisher noch nicht gesehen, für mich stand immer fest, ich habe einen Vater und einen Erzeuger." sagte ich an meinen Bruder gewandt.
"Kennst du ihn?" wollte Andy plötzlich von mir wissen.
"Nun ja, nicht direkt." antwortete ich. "Ich weiß wo er früher einmal gewohnt hat und wie sein Name ist." sprach ich weiter.
"Wir müssen zu ihm. Wir müssen ihn suchen." kam es von meinem Bruder.
"Ich werde versuchen Kontakt zu ihm aufzunehmen. Auch ich habe so viele Fragen an ihn und will endlich Antworten!" sagte ich an meinen Bruder gewandt. "Versprich mir aber, dass du nichts unüberlegtes tust! Wenn ich ihn finde, dann werden wir beide gemeinsam zu ihm fahren, okay?" jetzt war ich diejenige die meinen Bruder fragend ansah.
"Ich verspreche es dir." bekam ich als Antwort von meinem Bruder.

Noch immer liegt das Blatt Papier ohne ein Wort auf ihm vor mir.
Ich hatte versucht, den Namen unseres laiblichen Vaters in die Suchmaschine einer Internetseite einzugeben. Leider habe ich kein Ergeniss dabei erzielt. Die Adresse, die mir im Kopf herum schwirrt, ist schon 14 Jahre alt, so dass ich nicht wusste ob sie noch aktuell war. Aber so ganz ohne Erfolg blieb meine Suche nicht, ich konnte mich aus Kindheitstagen noch an den Namen der Familie meiner Tante Väterlicherseits erinnern. Und bei der Eingabe dieses Namens in die Suchmaschine habe ich eine Adresse angezeigt bekommen.
Die Frage die ich mir nun stelle ist wie soll ich den Brief anfangen? Soll ich ein paar Zeilen an meinen "Vater" dem Brief hinzufügen? Wenn ja, wie fange ich das an? "Lieber Vater" trifft es nicht. "Hallo Erzeuger" ist wohl kaum die richtige Anrede, für den Mann dem ich meine Existenz verdanke.
Und wenn ich den Brief geschrieben habe, werde ich Antwort erhalten? Ich weiß, dass ich jeden Tag voller Hoffnung in den Briefkasten gucken werde. Doch wie soll ich meinem Bruder erklären, dass der Mann der uns einst in die Welt gesetzt hat anscheinend nichts von seinen Kindern wissen will?
Ich lege das Blatt Papier zur Seite und gebe mich doch vorläufig meinen Gedanken hin. Vielleicht schaffe ich es morgen, ein paar Zeilen zu schreiben.

Impressum

Texte: Das Copyright liegt bei mir.
Tag der Veröffentlichung: 27.01.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Diese Zeilen sind meinem jüngeren Bruder gewidmet, der leider sehr lange auf die Wahrheit warten musste.

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